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13. Eben aber jenes Losbinden von den Fesseln, sagte ich, und jenes Hinüberwenden von den Schatten hinweg zu den Bildern und zum Lichte hin, und jener Hinausweg von der unterirdischen Höhle zur Sonne, und dort auf die Thiere und die Pflanzen und auf das Licht der Sonne allerdings mit einer Unfähigkeit hinzublicken, hingegen auf jene Abbilder im Wasser wirklich hinzublicken, dortselbst aber eben auf göttliche Abbilder und auf Schatten des wirklich Seienden, wobei eben nicht Schatten wieder von bloßen Bildern es sind, welche in ihrer Abschattung durch eine im Vergleiche mit der wirklichen Sonne gleichfalls so unbedeutende Sonne Gegenstand unserer Beurtheilung wären, – all diese Thätigkeit also in den von uns durchgegangenen Künsten enthält diese Bedeutung in sich und einen aufwärts gehenden Zug, durch welchen der beste Theil unserer Seele zur Anschauung des besten unter dem Seienden geführt wird, sowie damals dort der hellste Theil unseres Körpers zur Anschauung des Glänzendsten in dem Körperhaften und im Gebiete des Sichtbaren. – Ich will es in dieser Weise annehmen, sagte er; zwar scheint es mir allerdings schwer zu sein, es anzunehmen, in anderer Weise aber hinwiederum auch schwer, es nicht anzunehmen; dennoch aber wollen wir, – denn Solches soll nicht bloß bei dem jetzt uns obliegenden Gegenstande angehört werden, sondern man muß hierauf auch bei anderweitiger Veranlassung oftmals zurückkommen –, nun annehmen, daß es so sich verhalte, wie jetzt gesagt wurde, und hiemit auf jenes Gesetz selbst näher eingehen und es ebenso durchgehen, wie wir jene Vorhalle durchgegangen haben. Gib also an, welches die Art und Weise der dialektischen Fähigkeit sei, und in welche Arten sie zerfalle, und welches hinwiederum hiebei die Wege seien; denn diese ja möchten wohl, wie es scheint, es bereits sein, welche eben dorthin führen, woselbst, wenn man dahin gelangt ist, gleichsam ein Ruhepunkt des Weges und ein Ziel der Wanderung eingetreten sein dürfte. – Du wirst, o lieber Glaukon, sagte ich, nicht mehr im Stande sein, mir zu folgenEs soll wohl durch diese Worte, sowie durch den kurz vorhergegangenen Schaltsatz. »denn Solches soll nicht bloß u. s. f.« nur ausgedrückt werden, daß die Darlegung der höchsten Idee selbst und die Erörterung ihres gesammten Inhaltes außerhalb des Zweckes dieser gegenwärtigen Untersuchung liege, da es sich hier ja doch gleichsam nur um die pädagogische Seite der Dialektik handelt.; denn was mich betrifft, so würde es allerdings nicht an meiner Bereitwilligkeit fehlen, und du würdest auch nicht mehr bloß ein Gleichniß desjenigen, was wir hiebei meinen, sehen, sondern die Wahrheit selbst, wie sie wenigstens mir sich zeigt; ob sie es aber wirklich sei oder nicht, dieß zu betheuern, möchte wohl nicht mehr an der Stelle sein; aber daß sie ungefähr etwas Derartiges sei, wie wir sagten, müssen wir wohl betheuern; oder etwa nicht? – Was soll auch im Wege stehen? – Nicht wahr also, auch daß die dialektische Fähigkeit allein sie demjenigen zeigen kann, welcher der so eben durchgegangenen Gegenstände kundig ist, es in einer andern Weise aber keinenfalls möglich sei? – Ja, auch dieß zu betheuern, ist an der Stelle, sagte er. – Folgende Behauptung also wenigstens, sprach ich, wird uns Niemand bestreiten, daß das eigentliche Sein betreffs eines jeden einzelnen Dinges durch kein anderes Verfahren allseitig planmäßig erfaßt wird, sondern daß alle übrigen Künste entweder nur auf die Meinungen und Begierden der Leute sich beziehen, oder sämmtlich nur