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Ich weiß es noch wie heute.
In aller Frühe kam eine Ordonnanz in unsere Villa und überbrachte Patzig und mir den Befehl, umgehend zum Abteilungskommandeur zu kommen, es wäre Sicherung befohlen. Wir dachten natürlich, es sei nur eine Übung, und redlich brummend ob der Störung der Morgenruhe begaben wir uns an den befohlenen Ort. Hier erhielten wir die Bestätigung der kaum faßbaren Kunde. Und im Inneren fest daran zweifelnd, daß es Krieg geben würde, eilten wir auf unsere Gefechtsstationen und begannen mit den notwendigen Arbeiten.
Der Befehl: »Drohende Kriegsgefahr!«, der am nächsten Tage eintraf, brachte endlich Gewißheit.
Und dann kam der erste August, die Mobilmachung wurde befohlen. Der zweite August brachte die Kriegserklärung gegen Rußland und der dritte die gegen Frankreich.
Diese Tage zu beschreiben, ist kaum möglich.
Man stelle sich bloß vor: Hier war deutsche Kolonie, deutsche Festung, der größte Teil der Tsingtauer waren Offiziere und Soldaten. Dabei war Tsingtau aber in seinem äußeren Gepräge international geworden. Russen, Franzosen und Engländer befanden sich als Gäste mitten unter uns. Es war ein Gegeneinanderwogen von Meinungen und Gefühlen, ein Zustand, wie er wohl 38 kaum wo anders auf der Welt angetroffen werden konnte.
Die Hauptfrage, ich möchte sagen, die Frage, die uns alle beschäftigte, war: Gibt es Krieg mit England?
Nur der, der im fernen Osten gelebt hat, wird ermessen können, was diese Frage bedeutete.
Am zweiten August wurde gerade unser Angebot an England bekannt, ich ritt am selben Tage mit einer englischen Dame spazieren, und es war nur selbstverständlich, daß dieses Thema unsern Hauptgesprächsstoff bildete. Die Ansicht meiner Begleiterin deckte sich mit der all ihrer Freunde und Freundinnen, daß ein Krieg zwischen England und Deutschland undenkbar wäre, sonst würde auch besonders im fernen Osten das Prestige der weißen Rasse vorüber sein und der gelbe Jap lachend die Früchte unserer Zwietracht einheimsen können.
Auch uns Deutsche beschäftigte selbstverständlich nur dieser eine Gedanke, und besonders bei uns Seeoffizieren war von nichts anderem mehr die Rede. Eine Spannung, schlimmer als vor und während der ersten Mobilmachungstage, beherrschte uns. Und wie eine Erlösung kam für uns alle am vierten August die Nachricht:
Der Krieg gegen England ist erklärt!
Nun waren also in Europa die Würfel gefallen.
Daß wir alle uns sehr glücklich fühlten, kann ich nicht behaupten. Ganz im Gegenteil. Immer 39 und immer wieder sagten wir uns: »Nun sitzen wir hier in dem fernen Tsingtau, zu Hause da sind unsere Brüder, unsere Kameraden; die Glücklichen dürfen die wunderbaren Tage der Mobilmachung miterleben, sie dürfen ausziehen gegen eine Welt von Feinden, sie dürfen unser heiliges geliebtes Vaterland, dürfen Weib und Kind verteidigen, und wir Armen sitzen hier und können nicht helfen!«
Schon der Gedanke, wie es in diesen Tagen zu Hause aussähe, konnte uns rasend machen. Denn das wußten wir: Die Engländer, Russen und Franzosen, die uns hier draußen an Zahl weit überlegen waren, würden nicht den Mut finden, uns hier anzugreifen.
Und doch hatten wir immer wieder den einen Funken von Hoffnung: Sie kommen doch noch!
Ach, wie hätten wir die empfangen!
An Japan dachte selbstverständlich niemand!
In all der Arbeit der Mobilmachungstage wurden unsere Gäste nicht vergessen. Sie waren zwar fast alle unsere Feinde, aber sie blieben unsere Gäste.
Die Aufregung unter ihnen ist wohl begreiflich. Vor allen Dingen, da bereits Nachrichten über die geradezu bestialische Behandlung der Deutschen durch die Engländer in den englischen Kolonien zu uns kamen.
Daß unser Verkehr mit den Fremden abgebrochen wurde, war selbstverständlich, aber ebenso selbstverständlich war auch, und das möchte ich 40 an dieser Stelle ganz besonders den Engländern gegenüber hervorheben, daß die vielen Angehörigen der feindlichen Staaten mit einer Rücksicht behandelt wurden, wie es eben nur bei uns »Barbaren« möglich war.
