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Die Tätigkeit der japanischen Belagerungsarmee war für uns ein großes Rätsel. Nach der ersten großen Beschießung dachten wir alle, die Japaner würden versuchen, die Festung sofort zu stürmen, aber nichts dergleichen geschah. Wir begriffen den Feind einfach nicht, der mußte doch wissen, wie schwach wir waren, und daß sie nur ein einziges Drahthindernis zu überwinden brauchten, um in der Festung zu sein.
Dann tauchten bei uns die wildesten Gerüchte auf.
»Die Japaner wagen nicht uns anzugreifen, die Sache steht in Europa zu gut für uns!« Dann wieder: »Die Amerikaner schicken uns ihre Flotte zu Hilfe; die Japaner werden abziehen müssen!« Und dann: »Die Japaner wollen uns nur aushungern, sie wollen, daß Tsingtau so heil wie möglich in ihre Hände fällt!«
Aber alles blieb nur Vermutung.
Ruhig und systematisch und ohne daß wir sie daran hindern konnten, landeten die Japaner ihre Truppen, bauten Wege und Eisenbahnen, schafften die schwersten Belagerungsgeschütze und Munition heran, gruben sich unseren Hindernissen gegenüber ein und arbeiteten sich vorwärts gegen unsere Verteidigungslinie.
Jetzt begann für mich meine Hauptarbeit: das Erkunden der feindlichen schweren Batterien. 62
Und Tag für Tag, wenn das Wetter und der Propeller es erlaubten, stand ich früh im ersten Morgengrauen bei meinem Flugzeug.
Und auf ging es, einem ungewissen Schicksal entgegen. Und wenn die Sonne aufging, dann schwebte ich hoch am blauen Firmament, umkreiste stundenlang die feindlichen Stellungen und spähte hinab auf das geliebte Schutzgebiet, in das sich ein frecher Feind einnistete, um uns Tod und Verderben hinüberzusenden.
Schwer war meine Arbeit, aber schön, und sie wurde durch den Erfolg reichlich belohnt.
Und daß ich Erfolg hatte, das merkte ich am besten aus den Anstrengungen, welche der Feind machte, um mich herunterzuholen und mich unschädlich zu machen.
Wie ich bereits vorher erwähnt habe, war ich jetzt der einzige Flieger in Tsingtau, »der Vogelmaster von Tsingtau«, wie mich die Chinesen nannten, und hatte auch nur diese eine Taube zur Verfügung. Nun galt es aufpassen und nichts kaputt machen, sonst war es vorbei mit der Fliegerei.
Ganz außerordentlich wurde das Fliegen erschwert durch den kleinen, von hohen Bergen wie ein Kessel eng umschlossenen Flugplatz und die ganz außerordentlich schwierigen Luftverhältnisse. Durch die hohen, schroffen Gebirge, durch den Wechsel von Land und Wasser und durch die starke Sonnenbestrahlung war die Turbulenz der Luft ganz ungewöhnlich stark und die 63 Luftverhältnisse schon morgens um acht Uhr so ungünstig, wie sie in Deutschland während der heißesten Jahreszeit um die Mittagsstunden kaum vorkommen. Nur der kann wohl einen Begriff von den Schwierigkeiten des Fliegens in einem solchen Gelände sich bilden, der das selbst durchgemacht hat.
Hinzu kam, daß mein Flugzeug, welches für normale Verhältnisse zu Hause gebaut war, in dieser dünnen Luft zu schwer war, mein Motor hundert Umdrehungen zu wenig machte und ich mit einem Propeller flog, der auf die oben angeführte Weise entstanden war.
Kein Wunder also, daß ich nicht daran denken konnte, jemals einen Beobachter mitzunehmen. Alles irgend Entbehrliche riß ich aus meinem Flugzeug heraus, um es zu erleichtern. Benzin und Öl wurden so bemessen, daß ich eben auskam, ja oft ließ ich sogar meine Lederjacke zu Hause, nur um mit dem Flugzeug aus dem Platz herauszukommen.
Der Start, der war ja das Verhängnisvolle!
Jeder Start mußte glücken; mißlang er, dann war es um mich und mein Flugzeug geschehen.
Der Abflug war wirklich ein jedesmaliger Kampf auf Leben und Tod, und wie oft hat es nur an einem Haar gehangen, daß das Flugzeug nicht zerschellte.
Manchmal, wenn ich nach Süden zu startete, setzten am Ende des Platzes, ungefähr da, wo das Fort Hu-Tchuen-Huk mit dem Meere zusammenstößt, enorme Fallböen ein, das Flugzeug fiel 64 direkt unter mir weg, ich riß es eben noch über die Geschützrohre des Forts frei, dann fiel das Flugzeug wieder schwer durch, und oft handelte es sich nur um Handbreiten, daß ich es über dem Meeresspiegel wieder abfing, wo es sich langsam erholte und zu klettern anfing.