im Hinblicke auf ein Entstehen und ein Zusammensetzen, oder aus eine Pflege der von Natur aus entstehenden und der zusammengesetzten Dinge gefördert wurden, von den übrigen aber, von welchen wir sagten, daß sie das Seiende irgend erfassen, nemlich von der Geometrie und den auf sie folgenden, sehen wir, daß sie bezüglich des Seienden in einem Traum-Wachen sich befinden, in wirklichem Wachen aber Nichts erblicken können, so lange sie bloße Voraussetzungen anwenden und diese unerschütterlich belassen, eben unbefähigt, für dieselben eine Begründung zu geben; denn wo der Ausgangspunkt Etwas ist, was man nicht weiß, und auch das Ende und die Mittelglieder aus Etwas, was man nicht weiß, zusammengeflochten sind, wie soll da eine Möglichkeit sein, daß ein derartiges bloßes Zugeständniß jemals ein Wissen werde? – Allerdings ist keine Möglichkeit, sagte er. – Nicht wahr also, sprach ich, das dialektische Verfahren allein schreitet auf diesem Wege, indem es die Voraussetzungen aufhebt, zum Ausgangspunkte selbst fort, um ihn festzustellen, und in der That zieht sie das in einem Schlamme des Unverständnisses vergrabene Auge der Seele allmälig hervor und leitet es nach Oben, indem sie als Stützen und Mitführerinnen jene von uns durchgegangenen Künste benützt, welche wir zwar häufig aus Gewohnheit als Wissenschaften bezeichnen, aber eigentlich eines anderen Namens bedürfen, welcher an Deutlichkeit über das Meinen hinauf, an Dunkelheit aber unter das Wissen herunter geht; als ein Nachdenken aber bezeichneten wir dieß im Obigen irgendwo B. VI, Cap. 21.; es handelt sich aber hier, wie mir scheint, nicht um einen Streit betreffs des Samens, wenn man noch über so Vieles, wie uns obliegt, eine Erwägung anstellen muß. – Nein, allerdings nicht, sagte er, sondern nur um einen Namen, welcher bezüglich des Sprachausdruckes dasjenige deutlich bezeichnet, was er in unserer Seele bedeutet. –
14. Gefällt es uns also noch, sagte ich, wie dort im Obigen den ersten Theil als Wissenschaft, den zweiten als Nachdenken, den dritten als Glauben, und den vierten als Vermuthung zu bezeichnen, und daß die letzteren beiden zusammen das Meinen, die ersteren beiden zusammen aber die Denkthätigkeit seien, und daß das Meinen sich auf das Werden, das Nachdenken aber auf die Wesenheit beziehe, und daß ebenso wie die Wesenheit zum Werden, auch die Denkthätigkeit zum Meinen und die Wissenschaft zum Glauben und das Nachdenken zur Vermuthung sich verhalte; hingegen die nach eben diesem nemlichen Verhältnisse vorgenommene Doppeltheilung eines jeden von beiden, nemlich sowohl des Gegenstandes der Meinung, als auch des Gegenstandes des Denkens, wollen wir, o Glaukon, bei Seite lassen, damit sie uns nicht in noch vielmal mehrere Begründungen verwickle, als die bereits von uns durchgegangenen sind. – Aber ich wenigstens, sagte er, bin in allem Uebrigen, so weit ich folgen kann, der nemlichen Meinung. – Wirst du also auch einen Dialektiker denjenigen nennen, welcher den Grund der Wesenheit eines jeden Dinges erfaßt? und von jenem, welcher nicht im Stande ist, sich und Andern eine Begründung zu geben, eben insoweit er dieß nicht kann, dann sagen, daß er in diesem Betreffe keine Vernunft habe? – Wie sollte ich ja auch, erwiederte er, anders sagen? – Nicht wahr also, auch betreffs des Guten verhält sich's ebenso; wer nemlich nicht im Stande ist, die Idee des Guten ihrem Grunde nach von allen übrigen loszutrennen und so festzustellen, und gleichsam wie in einem Kampfe durch alle Beweisgründe sich durchschlägt, wobei er nemlich nicht zufolge dem Scheine, sondern