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Am Rachelsee

Eine Hauptzierde des Böhmerwaldes bilden seine traumhaft-stillen Hochwaldseen. Sie sind die düster-ernsten Augen des wildschönen Waldgebirges mit seinen stolz in den Äther aufstrebenden fels- und waldgekrönten Bergkuppen und seinen ernst-rauschenden Hochwäldern. Wohl keines der deutschen Mittelgebirge dürfte sich in dieser Hinsicht mit dem Böhmerwalde vergleichen lassen.

Die Perle dieses einzig schönen Bergstriches ist unstreitig der wildromantische Rachelsee am Südfuße des zweiten Böhmerwaldriesen, des großen Rachel! Tief im Kessel wilder Berg- und Waldhänge, in urwaldstiller, geisterhafter Einsamkeit, fernab vom brausenden Strome des Lebens, liegt dieses schwarze, wildschaurige Auge des Hochwaldes und birgt in seiner erstaunlichen Tiefe die schwefelhaltigen, nach dem Volksglauben geisterbelebten Fluten, in denen sich nicht ein einziges Tierlein der Daseinslust freut. An seinen felsumrahmten Ufern ragen sturmgefällte Wettertannen und Fichten wie Ymirsrippen aus der Schwefelflut, der Spiegel ruht bald regungslos wie das grüne Wipfelmeer des Hochwaldes zur schwülen Mittagszeit, bald wieder schäumt es vom Grunde auf, und dann schlagen die mächtigen Wellen mit solcher Gewalt an die felsigen Ufer, dass es unsere Seele mit Furcht und Grauen erfüllt. Dann wird der alte Volksglaube zur lebendigen Wahrheit; die in dem See »verwunschenen Geister« treiben in der geheimnisvollen Tiefe ihren Höllenspuk. In diesen wilden Lärm mischt sich ununterbrochen das dumpfe Brausen der stürmisch bewegten Ohe, des Seebaches, während die majestätische Kuppe des Rachel ernst und gebieterisch in die gähnende Tiefe starrt.

Bald lächelt sonnenheiteres Blau über dem dunklen Seespiegel, bald wieder jagen sturmgepeitschte Haufen Wolken in schweren Massen über den herrlichen Hochwald hin – dann rauscht und saust und braust es in den Wipfeln und Felsschlünden, Blitze leuchten mit grellem Scheine durch die düstere Waldnacht,und dumpfes Donnergeroll wird in den Gründen hörbar. Nur kurze Zeit rast das Unwetter – dann verlieren sich die schweren Nebelmassen rasch wieder, und goldenes Sonnenlicht flutet neu belebend in den dampfenden Wald hernieder und zaubert in den Millionen von Regentropfen die wundervollsten Farbenspiele, so dass jeder Baum zum förmlichen Lichtwunder wird. Und die Wellen des Sees rauschen leise, und durch den Wald klingt es wie Nixensang und Liebesgeflüster.

Am Rachelsee! Wie gerne wollte man da weilen und Welt und Leid vergessen! Wie friedvoll und ruhsam fühlt sich da das Menschenherz gestimmt! Wie tauchen da die verblichenen Gestalten der alten Göttermythen in erhabener Größe neu und lebendig vor unserem geistigen Auge auf! Wie groß und herrlich däucht einem da der alte deutsche, heilige Wald!

*

Es war ein goldener Frühlingsmorgen. Taufrisch lag der Bergwald im Morgensonnenstrahl, und das gesellige Volk der Finken, Lerchen und Rotkehlchen sang in volltönenden Akkorden dem Schöpfer den Morgenhymnus. Da sprach der Pechbrenner »Bartl« zu seiner Rousl: »Weiberl, bfüad di God! I muass geh'n!«

»Bartl«, flehte das braunäugige Weib, »bleib' heut' noch dahoam, bis unsa Kleina 'taft ist. Morng is a no Zeit g'nua!«

»'s geht net«, versicherte der Pechbrenner; »in vier Tog'n bin i wieda do, und donn woi i mi an dem Buam herzli g'freu'n!«

Schluchzend nahm die junge Mutter Abschied von ihrem Manne. Vor einem Jahre war sie dem armen Pechbrenner angetraut worden, dem Forstgehilfen von Finsterau wollte darob »das Herz im Leibe brechen«, denn die »Rousl« war seine frühere Geliebte, sein »Herzbilderl« ...