Den Fremden wurde bekanntgegeben, daß sie sich nach Belieben weiter in Tsingtau aufhalten oder aber abfahren könnten, ohne irgendwelchen Zwang, und daß das Gouvernement rechtzeitig ankündigen würde, wenn alle Fremden die Kolonie räumen müßten. Verlangt wurde nur, daß keiner das Stadtgebiet verließe und niemand sich mehr den Befestigungen näherte oder Spionage triebe. Man halte sich hiergegen das Benehmen unserer lieben Vettern in Hongkong und in so vielen anderen Orten der Welt vor Augen!
Die, die es miterlebt haben, könnten Bände darüber schreiben.
Ein Trost war für uns: Wir erhielten täglich drahtlose Nachrichten von Hause!
Den Jubel und die Freude kann man sich kaum vorstellen, die wir beim Eintreffen der Nachrichten empfanden. Meist kamen die Telegramme abends, und wir Offiziere saßen zusammen in unserem kleinen Kasino, selbstverständlich von nichts anderem als vom Kriege sprechend. Und wenn die herrlichen Siegesnachrichten eintrafen, dann war ein Jubel ohnegleichen, aber doch empfanden wir dabei eine ganz unendliche Traurigkeit, denn: 41
Wir konnten nicht dabei sein!
Dann kam der fünfzehnte August, und wir hielten eine Nachricht von solcher Ungeheuerlickeit in der Hand, daß wir an der Wahrheit des Gelesenen zweifelten.
Die Ankündigung war folgende:
Extrablatt
»Wir betrachten es als äußerst wichtig und notwendig, in der jetzigen Lage Maßnahmen zu treffen, um die Ursachen aller Störungen des Friedens im fernen Osten zu beseitigen und die allgemeinen Interessen zu schützen, die im englisch-japanischen Allianzvertrag festgelegt sind, mit dem Zweck, festen und dauernden Frieden in Ostasien zu sichern. Dieser Zweck ist die Grundlage des Übereinkommens. Die kaiserlich japanische Regierung glaubt, daß es ihre Pflicht ist, der kaiserlich deutschen Regierung zu raten, die folgenden Vorschläge anzunehmen:
Erstens, die deutschen Kriegsschiffe sofort von den japanischen und chinesischen Gewässern zurückzuziehen, ebenso die bewaffneten Schiffe aller Art und diejenigen Schiffe, die nicht sofort zurückgezogen werden können, zu entwaffnen.
Zweitens, das ganze Pachtgebiet von Kiautschou alsbald, nicht später als am fünfzehnten September, den kaiserlich japanischen Behörden ohne Bedingung und ohne Entschädigung zu übergeben, mit der Aussicht auf evtl. Rückgabe an China. 42
Die kaiserlich japanische Regierung kündigt zugleich an, daß, im Falle sie bis zum dreiundzwanzigsten August Neunzehnhundertvierzehn keine Antwort von der kaiserlich deutschen Regierung erhalte, in der sie die unbedingte Annahme der Vorschläge übermittelt, die japanische Regierung gezwungen sein wird, ihre Maßnahmen zu treffen, die sie in Anbetracht der Lage für notwendig erachtet.«
Darunter stand von unserem Gouverneur geschrieben:
»Es ist selbstverständlich, daß wir niemals darauf eingehen können, Tsingtau an Japan ohne Schwertstreich auszuliefern. Nach der ganzen Frivolität der japanischen Forderung kann man sich schon vorher sagen, welche Antwort allein darauf erfolgen wird. Das aber bedeutet natürlich, daß wir mit Ablauf der für die Beantwortung gesetzten Frist auf die Eröffnung der Feindseligkeiten rechnen müssen, und das wird natürlich ein Kampf bis zum Äußersten sein.
Angesichts des Ernstes der Lage darf jetzt selbstverständlich mit der Fortschaffung von Frauen und Kindern keinen Augenblick länger gezögert werden, das Gouvernement wird deshalb heute, Freitag vormittag, auch noch einen Dampfer nach Tientsin abgehen lassen, der bereits für die Aufnahme von rund sechshundert Personen vorbereitet ist. Es ist dringend zu raten, daß von diesen Gelegenheiten, die Züge der Schantungbahn verkehren ja auch weiter, nun auch von 43 allen Gebrauch gemacht wird, die nicht hierleiben wollen.
Tsingtau macht klar zum Gefecht!«
Nun wußten wir, woran wir waren!
Über die Art und Schwere des Kampfes und über seine Aussichten waren wir uns klar, aber wohl nie ist freudiger und unermüdlicher gearbeitet worden. Eine Titanenarbeit wurde in diesen Wochen vollbracht. Und vom ältesten Offizier bis zum jüngsten fünfzehnjährigen kriegsfreiwilligen Automobilfahrer setzte jeder sein ganzes Können und sein ganzes Denken, seine ganze Vaterlandsliebe darein, Tsingtau in den Verteidigungszustand zu setzen.