zufolge der Wesenheit den Beweis zu führen sich vornähme, und in all diesem nicht mit einer fehlerlosen Begründung bis an's Ziel kömmt, von diesem wirst du, wenn er so sich verhält, wohl behaupten, daß er weder das Gute an und für sich, noch irgend ein anderes Gutes wisse, sondern, falls er etwa irgend ein Abbild desselben ergreift, es vermittelst der Meinung, nicht aber vermittelst des Wissens ergreife, und daß er das jetzige Leben durchträumend und verschlafend, noch eher, als er hier erwache, in den Hades komme und erst vollends in tiefsten Schlaf versinke. – Ja, bei Gott, sagte er, gar sehr wohl werde ich all dieses behaupten. – Nun aber wirst du ja auch bei deinen Kindern, welche du vermittelst der Vernunft pflegst und bildest, wofern du sie in der That pflegst, es nicht geschehen lassen, daß sie unvernünftig wie todte Striche in dem Staate herrschen und Gewalt haben über das Größte. – Nein, gewiß nicht, sagte er. – Gesetzlich bestimmen wirst du ihnen demnach, daß sie im höchsten Grade an dieser Bildung Antheil nehmen, in Folge deren sie im Stande sein werden, in der wissenschaftlichsten Weise zu fragen und zu antworten. – Ja, ich werde es, sagte er, im Vereine mit dir gesetzlich bestimmen. – Scheint es dir also, sprach ich, daß gleichsam wie eine Mauerzinne über den Unterrichtsgegenständen uns die Dialektik oben sich befinde, und kein anderer Unterrichtsgegenstand noch höher, als sie ist, hinaufgelegt werden könne, sondern hiemit die Angabe der Unterrichtsgegenstände bereits ihr Ende erreicht habe? – Ja, mir wenigstens scheint es, sagte er. –
15. Eine Vertheilung demnach, sagte ich, ist dir nun noch übrig, nemlich wem wir diese Unterrichtsgegenstände zuweisen sollen und in welcher Weise. – Ja, klärlich, sagte er. – Erinnerst du dich also an unsere frühere Auswahl der Herrscher, wie beschaffene wir damals auswählten B. III, Cap. 19 f.? – Wie sollte ich mich nicht erinnern? sagte er. – Im Uebrigen demnach glaube, daß man Begabungen folgender Art auswählen müsse; nemlich die zuverlässigsten und die tapfersten Männer müssen hiebei den Vorzug erhalten, und nach Möglichkeit auch die am schönsten gestalteten; außerdem aber muß man nicht bloß Solche suchen, welche in ihrem Charakter wacker und ehrwürdig sind, sondern dieselben müssen auch Alles an sich haben, was für diese Bildung ihrer Begabung förderlich ist. – Welcherlei Eigenschaften führst du hiebei an? – Einen durchdringenden Sinn, o du Hochzupreisender, sagte ich, müssen sie bezüglich der Unterrichtsgegenstände besitzen, und nicht schwer darf ihnen das Lernen fallen, denn weit eher ja ziehen sich die Seelen bei heftigem Lernen feig zurück, als bei Leibesübungen, denn die Plage dabei geht mehr die Seele an, weil sie ihr eigenthümlich, nicht aber mit dem Körper gemeinsam ist. – Dieß ist wahr, sagte er. – Aber auch einen mit Gedächtniß begabten und unbeugsamen und in jeder Beziehung arbeitsliebenden müssen wir suchen; oder wie solltest du glauben, daß irgend Jemand sowohl körperlich sich anstrengen wolle, als auch eine so ausgedehnte Lernthätigkeit und Uebung zu Ende führen werde? – Allerdings Keiner, sagte er, wenn er nicht durchaus eine treffliche Begabung hat. – Der jetzt bestehende Fehlgriff wenigstens, sagte ich, und die Verachtung der Weisheitsliebe sind darum eingetreten, weil, wie wir auch schon oben sagten B. VI. Cap. 9., man nicht in verdienter Weise sich an sie machte; denn unächt Geborne hätten sich nicht an sie machen sollen, sondern nur ächt Geborne. – Wie so? sagte er. – Erstens, erwiederte ich, darf, wer sich an sie