Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Drittes Kapitel

1.

Man lernte doch nicht sein Glück schmieden, wozu weitläufig berechnen und planen. Man wurde nicht gefragt, und eines Tages war es eben so oder so gewesen. Anfang, Mitte und sogar das Ende einer Episode bemerkte man niemals recht deutlich und stand nachher da und durfte grosse Augen machen. Die Tage waren gekommen und wieder gegangen, was man lernte, vergass man wieder. Weit weg lag seine Jugend, eine Zeit törichter Freundschaften, die man ihm nicht hielt und die wie feines, dünnes Glas zersplittert waren. Farbig und deutlich tauchte aus dem Gedächtnis bisweilen irgend eine kleine böse Szene herauf, wie sie hatte entstehen können, begriff er nicht mehr. Denn alles vorher und nachher war vergessen. Dann kamen die lärmenden und etwas dummen Studentenjahre mit ihren Bierkameradschaften, die nicht dauerten und nicht Wurzel fassten, allen festen Handschlägen zum Trotz. Frömmere Jahre folgten, in Deutschland und Frankreich hatte er gearbeitet, in seiner Kunst. Sommer und Winter wechselten ab, wer keinen Erben hat, denkt unruhig an seinen Tod und noch vor dem Alter. Diesen Frühlingsmorgen, den dunklen sternenweiten Nachthimmel, die sanfte Wolke abends über den Bäumen, wer würde alles das anschauen und dabei froh werden oder ernst, im Glücke sein oder gelähmt von einer Qual – dann? Wem liess er diese Welt, die er liebte, auch wenn er litt?

Der Regen strich nieder, es war ein kalter, langweiliger Vormittag. Hehrmeister sass fröstelnd auf seiner Veranda und trank Tee. Die weltsatte Stimmung, die ihn stets beherrschte, wenn er sich seine Schicksale überlegte und sich dabei ärgerte, verliess ihn plötzlich. Er sog einen warmen, langen Schluck aus der Tasse und zündete rasch die mittlerweile verlöschte Zigarette wieder an. Mein Gott, jeder dachte eben zuerst an sich. Was konnte er dazu, dass er mit seinen Nerven und Sinnen genoss, dass er nicht so stark und ernst empfand wie sie.

Die Zauntür zum Prospekt ward aufgeklinkt, er erkannte Frau Krusensteins Stubenmädchen. Sie gab ihm einen Brief ab, sagte irgend etwas und ging wieder.

Er las: »Lieber Schatz! Sei so lieb und vergiss ganz gewiss nicht den zweiten Band von den Kindern der Welt mitzubringen. Ich bin schon fertig mit dem ersten und gespannt darauf, wie es weitergeht. Wann kommst Du? Doch nicht später als zwölf Uhr? Ich erwarte Dich. Deine E.«

Sehr ärgerlich erhob er sich, zog den Mantel an, die Galoschen, spannte seinen Schirm auf und eilte ganz zornig durch den Regen auf dem nassen, schlüpfrigen Bretterstege zur Villa. Er nahm an, dass er sie auf der Veranda, die zur See hin lag, finden würde, bog plötzlich um die Ecke und ging rasch die Stufen hinan.

»Ah, schon!« sagte sie, sich lebhaft und froh aufrichtend.

Sehr bald begann er: »Aber wir hatten uns doch dafür entschieden, ›Sie‹ zueinander zu sagen. Und nun schreiben Sie mir diesen Brief!«

»Es tut doch nichts in einem Brief,« meinte sie. »Dabei gewöhnt man sichs doch nicht an. Überhaupt, ich glaube immer, in so etwas liegt gar keine Gefahr. Man muss sich doch auch an den Wechsel gerade gewöhnen können, das man einmal so und einmal anders sagt.«

»Das glaube ich nun wieder nicht. Und ganz abgesehen davon, aus welchem Grunde, um aller Heiligen willen, schrieben Sie mir überhaupt? Sie wussten ja ganz genau, dass ich nach einer halben Stunde kommen und das Buch mitbringen würde. Es war ja gar kein Zweifel möglich. Man braucht nur einmal nachlässig oder zerstreut zu sein und weiss Gott, was so ein Brief nicht anrichtet. Wozu sich ganz unnütz in Gefahr begeben.«

»Aber man überlegt eben nicht immer und handelt nicht klug, eine Stimmung kommt, und man gibt ihr nach. Natürlich, es war ja nicht nötig, dass ich schrieb. Nun, wo ist das Buch?«

Er machte ein dummes Gesicht. »Jetzt habe ich es in der Tat vergessen,« sagte er etwas beschämt.

Sie lachte. »Also nicht so stolz sein ein anderes Mal!« rief sie, »aber, ich habe etwas für Sie,« sagte sie dann, wandte sich und nahm ein Kettenarmband aus schwerem Golde vom Tisch und in die Hand und reichte es ihm.

Er dankte sehr erstaunt und wunderte sich über sich selbst, darüber, dass er eitel genug war, sich zu freuen und geschmeichelt zu sein. Noch immer betroffen hielt er es in der Hand und lobte die Arbeit.

»Es ist nur, dass ichs nicht werde tragen können,« meinte er.

