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Hehrmeister war erwacht und lag eine Zeitlang da. Trotzdem er nicht gänzlich entkleidet in unbequemer Lage geruht hatte, fühlte er sich vom Schlaf gestärkt.
Im Nebenzimmer, wohin er sich sogleich begab, befand sich niemand. Eine halbe Minute fast schaute er geradeaus aufs Bett, dann wandte er sich und ging wieder in die andere Stube. Mitten in ihr stellte er sich hin, senkte den Kopf und versuchte nachzusinnen, so erschrocken, dass er den Atem nicht regelmässig einholen konnte.
Nach kurzer Weile kehrte er sich wieder herum und sah hinüber. Das Zimmer drüben war leer. Auf dem Stuhl, auf den er gestern Abend Kurts Kleider niedergelegt hatte, lag nichts. Er sah hin, und der leere strohgeflochtene Sitz leuchtete ihm entgegen, hell und gelb und mit einem harten Flimmern im Sonnenschein, der aus den Fenstern fiel.
Eilig, mit Händen, die nicht fest zupackten, in denen keine Kraft war, begann er sich zu kleiden, unterbrach sich aber damit und begab sich zum drittenmal in das Zimmer, in dem Kurt die Nacht zugebracht hatte. Von dort blickte er auf seinen Diwan.
Er war also ganz leise an ihm vorbei. – Ehe er aus der Tür ging, hat er mich vielleicht angesehen und mich betrachtet, so, während ich schlief – dachte Hehrmeister gequält und rot werdend.
Plötzlich fiel ihm ein, Kurt könnte sich vielleicht in einem andern Raum des Hauses aufhalten, und er eilte fort und suchte überall nach ihm, im Esszimmer, im Kaminzimmer und im Saal. Aber die Schwester war ausgegangen und niemand sonst zu finden. Die Stuben lagen sauber gekehrt und geräumt nebeneinander. Die Fenster zum Vorgarten standen auf, und frische reine Herbstluft zog ein und duftete im leeren Hause. Hehrmeister verweilte nur wenige Minuten am Kaffeetische, dann brach er auf. Draussen wurde er unschlüssig. Nach einigem Zögern ging er der Stadtgegend zu, in der Krusensteins lebten.
Aber sehr bald hielt er die Richtung nicht mehr ein, bog hier und dort ab vom Wege und hatte kein Ziel mehr. Einigemal blieb er vor Schaufenstern stehen und erreichte endlich die Anlagen am Kanal, der die innere Stadt in einem weiten Halbkreise umfloss. Er war müde geworden und setzte sich in den Schatten auf eine Bank, dicht an die Strasse, deren gleichmässigem Lärm er nicht entfliehen wollte. Gerade hier war ihm wohl. Equipagen und Droschken rollten vorüber, die Tramwagen dröhnten auf den Schienen; er hörte zu und fand nach seinem planlosen Zuge durch die Gassen einen Augenblick der Ruhe und der Gedankenlosigkeit. Stumpf und gleichgültig sass er da, in einem Zustand, der ihn erholte und nach dem ihn verlangt hatte. Ein kräftiger Soldat ging vorüber an der Seite einer armselig gekleideten Greisin. Kaum hielt sie Schritt. Mit Gebärden und sehr lebhaft sprachen sie irgend worüber. Hehrmeister sah ihnen nach und konnte nicht verstehen, warum die beiden so erregt miteinander verhandelten.
Nach einigen Minuten ergriff ihn die Hast wieder. Er sprang auf, rührte sich aber nicht vom Platze. Nein, nicht hingehen, nur nicht. Es musste von selbst blässer werden und auslöschen in Kurts Gedächtnis. Erst ein Zufall dürfte sie wieder zusammenführen. Zeit macht alles gut.
Bei Tisch fragte ihn seine Schwester, wann er abreisen würde. Er ward ungeduldig, beherrschte sich aber und erwiderte so freundlich er konnte, er wisse es noch nicht, hätte den Tag noch nicht bestimmt, er warte noch auf Nachrichten aus dem Auslande. Als er seine beiden Zimmer wieder betreten hatte, schaute er sich sofort in einer Weise um und spähte in alle Ecken so, als wäre er noch immer verwundert darüber und könnte es nicht begreifen, dass Kurt nicht da war. Längere Zeit haftete sein Blick auf dem Bett. Er wird gewartet haben, bis ich einschlief und dann sogleich gegangen sein, sofort – dachte Hehrmeister.
Stundenlang verweilte er auf und ab schreitend. Die Tür zum Korridor hatte er bloss angelehnt und nicht zugeschlossen, um es ganz sicher sogleich zu hören, wenn geschellt würde. Aber während des ganzen Nachmittags rührte sich die Glocke nur einmal, und da war es nicht Kurt.