Forstgehilfe und Pechbrenner – gleichnamige Pole stoßen sich ab! Der »Bartl« hasste den Gehilfen, und dieser schwur jenem Rache auf Tod und Leben ...

»Bartl« sammelte in den böhmischen Wäldern das Pech und brannte daraus verschiedene »Hausmittel«, auch lieferte er solches den umliegenden Brauhäusern zum Auspichen der Bierfässer, welches Geschäft ihn und sein Weib genügend ernährte. Nur im bayerischen Staatsforste durfte er die Pechtannen nicht »abpecheln«, erstlich, weil es verboten war und zweitens, weil ein bayerischer Forstmann ein »kaltes« Herz hat. »Leben oder Sterben«, – heißt bei ihm so viel wie Recht oder Diebstahl und Letzterem gebührt die Kugel – und darum spielt beim bayerischen Forstgehilfen an der Grenze die Kugel eine nicht unbedeutende Rolle.

Bartl wanderte wohlgemut dem Rachel zu. Zum ersten Male wollte er es auf gut Glück im bayerischen Walde versuchen, denn er war überzeugt, dass sich in die vorweltliche Filzwildnis der Rachelgegend nur selten ein Forstmann verirrte. Auf dem Wege dahin hatte er den größten »Filz« des Böhmerwaldes, die Weitfällerfilze, eine unsagbar trostlose Gegend voll Moor und Zwergkiefergesiedel, zu durchwandern, und ermüdet erreichte er nach zweistündigem Wege das einsam im Hochwalde gelegene Rachelhaus, wo er sich mit Milch und Schwarzbrot genügend stärkte, um den äußerst beschwerlichen Weg nach dem Rachelsee rüstig zurücklegen zu können. Im Rachelhause verriet er in keinerlei Weise sein Vorhaben, die Rachelwälder »abzupecheln«, um auf jeden Fall vor Verrat gesichert zu sein. Mit unheimlichen Gefühlen betrat er endlich den weltvergessenen Tann, und nach abermals zweistündiger Wanderung voll aufreibender Mühe und Anstrengung stand er an den farrenumsäumten Steinufern des Waldsees. Hier sprach er ein kurzes Gebet, denn sein Herz war eigentümlich bewegt, und dann schickte er sich an, eine Pechtanne (Fichte) ausfindig zu machen. Nicht lange brauchte er zu suchen; in unmittelbarer Nähe auf der östlichen Waldhänge des Sees, welche heute ein aus rohen Holzbalken ausgezimmertes Kapellchen ziert, stand ein breitästiger, stolzgewipfelter Fichtenbaum; in langen Streifen hing an der rauen Rinde eine ungeahnte Pechmenge, während aus den zahlreichen Ritzen der Rinde klarstes flüssiges Harz in reichlicher Fülle tropfte. Bartl horchte und spähte lange Zeit aufmerksam nach allen Seiten hin – nichts war zu sehen als unendlicher Wald, nichts zu hören als fernab das dumpfe Brausen der Ohe und das schwermütige Sausen des Hochwindes in den Wipfeln der tausendjährigen Waldriesen ...

Er fühlte sich vollkommen sicher, und mit der Gewandtheit eines Eichhorns war der stattliche Baum erklettert. Kaum war der »Pechler« in der eifrigsten Arbeit begriffen, als plötzlich ein weithin krachender und in den Bergwäldern lang wiederhallender Schuss fiel – dann trat unheimliche Stille ein, selbst des Waldes Rauschen, ungewohnt der seltsamen Erscheinung, schien zu schweigen – dann stürzte der unglückliche Bartl mit einem markdurchdringenden Aufschrei auf den felsigen Grund hernieder, die riesigen Wildfarren des Urwaldes mit seinem Blute färbend. Weithin durch den entheiligten Forst verhallten dann die Worte: »Bartl, wir sind quitt! So »pechelt« man bei uns in Bayern! Wohl bekomm's Dir!«

Der Forstgehilfe, der in letzterer Zeit in die Rachelgegend versetzt worden war, hatte sich in verschwiegener Urwaldeinsamkeit seines Feindes für immer entledigt. Bartl sollte seinen Erstgeborenen nicht mehr sehen! ...