Ich selber hatte bereits besonderes Pech gehabt. Drei Tage nachdem Müllerskowski abgestürzt war, startete ich bei herrlichstem Sonnenschein zu meinem ersten großen Erkundungsfluge und kehrte, nachdem ich das ganze Schutzgebiet und Hunderte von Kilometern darüber hinaus aufgeklärt hatte, froh der getanen Arbeit, nach Tsingtau zurück.
Ich war tausendfünfhundert Meter hoch, und die Landung war infolge der Luftverhältnisse ganz besonders schwierig. Als ich mitten über dem Platze in ungefähr hundert Metern Höhe noch mal Vollgas gab, um die letzte Runde zu fliegen und dann gegen den Wind zu landen, sprang der Motor eine Sekunde lang wieder voll an, fing aber im selben Moment an zu spucken und versagte ganz. Nur Sekunden brauchte ich, um 44 meine Apparate nachzusehen, aber die genügten daß die Maschine bereits so weit war, daß an ein Landen auf dem Platze nicht mehr zu denken war.
Auch nach rechts oder links konnte ich nicht abdrehen. Rechts war das Poloklubhaus und ein tiefer Graben, links das Strandhotel und die Villen.
Daß nichts mehr zu machen war, wußte ich, und nur eins dachte ich: Halte den Motor heil!
Vor mir war ein kleines Wäldchen, und da hinauf hoffte ich die Maschine noch setzen zu können. Ich zog das Höhensteuer, aber in der heißen dünnen Tropenluft sackte die Maschine wie ein Klotz schwer durch. Ich kam mit dem Kopf gerade noch an Telegraphendrähten klar, dann zog ich die Knie an und stützte unwillkürlich die Füße nach vorn ab, und schon gab es einen mächtigen Stoß, ich hörte Krachen und Splittern um mich herum und flog mit Kopf und Knien recht unsanft gegen den Benzintank. Dann war es still.
Und als ich mich, selber heil und gesund, im Kreise herumsah, da lag meine Taube mit der Nase im Straßengraben, steckte das Schwänzchen hoch in die Luft, und die Flügel und das Fahrgestell bildeten ein Knäuel von zerbrochenen Holzstreben, Leinwand und Drähten.
Ach mein armes Täubchen! Ausgerechnet am dritten Tage der Mobilmachung ließ es mich im Stich. Mir war ganz unsäglich hoffnungslos zumute. Ohne jedoch den Mut ganz sinken zu 45 lassen, schaffte ich die Trümmer in den Schuppen. Ich hatte ja noch Reservepropeller und Reservetragflächen von Hause mitbekommen.
Wenn nur der Motor heil geblieben war! Ersatzteile für diesen besaß ich nicht, und sie wären auch beim besten Willen nicht herbeizuschaffen gewesen.
Voller Hoffnung ging ich an die Reservekisten und öffnete zuerst die, worin die Tragflächen lagen. Aber o Schreck! Ein widerlicher Moderduft schlug mir entgegen, und Böses ahnend, öffneten wir den inneren Zinkeinsatz.
Der Anblick, der sich uns bot, war geradezu fürchterlich. In der Kiste befand sich nur ein Haufen von moderndem Gerümpel. Die ganze Bespannung der Tragflächen war verfault. Die einzelnen Rippen und Spanten und die Holzklötzchen, die vorher tadellos geleimt und bewickelt waren, lagen regellos durcheinander, und alles war von einer dicken Schimmelschicht bezogen.
Ein trauriger Anblick!
Nun wurde die Propellerkiste geöffnet. Da drinnen sah es ähnlich aus. Die fünf mitgenommenen Reservepropeller hatten sich ebenfalls in Wohlgefallen aufgelöst oder sich so stark verzogen, daß sie nicht mehr zu gebrauchen waren. Wenn zu Hause der Propeller mehr als vier bis fünf Millimeter an den Spitzen ausschlägt, denkt kein Mensch daran, ihn so zu fliegen. Meine schlugen bis zu zwanzig Zentimetern aus! Nun war guter Rat teuer. 46
Aber unverzagt ging mein hervorragender Monteur, der Obermaschinistenmaat Stüben, an die Arbeit, und am selben Nachmittage saß ich mit Stüben und meinen beiden Heizern Frinks und Scholl und noch acht Chinesen von der Werfttischlerei an der Arbeit und baute die vermoderten Flügel wieder zusammen.