macht, bezüglich der Arbeitsliebe nicht ein Hinkender sein, so daß er zur Hälfte arbeitsliebend und zur Hälfte arbeitsscheu wäre; es ist aber dieß Jemand dann, wenn er zwar Leibesübungen liebt und die Jagd liebt und in allen körperlichen Dingen die Anstrengung liebt, aber weder lernbegierig, noch hörbegierig, noch zu Untersuchungen aufgelegt ist, sondern in all diesem jede Anstrengung haßt; ein Hinkender aber ist auch jener, welcher bezüglich der Arbeitsliebe in das Gegentheil von diesem umgeschlagen hat. – Sehr wahr, sagte er, sprichst du da. – Nicht wahr also, auch bezüglich der Wahrheit, sagte ich, werden wir in gleicher Weise jene Seele als eine verstümmelte bezeichnen, welche zwar die freiwillige Lüge haßt und sowohl an sich selbst nicht dulden will, als auch bei den Lügen Anderer überaus entrüstet ist, hingegen die unfreiwillige gutwillig sich gefallen läßt und, wenn sie auf einer Unwissenheit ertappt wird, nicht entrüstet ist, sondern leichtfertig, wie ein zur Schweinehaltung gehöriges Thier, sich im Schlamme der Unwissenheit wälzt. – Ja, völlig so ist es, sagte er. – Und auch bezüglich der Besonnenheit, sprach ich, und der Tapferkeit und der Großartigkeit und aller Zweige der Vortrefflichkeit muß man nicht in geringem Grade den unächt und den ächt Gebornen beachten; denn wenn das Verständniß in Erwägung all der derartigen Dinge fehlt, sei es bei einem Einzelnen, oder sei es bei einem Staate, so gebrauchen sie, ohne es zu bemerken, eben Hinkende und unächt Geborne bei jeder beliebigen Verwendung derselben, ersterer als Freunde und letzterer als Herrscher. – Gar sehr ja auch, sagte er, verhält sich's so. – Wir demnach, sprach ich, müssen uns vor all dergleichen in Acht nehmen, da ja, wenn wir geradgliedrige und geradsinnige Menschen zu dem so ausgedehnten Unterrichte und der so ausgedehnten Uebung hinführen und hiedurch sie bilden, sowohl die Gerechtigkeit selbst uns keine Vorwürfe machen wird, als auch wir den Staat und die Staatsform bewahren werden, hingegen wenn wir anders beschaffene zu jenem anleiten, uns von all diesem das Gegentheil widerfahren wird und wir über die Weisheitsliebe ein noch größeres Gelächter herbeiführen werden. – Schimpflich ja wäre dieß, sagte er. – Ja, allerdings, erwiederte ich; aber lächerlich ist es mir selbst, wie es scheint, im gegenwärtigen Augenblicke ergangen. – Wie so? sagte er. – Ich vergaß, erwiederte ich, daß wir ja nur Scherz machten, und sprach daher in heftigerer Spannung; nemlich während ich redete, blickte ich zugleich auf die Weisheitsliebe hin, und indem ich da sah, daß sie in unwürdiger Weise mit Füßen getreten wird, scheine ich in Entrüstung gerathen zu sein und gleichsam im Zorne gegen die Schuldigen jenes, was ich sprach, allzu ernsthaft gesprochen zu haben. – O nein, bei Gott nicht, sagte er; wenigstens für mich, deinen Zuhörer, sicher nicht. – Aber für mich, den Redner, erwiederte ich. Aber Folgendes laß uns nicht vergessen, daß bei jener obigen Auswahl wir Aeltere auswählten, hier jetzt aber dieß nicht angeht; nemlich dem Solon darf man dieß nicht glauben, daß Jemand bereits alternd noch Vieles zu lernen fähig sei, sondern ein Solcher kann dieß noch weit weniger, als er laufen kann, hingegen Sache der Jüngeren sind alle großen und vielfältigen Anstrengung. – Ja, nothwendiger Weise, sagte er. –