»Warum nicht?«

»Hans würde doch fragen, woher ich es habe.«

»Aber ich bitte dich, du sagst einfach, irgend eine Dame hätte es dir geschenkt. Irgendwo eine, eine in Paris.«

Bisweilen fand sie Gefallen an einer ratlosen Gesprächigkeit. Fortwährend überlegte sie, überdachte, erwog und suchte mit vielen Worten Klarheit zu gewinnen in Dingen, an denen nichts verwickelt war. Auch von ihren Gewissensbissen erzählte sie, ohne auf Hehrmeister damit einen besondern Eindruck zu machen. Sie kam ihm traditionell vor, diese Reue, und keineswegs passend. Aber sie machte sich Vorwürfe, und er musste sie mit Phrasen, die auszusprechen beinahe lächerlich erschien, beruhigen und trösten. Dann fragte sie wieder und wieder, warum er so lange so kühl gewesen wäre, er hätte sie doch längst schon geliebt. Und er antwortete: »Ich zwang mich dazu Krusensteins wegen.« Einige Mal fing sie damit an: Sie wäre es gewesen, die überredet hätte, entgegengekommen wäre, ob er nicht schlecht von ihr dächte. Dann schlug sie vor, jeder sollte ein Tagebuch für sich führen, am Ende der Woche würden sie sich daraus vorlesen und so am besten erfahren, wie sie zueinander ständen, was sie einander wären. Es graute ihn bei dieser Vorstellung, nur mit Mühe bestimmte er sie, den Gedanken wieder aufzugeben. Bisweilen tätschelte sie an ihm wie an einem kleinen Kinde, schmeichelte ihm mit Worten, wie man sie an ein Baby richtet und zupfte an seinen Kravattenenden. Oder sie flüsterte ihm ein übermütiges Scherzwort zu, während Krusenstein keine zehn Schritt von ihnen entfernt stand. Sie schien nicht zu bemerken, dass ihn das alles oft verdross und nervös machte.

Aber sie zeigte Hehrmeister ihre Dankbarkeit so freudig, dass es ihn rührte, während er darüber lächeln musste, mit welcher Naivität sie ihr spätes Glück genoss. – – –

Es war an einem Nachmittag, er hatte gebadet und war vom Strande bis an sein Häuschen geschlendert. An der Zauntür, noch auf dem Prospekt, stiess er mit dem Postillon zusammen, der ihm ganz stumm und ohne zu grüssen einen Brief hinreichte. Er erriet, wessen Handschrift es war.

Er hatte gar nicht an diese Möglichkeit gedacht, daran, dass er ihm schreiben könnte und betrachtete immerzu die Adresse.

Er rührte sich nicht vom Fleck, öffnete den Brief ganz langsam und las:

»Lieber Freund!
Es ist gewiss schlecht von mir, dass ich Dich so geärgert habe. Ich verspreche Dir, Dich nicht wieder zu plagen. Allerdings war es auch eine grenzenlose Gemeinheit von Dir, mich so herauszuschmeissen.
Also wir wollen uns wieder vertragen. Es ist schade, aber es ist nichts besonders Interessantes passiert hier auf dem Lande, was soll ich schreiben? Es ist sehr langweilig, und ich erlebe nichts. Du denkst gewiss, ich würde neue und nette Kameraden finden. Aber nein, es kam gar nicht so. Sie sind so, dass ich sehr wenig mit ihnen anzufangen weiss. Sie sprechen immerfort von der Jagd und das ist gerade mein schwacher Punkt, und ich verstehe nichts davon. Einer von ihnen hatte den Gedanken, wir sollten uns alle sechs, um uns später an die gemeinsam verlebte Konfirmationszeit zu erinnern, silberne Kreuze an Ketten machen lassen und die auf dem blossen Körper tragen (unter dem Hemd!), solange wir leben. Auf keinen Fall wollte ich das. Ich habe so lange dagegen gesprochen, dass jetzt nichts daraus wird. Die Pastorin liebe ich gar nicht, sie ist mir ganz unausstehlich, sie und ihre alte Kusine, die auch hier im Hause lebt. Der Pastor selbst ist ein guter Kerl und recht klug und dabei doch wieder beschränkt. Er sagt es wäre ihm am liebsten, wenn man bei uns in Livland die Jungen auch schon mit 14 Jahren konfirmieren könnte, so wie es in Deutschland ist. Ich glaube, er hat ganz recht. So mit 16 oder 17 ist es jedenfalls nichts, und man ist schon viel zu entwickelt. So soll ich mich zum Beispiel hinstellen und versprechen, dass ich mein ganzes Leben lang ein Christ sein werde. Ich muss das sogar schwören, das heisst ganz einfach, dass man mich zu einem Meineid zwingt. Es wird nichts sein, als eine grossartige Lüge am Sonntag nach einer Woche in der Kirche mit Orgelmusik und allem, wenn ich konfirmiert werde. Ich bin eigentlich froh, dass Papa und Mama nicht kommen können, weil Papa zuviel zu tun hat und Mama nicht allein reisen will. So wird meine alte Grosstante, die hier ein paar Werst weit vom Pastorat auf dem Gut lebt, die Einzige sein, die dabei ist. Natürlich wird sie mich in der Kirche hundertmal abküssen, wogegen man nichts machen kann, und wie lächerlich, dass man dann gerade zum erstenmal im Leben einen Frack anzieht! Diese dummen Sitten. Ich denke oft an Dich und vermisse Dich furchtbar. Ist denn Dein Quartett noch immer nicht fertig? Also auf Wiedersehn!
Es grüsst
Dein Kurt.
Pastorat Schwanstein, den 16. Juli.
P.S. Schicke mir Zigaretten, aber bitte schon lieber sofort, denn ich hab hier gar nichts zu rauchen. Es grüsst herzlich
Dein Kurt.«

Mit dem Brief in der Hand ging er auf seine Veranda und setzte sich.

Und er empfand nicht eine Spur von Groll gegen Kurt. Er war schon versöhnt gewesen, als er die Anrede gelesen hatte: »Lieber Freund!«

Er wunderte sich über seine Urteile, die ihm plötzlich einfielen. Eine solche Freundschaft könnte gefährlich werden durch das Geheimnis und ein junger Mann schlüge sich am besten allein durch die Welt.

Übrigens war ihm alles das ganz gleichgültig. Diese Fragen, diese Bedenken interessierten ihn nicht im allergeringsten, er war im Augenblick nur einer Empfindung fähig, nur die Freude beherrschte ihn, die Freude darüber, dass Kurt den ersten Schritt getan hatte.