Dann ging ich mit meinem am wenigsten verbogenen Propeller zur Werft, und hier half mir der treffliche Modelltischler R. aus meiner Not und ließ unter seiner Anleitung von den Chinesen einen neuen Propeller bauen.
Das war geradezu eine Glanzleistung.
Man stelle sich folgendes vor:
Sieben Eichenbohlen wurden mit gewöhnlichem Tischlerleim zusammengeleimt. Dann gingen zwei Chinesen mit Äxten her und schlugen nach Lehren, die der Modelltischler angefertigt hatte, mit den Äxten aus dem Bohlenklumpen einen tadellosen Propeller aus. Die Arbeit war, obwohl mit der Hand ausgeführt, so genau und sorgfältig, wie sie nur von Chinesen geleistet werden kann.
Mit diesem Propeller habe ich dann meine sämtlichen Flüge während der Belagerung von Tsingtau ausgeführt!
Auch wir im Schuppen waren nicht untätig geblieben. Tag und Nacht arbeiteten wir mit äußerster Anspannung, und bereits am neunten Tage nach meinem Absturz stand frühmorgens 47 bei Sonnenaufgang mein Täubchen an der Startstelle klar zum Probeflug.
Es ist wohl begreiflich, wenn mir vor diesem Fluge meine Aussichten nicht im rosigsten Lichte erschienen.
Meine Tragflächen hatte ich aus einem vermoderten Haufen wieder zurecht gebaut. Verspannen mußten wir sie, da wir nirgends eine ebene Fläche hatten, so gut es ging; der Propeller war, wie oben beschrieben, entstanden und machte über hundert Umdrehungen zu wenig. Dabei waren die Flugplatzverhältnisse so überaus ungünstig und schwierig, daß bei jedem Start nur ein sofortiges Gelingen oder ein unweigerliches Abstürzen in Frage kam.
An all das durfte ich nicht denken. Es war Krieg, ich war der einzige Flieger, und meine Aufgabe mußte ich erfüllen. Und ich hatte Glück!
Alles irgendwie Entbehrliche hatte ich zur Erleichterung aus dem Flugzeug herausgerissen, und anfangs etwas unwillig meiner Faust gehorchend erhob sich mein großer Vogel doch in die Luft, und bald hatte ich ihn wieder vollkommen in meiner Gewalt. Da zog ich denn wieder froh meine Kreise, und stolz warf ich vor dem Hause unseres Gouverneurs die Meldung ab: »Flugzeug ist wieder klar!«
Und dann begannen meine großen Aufklärungsflüge. Das ganze Schutzgebiet durchkreuzte ich, und weit, weit draußen, Hunderte von Kilometern vom Schutzgebiet entfernt, überflog ich 48 das weite Land und bewachte die Anmarschstraßen und flog längs der wild zerklüfteten Küste und schaute aus, ob nicht irgendwo der Feind sich näherte oder landete.
Es waren mit die schönsten Flüge meines Lebens.
Die Luft war so klar und durchsichtig, der Himmel so wunderbar blau und schön, und die Sonne strahlte mit so inniger Liebe auf das herrliche Land, auf die wild zerklüfteten hohen Gebirge und auf das alles einrahmende tief-, tiefblaue Meer herab. Das waren Stunden hinreißendster, erhabenster Schönheit, die ich überquellenden Herzens und mit nach Schönheit lechzender Seele genoß.
Aber die Sorgen blieben nicht aus. Bereits nach dem zweiten Aufklärungsfluge stellte sich heraus, daß die Leimfugen des Propellers auseinander gespalten waren, und daß der Propeller nur wie durch ein Wunder nicht auseinandergerissen war. Nun mußte er abmontiert und wieder frisch geleimt werden. Dieses Schauspiel hat sich von nun ab nach jedem Fluge wiederholt. Sobald ich zurück war, wurde »der« Propeller abgenommen, ich fuhr mit meinem Auto zur Werft, dort wurde er schnell geleimt, in eine Presse geschraubt, und spät abends holte ich ihn wieder ab, setzte ihn auf, und dann ging's damit am nächsten Tage wieder los.
Und als der Propeller immer wieder aufplatzte, da beklebte ich seine ganze Eintrittskante 49 mit Bespannungsstoff und Heftpflaster, und da hielt wenigstens diese Kante einigermaßen!
In Tsingtau hatte ich auch noch einen zweiten Dienstzweig zu versehen, und zwar war ich Führer der Fesselballonanlage, meiner »aufgeblasenen« Konkurrenz.
Vor meiner Ausreise hatte ich in Berlin einen Luftschifferkursus durchgemacht, bestehend aus einer Freiballonfahrt und etwas Exerzieren am Fesselballon nebst Ballonflicken.