Der Start nach Norden zu (andere als diese beiden Richtungen kamen nicht in Frage) war furchtbar, und im ganzen habe ich ihn nach dieser Richtung hin auch nur sechs- bis siebenmal gemacht; aber an diese Male denke ich dafür mein Leben lang.
Im äußersten Südzipfel des Platzes mußte ich dann starten. Und in einer geraden Linie ging es über den nur wenige hundert Meter langen Platz hinweg, über meinen Schuppen, über mehrere Villen und über unseren Kirchhof, der bereits an einem zirka einhundertundfünzig Meter hohen schmalen Sattel lag, der von beiden Seiten von den Felsmassen des Bismarck-Berges und der Iltis-Berge eingeschlossen wurde. Sowie ich links den Bismarck-Berg hinter mir hatte, kamen die ersten Seitentäler, und aus diesen setzten scharfe Böen ein, mein Flugzeug bekam einen mächtigen Stoß und legte sich schwer nach Steuerbord über, und trotz voller Verwindung konnte ich das Flugzeug nicht wieder aufrichten. Seitensteuer durfte ich nicht geben, um nicht in die Felsen hineinzurennen.
So raste denn mein Flugzeug in dieser Stellung mit der rechten Flügelspitze nur wenige 65 Zentimeter von den unter mir liegenden Baumkronen und Felsmassen entfernt durch dieses Höllental hindurch, und ich konnte nichts weiter tun, als mein Steuer mit eiserner Ruhe führen, um nicht unten zu zerschellen. Bis ich dann endlich auf der anderen Seite über dem Wasser der Kiautschou-Bucht schwebte und mein Flugzeug wieder vernünftig wurde.
Ich will's gestehen, heiß und kalt hat's mich bei jedem Start überlaufen, und ordentlich froh war ich, als ich ihn hinter mir hatte und mich höher und höher schraubte, bis ich endlich meine zweitausend Meter erreicht hatte. Das war allerdings eine Geduldsprobe. Manchmal kam ich in einer Stunde hinauf. Gewöhnlich aber dauerte es bis zu einunddreiviertel Stunden. Während dieser ganzen Zeit flog ich weit, weit draußen über See, um den Schrapnells, die die Japaner nach mir sandten, zu entgehen.
Kapitänleutnant Plüschow
Was konnte ich noch lange darüber nachdenken, daß ich ein Landflugzeug hatte, und daß ich bei der geringsten Motorpanne ertrinken mußte. Es wäre ja doch dasselbe gewesen, als wenn eine Panne oder womöglich ein Volltreffer mich über dem Lande erreicht hätten. Im ganzen Schutzgebiet gab es nur Felsen, Schluchten, und außer meinem Flugplatz nicht ein einziges Plätzchen, wo ich hätte heil landen können.
Die Gedanken daran kamen mir wohl ab und zu in den ersten Tagen, aber da sie doch zwecklos waren, gab ich sie wieder auf. 66
Während der ganzen Zeit dieses Emporkletterns erfreute ich mich dann an dem herrlichen Sonnenschein, an dem wunderbaren Anblick der schroffen Felsenküsten und an dem tiefblauen Meer. Meist sang oder pfiff ich ein Liedchen, und wenn der Höhenmesser zweitausend Meter zeigte, dann brummte ich ein Gott sei Dank, und auf dem kürzesten Wege schoß ich der feindlichen Linie zu und begann meine Beobachtungen.
Diese führte ich dann folgendermaßen aus:
Sobald ich über dem Feinde war, drosselte ich den Motor so, daß das Flugzeug die Höhe von selber hielt. Dann hängte ich meine Karte vor mich an das Höhensteuer, nahm einen Bleistift mit Notizheft zur Hand und beobachtete nach unten, zwischen Tragfläche und Rumpf hindurchsehend, den Feind. Das Höhensteuer ließ ich ganz los, und die Seite steuerte ich mit den Füßen.
Eine Stellung nmkreiste ich dann so lange, bis ich alles ausgemacht, in die Karte eingetragen, mir genau aufgeschrieben und eine ganz genaue Skizze angefertigt hatte. Ich hatte bald eine solche Übung darin, daß ich oft, ohne überhaupt aufzusehen, einundeinhalb bis zwei Stunden nach unten beobachtete und alles genau aufschrieb.