Und er wollte den Brief noch einmal lesen. Aber er besann sich, verschob das auf später und freute sich schon darauf.

Er überlegte längere Zeit, war dann plötzlich entschlossen, sprang auf und ging zur Villa.

Sie hatten soeben gespeist und sassen da, vertieft in die Zeitung. Krusenstein lebte auf, in der Aussicht auf eine gemütliche Unterhaltung, es ward zum zweitenmal Kaffee gekocht, und er begann über baltische Politik zu reden und sich über die sogenannte Krugsfrage zu verbreiten. Hehrmeister hörte zu und wartete. Aber erst nach einer langen Stunde kam es so, dass er und sie in der Dämmerung über die Dünen ans Meer schlenderten, während Krusenstein zurückblieb.

»Warum bist du gekommen?« fragte sie sogleich.

»Dabei ist doch nichts auffällig,« erwiderte er.

»Nein, gewiss nicht. Niemandem kann etwas auffallen. Und am wenigsten Hans. Nur die Liebe sieht scharf. Er kümmert sich doch nicht viel um mich.«

»Aber ich glaube, dass er dich trotzdem liebt, trotz seiner Dummheiten. Du bist klug genug, um zu wissen, dass es Männer gibt, die so sind und trotzdem eine Frau lieben.«

»Nun ja, du magst Recht haben. Aber ich verstehe mit solchen Männern eben nichts anzufangen.«

Sie schwiegen. Er räusperte sich und begann: »Also etwa nach einer Woche kommt Kurt. Jedenfalls werden wir uns dann nicht mehr so oft sehen.«

»Warum? Nun ja, wir werden seltener miteinander allein sein.«

»Übrigens fängt ja jetzt das Leben in der Stadt sehr bald wieder an. Nur noch zwei Wochen bleiben wir ja am Strande. Meine Schwester kehrt auch zurück. Ich weiss nicht, wo wir uns treffen sollten. Es wäre jedenfalls alles sehr gefährlich. Nun, es wird anders werden müssen während längerer Zeit. Es ist ja nichts dabei. Es kommt ja doch nicht alles darauf an.«

Also da hatte er hinausgewollt, deshalb sein unerwarteter Besuch. Sie betrachtete ihn von der Seite, und ein kleiner Hohn war in ihrem Blick. Wenn es einmal galt, würde sie doch die Macht haben, ihn zu leiten, glaubte sie. Aber sie begriff, dass sie sich im Augenblick etwas vergeben würde, wenn sie nicht seiner Meinung wäre.

Sie waren stehen geblieben. »Gewiss, es kommt nicht darauf an,« wiederholte sie seine Worte, wie ganz im Einverständnis mit ihm. Dann sagte sie mit der Offenheit, die ihr eigen war: »Weisst du, dass so etwas überhaupt noch nicht passiert ist, solange die Welt steht.«

»Was denn?«

»Sonst spricht in einem solchen Verhältnis doch immer die Frau davon und schlägt vor, dass man wie Bruder und Schwester leben soll. Anstatt dessen tust du es.«

»Ich bin eben ein besonderer Mensch.«

»Ja, das bist du. Man lernt dich nicht leicht kennen. Aber es ist einerlei, ich liebe dich so, wie du nicht anders sein kannst. Ich sehe es ja, in der Art wie du für mich fühlst, ja, wie sagt man das? Es ist kein ganzer Zusammenklang darin. Und ich komme nicht ganz so dahin, bis dahin, wo du zu Ende bist. Du verbirgst mir nicht gerade irgend etwas, aber irgendwelche Dinge sind so tief in dich hineingesunken, dass ich sie nicht aufspüren kann.«

Sie tastete nach seiner Hand, umfasste sie mit einem energischen Griff und hielt sie. Im Scherz einen drohenden Ton anschlagend, sagte sie: »Aber ich werde dich beobachten. Ich werde auf der Lauer liegen, du wirst mir nicht entschlüpfen. Eines Tags werde ich ganz durch dich schauen, wie durch Glas, Du hast deine Geheimnisse.«

Er lächelte etwas, und sie gingen wieder zurück zur Villa und suchten Krusenstein wieder auf.

Es schien ihr ganz recht zu sein, dass er während der nächsten Woche nur selten kam und meist nur dann, wenn auch Krusenstein anwesend war, am Abend. Er erzählte von den Artikeln, an denen er schriebe und erwähnte, dass die Arbeit grösser wäre, als er anfangs gemeint hätte.

Er hatte nicht genau gewusst, an welchem Tage Kurt zu erwarten war, und so trafen sie sich zufällig auf dem Prospekt. Kurt hatte einen taubengrauen Anzug an, und auf dem Kopf sass ein neues Hütchen, das im Sonnenschein leuchtete. Zum erstenmal sah Hehrmeister ihn nicht in der Schuluniform und zum erstenmal so recht den jungen Mann in ihm und nicht mehr den grossen Jungen. Nicht das so sommerbraune Antlitz, die Kraft, die überall sich festigend in der Gestalt tätig war und die Linien bestimmte, das war die Schönheit, die seinen Blick anhielt, bis er ihn hob, um Kurt in die Augen zu sehen. Und den frischen Atem, den vermischt mit ein wenig Zigarettendunst der ganze Körper auszuströmen schien – wie er den wiedererkannte. So persönlich war dieser Atem, dass Hehrmeister die Augen schloss, um ihn stärker wehen zu spüren und während einiger Sekunden ganz in ihm dazustehen.

Aber ihr Gespräch war nicht ungezwungen und Kurt etwas verlegen, so wie es ganz junge Menschen sind, die einen Freund, einen Bekannten oder einen Verwandten nach einer Trennung wiedersehen. Sie müssen erst warten auf den gewohnten alten Ton, der nicht gleich wieder zu finden ist.