*

Acht lange, bange Tage wartete die »Rousl« auf die Wiederkehr ihres Mannes. Der kleine Sprössling, ein echter Waldschreivogel, befand sich wohl und hatte bei der Taufe des Vaters Namen erhalten, und die Mutter freute sich, ihre süße Bürde in des Mannes Arme, ans Vaterherz zu legen. Doch Bartl blieb verschollen.

Endlich wurde das Weib unruhig, und von trüben Ahnungen gefoltert, lief sie weinend zu ihres Mannes Bruder, um denselben von ihrer Sorge zu unterrichten. Der »rote Bart«, wie man diesen Menschen allgemein benannte, war der verwegenste Wildschütz der Rachelgegend und besaß, mit dem Volke zu reden, ein »eiskaltes« Herz. Dieser »Bart« erriet sogleich das dunkle Geheimnis. In einer »pechschwarzen« Nacht nahm er seinen Stutzen auf den Rücken und wanderte auf Schleichpfaden dem Rachelberge zu. Zwei Tage suchte er in der Wildnis den Vermissten, vergebens war sein Rufen und Pfeifen. So saß er am Abend des zweiten Tages am östlichen Seeufer und starrte finster in die düstere Schwefelflut. Da fiel hinter seinem Rücken ein frischer Tannenzapfen mit großem Geräusche in die Farrenwildnis nieder – erschrocken kehrte er sich um und sah zu seinem Erstaunen eingetrocknetes Blut an den Farrenkräutern kleben. Mit einem Satze war er an der Stelle und nach wenigen Sekunden hatte er seinen toten Bruder entdeckt.

»Das soll Dir nicht geschenkt bleiben, Forstg'hilf, so wahr ich roter Bart heiße!« murmelte er grimmig, warf dann einen glühenden Blick auf seinen Stutzen und sprach weiter kein Wort.

Das Gewehr versteckte er in einem mit Schlingpflanzen, Farren und Bärlapp dicht umwucherten Felsloche, dann lud er die Leiche auf seinen Rücken und brachte sie nach dem Rachelhause, von wo aus dieselbe weitergeschafft wurde.

Wir wollen es nicht versuchen, den Jammer des so unglücklichen Weibes zu schildern, als sie ihren Mann so wiedersah. Im ganzen Dorfe herrschte über den Mörder nur eine Meinung, »Forstgehilfe!« Unter allgemeiner Teilnahme des Dorfvolkes wurde der erschossene »Pechler« beerdigt, und Hunderte von Flüchen wurden über den verwegenen Forstgehilfen auf dem Rückwege vom Friedhofe laut.

Nur einer wohnte dem Begräbnisse nicht bei, es war der »rote Bart«. Im Rachelhause hatte er in Erfahrung gebracht, dass der Forstgehilfe fast allabendlich den Seewald durchforsche und nach vollbrachtem Waidwerke oft stundenlang in einem schmalen Kahne auf den Fluten des Sees verträume. Schnell war der Plan gemacht. Voll Rachegefühl kehrte der Wildschütz an den See zurück, um dort ein Wild zu erlegen, das zu dem Reiche der Menschen gehörte. Ein Raubschütz ist alles gewohnt, er verträgt die ärgsten Strapazen, fürchtet und scheut nicht die Beschwerlichkeiten wochenlanger Waldwanderungen, lebt in Erd- und Felshöhlen, nährt sich von Brot und Wasser, Beeren und Kräutern und frönt oft wochenlang dem gefährlichen »Wildern«. Und »Bart« war so einer. Drei Tage lauerte er in der Nähe des Sees auf den Jägerburschen, niemals aber bekam er denselben zu sehen; da endlich, am dritten Abend, sollte seiner Erwartung Befriedigung werden. Es war ein schwüler, dunstiger Maiabend, schwere, schwarze Wolkenmassen standen unbeweglich am Himmel, kein Lüftchen rührte sich, der Wald schwieg beängstigend, kein Zweiglein bewegte sich, kein Blättlein flüsterte. Der See lag regungslos im Banne der Gewitterschwüle; nächtliches, unheimliches Dunkel lag bleiern auf dem Bergwalde, die Natur bereitete in erschreckender Stille ein großes Schauspiel vor.