16. Was demnach das Rechnen und die Geometrie und jene ganze Vorbildung betrifft, in welcher man vor der Dialektik gebildet werden soll, so müssen wir Solches ihnen, so lange sie Knaben sind, vorlegen, und zwar dabei die Form des Unterrichtes nicht als einen Lern-Zwang aufstellen. – Warum wohl? – Weil, sagte ich, keinen Unterrichtsgegenstand der Freie in Knechtschaft lernen soll; denn die körperlichen Anstrengungen machen, wenn sie auch in gewaltthätiger Weise durchgeführt werden, den Körper um Nichts schlechter, in der Seele aber bleibt kein gewaltmäßiger Unterrichtsgegenstand haften. – Dieß ist wahr, sagte er. – Also nicht mit Gewalt sollst du, mein Bester, sprach ich, die Knaben in den Unterrichtsgegenständen heranbilden, sondern im Spielen, damit du auch eher im Stande seist, zu durchschauen, nach welcher Richtung hin die Begabung eines Jeden stehe. – Es hat, was du sagst, sprach er, seinen Grund. – Nicht wahr also, du erinnerst dich, sagte ich, daß wir behaupteten B. V, Cap. 14., auch in den Krieg müsse man die Knaben zu Pferde als Zuschauer mitnehmen, und, falls es ungefährdet sei, sie nahe hinzuführen und Blut kosten lassen, wie junge Hunde? – Ich erinnere mich, sagte er. – Wer nun, sprach ich, bei all diesen Anstrengungen und Unterrichtsgegenständen und Gefahren immer als der Behendeste sich zeigt, dieser muß in eine gewisse Anzahl aufgenommen werden. – In welchem Alter? sagte er. – Wann sie, erwiederte ich, aus den nothwendigen Leibesübungen entlassen werden; denn jene Zeit, mag sie zwei oder drei Jahre dauern, enthält keine Möglichkeit, irgend etwas Anderes zu betreiben, denn Müdigkeit und Schlaf sind dem Unterrichte feind; und zugleich ja handelt es sich da um eine eigene, und zwar sehr bedeutende, Probe, wie sich ein Jeder in den Leibesübungen zeige. – Wie sollte es auch anders sein? sagte er. – Nach dieser Zeit demnach, sprach ich, vom zwanzigsten Jahre an werden die Ausgewählten größere Ehren genießen, als die Uebrigen, und die Unterrichtsgegenstände, welche den Knaben bei ihrer Bildung durch einander zu Theil geworden waren, müssen nun für diese zu einer Uebersicht der gegenseitigen Verwandtschaft der Gegenstände und der Natur des Seienden zusammengeführt werden, – Allein nur ein derartiger Unterricht, sagte er, haftet wenigstens fest in jenen, welchen er zu Theil wird. – Und es ist ja, sprach ich, dieß die größte Probe einer dialektischen Begabung, denn wer zur Uebersicht befähigt ist, ist zur Dialektik befähigt, wer jenes nicht, auch dieß nicht, – Ich bin der gleichen Meinung, sagte er. – Auf dieß demnach, sagte ich, wirst du genau sehen müssen, wer unter jenen am meisten ein Derartiger sei, und wer Ausdauer habe bei den Unterrichtsgegenständen, Ausdauer aber auch im Kriege und dem Uebrigen, was die Gesetze vorschreiben, und Solche also hinwiederum mußst du, wenn sie das dreißigste Jahr überschritten haben, aus den Ausgewählten wieder auswählen und abermals in größere Ehren versetzen und durch eine Erprobung bezüglich der dialektischen Fähigkeit beachten, wer die Fähigkeit habe, von den Augen und aller übrigen Sinneswahrnehmung sich loszuschälen und auf das Seiende an und für sich mit Wahrheit sich hinzuwenden; und hier denn nun, o Freund, ist es Sache einer großen Behutsamkeit. – Worin zumeist? sagte er. – Bemerkst du nicht, sprach ich, welch großes Unheil so, wie es jetzt steht, bezüglich der dialektischen Uebung eintritt? – Was meinst du hiemit? sagte er. – Von einem den Gesetzen feindlichen Sinne, erwiederte ich, wird es ja jetzt erfüllt. – Ja wohl, gar sehr, sagte er. – Glaubst du also, sprach ich, es sei zu verwundern, was ihnen widerfährt, und läßt du ihnen nicht Verzeihung angedeihen? – In welcher Beziehung doch wohl? sagte er. – Wie wenn z. B., sprach ich, Jemand als unterschobenes Kind in großem Vermögen und in einem