Und Hehrmeister blickte Kurt immerzu an und war befremdet von diesem Wiedersehn, in das auch er keine Stimmung zu bringen wusste. Er fühlte keine Überlegenheit in sich, ganz anders hatte er sichs gedacht, aber dabei im stillen doch so etwas gefürchtet.

Seine Fragen und Kurts Antworten fingen an, sich zu wiederholen, und Hehrmeister war froh, als ein Kamerad von Kurt auf sie zutrat und sie nun zu dreien und unbefangen plaudern konnten.

Enttäuscht blieb er zurück, als die Jungen nach einigen Minuten weiterschlenderten. Wie war es denn so gekommen? fragte er sich. Als ich damals in der Nacht an ihn dachte und aus dem Bett sprang – – – Ach, ich war zornig und gekränkt und weiter nichts.

Aber es wird sich ausgleichen nach allen Seiten. Und wenn wir uns das nächste Mal sehen, schon anders sein.

Aber Kurt war nicht zu erreichen. Er musste für ein Nachexamen arbeiten, das er noch vor Schulanfang abzulegen hatte. Krusenstein war immer hinter ihm her und fand es nötig, sehr streng zu sein. Er bestellte ihm einen russischen Einpauker, der Kurt während der nächsten zwei Wochen auch nicht eine Minute Freiheit gönnte, vom Morgen bis zum Abend nicht von seiner Seite wich und ihn auf jedem Gang begleitete.

Es regnete viel, er ging am Nachmittag bisweilen in die Villa und las Frau Krusenstein vor. Sein Stillebleiben und Schweigen, das sie bekümmerte, suchte er mit einem körperlichen Unwohlsein zu entschuldigen. Krusenstein lebte häuslich, er fuhr jeden Abend nach der Arbeit an den Strand heim. Dann bei Tisch redete er nach seiner Gewohnheit viel, mit grossem Nachdruck und gleichmässig lebhaft. Auch Kurt und der Lehrer, ein junger bärtiger Russe, etwas unsauber im Aufzuge, waren bisweilen anwesend, und Hehrmeister sass da, aufmerksam auf sich und die anderen. Oft glaubte er, er täte am Ende zu viel im Unbefangentun, es war nichts mehr zu verstecken, seitdem er seinem Verhältnis mit ihr diese Wendung gegeben hatte. Sie würde schon ein Einsehen haben. Vor allem kam es darauf an, den jetzigen Zustand in die Länge zu ziehen, bis er eines Tages durch seine Dauer gefestigt war.

Im August, als die Abende dunkel wurden und das Meer zu stürmen anfing, siedelte ganz Riga wieder in die Stadt hinüber. Als Hehrmeister seine Schwester wiedersah, die ihn schon erwartete, war ihm nicht froh zumute. Noch ein Augenpaar mehr, das sich auf ihn richtete. Da sass sie und blickte ihn an und fragte, was er den Sommer über getrieben, wie er sich mit Krusensteins eingelebt hätte und fragte noch anderes, und es hiess noch immer, die Antworten sorgfältig berechnen.

2.

Wenige Tage nach dem Umzuge in die Stadt traf er bei Krusensteins mit einem andern Gast zusammen. Eine Dame sass im Wohnzimmer und unterhielt sich mit Frau Emmy. Während man einige Redensarten austauschte, fand er Musse, sie zu betrachten. Das Fräulein hatte ein ältliches Gesicht, lustig blitzende, kleine, hellgraue Augen und war sehr geschnürt. Die Nase sass etwas aufgestülpt und etwas weit weg vom Munde an ihrem Platz. An ihren Händen funkelten die Ringe, doch war sie sonst nicht geschmacklos gekleidet, nur dass der eigentlich recht einfache Kleidstoff vielleicht etwas modisch zugeschnitten war, in einer Weise, die für ihn gar nicht passte. Er bemühte sich zu erraten, welche Beziehungen sie zum Hause hätte. Frau Krusenstein sagte du zu ihr, des weiteren liess sich fürs erste nichts abnehmen. Übrigens war sie auf Hehrmeisters Erscheinen jedenfalls vorbereitet gewesen. Und es musste ihr jemand gesagt haben, wahrscheinlich hatte es Frau Krusenstein getan, dass es ihm bisweilen gelang, einen Witz zu reissen. Kaum dass er nur den Mund öffnete, so sah sie hin und machte ein Gesicht, als erwarte sie, etwas unerhört Drolliges zu hören. Sehr amüsiert versuchte er also seinem Ruf als Spassmacher gerecht zu werden. Und er ward glänzend belohnt. Nur sehr wenig genügte jedesmal, damit sie ehrlich entzückt mit einem hellen, herzfrohen Lachen losplatzte.

Ehe sie aufbrach sagte sie ganz plötzlich zu ihm: »Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie so gut sein würden, mich einmal zu besuchen. Vielleicht morgen nachmittag um 3.«

Er dankte überrascht.

Frau Krusenstein begleitete sie ins Vorzimmer und kehrte dann zurück.

»Wer ist denn das nur?« rief ihr Hehrmeister etwas nervös entgegen.

Sie lächelte. »Lilly Breitssprecher. Eine alte Schulfreundin von mir. Ein ganz klein bisschen töricht ist sie ja, aber doch ein gutes Geschöpf. Findest du nicht?«

»Ja gewiss. Ein bisschen innerlich verbogen, aber sonst ein ganz nettes altes Pferdchen,« sagte er.