Als es sechs schlug, klappte er das Buch zu, in dem er zu lesen versucht hatte, und eilte aus dem Hause. Anfangs ging er sehr rasch, aber als er in die Strasse eingebogen war, in der Krusensteins lebten, ward er nachdenklich und langsamer. Drüben auf der andern Seite des Fahrdammes, gewahrte er eine Gestalt, die ihm bekannt vorkam. Er blickte schärfer hin und sah, dass es Schnaab war, Kurts Freund. Hehrmeister blieb stehen, ging dann hinüber und ihm nach, in einer Entfernung von etwa hundert Schritten. Er sah Schnaab eintreten ins Haus, in dem Krusensteins wohnten, und wartete nun geduldig, aber sehr gespannt. Nach geraumer Weile kehrte er zurück, mit ihm Kurt. Sie schlugen den Weg ein, der zum Hafen führte, und Hehrmeister folgte ihnen. Die Allee, durch die sie kamen, trug kein Laub mehr, das kahle Geäste droben flatterte und summte im Abendwinde, die langen Schatten der Bäume fielen über die Strasse und äderten mit zart gekrümmten Linien die hellen Häuserfronten drüben. Er sah, wie Kurt und Schnaab die Erhöhung vor dem Hafen erstiegen, zögerten, ihren Weg fortzusetzen und sich irgend worüber besprachen, wie es schien. Links und rechts ragten Masten über den Damm, auf dem sie sich berieten, und ihre Körper standen in feinen Umrissen da gegen den klaren, hellgelben Abendhimmel. Nach einigen Minuten schritten sie weiter und Hehrmeister folgte ihnen wieder. Es ging immer dem Wasser entlang, einem toten Arm der Düna, in dem Segelschiffe vor Anker lagen. Kein Mensch war auf ihnen zu sehen, auch am Ufer niemand. Ein seelenloser Winkel der Stadt, feucht und gemieden, zuweilen unkrautiges Gras am Wege, das Wasser stehend, alles kalt und welk. Neben den Zollplätzen, an denen sie vorüberkamen, ward die breite Hafenstrasse etwas belebter, man war hier am Strom selbst und sah drüben am andern Ufer die Häuser, winzig klein und hinter ihnen Wald. Von einem endlosen Gitterzaun eingeschlossen, lagerten die Warenzüge der Eisenbahn. Die einzelnen Wagen waren mit Lederhüllen zugedeckt, auf denen hier und da der Name eines Kaufmanns mit fettem Schwarz gedruckt stand. Es dämmerte. Hehrmeister liess die beiden Gestalten vor ihm nicht aus den Augen.
Ganz plötzlich trennten sie sich. Schnaab bog in die innere Stadt ab und Kurt blieb allein. Er tat noch ein paar Schritte geradeaus, dann kehrte er um.
Er sah ihn kommen, langsam, die Augen auf den Strom gerichtet. Hehrmeister räusperte sich, damit seine Stimme frei und unbefangen klingen konnte; es sollte scheinen, dass sie sich zufällig begegneten, so wollte ers versuchen, und er ging ihm entgegen in demselben langsamen Schritt, den Kurt einhielt.
Aber die kalte Angst fiel ihn an, hämmerte an seine Brust und beschwerte seinen Atem, den er nicht tief genug einsaugen konnte. Ich werde mich verraten, ich bin nicht Schauspieler genug, er wird mir alles ansehen, dachte er und fühlte seine Zunge dick und ungeschmeidig an den Zähnen klebend.
In nächster Nähe erst gewahrte ihn Kurt, wurde rot und blieb stehen. Hehrmeister sah das Rot auf seinen Wangen. Aber nun standen sie da, sich gegenüber, und es musste gesprochen werden. Hehrmeister vergass es, ihm die Hand zu reichen.
»Hier treffe ich dich. Wo kommst du denn her?« fragte er.
Er begriff sofort, dass Kurt ihm nicht glaubte, dass er erriet, man wäre ihm durch die halbe Stadt nachgegangen. Kurt antwortete nicht, schaute zu Boden und führte seine Hand ein paarmal an den Mund, der in einem erzwungenen Lächeln halb offen stand. Hehrmeister hatte diese seltsame Geste niemals zuvor an ihm gesehen und war ganz ratlos.
»Nun, und heute morgen bist du mir so rasch entschlüpft?«
»Das Wetter war so schön, ich wollte einen Spaziergang machen und dich nicht unnütz wecken.«
Kurt bemühte sich, die paar Worte so hinzusprechen, als ginge die Rede über etwas ganz Nebensächliches. Er bestrebte sich, Haltung zu bewahren und durchaus nicht abzuweichen vom Ton, mit dem Hehrmeister das Gespräch begonnen hatte.
Im Hafen, in nächster Nähe von ihnen, wurde mit einer Dampfpfeife ein Signal gegeben. Der grobe, dumpfe Laut heulte langgezogen während einer ganzen Minute. Sie hätten sich nicht verstehen können währenddessen und sie schwiegen und warteten darauf, dass der Ton endlich abreissen würde.
Als es wieder still war, fragte Kurt, seinen Blick auf den Strom hinaus verlierend: »Du gehst wohl nach Hause jetzt?«
Aber die Beherrschung verliess Hehrmeister. Erzürnt, aber mit einer Stimme, die gleichwohl bittend war, sagte er: »Was ist denn geschehen? Was ist denn zwischen uns? Warum bist du denn weggelaufen heute morgen? Wir gehören einander doch. Was hast du denn? So sag doch.«
Die letzten Worte sprach er freundlicher, und als Kurt noch immer schwieg, legte er ihm die Hand auf die Schulter und wollte ihn sich näher bringen.
Mit einem Ruck warf Kurt Hehrmeisters Hand herunter. Er sprang rückwärts, blieb fest aufgerichtet stehen und sah ihn mit einem Blick an, in dem so viel Hass offen dalag, dass auch Hehrmeister unwillkürlich einen Schritt rückwärts tat.
Er stand da, schamrot und jeder Demütigung ausgeliefert. Kurt schaute ihn an und ging noch ein Stückchen immer so rückwärts. Mit einmal kehrte er sich und lief und lief unten durch die eiserne Brücke der Bahn hindurch und immer weiter, als wollte er weg aus der Stadt.
Hehrmeister wartete noch eine Zeitlang auf dem Platze, ohne sich zu rühren. Kurt war ihm in der Dämmerung längst aus den Augen entschwunden, aber noch immer blickte er ihm nach. Alles hätte ich hinnehmen müssen, jeden Schimpf, ohne mich wehren zu können, dachte er.