ausgedehnten und angesehenen Geschlechte und unter vielen Schmeichlern aufgenährt würde, er aber dann, Mann geworden, bemerken würde, daß er nicht von jenen angeblichen Eltern abstamme, seine wirklichen Erzeuger aber nicht finden könnte, kannst du von einem Solchen wohl ahnen, in welcher Stimmung gegen die Schmeichler und gegen die sich ihm fälschlich aufdrängenden Eltern er in jener Zeit sich befinde, in welcher er das Verhältniß der Fälschung nicht wußte, und dann hinwiederum in jener Zeit, in welcher er es wußte? oder wünschest du, wenn ich es ahne, es von mir zu hören? – Dieß wünsche ich, sagte er. – Ich ahne also, sprach ich, daß er zunächst diejenigen, welche ihm als sein Vater und als seine Mutter und als seine übrigen Angehörigen erscheinen, mehr ehren werde, als die Schmeichler, und bei ersteren es viel weniger übersehen werde, wenn sie irgend Mangel leiden, und viel weniger auch in großen Dingen ihnen ungehorsam sein werde, als den Schmeichlern, nemlich all dieß in jener Zeit, in welcher er das wahre Verhältniß nicht weiß. – Ja, so scheint es, sagte er. – Hat er aber demnach das Wirkliche bemerkt, so ahne ich hinwiederum, daß er dann in Bezug auf jene mit den Ehrenbezeugungen und dem Eifer nachlassen, gegen die Schmeichler aber solches stärker üben und diesen im Vergleiche mit der früheren Zeit ganz besonders gehorchen und bereits nach ihren Vorschriften leben werde, mit ihnen völlig unverhüllt in Verkehr tretend, aber eben um jenen Vater und die übrigen unächten Angehörigen sich, falls er von Natur aus nicht sehr tüchtig ist, gar Nichts mehr bekümmern werde. – All dieses, sagte er, möchte wohl, wie du es angibst, eintreten; aber in welcher Beziehung steht denn dieses Gleichniß mit jenen, welche sich an die Dialektik machen? – In folgender: Wir haben doch wohl von Kindheit an irgend Ansichten über das Gerechte und Schöne, in welchen wir gleichsam wie unter der Obhut von Eltern auferzogen wurden, indem wir ihnen gehorchen und sie ehren. – Ja, wir haben solche. – Nicht wahr also, auch anderweitige diesen entgegengesetzte Bestrebungen haben wir, welche Vergnügungen in sich enthalten, die unserer Seele schmeicheln und sie zu sich hin ziehen, aber die irgendwie Ordentlichen nicht zu überreden vermögen, sondern Letztere ehren nur jenes Väterliche und gehorchen ihm. – Ja, so ist es. – Wie aber nun? sagte ich; wenn den sich so Verhaltenden eine Frage überrascht, welche da fragt, was denn das Schöne sei, und ihn, da er zur Antwort geben wird, was er vom Gesetzgeber gehört hat, dann die Begründung selbst widerlegt und durch oftmalige und vielfache Widerlegung zuletzt zu der Ansicht bringt, daß Solches nicht in höherem Grade schön, als auch schimpflich sei, und ebenso betreffs des Gerechten und des Guten und alles desjenigen, was er zumeist in Ehren gehalten hatte, wie glaubst du, daß er dann wohl sich gegen jenes benehmen werde bezüglich einer Ehrenbezeugung und bezüglich des Gehorsames? – Nothwendiger Weise, sagte er, muß er sie weder in gleichem Grade ehren, noch ihnen gehorchen. – Wann er also, sprach ich, einerseits dieß nicht mehr wie vordem für ehrwürdig und ihm angehörig hält, und andrerseits das Wahre nicht finden kann, gibt es dann irgend eine anderweitige Lebensweise, welcher er sich wahrscheinlich nähern wird, als die ihm schmeichelte? – Nein, keine andere, sagte er. – Ein Feind des Gesetzes demnach, glaube ich, wird er allem Anscheine nach aus einem vordem Gesetzlichen geworden sein. – Ja, nothwendig. –