»Sie hat mich sehr gern,« erzählte Frau Krusenstein. »Aber wir sind etwas auseinander gekommen in letzter Zeit, schuld daran ist Hans. Mein Mann kann so beschränkt sein, weisst du, er ist gerade so, wie du nicht bist. Er ist ein echter Rigenser Literat. Er mag sie nicht, meine gute Lilly, weil ihr Grossvater nicht studiert hat. Und weil die Breitssprechers kein Wappen haben, das in der Petrikirche hängt. Das allein genügt ihm, um sich so viel besser zu dünken. Wie habe ich mich mit ihm gezankt. Gott sei Dank, dass du nicht so bist. Was meinst du, tue ihr doch den Gefallen und komme morgen hin. Sie würde sich so freuen.«

Das Fräulein wohnte ausserhalb der Stadt in einem Vororte, in Hagensberg. Pünktlich zur Stunde kam Hehrmeister in einer Droschke angefahren, stieg aus und fand sich einem langen, hohen Bretterzaune gegenüber. In ihm erspähte er nach einigem Hin- und Herblicken eine kleine Tür. Es kostete Kraft, sie loszuklinken und aufzustossen. Als er eingetreten war und sie aus der Hand liess, schwankte sie langsam wieder in den Zaun zurück, mit einem seltsamen gellen Gezwitscher. Zuletzt gab es noch einen dumpfen Knall. Erschrocken und neugierig sah er hin. Ein Gewicht trieb die Tür zu, zwei Ziegelsteine waren an einen Strick gebunden, der über ein eisernes Rädchen lief. Die beiden Steine baumelten noch auf und nieder, vom Anprall an die Holzwand in Schwingung gebracht. Etwa 20 Schritte vor ihm stand ein kleines altes Haus, braun angestrichen. Er ging durch einen Küchengarten und durch eine Anpflanzung von Blumen, die auf ihren runden winzigen Beeten längst verwelkt waren und las über der Tür auf einem Blechschilde angeschrieben: Breitssprechers Erben.

Er öffnete und befand sich sofort auf der ersten Stufe einer ausserordentlich steilen, sehr langen, geraden Wegs hinanlaufenden Treppe. Es schien, dass sie bis dicht unter das Dach des Häuschens führte, wenn man sich vorstellte, wie niedrig sich das Gebäude von aussen ansah. Lächelnd und froh darüber, diesen Fleck Alt-Riga gefunden zu haben, holte er, oben angelangt, Atem und klingelte.

Eine bejahrte Dienerin liess ihn ein, führte ihn in den Salon und ging wieder. Er schaute sich um. Es war ein geräumiges Zimmer mit sehr niedriger Decke, über und über vollgekramt mit ganz kleinen Tischen, Sesseln, Sofas, Bücherschränkchen und mit Gestellen, in denen dickleibige Albums in Samtumschlägen prangten. Alles war ordentlich auf seinem Plätzchen und nirgends ein Stäubchen zu entdecken, und doch roch es muffig und gerade nach Staub und wie nach Strohblumen, von denen übrigens ebenfalls nichts zu sehen war. Dutzende von Briefbeschwerern, aus Glas, aus Porzellan oder sauber spiegelndem Holz standen umher. Die aus Marmor waren regelmässig mit einem Ei verziert. Eine blasse, altmodisch verschnörkelte Manierlichkeit überall. Neben einigen goldgerahmten Damenporträts hingen eine Unmenge von Daguerreotypen an den Wänden und erhöhten den Eindruck des Verschossenen rundum mit ihrem feuchtsilbrigen Geglitzer. Hehrmeister musste auf jeden Schritt, den er setzte, acht geben. Der Boden war uneben und jedes einzelne Brett der Diele auf seine Art vom Alter geworfen, ein jedes besonders ausgebuchtet unter den Füssen zu spüren. In die Mitte des Zimmers ging man wie in ein Tal.

Fräulein Lilly trat ein und sie begrüssten sich. Sie war wie das letzte Mal gekleidet, nur hatte sie jetzt keinen Hut auf, was ihrer äussern Erscheinung nicht eben zum Vorteil gereichte. Er merkte, dass sie befangen war und keineswegs wie neulich aufmerksam auf seine Unterhaltung, keineswegs auch geneigt, beim geringsten Anlass aufzulachen, wie damals. Hilflos und ängstlich blickte die kleine Person ihn an und sass ganz steif und eng geschnürt auf dem Kanapee. Gerade wollte er fragen, ob er vielleicht ungelegen käme, als die Tür aufging und Frau Krusenstein eintrat.

Hehrmeister erhob sich. »Sie sind auch schon da, gnädige Frau,« sagte er überrascht.

»Ja, ich war mit Lilly in den unteren Zimmern,« sprach sie ganz ruhig und reichte ihm die Hand.

Sie sassen zu dreien. Ihm ward unbehaglich. Frau Krusenstein schwieg und Lilly Breitssprecher schwieg. Er gab einen ganz lustigen Einfall zum besten, aber kein Mensch lachte, sein Publikum war wie ausgewechselt.

Fräulein Lilly war etwas rot im Gesicht, es machte den Eindruck, als schäme sie sich aus irgend einem Grunde. Ein allgemeines Stillschweigen liess sich nicht mehr vermeiden, und als es entstanden war, dauerte es eine ganze Minute.

Dann schnellte Fräulein Lilly ganz plötzlich in die Höhe und sagte, sich zu Hehrmeister wendend: »Sie entschuldigen mich wohl einen Augenblick.« Und mit kurzen, eiligen Schritten lief sie aus der Stube.

Sehr befremdet blickte er ihr nach und sah dann fragend auf Frau Krusenstein. Die lächelte, erhob sich, schritt auf ihn zu, der ihr wie hypnotisiert entgegensah, und küsste ihn auf den Mund.

Er war so erschrocken, dass seine Arme, die er auf der Brust kreuzte, nach beiden Seiten schlaff auseinander glitten. Er sagte kein Wort.

»Siehst du, sie ist mir sehr ergeben. Sie weiss alles und ist verschwiegen. Wozu hat man denn seine guten Freundinnen? Ich habe dich überraschen wollen.«

Er war aufgesprungen. »Aber das ist doch ganz unmöglich,« rief er mit halber Stimme.