Erst zu Hause ward ihm wieder bewusst, was in sein Leben durch Kurt hätte kommen können. Und Kurt war entronnen für immer. Dessen sicher ging er still und müde auf und ab im Zimmer. Als er soeben eingetreten war, hatte er die Tür hinter sich geschlossen, und nun durfte er hier in seinen Stuben auf nichts und auf niemanden mehr warten. Es war zu Ende, nichts mehr einzuholen, nichts zu versäumen, und immer noch schritt er ruhig auf und ab. Er dachte an seine Reise und an die Augenblicke, in denen er seine Freunde im Auslande wiedersehen würde. Dann dachte er daran, was Kurt von gestern abend bis heute abend erlebt haben musste. Wie ihm wohl eins nach dem andern in den Sinn gefallen wäre. Wie die Erinnerung an hundert kleine Tatsachen auf ihn eingedrungen waren, sich gehäuft hätten, sich zusammengeschlossen und seinen Verdacht gestützt, den Verdacht, den Hehrmeister in ihn gesenkt hatte, weil er so plötzlich hatte fort wollen aus Riga.
Um zehn Uhr am Morgen, es war Sonntag, klingelte er bei Krusensteins. Er betrat den Saal, sie kam sogleich, schloss die Tür hinter sich und blickte ihn rasch an. Er schwieg.
»Sprich schnell,« sagte sie leise und in erregtem Ton und liess ihn nicht aus den Augen. »Hans kann jeden Moment da sein, er ist zu Hause. Du willst reisen? Wohin? Warum weiss Kurt es zuerst?«
Er fühlte, dass sie jede seiner Bewegungen aufmerksam verfolgte und hob den Kopf ganz hoch, um ihren Blicken nicht zu begegnen. Dann sah er gerade und starr auf die Wand, an ihr vorbei, wie ganz in Gedanken verloren und sprach: »In der Tat. Auf einige Monate, so scheint es, bin ich gezwungen. Nach Paris.«
»Aber warum hast du es Kurt zuerst erzählt? Heute am Morgen fragte ich ihn, ob er zu dir käme im Laufe des Tages. Er sagte, du würdest packen müssen, weil du reisen willst.«
»Ja, der Junge war gestern bei mir, und ich sprach davon.« Nach diesen Worten wandte Hehrmeister langsam den Kopf und sah auf die Tür zum Esszimmer, die geschlossen war. Es konnte sein, dass Kurt plötzlich eintrat. Ihm fiel das ein. Er hatte an die Möglichkeit gar nicht gedacht und war sich ganz im Unklaren darüber, wie es dann sein würde. Wenn es herausbrach aus dieser harten jungen Seele wie der Schrei, den der Träumende in seinen Qualen ausstösst? Oder er würde bloss diese Tür da ganz ruhig öffnen, ins Zimmer kommen, die Tür wieder schliessen, auf seine Mutter zugehen und irgend etwas Gleichgültiges sagen, Hehrmeister aber nur ganz flüchtig grüssen oder gar nicht, ohne ihm die Hand zu geben. Weiter nichts.
Er bog den Kopf nieder, sah von der Tür weg und auf sie, mit einem Blick, der Rat suchte. Er fühlte es heiss auf den Wangen und seine Arme lagen lose und schwer links und rechts auf den Stuhllehnen.
Aber sie achtete nicht genauer auf ihn und hatte weiter gesprochen. »Ich war natürlich so furchtbar überrascht, als ich so plötzlich hörte, dass du ins Ausland reist. Aber ich glaub' nicht, dass es Kurt aufgefallen ist. Allerdings, er sah mich ganz gerade und fest an. Das wohl, ja, das ist wahr, ja. Und ehe ich noch was weiter fragen konnte, war er weg im Vorzimmer und ausgegangen. Sag', warum denn hast du es ihm zuerst erzählt. Warum?«
»Aber was ist denn so Besonderes dabei,« sagte Hehrmeister, nervös gemacht und plötzlich sehr ungeduldig. »Es kam eben so. Ich weiss nicht genau. Er war bei mir, als ich einen Brief empfing, der mich bestimmte, zu reisen. Er fragte mich nach dem Inhalt und ich erzählte ihm dann.«
»Es machte sich also zufällig so. Aber dann erzähle mir doch auch, warum reist du? Was ist geschehen?«
»Später, nicht jetzt.«
»Ja, gut, später,« sagte Frau Krusenstein rasch und ganz einverstanden. Wir werden uns ja noch einmal allein treffen. Jetzt kann Hans jeden Moment kommen. Was nur mit Kurt ist. Die ganze Nacht ist er nicht zu Hause gewesen. Schon die zweite. Er antwortet mir nicht ordentlich. Kannst du nicht dahinter kommen? So ist er nie gewesen wie heute und gestern.«
Hehrmeister zuckte die Achseln. »Weiss Gott. Er bummelt,« sagte er und blickte an ihr vorbei.
»Aber ich werde es doch Hans erzählen müssen. Allein werde ich mit ihm nicht mehr fertig. Wie lange wirst du ausbleiben?« fragte sie plötzlich und betrachtete ihn gespannt, mit verhaltener Unruhe, und wie darauf gefasst, eine Antwort zu hören, die Schlimmes berichten würde.
O dieses Angesehenwerden und mit jedem Wort ausbringen müssen. »Man muss eben sehen, man kann es nicht genau vorhersagen,« meinte er.
»Man, man, man, was heisst denn das! Du musst es doch ungefähr wissen, so sage es doch, deine Absicht wenigstens!« rief sie erzürnt und ungeduldig.