In einer lärchenbeschatteten Bucht am westlichen Seeufer schaukelte ein kleiner Nachen in den bayerischen Landesfarben, und der Forstgehilfe, der darinnen saß, paffte vergnügt seine Pfeife. Das Gewehr lag zu seinen Füßen im Kahne. Oben, hoch auf einer Felsplatte, kauerte die wutverzerrte Gestalt des »roten Bart« und lugte grinsend auf das arme Opfer hernieder. Die Flinte hatte er angelegt zum Abdrücken. Doch hieß ihn doch noch eine Stimme der Menschlichkeit zu warten. Jetzt trieb der Jäger den Kahn in die Mitte des Sees und weithin durch die unheimliche Stille tönten die Worte seines Gesanges:

»Auf und d'ran,
Spannt den Hahn,
Lustig ist der Jägersmann!«

Da unterbrach ihn ein gellendes Gelächter. »Teufel«, rief es vom Felsen herab, »so kannst Du noch singen, wo in Deiner Nähe der tote Pechler liegt? Horch! die Toten reiten schnell!« und abermals durchgellte die Gewitterschwüle jenes schauerliche Gelächter. Der Jägerbursche erkannte nur zu wohl die furchtbare Stimme des »roten Bart«. Kalter Angstschweiß bedeckte seine Stirn, vor seinen Augen begann es zu flirren, mechanisch tappte er nach seiner Flinte, um sie sogleich wieder sinken zu lassen. »Rettung!« rief es in seinem Innern – Rettung inmitten des großen Sees und des gewaltigen Waldes, Rettung in der Nähe eines verborgenen Feindes, dessen todbringende Kugel jeden Augenblick dahersausen konnte! Mit dem ganzen Kraftaufwande steuerte er dem Ufer zu, um im Gewirre der Waldbäume Schutz zu suchen – allein zu spät! Als ob die Natur diesen Moment abgewartet hätte, entlud sich auf einmal in erstaunlicher Schnelligkeit das Ungewitter mit solcher Furchtbarkeit, dass selbst den »roten Bart« ein Grauen befiel. Der See raste, der Donner brüllte, Blitz auf Blitz durchzuckte den Wolkenmantel des Himmels, der Wald brauste und ächzte, der Sturmwind brüllte und wütete in den stolzen Fichten- und Tannenwipfeln, und der Nachen ward alsbald ein Spiel der wildempörten Wogen. Eine Weile fühlte Bart den Gott des Mitleids in seinem Herzen, allein bald besiegte der finstere Geist in ihm die bessere Stimme. – »Er muss sterben!« murmelte er leise, »besser der Kugeltod als der Wassertod, dem er nicht mehr entgeht.«

Soeben wollte eine haushohe Welle das schwache Fahrzeug verschlingen, da fiel ein kurzer Schuss – ein Schrei durchdrang den wilden Lärm der Elemente, dann ward es still und stiller ... der Donner verstummte, der Mond trat aus den Wolken und goss sein geisterhaftes Licht aus die Wildnis nieder ... ein leerer Nachen trieb auf den noch immer bewegten Wellen ... der »Pechler« war gerächt; der Jägerbursche war hinabgesunken zu den »verwunschenen Geistern« des Rachelsees ...

»Das hat der rote Bart getan!« schallte es noch einmal vom Felsen hernieder, dann sank die nächtliche, heilige Stille in das Urwaldmeer, und durch die Lüfte ging es wie klagender Geisterruf.

Drei Menschen hatten am Rachelsee ihren Tod gefunden, zwei den ewigen, der dritte den moralischen, denn auch der »rote Bart« war nach seiner langjährigen Kerkerstrafe für seine schwarze Tat ein ausgestoßenes Glied der menschlichen Gesellschaft.


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