Die gesamte vollständig neue Fesselballonanlage in Tsingtau bestand aus zwei je tausend Kubikmeter großen Ballons, einem Ballonsack und allem nötigen Zubehör zum Gaserzeugen und zur Bedienung des Ballons.
Ein Unteroffizier der Marine, der kurze Zeit bei den Luftschiffern ebenfalls zur Ausbildung gewesen war, und ich waren die einzigen, die vom Ballon eine Ahnung hatten. Nachdem wir die ganze neue Anlage ausgepackt und aufgestellt hatten, gingen wir äußerst gewissenhaft und vorsichtig ans Füllen des Ballons. Und wie stolz waren wir, als die erste gelbe Wurst dick und prall, wohlgefesselt dicht über der Erde lag. Dann knüpfte ich mit meinem Unteroffizier persönlich jede einzelne Leine an, und bald darauf hing das gelbe Ungetüm leise hin und her pendelnd am Himmelszelt. Dann wurde es wieder heruntergeholt, und ich kletterte zum ersten Aufstieg allein in den Korb. Beinahe hätte ich schon bei diesem Aufstieg meine verzwickte Reise nach Deutschland 50 antreten können, denn als »Los« kommandiert wurde, hatte das Haltetau versehentlich reichlich lose gehabt, und mit einem mächtigen Satz sprang der Ballon senkrecht zirka fünfzig Meter in die Luft und ruckte dann mit Macht in das Haltekabel ein. Mich durchzuckte dabei der Gedanke: Jetzt geht er ab! Es gab einen ganz gewaltigen Stoß, und viel hätte nicht gefehlt, so wäre ich aus meiner Gondel herausgeschleudert worden. Da das Drahtseil aber ebenfalls ganz neu war, hielt es gottlob, und ich war um eine Lehre reicher. Dann begann das systematische Ausbilden und Einexerzieren meiner Mannschaft, und bald funktionierte der Laden, als wenn wir von Kind auf Luftschiffer gewesen wären.
Auf den Fesselballon waren vom Gouvernement sehr große Hoffnungen gesetzt worden. Allgemein versprach man sich durch ihn große Hilfe beim Beobachten des heranrückenden Feindes und zur Beobachtung der feindlichen Artillerie. Leider haben sich diese Hoffnungen in keiner Weise erfüllt, und meine Befürchtungen, die ich in bezug auf den Nutzen der Ballonanlage gehabt hatte, bewahrheiteten sich in jeder Beziehung.
Trotzdem ich den Ballon sogar bis auf eintausendzweihundert Meter gebracht hatte, gelang es uns nicht, von ihm aus hinter die unseren befestigten Stellungen vorgelagerten Höhenzüge zu sehen und damit die Bewegung des Feindes und vor allen Dingen die Stellungen seiner schweren Belagerungsartillerie zu beobachten. 51
Das aber war wiederum für die Verteidigung Tsingtaus von fundamentalster Bedeutung.
Um dieses und überhaupt die ganze überaus schwierige Lage, in der wir uns in Tsingtau befanden, einigermaßen verständlich zu machen, muß ich folgendes vorausschicken:
Das ganze Schutzgebiet Kiautschou liegt auf einer langgestreckten Landzunge, auf deren äußerstem, südwestlichem Zipfelchen wiederum die Stadt Tsingtau liegt. Von drei Seiten vom Meere umschlossen, wird die Stadt im Nordosten durch die halbkreisförmige Hügelkette der Moltke-, Bismarck- und Iltis-Berge, die sich von Meer zu Meer hinziehen, eingerahmt. In diesen Bergen lagen unsere Hauptbefestigungen eingenistet, und am nordöstlichen Fußrande dieser Kette lagen die fünf Infanteriewerke mit dem Hauptdrahthindernis. Dann kam ein breites Tal, welches zum Teil vom Haipo-Fluß durchzogen wurde, und daran schlossen sich wiederum halbkreisförmig die ebenfalls von Meer zu Meer sich hinziehenden, für uns kritischen und uns Verderben bringenden Hügelketten des Kuschan, des Taschan, der Waldersee-Höhen und der Prinz-Heinrich-Berge, von denen die Prinz-Heinrich-Berge eine so wildromantische Form hatten, als wenn sie dem Monde direkt entnommen wäre. Hinter diesen Höhen schloß sich wiederum ein breites Tal an, und daran türmten sich die wild zerklüfteten Steinmassen des Lau-Hou-Schan, 52 des Tung-Liu-Schui und des Lauschan zum Himmel empor.