Es sah, dass sie litt, fasste nach ihrer Hand und drückte sie, aber nur ganz schwach. »Noch vor dem Frühjahr werde ich wieder da sein, hoffe ich,« sagte er. Krusenstein kam. Er tat so, als wäre er nicht besonders überrascht. »Natürlich, wenn man wie du an den Wechsel gewöhnt ist,« meinte er. »Wer nicht dableiben muss, wie wir. Im Grunde war ich schon ganz verwundert, dass du es so lange ausgehalten hast, du, dem die ganze Welt doch offen steht. Was fehlt dir, Zeit ist da und Geld ist auch da. Natürlich, man kann in diesem stumpfigen Nest ohne Arbeit nicht so dahocken, man will wieder was sehen, selbst ordentlich was haben vom Leben und nicht eingekapselt sein. Als du vor einem Jahre kamst, dachte ich mir gleich: Na! wie lange das geht. Aber ich sprach es nicht aus. Was hast du denn hier? Nichts! Aber für uns ist's schade. Schreib doch zuweilen, Emmy oder mir und erzähl' was von draussen.«
Als Hehrmeister sich im Vorzimmer für die Strasse kleidete, passte sie einen Augenblick ab, in dem Krusenstein etwas abseits stand und sagte: »Ich schreib dir noch, wann wir uns treffen.«
Mechanisch nickte er ihr zu. Doch er war entschlossen, sich dieser Zusammenkunft unter vier Augen zu entziehen. Und so hatte er die Empfindung, schon jetzt den letzten Abschied von ihr zu nehmen und drückte ihr die Hand hastig und fest, bewegt im Gefühl, sie leiden zu machen und aus ihrem Leben für immer zu scheiden.
Zu Hause trat ihm das Stubenmädchen an der Tür entgegen und meldete ihm, dass der Jungherr Krusenstein da wäre. Er wäre im Wohnzimmer, schon seit einer Stunde.
Hehrmeister stand ein paar Sekunden da, aufs höchste betroffen. Das hatte er nicht erwarten können. Er dachte nicht darüber nach, warum Kurt gekommen wäre und eilte hin mit feuerroten Wangen. »Du bist da. Das ist gut,« rief er ihm zu, aufatmend, wie erlöst vom Schlimmsten.
Kurt hatte auf einem Lehnstuhl gesessen, war aufgesprungen, stand da und rührte sich nicht. Es sah so aus, als wäre er im Augenblick auf Hehrmeisters Eintritt nicht vorbereitet gewesen, als wäre er aus einem Halbschlaf erwacht und überrascht von seiner Gegenwart. Hehrmeister hatte den Körper nur in den Umrissen vor Augen, aufrecht und gross stand er im Rahmen eines hellen Fensters.
Das Blut war ihm zu Kopf gestiegen, und er hatte noch das Licht der sonnigen Strasse in den Augen. So konnte er auf Kurts Gesicht nicht lesen. »Bleib doch sitzen,« rief er ihm rasch zu und rückte mit einem unbeholfenen, eiligen Griff auch für sich einen Stuhl heran.
Es schien, dass dieses Freudige, das aus dem hastigen Wesen Hehrmeisters sprach, Kurt sehr erstaunte.
Er setzte sich nicht, zögerte einige Sekunden und ging dann langsam und still an Hehrmeister vorbei und ins Vorzimmer. Dort griff er mit einer müden, schwächlichen Handbewegung nach seiner Mütze, die auf dem Tisch lag. Er wollte wieder fort.
Hehrmeister war ihm nach. Leise, verzweifelt und erbittert im Gefühl, sich so gar nicht helfen zu können, so ganz ohnmächtig dabei zu stehen, rief er ihm zu: »Bist du denn wahnsinnig? Warum kamst du?«
Kurt schwieg. Sein Gesicht war unschön, entstellt, verbissen. Endlich sagte er: »Ich wollte dich etwas fragen. Aber nicht mehr nötig.«
Seine Stimme klang fremd und undeutlich. Er sah übernächtig aus, unsauber, und sein ganzer Aufzug war vernachlässigt.
»So frage,« rief Hehrmeister.
»Und wie wirst du antworten? Auf dein Wort?«
Er zögerte nur eine kleine Sekunde, aber Kurt sah es, hatte im Nu die Tür erreicht, losgeklinkt und Hehrmeister war allein.
Er wollte ans Fenster eilen, um ihm nachzusehen, doch er tat nur die paar Schritte bis zum Wohnzimmer. Vor seinen Augen tanzten und hüpften die Bilder an den Wänden, alles, worauf sich sein Blick richtete, schwankte im Raum. Endlich stand der Sessel, auf dem er Kurt gefunden hatte, fest und sicher an seinem Platz, ward nicht mehr hin und her gerissen und drehte sich nicht mehr vor seinen Augen und er sah auf ihn. So schnell, wie in einem unvernünftigen Traum hatte sich dieser Auftritt abgespielt. Und nun im Erwachen sann er ihm nach, fasste nach einem Halt und starrte hinaus durch die Fenster über die Strasse. Nichts konnte er dazu tun. Nichts. Kurt war vor ihm gestanden, aufgewühlt im ganzen Wesen und verwundet. Alle Schuld war bei Hehrmeister, und doch war es ihm unmöglich zu handeln, zu helfen.
Die Schwester hatte sich für diesen Tag aufs Land begeben, hinaus zu Bekannten, die sie besuchte. So war er allein im Hause und ging unruhig lange Zeit über hin und her in den Zimmern.
Auf seinem Schreibtisch lag der Pass, zur Reise fertig, bezahlt, auf ihm einige Silberstücke, die als Trinkgeld für den Hausknecht bestimmt waren. Er blätterte in dem sauberen, solid gehefteten Büchelchen, dann warf er es wieder auf den Tisch und holte seinen Koffer und seine Handtasche aus einer Ecke hervor, schloss auf und schnürte die Riemen los.