»Warum denn?«

Er sah sich um, fassungslos. Und ganz unwillkürlich entfuhr es ihm: »Hier! Ich bitte dich! Lauter Nippsachen, alles dies Krimskrams.«

Ein leises, halb ersticktes Lachen antwortete ihm. Dann sagte sie, ihre Stimme dämpfend: »Wir können ja hinübergehen, dorthin, nebenan ins Kaminzimmer. Lilly ist so gut wie gar nicht da, sie ist unten, im untern Stock und schreibt Briefe.«

Er trat zurück von ihr. »Lass mich gehen, es ist das beste,« rief er ihr zu.

»Warum bist du mit einmal so ängstlich geworden? Früher warst du doch gar nicht so. Was hat sich denn verändert? Wen fürchtest du? Hans? Einen Skandal? Wovor fürchtest du dich? Wovor denn?«

Sie unterbrach sich plötzlich und sagte in einem Ton, der in der Mitte lag zwischen Drohen und Bitten: »Und jetzt kannst du auch gar nicht mehr ganz rasch fortgehen auf einmal. Wie sieht denn das aus.«

»Aber wieso denn?« Er verstand nicht.

»Was sollte denn Lilly davon denken. Willst du denn, dass sie mich auslacht?«

Der Einwurf belustigte ihn. Und nun sein erster Schreck verflogen war, fand er seine Lage drollig und blieb nicht ganz ernst.

Sie benutzte das, warf ihm ihre Arme auf die Schultern und schlang die Hände über seinen Nacken zusammen. Ihn so umklammernd hielt sie ihn, ohne ihn an sich zu pressen. Es war, als hätte sie ihn so vor sich hingestellt, damit er sie ansehen müsste, während sie sprach, und ihr in die Augen blicken während dessen und dort lesen, wenn sie die Worte nicht rasch genug finden konnte.

»Siehst du, ich muss doch wissen, dass du mich noch lieb hast. Ach, dieser Zwang zu Hause oder wenn wir wo anders sind, immer und immer nicht allein. Ich kenne dich ja so wenig, du bist so seltsam zu mir, aber ich habe nur dich. Alles, alles will ich dir von mir erzählen, hab ich es denn nicht schon getan? Du glaubst mir doch, du weisst doch, dass ich nicht sein kann ohne dich. Was ist denn zwischen uns? Jeden Tag fürchte ich mich und denke, morgen kommt er nicht mehr, dann ist er abgereist, ganz heimlich. Ich weiss, du hast mir versprochen, dass du so etwas nie tun wirst. Aber du sagtest einmal, man wüsste nie, wann man lügt und wann nicht. Das quält mich. Denke doch nicht so schlechte Gedanken. Ich will dich ja doch gar nicht so ganz einengen. Natürlich, später wirst du wieder reisen und im Auslande sein, monatelang, so wie du es gewohnt bist, aber ich muss wissen, dass du wieder kommst, und ich muss dir schreiben können. Überlege nicht immer, sei gut zu mir, ich bitte dich.«

Er stand ganz gerade vor ihr, rührte sich nicht und trug ihre Hände auf den Schultern. Er sah sie nicht an, hielt den Kopf ganz tief gesenkt und atmete nur in kleinen Zügen, so dass er den Hauch ihrer Worte nicht spürte. Als er meinte, sie wäre fertig und würde nichts mehr hinzufügen, zog er seinen Körper leise etwas zurück, so dass die Hände auf seinen Schultern ins Gleiten kamen.

Sie trat weg von ihm und errötete. Aber sie beherrschte sich sofort und sagte: »Ich bin nur froh, dass wir ein bisschen allein sein können.«

Sie setzte sich und konnte ihm nun endlich in die Augen sehen, von unten, er hielt den Kopf immerzu gesenkt. Sie fragte: »Sage mir, aber früher? Warst du immer so?«

»Wahrscheinlich,« erwiderte er. »Ich liebe die Extasen nicht und bin auch oft von meiner Arbeit absorbiert.«

Sie blickte gerade auf die Tür. Er sah zum Fenster hinaus auf die leere Strasse. Der Abend dämmerte, es war beklommen in der Stube und nicht genug Raum da, um voll atmen zu können und die bekramten Wände drückten auf seine Brust. Draussen in der Vorstadt irgendwo spielte eine Drehorgel immerfort Santa Lucia. Ganz langsam löste sich Ton von Ton und bebte trübselig und jammernd. Sie sahen sich nicht an, schwiegen still und mussten hinhören.

Über eine Minute ging so hin. Der kalte Abendwind blies gegen die Fenster, deren Spalten mit Papier verklebt waren, und die Dämmerung schlüpfte aus allen Winkeln und Eckchen hervor und schob alle die Sächelchen im Zimmer auf einen Haufen zusammen. Die Daguerreotypen sassen wie rundliche, regelmässige Flecken in der Wand.

Auf einmal begann sie lebhaft zu sprechen und ihre Gedanken waren bald hier, bald dort. »Ach ja, wenn man nur nicht ganz allein ist,« sagte sie. »Wenn ich dir doch irgendwie beschreiben könnte, wie langweilig mir Hans ist. In allen Dingen ist er geradezu wahnsinnig trivial. Ich weiss nicht, ob du mir auch glaubst, dass ich für Kurt eine gute Mutter bin. Aber deshalb bleibe ich doch immer ein verrücktes Frauenzimmer, ausser der Mutter. Das hängt nicht zusammen, du bist ja doch so klug und musst das begreifen. Aber bisweilen scheint mir, dass du darüber anders denkst. Übrigens deine Arbeit! Erzähle mir doch einmal davon. Es ist ein Quartett? Und du willst es auch in Berlin spielen lassen wie früher deine ersten beiden? Du tust immer so heimlich damit. Ich will doch wissen von dir. Ich kann gar nicht begreifen, wie man komponiert. Fällt einem zuerst eine Melodie ein, ein Gedanke, oder denkt man gleich an irgend einen Gegensatz, an einen Kontrast? Und aus welchem Grunde entschliesst man sich eigentlich für irgend eine bestimmte Tonart?«

Anfangs wollte er nicht recht, aber sie bat, und um gefällig zu sein und weil er in Verlegenheit war um einen andern Gesprächsstoff, begann er zu erzählen vom Thema und seiner Durchführung, von Seitensätzen und Modulation, von Umkehrungen und von den altmodischen aber immer noch gebräuchlichen Schlüsseln; und er legte ganz gegen seine Gewohnheit weitläufig Rechenschaft ab von seiner künstlerischen Technik und versprach gelegentlich einige Teile seiner Arbeit auf dem Klavier vorzuspielen.