Und wenn mir dann das Genick steif wurde, drehte ich mich um und sah nach der anderen Seite hinunter. Bis ich dann endlich mit meinen Aufzeichnungen zufrieden war und ein Blick auf die Benzinuhr mich belehrte, daß es höchste Zeit sei umzukehren, um noch meinen Platz zu erreichen. 67
Der Rückflug war jedesmal derselbe. In stolzem Bogen umkreiste ich die Werft und die Stadt, und über meinem Platz angekommen, stellte ich den Motor ab, und in rasendem Kurven-Gleitflug ging es der Erde zu, und vier Minuten später stand ich wohlbehalten unten.
Die Eile war nötig!
Mein Flugzeug wurde natürlich während der ganzen Stunden, die ich über den feindlichen Stellungen schwebte, auf das heftigste mit Gewehren und Maschinengewehren beschossen. Und als das nichts half, kamen die Schrapnells. Die waren allerdings eklig.
Und immer wieder neue Überraschungen hatten die Japaner für mich. Als ich z. B. an einem herrlichen Morgen mit prächtigem, blauem Himmel von einer Aufklärung zurückkam und landen wollte, schwebten über meinem ganzen Landungsplatz lauter kleine weiße Wölkchen in etwa dreihundert Metern Höhe, die von oben ganz allerliebst aussahen.
Aber bald merkte ich, daß die Japaner sich wieder einmal einen Scherz mit mir erlaubten, denn die Wölkchen waren Sprengwolken von Zehneinhalb-Zentimeter-Schrapnells.
Aber was half es; Zähne zusammen und durch!
Und vier Minuten später stand meine Maschine aus zweitausend Metern Höhe im Sturzflug kommend wohlbehalten auf dem Platz, und so schnell ich konnte, rollte ich mit ihr in den Schuppen, dessen Dach durch Erde geschützt war. 68
Nun galt es für mich, List anzuwenden.
Und manchmal, wenn ich noch über den feindlichen Stellungen war, stellte ich plötzlich den Motor ab und sauste senkrecht auf eine Ecke meines Platzes zu, so daß die Japaner glaubten, ich sei abgeschossen, und sie so überrascht wurden, daß ihre Schrapnells über dem Platz erst ankamen, als ich bereits zum Schuppen rollte.
Als ich aber immer wiederkam, da verlegten die Japaner zwei ihrer Zehneinhalb-Zentimeter-Batterien so weit nach hinten und nach der Seite, daß ihre Schrapnells mich bequem erreichten, während ich die Stunden über ihren Stellungen kreiste. Das war das unangenehmste, und oft wäre mein Schicksal auch beinah besiegelt gewesen, wenn ich nicht durch eine plötzliche scharfe Wendung das Getroffenwerden vermieden hätte.
Die Schrapnells krepierten dann so nahe, daß ich trotz des Motorgeräusches das häßliche Bellen der Detonation hörte, den heftigen Luftdruck im Gesicht verspürte und mein Flugzeug so stark wie eine alte Kuff im Seegang zu rollen anfing, was mich bei meinen Beobachtungen stark belästigte.
Ich muß offen sagen, sobald ich jedesmal glatt gelandet war, spürte ich ein herrliches Gefühl der Freude und der Genugtuung nach vollbrachter, schwerer Arbeit, ja meist stieß ich vor lauter Freude einen kräftigen Jauchzer aus.
Zu denken auch:
Nur vier Minuten früher war ich zweitausend Meter hoch gewesen, hatte Stunden höchster 69 Anstrengung und Gefahr hinter mir und rollte nun trotz Geschoß und Schrapnell auf Gottes schöner Erde und hatte wieder festen Grund unter den Füßen!
Sobald ich aufgesetzt hatte, kamen meine vier braven Leute, die des Schrapnellhagels nicht achteten, herangelaufen und halfen mir die Maschine bergen. Mit freudigem Gekläff wurden sie umsprungen von meinem treuen Hund Husdent.
Und während die vier das Flugzeug zum nächsten Male wieder klar machten, saß ich längst am Steuer meines Autos, in der Brusttasche meine Karten und Meldungen, neben mir Husdent, und raste nochmals durch das Schrapnellfeuer über den Platz und zum Gouvernement, wo bereits auf meine Meldungen gewartet wurde.
Ich glaube, man wird meine Freude und meinen Stolz verstehen können, wenn ich meine Aufzeichnungen auspacken konnte. Hatte ich doch manchmal an einem Tage fünf bis sechs neue feindliche Batterien entdeckt, und oft füllten meine Beobachtungen vier Seiten der Berichtsformulare aus.
Der warme Händedruck des Dankes meines Gouverneurs und des Chefs des Stabes sagte mir genug.
Und während ich dann nach Hause fuhr, um zu frühstücken und mich zu erholen, da donnerten bereits unsere Geschütze und warfen ihren Eisenhagel in die von mir neu erkundeten Stellungen hinein. 70