Um fünf Uhr wurde geschellt. Er dachte sich sofort, dass Frau Krusenstein ihm Nachricht sandte und trat rasch auf den Korridor, wo er das Mädchen aufhielt, das um zu öffnen zur Türe eilte. Er sagte ihr an, dass sie melden sollte, er wäre nicht zu Hause. Dann ging er ihr nach und horchte aus dem Nebenzimmer. Es war ein Dienstmann mit einem Brief. Man hatte dem Boten eingeschärft, jedenfalls Antwort zu bringen. Das Stubenmädchen gab an, niemand wäre im Hause und sie wisse nicht, wann Hehrmeister wiederkäme. Nach längerem Hin und Herreden in der Tür entschloss sich der Dienstmann, den Brief dazulassen und ohne Bescheid abzuziehen. Er entfernte sich.
Sie brachte Hehrmeister den Brief; als sie aus dem Zimmer war, öffnete er und las: »Ich bin Punkt sieben heute bei Lilly. Komme gewiss. Gib mir durch den Dienstmann Nachricht, ob du genau um sieben da sein wirst oder später. E.«
Er hatte das Schreiben auf dem Flügel vor sich ausgebreitet und die paar Zeilen gelesen. Wütend griff er danach und zerknüllte und zerriss das Papier mit einem halblauten Fluch und setzte sich dann, atemlos, die Fetzen in den Fingern hin und her schiebend. Ich reise morgen früh um zehn, entschied er sich.
Es fing zu dämmern an, der Wind hob sich gegen die Fenster auf und heftige Güsse folgten einander. Wenn er nach der Uhr sah, war eine Viertelstunde oft rasch wie wenige Minuten vergangen, ein anderes Mal schien ihm, die Zeit habe sich angehäuft wie zu einer grauen, zähen Masse, die in Fluss zu bringen das emsige Uhrwerk nicht stark genug war. Um neun wurde wieder geschellt. Die Schwester konnte es nicht sein, der Zug, mit dem sie vom Lande zu kommen pflegte, erreichte Riga erst später, und Hehrmeister überlegte, ob er selbst öffnen sollte oder das Stubenmädchen wecken. Plötzlich wurde zweimal hintereinander geschellt, hastig, ungeduldig.
Es ist Kurt, dachte er und sprang verwirrt auf.
Er empfand Furcht vor Kurt, aber rasch und leise eilte er zur Tür. Er horchte. Es war nicht Kurt. Ein Mann ging draussen auf dem Flur mit schweren Stiefeln hin und her, hustete, spie aus, räusperte sich sehr laut und sprach dann ungeduldig etwas vor sich hin.
Er öffnete nicht, stand und wartete. Es wird der Hausknecht von Krusensteins sein, dachte er. Nach einer Minute fiel ein Brief, vom Flur hereingeschoben, ihm gerade in die Hand, und er ging durch das Dunkel in sein Zimmer und sah beim Lichtschein nach. Wieder von ihr. Ohne ihn aufzuschneiden warf er den Brief beiseite.
Er war sehr müde, begab sich aber nicht zu Bett, sondern legte sich auf den Diwan nieder und schlief sogleich ein. Sehr bald, nach einer Stunde ungefähr, wachte er auf. Immer hatte er Kurt vor Augen, wie er zuletzt dagestanden war im Vorzimmer und dann hilflos und still seine Mütze vom Tisch genommen hatte, um zu gehen. Draussen stürmte der Herbst, und er dachte an den Winter zurück, an die Schlittschuhbahn und daran, wie er zusah, wenn Kurt sich auf dem Eise tummelte, schmuck und frisch in der Uniform, deren Knöpfe auf der Brust und deren Gurtschnalle im dünnen, frostigen Sonnenlicht blitzten.
Am Morgen, etwa eine Stunde bevor er zur Bahn aufbrechen wollte, griff er nach dem Brief, den Frau Krusenstein am späten Abend gestern ihm gesendet hatte. Der Umschlag war ihm aufgefallen, die Schrift schien durch. Sonst gebrauchte sie, wenn sie Hehrmeister Nachricht gab, stets ein undurchsichtiges Kuvert. Er hob den Brief gegen das Licht. Nur das erste Wort war deutlich zu lesen und lautete: Kurt.
Er zögerte einige Sekunden und blickte über den Brief weg starr und im Nachdenken auf die leere Wasserkaraffe, die vor ihm stand, dann riss er auf und las mit einem Blick: »Kurt ist verunglückt am Strande, kommen Sie rasch. Emmy K.«
Hehrmeister war in wenigen Minuten am Ziel, stieg aber nicht sogleich aus der Droschke, die ihn gefahren hatte. Er blickte auf die bekannten Fenster. Sie waren verhängt, alle vier, die zur Strasse gingen, zugedeckt von oben bis unten mit langen, strohenen Rouleaux, Dingen, die Fussmatten ähnlich sahen. Er tastete nach Kleingeld, um den Kutscher abzulohnen, doch seine Finger bebten und die Münzen liessen sich nicht packen. Er sah wieder auf die Fenster, die alle vier still und verhängt nebeneinander standen, und wunderte sich darüber, dass man das so tat.
Er erblickte Krusenstein, der aus dem Hause trat, sprang heraus, blieb stehen und wartete.
Krusenstein ging auf ihn zu. Sein Schnurrbart hing schlaff über die Mundwinkel hinuntergezupft, seine Schritte waren unfest und hastig und er vermied es, Hehrmeister gerade anzusehen.