17. Nicht wahr also, sagte ich, erklärlich ist dieses, was denjenigen widerfährt, welche in solcher Weise sich an die Dialektik machen, und es verdient, wie ich so eben sagte, gar sehr Verzeihung. – Ja, und auch Mitleid, sagte er. – Nicht wahr also, eben davor, daß dieses Mitleid nicht bei jenen Dreißigjährigen dir eintreten müsse, sollst du in jeder Weise vorsichtig sein und so die Dialektik ergreifen? – Ja wohl, gar sehr, sagte er. – Ist also nicht dieses schon die Eine sehr ausgedehnte Vorsicht, daß sie nicht in der Jugend Solches zu kosten bekommen? denn ich glaube, es werde von dir nicht unbemerkt geblieben sein, daß die Jünglinge, wann sie zum ersten Male Begründungen zu kosten bekommen, sie wie im Spiele mißbrauchen, stets zu Rede und Gegenrede sie benutzend, und daß sie in Nachahmung derer, von welchen sie widerlegt werden, auch selbst wieder Andere widerlegen, indem sie wie junge Hunde eine Freude daran haben, stets ihren Nächsten mit einer begründenden Rede zu zupfen und zu zerren. – Überschwenglich wahr ist dieß, sagte er. – Nicht wahr also, wenn sie selbst Viele widerlegt haben und auch von Vielen schon widerlegt wurden, so verfallen sie hastig und schnell darauf, daß sie an Nichts von allem Früheren mehr in ihrer Meinung festhalten; und in Folge hievon kamen so wohl sie selbst, als auch das Ganze, was die Weisheitsliebe betrifft, bei den Uebrigen in schlimmen Ruf. – Völlig wahr, sagte er. – Hingegen der bereits Aeltere, sprach ich, wird an derartigem Wahnsinne sich nicht betheiligen wollen, sondern denjenigen, welcher dialektisch sich üben und die Wahrheit erwägen will, weit eher nachahmen als jenen, der um des Scherzes willen eben scherzt und gegen eine Rede die Gegenrede setzt, und er wird überhaupt sowohl selbst weit gemäßigter sein, als auch diese Bestrebung zu einer geachteteren, nicht aber zu einer mißachteteren, machen. – Dieß ist richtig, sagte er. – Nicht wahr also, auch was wir schon vor diesem gesagt haben, ist sämmtlich im Hinblicke auf eine Vorsicht gesagt worden, daß die Begabung derjenigen, welchen man Antheil an der Dialektik geben will, eine ordentliche und beständige sein müsse, nicht aber, wie es jetzt der Fall ist, der nächste Beste, welcher Nichts mit solchen Dingen zu schaffen hat, sich zu demselben wende? – Ja wohl, allerdings, sagte er. – Wird es demnach hinreichend sein, wenn man bei der Beschäftigung mit Dialektik in kräftiger und angespannter Weise, ohne irgend etwas Anderes zu betreiben, sondern gerade in umgekehrt entsprechender Weise wie bei den Leibesübungen sich übend, doppelt so viele Jahre verweilt, als damals dort? – Meinst du sechs oder vier Jahre? sagte er. – Du magst immerhin fünf annehmen. Nemlich nach dieser Zeit werden sie wieder in jene Höhle hinabgebracht und dort gezwungen werden müssen, in den Verhältnissen des Krieges und wo es sonst noch Jüngeren zusteht, eine Herrschaft auszuüben, damit sie nicht an Erfahrung den Uebrigen nachstehen; und dann müssen sie auch hierin noch erprobt werden, ob sie, wenn man sie nach allen Seiten hinzieht, Beständigkeit haben oder irgend schwanken. – Wie viele Zeit aber bestimmst du hiefür? sagte er. – Fünfzehn Jahre, erwiederte ich; und wenn sie so fünfzig Jahre alt geworden sind, so muß man diejenigen unter ihnen, welche überall in jeder Beziehung in Werken und im Wissen bewahrt blieben und sich auszeichneten, nun bereits an das Ziel führen und sie nöthigen, daß sie den Glanzpunkt ihrer Seele aufwärts richten und auf jenes selbst hinblicken, was Allem Licht verleiht, und daß sie, nachdem sie das Gute an und für sich geschaut haben, es als Musterbild benutzen und einen Staat und die