Sie hörte zu, machte hin und wieder einen Einwurf und zeigte gerade so viel Verständnis, dass es ihn interessieren musste, sie zu belehren.

Eine ganze lange Weile verstrich, auf der Strasse brannten schon die Laternen, als leise an die Türe gepocht wurde. Frau Krusenstein rief: »Komm nur« – und Lilly Breitssprecher erschien, blieb etwas verlegen und unsicher im Halbdunkel stehen und fragte sehr freundlich: »Ob wir nicht ein Tässchen Kaffee trinken?«

Sie gingen durchs Kaminzimmer und durch einen engen Korridor bis in die Speisestube. Die Kaffeekanne summte und brummte hoch oben auf dem Bolzen, der hellrot glühend in einem vielbeinigen Messinggestell lag. Das weisse Tischtuch, die Servietten, die Butterdose und die kleinen vergoldeten Löffelchen, die noch in dem mit blauem Samt ausgeschlagenen, länglichen Kästchen ruhten, in dem sie einmal gekauft waren, alles blitzte und funkelte im prallen Glanz der Hängelampe. Zwei mit Kaffeekuchen gehäufte Teller standen da, ausserdem noch eine runde Apfeltorte, die Fräulein Lilly mit einem breiten, silbernen Messer anzuschneiden begann. Währenddessen nötigte sie ihre Gäste, die sich setzten.

3.

Sobald man vom Kaffeetisch aufgestanden war, hatte er sich verabschiedet und die beiden Damen allein gelassen.

Draussen vor der Tür wartete noch seine Droschke. Der Kutscher war eingeschlafen, Hehrmeister weckte ihn und bezahlte. Er wollte durchaus zu Fuss gehen, er war müde vom Sitzen und vom Eingesperrtsein in diesen schnörkelhaften Gelassen und von der Unterhaltung mit Lilly und Frau Krusenstein, die während der letzten Stunde gleichtönig heiter und sehr viel auf ihn eingeredet hatten.

Er ging nicht schnell und genoss mit jedem Schritt die Bewegung und die frische, kalte Abendluft. So legte er den ganzen weiten Weg zu Fuss zurück, durch die Vorstadt, über die Flossbrücke und durch die innere Stadt bis nach Hause. Seine Schwester kam ihm an die Tür entgegen und erzählte, Kurt Krusenstein wäre dagewesen und er hätte sein Examen glücklich bestanden. Doch hätte sie nicht Auskunft darüber geben können, wann Hehrmeister heimkommen würde.

Nun, ich werde ihn morgen erwarten, dachte er. Aber er war doch verstimmt und musste sich Mühe geben, es zu verbergen.

Und Tags darauf kam Kurt auch wirklich. Als er in Hehrmeisters Schreibzimmer eintrat, rief er ihm zu: »Wie schade, dass du gestern nicht da warst. Ich war gerade so lustig und froh, weil ich das Examen abgemacht hatte und wollte allerlei mit dir besprechen und dir erzählen.«

»Was denn,« fragte Hehrmeister gespannt.

»Ach, heute weiss ich nicht mehr so genau, was. Und heute ist mir das Leben schon wieder langweilig.«

Und mit einer mürrischen, faulen Gebärde setzte er sich ganz plötzlich und sagte sehr verdriesslich: »Müde bin ich und rauchen will ich.«

Hehrmeister erhob sich und brachte ihm Zigaretten.

Kurt dampfte in grossen Zügen, schwieg und fing zu lesen an. Hehrmeister nahm wieder seinen Platz am Schreibtisch ein und sah bisweilen hinüber zum Diwan. Er wurde unruhig, wollte doch allerlei wissen und gerne plaudern. Aber plötzlich kam er auf einen andern Gedanken, und mit wachsender Heiterkeit und sehr vergnügt betrachtete er den launischen Bengel.

Froh und eilig rückte er ein Blatt Papier vor sich hin und schaute dann wieder auf Kurt, der in den Kissen des Diwans sehr schnell und gewandt die bequemste Lage gefunden hatte. Nach wenigen Minuten begann er zu schreiben, und es ward ganz still im Zimmer.

Eine volle Stunde war verstrichen, als es Kurt offenbar angemessen fand, sich ein wenig nach Hehrmeister umzusehen und seine Lektüre zu unterbrechen.

Er stand auf und fragte: »Was schreibst du da?«

Er trat an den Tisch. »Ich bin schon fertig,« sagte Hehrmeister und wies auf das Blatt.

»Verse? Hast du die gemacht?«

»Allerdings. Hin und wieder passiert einem das.«

»Zeig sie mir doch, bitte. Ja, willst du?« Er war sehr neugierig, traute der Sache aber nicht ganz.

»Lies sie mir vor, damit ich höre, wie sie klingen. Vielleicht muss noch etwas verbessert werden.«

Kurt nahm den schmalen, langen Papierstreifen in die Hand und las ohne besonderen Ausdruck, aber sehr langsam.

Auf hohen Burgen

Gab es Regen, arge Winde,
Ging der Bläser seine Runde,
Schlief da drunten das Gesinde,
Wachten wir zur späten Stunde.

Wie den Kiel ich feuchtend senke,
Prasseln im Kamin die Kohlen,
Prüfest du die alten Schränke,
Dir ein kluges Buch zu holen.