Mit einem Vorwurf im Ton fragte er: »Warum kamst du denn nicht in der Nacht? Wir waren so allein.«
»Ich bekam den Brief nicht zur Zeit.«
»Es ist beim Baden gewesen. Das heisst, es ist ganz unverständlich, Stiefel, Hosen hatte er noch an. Vom Boot aus, in der Aa. Wahrscheinlich ist er beim Auskleiden unvorsichtig gewesen und herausgefallen. So muss es gewesen sein. Aber warum er überhaupt baden wollte, es ist nicht zu verstehen. Ende September. Ja, solche Jungen. Natürlich hatten sie getrunken, so erzählt Schnaab wenigstens, der ist am Ufer geblieben und hat nicht mitfahren wollen. Ein Mitschüler von ihm. Du gehst zu uns. Meine Frau ist eben ganz allein. Ich muss ein paar Gänge machen, zur Zeitung und noch alles besorgen.«
Sie war im Vorzimmer, als er eintrat.
»Sprachst du Hans?« fragte sie.
Er nickte ihr zu, ohne sie anzusehen, und sie schritten nebeneinander in den Saal. Alles im Raum war verstellt, der Sarg stand lang und schwarz unter den Pflanzen. Die Türen waren geschlossen, einige Kerzen brannten und die schwarze Erde in den Blumentöpfen duftete durchs Zimmer. Die Verzweiflung schüttelte ihn nicht, sie machte ihn starr und steif und gab seinem Körper nicht die kleinste Bewegung.
»Mein süsses Kind, mein süsses Kind!« rief sie leise und weinend, tastete nach seinen Händen und drückte sie. Endlich sah er auf sie nieder, die sich an ihn drängte. Wie auf etwas Fremdes, Unbekanntes blickte er auf sie, auf dieses von den Tränen und vom Schmerz entstellte blasse, kleine Gesicht vor ihm. Er zog seine Hände nicht aus den ihren, aber er stiess mit ihnen langsam gegen den Druck, mit dem sie sich an ihn lehnen wollte.
»So lassen Sie doch,« sagte er leise und zornig.
»Was denn? Was denn?« fragte sie ganz im Ungewissen. Als ein Raum zwischen ihnen war, betrachtete sie ihn, ihre Tränen hatten plötzlich zu fliessen aufgehört.
Auch er sah sie an, kurz, verweisend, feindselig.
Sie begriff gar nicht. Grenzenlos erstaunt und enttäuscht schaute sie auf ihn mit einem Blick, der nicht enden wollte, mit Augen, die der Schreck trocken gemacht hatte und gross und rund. In dieser Stunde gab er ihr kein Wort, trat weg von ihrer Seite. Darin war doch kein Sinn.
Was denn? Was ist denn? fragte sie mit den grossen runden Augen; es schien, als sähe sie nicht aus ihnen, ihr Blick traf nirgends, fiel ins Leere.
Er ertrug ihre Gegenwart nicht.
Er ging in Krusensteins Schreibzimmer, sie folgte ihm nicht. Er setzte sich und mit einem kurzen Ausruf beugte er sich vor, warf sein Gesicht in seine Hände und verharrte so. Dann riss er die Hände wieder ab von den Wangen und den Augen und tastete mit bebenden Fingern über die paar Dinge, die auf dem kleinen Tische vor ihm standen.
Er hörte Krusenstein im Flur draussen reden, sprang auf und ging wieder zum Saal, bis an die Tür. Neben Emmy kniete ein Gärtnerbursche und rückte an den Blumentöpfen vor dem Sarge. Er sah sie an, aber sie beachtete ihn nicht, ihre Gedanken waren wieder beim Kinde. Die Tür draussen ging, man hörte Krusenstein im Vorzimmer ablegen. Der Gärtnerjunge hob den Kopf und fragte, wohin er mit den gelben Rosen sollte, Hehrmeister trat rasch auf sie zu, riet ihnen und half bei der Hantierung.
Krusenstein kam ins Zimmer, etwas laut und hastig. Er erzählte weitläufig von dem, was für die Beerdigung vereinbart sei und fragte sie, sich fortwährend wiederholend, ob ihr alles das so recht wäre. Dann wandte er sich an Hehrmeister, dämpfte seine Stimme und begann wieder davon zu sprechen, dass er es gar nicht begreifen könne, man bade doch nicht im September, bei dieser Witterung. Schnaab dürfte man übrigens keinen Vorwurf machen, er habe überhaupt nicht mit tun wollen, ihn aber nicht zurückhalten können.
Plötzlich unterbrach er sich: »Komm, du willst gewiss rauchen, wir gehen einen Augenblick zu mir hinüber.«
Als sie allein waren, sagte er: »Man muss natürlich nicht allen Menschen erzählen, dass sie getrunken haben. Übrigens, es kommt ja doch herum. Ja, es ist ja auch ganz gleich, ganz gleichgültig. Emmy hat es ganz furchtbar getroffen. Sie war wie geistesgestört in den ersten Stunden. Ich fürchtete für sie. Ganz wie irre. Wärest du gekommen noch in der Nacht. Ich verstand es gar nicht, ihr irgendwie Trost zuzusprechen. Aber, mein Gott, wie sollte ich denn auch.«
Und er brach in ein krampfhaftes Schluchzen aus und weinte lange.
Sie gingen ins Speisezimmer, um zu frühstücken.
Kalte Schüsseln waren aufgetragen, Wein und Bier. Frau Krusenstein sass ihnen gegenüber, nötigte zur Mahlzeit, gab dem Mädchen, das mehrmals eintrat, einige Weisungen und rückte die Gläser zurecht. Es hatte geschellt und eine Tante von Krusenstein kam rasch ins Zimmer, in Hut und Strassenkleidung. Hehrmeister wusste, dass Emmy und dieses Fräulein Krusenstein sehr schlecht miteinander standen. Die alte Dame mit dem freundlich spitzen, vergrämten Gesicht wartete kaum ab, dass man das Nötigste erzählte, und begann sogleich zuzusprechen. Sie umarmte und küsste Emmy wiederholt und trotz ihrer ehrlichen Bewegtheit lag etwas gnädig Arrogantes in der Weise, wie sie fortwährend kondolierte. Sie schien zu meinen, jeder erdenkliche Trost wäre bei ihr zu finden, man müsste sie nur gewähren lassen und sie anhören. Doch ihre frommen, guten und versöhnlichen Worte taten gleichwohl ihre Wirkung an Emmy, die, in ein weiches Schluchzen ausbrechend, die Hände der alten Dame drückte, ihr dankend.