einzelnen Bürger und sich selbst für das übrige Leben zu schmuckvoller Ordnung herstellen, und zwar abwechslungsweise jeder Einzelne, indem sie meistenteils wohl der Weisheitsliebe sich widmen, aber, wenn die Reihe sie trifft, wieder in staatlichen Dingen sich mühen und jeder irgend eine Herrschaft ausübt um des Staates willen, nicht als thäten sie hiemit etwas Herrliches, sondern nur etwas Nothwendiges, und daß sie in solcher Weise wieder andere Derartige heranbilden und, indem sie Solche an ihrer Stelle als Wächter des Staates hinterlassen, in die Inseln der Seligen abgehen und dort wohnen; Gedächtnißfeierlichkeiten aber und Opferfeste soll der Staat ihnen in öffentlicher Weise veranstalten, und zwar, wenn die pythische Göttin es billigtVgl. oben B. IV, Cap. 5 u. Anm. 152 und 200., als wirklichen Dämonen, wenn aber nicht, als glückseligen und göttlichen Menschen. – Als überaus herrliche ja, sagte er, hast du, o Sokrates, hiemit die Herrscher, gleichsam als wärest du ein Bildhauer, vollendet hingestellt. – Ja, und auch die Herrscherinnen, o Glaukon, sprach ich; denn glaube nur nicht, daß ich irgend Etwas von jenem, was ich sagte, in höherem Grade von den Männern, als von den Frauen gesagt habe, so viele deren nemlich mit genügender Begabung geboren werden. – Es ist richtig, sagte er, woferne sie ja, wie wir durchgingen B. V, Cap. 3–6., in Allem den gleichen Antheil, wie die Männer, haben werden. – Wie also nun? sprach ich; gesteht ihr jetzt zu, daß wir betreffs des Staates und der Staatsform nicht durchaus bloß in frommen Wünschen gesprochen haben, sondern Dinge, welche wohl schwierig, dennoch aber irgend möglich sind, und zwar in keiner anderen, als in der von uns angegebenen Weise möglich, wenn nemlich die in Wahrheit Weisheitsliebenden als Herrscher, sei es als Mehrere oder als Einer, in einem Staate auftreten und die jetzigen Ehrenbezeugungen, indem sie dieselben für unfrei und werthlos halten, verschmähen, nur das Richtige allein aber und die hieraus fließenden Ehren über Alles schätzen, für das größte und nothwendigste aber das Gerechte halten, und diesem denn nun dienend und es fördernd, ihren eigenen Staat allseitig einrichten? – In welcher Weise? sagte er. – Wenn sie, sprach ich, alle Diejenigen, welche in dem Staate älter als zehn Jahre sind, auf das Land hinaus schicken, alle Kinder derselben aber an sich nehmen und außerhalb der jetzigen Sitten, welche auch die ihrer Eltern sind, nur in ihrer eigenen Art und Weise und nach ihren eigenen Gesetzen erziehen, welche eben derartig sind, wie wir sie bisher durchgegangen haben; und daß sie also auf diese Weise am schnellsten und am leichtesten einen Staat und eine Staatsform, wie wir sie angaben, in's Leben rufen und so den Staat beglücken, und dem Volke, in welchem er entsteht, den meisten Nutzen bringenIn ähnlicher Weise will auch Fichte in den Reden an die deutsche Nation die gesammte Jugend aus dem Verderbnisse der Gegenwart isoliren und eine nationale Erziehung schlechthin von Vorne auf reinem Boden beginnen.. – Ja, bei Weitem, sagte er; und du scheinst mir, o Sokrates, nun auch die Art und Weise, in welcher es wirklich geschähe, woferne es einmal wirklich geschähe, richtig angegeben zu haben. – Nicht wahr also, sprach ich, genug sind es nun der Begründungen betreffs dieses Staates und des ihm gleichen einzelnen Mannes; denn klar hiemit ist ja doch wohl auch, wie beschaffen Letzterer zufolge unserer Behauptung sein soll? – Ja, klar ist es, sagte er; und jenes, um was du frägst, scheint auch mir hiemit seinen Abschluß erreicht zu haben. –