Da uns vor allen Dingen daran lag, zu wissen, was geht im Vorgelände vor, und, als wir vom siebenundzwanzigsten September ab hinter unserem Drahthindernis vollkommen eingeschlossen waren, zu sehen, wo baut der Feind seine Belagerungsartillerie auf, da wir ferner in unseren Hoffnungen, die wir in dieser Beziehung auf den Fesselballon gesetzt hatten, vollkommen getäuscht wurden, blieben uns zur Erreichung unseres Zieles nur noch: gelegentliche schneidige Erkundungen und – – mein Flugzeug!
Unter unermüdlicher Arbeit gingen die Tage des August dahin. Tsingtau und vor allem das Vorgelände waren kaum wiederzuerkennen. Artillerie und Verteidigungsstellungen wurden ausgehoben, und was das traurigste war, die entzückenden Wäldchen, die mit so viel Mühe und Liebe angepflanzt waren, der Stolz Tsingtaus, mußten zum Freimachen der Schußfelder unter Beilhieben fallen. Wieviel Kulturarbeit, wieviel unendliche Mühe und Liebe ist da mit einem Schlage vernichtet worden!
Der dreiundzwanzigste August, der Tag des Ablaufs des Ultimatums an Japan, kam heran, und es war wohl selbstverständlich, daß der gelbe Jap überhaupt keiner Antwort gewürdigt wurde. Die Parole an diesem Tage lautete:
»Immer feste druff!«
Das war uns allen aus dem Herzen gesprochen. 53
Ich weiß noch, wie ich am folgenden Morgen von meinem Balkon aus über das unendliche blaue Meer schaute und in der Entfernung von einigen Seemeilen mehrere schwarze Schatten bemerkte, die sich langsam hin und her bewegten. Durch das Doppelglas konnte ich dann Torpedoboote erkennen. Auch Patzig, der herbeieilte, überzeugte sich davon. Richtig, heute war ja der Vierundzwanzigste. Nun hatte die Bande die Blockade gegen uns eröffnet.
So war es also wirklich wahr, die Japaner wagten es, das Deutsche Reich anzugreifen!
Der Kampf eines gelben Kaiserreiches, unterstützt von einem Häuflein Engländer, gegen ein kriegsstarkes deutsches Regiment hatte begonnen.
Gleich nach Ablauf des Ultimatums rückte ein Trupp von tausend Mann ins Vorgelände ab, um dieses und die Anmarschstraßen auf Tsingtau zu so lange als möglich zu verteidigen. Dieses kleine Häuflein hat seine Aufgabe hervorragend gelöst. Eine Strecke von dreißig Kilometern Breite, dann von zehn Kilometern mit gänzlich ungenügender Artillerieausrüstung war zu verteidigen. Da, wohin zwei Armeekorps gehört hätten, standen nur tausend Mann. In zähem, unerschrockenem Kampf, oft nur Patrouillen ganzen feindlichen Bataillonen gegenüberstehend, wichen sie langsam der zwanzigfachen Übermacht. Erst am achtundzwanzigsten September wurde die tapfere Schar hinter das Haupthindernis 54 zurückgedrängt, welches sich nun für uns bis nach Austoben des Kampfes für immer schloß.
In den ersten Tagen der Belagerung hielten die leitenden Kreise in Tsingtau von dem Nutzen meines Flugzeuges, wie von der ganzen Fliegerei überhaupt, nicht viel.
Nach allem, was sie bis jetzt von uns hier draußen gesehen hatten, war dies ja auch nicht weiter zu verwundern.
Das wurde bald anders!
An einem der ersten Tage der Belagerung überflog ich wiederum die Südküste der Schantung-Halbinsel, um nach feindlichen Schiffen und besonders nach feindlichen Truppenlandungen Ausschau zu halten. Die Küste war wie ausgestorben, auch nicht das geringste war zu sehen gewesen. Ganz beruhigt, daß wir von dieser Seite aus sicher waren, flog ich nach Hause zurück. Nur so nebenbei ging ich an diesem Abend noch auf das Gouvernement, um einem Kameraden Guten Tag zu sagen. Zufällig traf ich hier mit dem Chef des Stabes zusammen, der große Eile hatte, da er eine wichtige Sitzung beim Gouverneur für einen Augenblick verließ, um sich ein Buch zu holen.
Im Vorbeigehen rief er mir noch zu: »Na, Plüschow, sind Sie wieder mal geflogen?«
»Jawohl,« sagte ich, »ich komme eben zurück. Ich habe mehrere Stunden lang die Küste nach feindlichen Truppenlandungen abgesucht, habe aber nichts vom Feinde gesehen.« 55
Ich sehe noch heute das überraschte Gesicht unseres Chefs.