Wie Hehrmeister sah, dass der milde Redefluss dieser Frau, die Emmy sonst unerträglich fand, jetzt dennoch ihren Schmerz löste und linderte, da war plötzlich ein starkes Mitleid mit ihr in seiner Brust, und er kehrte sich weg von ihr, während er den aufgesammelten Atem mit einem lautlosen Seufzer aushauchte. Aber eine Minute kaum dauerte diese Empfindung, dann dachte er wieder an sich, an sich selbst. Der Aufenthalt hier im Gemach, zu dem alle Türen geschlossen waren, ward ihm unleidlich, die Frauen flüsterten rasch, eintönig, ohne Unterbrechung. Er wollte allein sein, weg von allen Menschen, allein mit den Gedanken an das Unheil. Er stand auf und ging, irgendeine Entschuldigung mehrmals wiederholend.
Noch einmal nach dem Auftritt am Sarge sprach er Frau Krusenstein ohne Zeugen. Er redete sie sehr schnell an und in einer Weise, die es ihr durchaus unmöglich machte, der Beziehungen zu erwähnen, die abgebrochen waren.
Die Beerdigung fand an einem Spätnachmittage statt. Bei den Handlungen und bei der Rede des Predigers starrte Hehrmeister gedankenlos in die harten und dummen Gesichter des Küsters und der Leichenträger und sah nichts weiter. Aber das Singen erschütterte ihn, die alten Lieder, die stark und fest aufschwellend sich von der Erde hoben, und es schoss ihm heiss wie Blut in die Augen. Aber er hielt die Tränen an, bevor sie stürzten, und stand da ganz tiefgesenkten Hauptes eine Zeitlang. Als er sicher war, den Leuten wieder erscheinen zu können, wie jemand, der aus empfundener und höflicher Teilnahme hier nicht fehlt, hob er den Kopf wieder. Und als auch der Augenblick kam und die Reihe an ihn, ging er auf Hans und Emmy zu und drückte ihnen ernst und schweigend die Hand und trat dann zur Seite, um anderen Platz zu machen, die ihres Beileids in gleicher Weise versicherten.
Es ward abendhell über den Bäumen, der Wind durchblies das dürre Geäst und dröhnte in ihm und kalter Staub fuhr von den Wegen auf. Beinahe als die Letzten verliessen Hehrmeister und seine Schwester den Kirchhof. Vor der Pforte ging Schnaab auf und nieder und rauchte. Als sie an ihm vorüberschritten, warf er die Zigarette rasch weg und grüsste sehr höflich und sehr aufmerksam. Hehrmeister half seiner Schwester in den Wagen, dann wandte er den Kopf zur Seite: Schnaab hatte beide Hände in die Taschen seines Überziehers gesenkt und stand ruhig da. Als er bemerkte, dass man hinsah, blickte er rasch fort, hob den Kopf in die Luft und tat recht auffällig unbefangen.
»Ich werde zu Fuss gehen, ich komme in einer halben Stunde,« sagte Hehrmeister.
Sie war etwas überrascht, nickte ihm zu und der Wagen rollte fort.
Er meinte, Schnaab würde auf ihn zutreten und wartete. Aber das geschah nicht. Aber als Schnaab sah, dass Hehrmeister auf ihn zuschritt, ging er ihm eilig entgegen. Hehrmeister hatte sich die Worte zurechtgelegt, mit denen er beginnen wollte, doch als sie nebeneinander standen, schwieg er nach dem Gruss. Beide schwiegen.
Endlich fragte Hehrmeister: »Sie waren mit ihm an den Strand gefahren?«
»Ja, am Nachmittag. Und auf der Station in Bilderlingshof frühstückten wir. Er war so seltsam. Er trank gerade so wie mit der Absicht, sich zu betrinken, sonst hab' ich das nie an ihm bemerkt. Es war gar nicht seine Gewohnheit. Niemals sonst.«
Es schien, dass Schnaab eine Frage erwartete. Als sie ausblieb, sprach er weiter: »Und so redselig war er. Aber er hörte gar nicht seine eigenen Worte, jedenfalls hatte er immer gleich wieder vergessen, was er eben noch gesagt hatte. Gleich am andern Morgen nach der Nacht, wo wir Sie getroffen hatten, bei den Mädchen, kam er zu mir und blieb. Es schien mir, dass er absolut nicht allein sein wollte. Ich hatte eigentlich was anderes vor, aber er liess mir keine Ruhe, ich musste das aufgeben und so machen, wie er wollte. Sie wissen ja wahrscheinlich auch, wie eigensinnig er war.«
Ein Windstoss fuhr gegen sie an, Schnaab griff nach seinem Hut, dabei entfiel ihm der Kneifer, den er in der Hand gehalten hatte. Er bückte sich nach ihm und putzte ihn hastig und mit bebenden Fingern, auf die er eine Zeitlang hinblickte, bis er den Kopf hob und mit glanzlosen, rötlich unterlaufenen Augen Hehrmeister anblickte, unschlüssig und unsicher geworden durch dieses Schweigen, das man ihm entgegensetzte und das kein Ende fand. Plötzlich bedeckte er seine Augen mit den Gläsern und fragte schnell und heftig: »Wissen Sie denn nichts?«
Einige Sekunden verstrichen, dann sah Hehrmeister ihn an und fragte: »Hat Kurt Ihnen irgendetwas mitgeteilt, worauf Sie das gründen?«
Schnaab schwieg sehr erregt.
»Also, nein,« erwiderte er endlich. »Das nicht, nein. Aber ich sah ja doch, dass etwas mit ihm los war. Es kann ja auch so halb ein Zufall gewesen sein. Jedenfalls bin ich der Meinung, dass so etwas vorkommen kann und geschieht, gerade, weil zufällig eine Gelegenheit da ist. Dass wir überhaupt dahin kamen, an den Fluss. Denn ich glaube eigentlich nicht, dass er an so etwas gedacht hat, als wir fortfuhren aus der Stadt. Ganz plötzlich in einem Moment packt es einen, und man gibt nach. Ich kann das wenigstens sehr gut verstehen.«
»Haben Sie mit noch irgend jemandem von Ihrer Vermutung gesprochen?« fragte Hehrmeister.
»Nein, natürlich nicht. Nur mit Ihnen wollte ich darüber sprechen, weil er gleich am andern Morgen so verändert war nach dieser Nacht, in der Sie so plötzlich mit ihm fortgegangen waren von da, von den Mädchen. Wo er mit Ihnen noch später in der Nacht gewesen ist, hat er mir nicht erzählt. Um sechs Uhr morgens wäre er in den Anlagen vor dem Theater auf einer Bank eingeschlafen, sagte er mir. Nach Hause ist er in dieser Nacht überhaupt nicht gegangen.«
Hehrmeister tat eine Bewegung, als wollte er reden. Schnaab horchte hin. Einige Sekunden Schweigens folgten, dann sagte Hehrmeister langsam: »Sie können sich ja auch täuschen.«
»Aber nein, ganz gewiss nicht!« rief Schnaab mit einem kurzen Auflachen im der Stimme, das sich seinem Gesicht nicht mitteilte. »Dass er hat baden wollen und ich ihn darauf gebeten hätte, er soll es lieber nicht tun, und dass er es dann doch getan hätte, das alles hab' ich ja nur erzählt den Eltern und den anderen Menschen. Es war ja doch so. Er fuhr ab vom Ufer, liess sich mitten im Fluss vom Strom treiben und zog plötzlich Rock, Weste und Hemd aus und stand so da, halbnackt. Ich begriff nicht, warum er das tat und war ganz starr. Ich weiss nicht warum, aber ich wandte mich für ein paar Augenblicke fort, ich glaube deshalb, um besser nachzudenken, weil ich nämlich gar nicht begreifen konnte, warum er sich auszog. Das wird ja auch immer ganz unverständlich bleiben. Als ich wieder hinsah, war das Boot leer, irgend einen Lärm hätte ich jedenfalls gehört. So weit war es ja gar nicht. Aber nein, ganz leise.«
Nach einer kurzen Pause sagte Schnaab rasch: »Und Sie sind ja auch gar nicht im Geringsten überrascht über meine Vermutung, Herr Hehrmeister. Sie haben es sich also auch so gedacht und es hängt irgendwie mit Ihnen zusammen, das heisst, ich will nur sagen, Sie wissen wahrscheinlich den Grund. Ich war anfangs nicht ganz sicher.«
Wieder kam eine kurze Pause. Dann erwiderte Hehrmeister ohne aufzusehen, aber deutlich und mit Entschiedenheit: »Wir wollen jedenfalls anderen gegenüber schweigen.«
»Natürlich, ja, ich habe auch geschwiegen, der Familie wegen und weil es so besser ist,« sagte Schnaab. Er war sehr beschämt und ganz rot geworden.
»Entschuldigen Sie aber, Sie werden schliesslich verstehen, dass ich etwas erfahren wollte, es war nicht nur so Neugierde.«
Er brach ab mit dem Gefühl, taktlos gewesen zu sein und stand da ärgerlich und mit dem Wunsch, sich zu verabschieden. Aber aus Verlegenheit schob er die Ausführung dieser Absicht von Sekunde zu Sekunde hinaus. Hehrmeister wartete. Endlich hatte Schnaab seinen Mantel von oben bis unten ganz zugeknöpft. »Ich muss jetzt gehen,« sagte er und verbeugte sich mit der steifen und ernsthaften Höflichkeit der Knaben und ganz jungen Leute.
Mit raschen, kleinen Schritten ging er der Stadt zu. Hehrmeister folgte ihm und mit einem langen, stumpfen Blicke behielt er die Gestalt im Auge, die immer mehr an Höhe verlor und endlich, in einer Entfernung von vielen hundert Schritten ganz winzig geworden, in eine Seitenstrasse abschoss.
Auf der Reise sah er zu, wie das flache, herbstliche Land vorüberstrich und sah in die Gesichter der fremden Menschen, von denen er nichts wusste und die miteinander sprachen. In Deutschland unterbrach er seine Fahrt mehrmals und suchte Bekannte auf. Überall drang er mit Hast vor und wollte rasch einspringen in ein anderes Leben, rasch in neue Dinge kommen. Aber er entschied sich nirgends und eilte nach Paris. Dort erwarteten ihn nahe Freunde. Denen schuldete er keine gesellschaftliche Höflichkeit, und so geschah es, dass er mit seinen Gedanken nicht aushielt bei ihren Gesprächen, stündlich war die Erinnerung bei ihm. So litt er mehr, als er unter Fremden gelitten hätte.
Sie sahen seine Stummheit, fragten aber nicht. Aber dass er nichts in seine Tage legen wollte und in seinen Stunden sich kein Inhalt finden liess, befremdete und beunruhigte sie.