»Was? Die Küste sind Sie abgeflogen, und das sagen Sie erst jetzt? Wir sitzen seit zwei Stunden und beraten, wie wir die großen Truppenlandungen in der Dsin-Dsia-Kou-Bucht, die uns heute durch unsere Kundschafter gemeldet wurden, abwehren können. Und Sie kommen gerade daher und können so einwandfreie Meldung bringen? Nun aber hinein zum Gouverneur und Ihre Beobachtung gemeldet!«
Mit einigen Worten konnte nun die ganze Beratung erledigt werden. Die Kundschafter-Aussagen waren selbstverständlich erfunden.
Ich aber war froh; die Ehre und das Ansehen der Fliegerei hatte ich gerettet!
Und nun begann für mich die schwerste, aber auch schönste Fliegerzeit.
Meine Feuertaufe im Flugzeug empfing ich schon bald. Es war in den ersten Tagen des September, als ich weit, weit draußen das Vorgelände abgraste und mich in eintausendfünfhundert Metern Höhe so recht des schönen Sonnenschein-Sonntages erfreute. Unter mir gewahrte ich plötzlich eine im Anmarsch befindliche größere japanische Truppenmasse, die mich mit lebhaftem Infanterie- und Maschinengewehrfeuer begrüßte. Mit zehn Schußlöchern in den Tragflächen kehrte ich stolz nach Hause zurück. In Zukunft blieb ich aber immer in zweitausend Metern Höhe, wodurch eventuell Gewehr- und Maschinengewehrtreffer in 56 meinen Motor und Propeller wesentlich ungefährlicher wurden.
Die Feuertaufe an Land ließ auch nicht lange auf sich warten.
An einem der nächsten Tage fuhr ich mit meinem Auto nach Schatsy-Kou, wo wir vorgeschobene Posten besaßen. Ohne an Böses zu denken, hielt ich vor dem Hause an. Zu meinem Erstaunen lagen alle Offiziere und Mannschaften längs einer nach See zu geschützten Böschung, winkten lebhaft mit den Armen, was ich selbstverständlich als Begrüßung auffaßte und durch ebensolches Winken erwiderte. Ich saß noch in meinem Auto, als ich dicht über meinem Kopfe ein lautes Pfeifen und Zischen und einen Augenblick darauf bereits ein ohrenbetäubendes Krachen vernahm. Nur zehn Schritt von uns entfernt war mitten im Mauerwerk des Hauses die erste Granate krepiert, und ehe ich mich auch nur besinnen konnte, langten auch schon die folgenden Geschosse an.
Nun wir aber raus aus dem Auto und die Beine in die Hand genommen und schnell zu den anderen an die allerdings nur fragliche Deckung gelehnt. Meine Kameraden bogen sich schier vor Lachen, denn so ernst die Situation auch war, so ulkig muß der Anblick gewesen sein.
Nun erfuhren wir auch, was los war.
Eine japanische Torpedoboots-Flottille lag vor uns und versuchte durch ihr Geschützfeuer Schatsy-Kou zu zerstören. Zwei volle Stunden lagen wir, ohne etwas sehen zu können, ohne jede Deckung 57 und ohne uns rühren zu können, im Granatfeuer. Dann schien die Mittagspause für den Jap zu kommen, und er stellte das Feuer ein. Als wir die Schäden des Hauses besichtigten, waren die einen Chinesenjungens schon längst dabei, die Granatsplitter zu sammeln. Und als wir uns einen Augenblick zu einer Tasse Kaffee hingesetzt hatten, kamen drei kleine Chinesenstifte freudestrahlend an, in ihren schmutzigen kleinen Fingern drei Blindgänger haltend, die sie in aller Ruhe vor uns auf den Tisch warfen. Na, wenn die losgegangen wären, das hätte ein schönes Schützenfest gegeben!
Nun mußten wir zurück, und als das Auto in das erste Felsental einbog, krepierten hinter uns schon wieder die Granaten der neu einsetzenden Beschießung.
Einige Zeit darauf mußte ganz Schatsy-Kou mit dem ganzen übrigen Schutzgebiet geräumt werden, und am achtundzwanzigsten September wurden wir hinter das Haupthindernis eingeschlossen, und gleichzeitig setzte von See aus die erste große Beschießung ein.
Das war eine Ballerei!
Am frühen Morgen dieses Tages saß ich quietschfidel in meiner Badewanne, um mich zu einem größeren Fluge zu erfrischen, als plötzlich ein schier ohrenzerreißender Lärm einsetzte. Da unsere Geschütze bereits tage- und nächtelang gedonnert hatten, achtete ich nicht weiter auf den verstärkten Lärm, sondern schob ihn auf das 58 Feuern unserer Achtundzwanzig-Zentimeter-Haubitzen der Bismarck-Batterie, die, um Munition zu sparen, bis jetzt geschwiegen hatte, und an deren Fuß meine Villa lag.
Ich schickte meinen Burschen noch zu meinen Flugzeug, um nachzusehen, ob alles klar gemacht würde. Aber schon nach einigen Minuten kam er atemlos und etwas blaß zurück und meldete: »Herr Oberleutnant, wir müssen schnell die Villa verlassen, wir werden von vier großen Schiffen beschossen. Eine der schweren Granaten ist eben ganz dicht beim Flugzeugschuppen krepiert, aber Gott sei Dank ist das Flugzeug heilgeblieben, und niemand ist verletzt. Nur ich habe mir die Finger verbrannt. Da lag so ein schönes großes Sprengstück, und das wollte ich doch als Andenken mitnehmen; na, und das war so heiß, aber mitgebracht habe ich es doch!« Und dabei hob er freudestrahlend sein halb verbranntes Taschentuch hervor, in dem ein zirka armlanges furchtbares Sprengstück einer Dreißigeinhalb-Zentimeter-Granate lag. Nun war ich aber raus aus meinem Bad! Kaum zwei Minuten später stand ich bei meinem schwer gefährdeten Flugzeug, und mit vereinten Kräften schoben wir den teuren Vogel in eine andere Ecke des Platzes, wo er hinter einem Abhang etwas geschützter stand. Dann lief ich auf den Küstenkommandeurstand, um mir das Schauspiel der Beschießung anzusehen.
Dieser Kommandeurstand lag auf einem Hügel, von dem man einen geradezu idealen 59 Überblick über Tsingtau hatte. Von hier aus konnte man jede einzelne Granate einschlagen sehen, und wenn ich nicht flog, saß ich während der ganzen nächsten Wochen hier oben in freier Luft, um dem Kampf zuzusehen.
Die erste Beschießung von Tsingtau an diesem achtundzwanzigsten September war besonders eindrucksvoll.
Das Krachen und Krepieren der Granaten und das Gedröhne wurde durch die rings herumliegenden Berge bedeutend verstärkt. Schlag auf Schlag folgten die Einschläge der langen Dreißigeinhalb-Zentimeter-Schiffsgeschosse, und wir hatten den Eindruck, daß ganz Tsingtau in einen Trümmerhaufen verwandelt werden würde. Ein unheimliches Gefühl, an das man sich aber schnell gewöhnt. Man ist ja doch den einschlagenden Granaten gegenüber vollkommen machtlos und kann nichts weiter tun als warten, bis alles vorbei ist.
Man soll nur Glück haben, nicht gerade da zu stehen, wo solch ein unheimliches Ding niedersaust.
Wie schmachvoll müssen diese und die folgenden Beschießungen für die Engländer gewesen sein!
Die feindlichen Schiffe dampften so weit draußen, daß unsere Geschütze sie nicht erreichen konnten. Also in vollster Sicherheit. Vorneweg fuhren drei japanische Schlachtschiffe und als letztes Schiff hinterher unter japanischem Befehl: das englische Linienschiff »Triumph«.
Wie stolz sich diese Engländer wohl bei solcher Henkersarbeit vorgekommen sind! 60
Gott sei Dank war der Schaden, den das Bombardement angerichtet hatte, nicht groß gewesen, und von nun ab sahen wir den kommenden Beschießungen mit größter Ruhe entgegen.
Am Abend dieses Tages war ich Zeuge einer besonders traurigen Begebenheit.
Unsere Kanonenboote »Cormoran«, »Iltis« und »Luchs« wurden von uns versenkt, nachdem sie ihre ganze Bewaffnung abgegeben hatten.
Es war ein ganz trostloser Anblick.
Die drei Schiffe, hintereinander festgemacht, wurden durch einen Dampfer in tiefes Wasser geschleppt, dort angezündet, dann gesprengt und verbrannt. Es sah aus, als ob die drei Schiffe wüßten, daß sie zur Schlachtbank geführt wurden. So unendlich traurig und hilfesuchend reckten sie ihre kahlen Masten zum Himmel empor; und unter den Flammen wanden sich die Schiffsleiber, als wenn sie noch Leben in sich gehabt hätten, bis endlich die Wogen über ihnen zusammenschlugen und sie von ihren Leiden befreiten. Wie krampfte sich da das Seemannsherz zusammen bei diesem Anblick! Diesen drei folgten »Lauting« und »Taku« und kurz vor der Übergabe der kleine »Jaguar« und der österreichische Kreuzer »Kaiserin Elisabeth«, nachdem diese beiden letzteren Schiffe uns unendliche Dienste geleistet hatten. Die Arbeit dieser beiden Schiffe füllt ein Ruhmesblatt in der Geschichte von Tsingtaus Kampf und Tod. 61