Und als führ sie fort zu schreiben,
Zirkelt, wie sie mag, die Feder.
Seh dich wählen, sorgsam stäuben
Nun das kühle, braune Leder.

Sehe dann von Zeil auf Zeile
Deine Augensterne gleiten,
In erwartungsfroher Eile
Wendest du die mürben Seiten.

Und der Eifer glüht die Wangen.
Leise Worte dir zu sprechen
Fühl ich wohl ein still Verlangen,
Will dich doch nicht unterbrechen.

Ich verfolge deine Blicke,
Seh im Innersten dich beben.
Schlagen aus dem alten Stücke
Flammen in dein junges Leben?

Er legte das Blatt ordentlich und ganz respektvoll wieder auf den Tisch. Er schwieg und sah Hehrmeister etwas erstaunt und neugierig an. Dann sagte er: »Ich habe auch ein paarmal zu dichten versucht. Aber dies ist natürlich viel besser. Aber hast du es auch wirklich nicht irgendwo abgeschrieben?«

»Warum traust du mir denn so wenig zu?« fragte Hehrmeister.

Kurt sah mit einem besonderen, mit einem nachdenklichen, suchenden Blick durch die Stube.

Hehrmeister lachte und rief: »Ja, so genau darfst du es natürlich nicht nehmen. Es stimmt nicht alles, nur die Hauptsache. Im Kamin sind keine Kohlen, es ist auch nicht späte Nacht. Und was lasest du denn? In der ›Gegenwart‹, nicht wahr?«

Kurt stand da mit einem Lächeln und wollte irgend etwas sagen. Aber er schien den rechten Ausdruck für seine Gedanken nicht zu finden, schloss die Lippen wieder und schwieg, beinahe verlegen. Dann fragte er: »Aber warum heisst es ›Auf hohen Burgen‹?«

»Gefällt dir der Titel nicht? Dieser Plural? Du begreifst doch, wie das verstanden sein will. Und was ich damit gerade sage.«

Kurt nickte rasch mit dem Kopfe.

Hehrmeister erhob sich. Er fühlte, dass ihm die rechten Gedanken in den Sinn kamen, aber er wollte nicht reden mit den vielen und abgebrauchten Worten, schwieg und war froh im Bewusstsein, dass ein deutliches, lichthelles Bild Einzug hielt in Kurt.

»Aber könnte das Gedicht nicht noch weitergehen? Der von beiden, der liest, ich meine der jüngere, kümmert sich ja gar nicht um den andern.«

Hehrmeister freute sich, dass Kurt so selbstverständlich sagte: Der jüngere. Und er lachte und rief: »Ja, was kann ich dazu! Eine runde Stunde hast du mich wie Luft behandelt. Kaum gegrüsst hast du beim Kommen.«

Doch sie wurden unterbrochen. Es ward an die Tür geklopft. Er ging hin, öffnete und erfuhr vom Stubenmädchen, dass ein Herr ihn durchaus zu sprechen wünsche. Er folgte ihr ins Vorzimmer und fand dort einen ziemlich einfach gekleideten Mann, der ihn mit zwei tiefen Bücklingen begrüsste und sogleich sehr hastig und sehr viel zu sprechen anfing. Endlich begriff Hehrmeister, dass es sich darum handelte, dass man seine Tochter nicht versetzt hatte, seine einzige Tochter, deren Grossmutter zu Hause schwer krank im Bett lag. Er wurde mehrmals gebeten, Gnade für Recht gelten zu lassen und ein Wort einzulegen, damit der alten, leidenden Frau vor ihrem Tode diese neue Kümmernis erspart bliebe. Eilig und sehr bestimmt versicherte Hehrmeister, dass er gar nichts in der Sache tun könne, dass er sich niemals in die Schulangelegenheiten seiner Schwester mische. Es dauerte aber eine Weile, bis sich der Eindringling endlich mit vielen Seufzern und sehr unzufrieden entfernte.

Rasch ging Hehrmeister zurück und stiess die Tür zu seinem Zimmer auf. Er suchte Kurt mit den Augen, sie fanden ihn aber nicht sogleich, und sein Blick fiel auf das Tischchen vor dem Kamin und blieb dort an einem Gegenstand haften. Dort stand das Gehäuse, in dem das Armband lag, das Frau Krusenstein ihm geschenkt hatte. Er begriff nicht, wie es dahin kam, niemals trug er es und hielt es sonst immer verschlossen. Aber beim Umzuge vom Strande musste es irgendwie dorthin geraten und später vergessen worden sein.

Kurt war vor dem Schreibtisch gesessen; als er Hehrmeister so plötzlich Halt machen sah und auf einen Punkt hingucken, schlug sein Blick ganz unwillkürlich dieselbe Richtung ein.

Er stand auf und war mit ein paar Schritten dabei. Er knipste am Kästchen, und der Deckel sprang auf. Kurt nahm die Kette in die Hand und betrachtete sie. »Von einem Freunde oder von einer Dame?« fragte er.

»Ich könnte es mir doch auch gekauft haben?«

»Tut man das?«

»Warum denn nicht? Wenn einem etwas gefällt, warum sollte man es sich nicht kaufen?«

»Ja, aber doch nicht solche Dinge, dachte ich.«

Sie schwiegen. Kurt legte sich das Armband an, trat vor den Spiegel und beschaute in ihm die schwere, mattgoldene Kette auf seinem braunen Handgelenk. Dann hob er den stämmigen Arm, schüttelte ihn, dass die Kette etwas zurückglitt und ihn nun fest umschloss, sah erst wohlgefällig hin und blickte dann Hehrmeister an, als sollte der irgendetwas dazu sagen, dazu, dass Kurt nun das Band trug.

Hehrmeister liess einige Sekunden verstreichen, dann sprach er: »Aber nimm es doch wieder ab.«

»Warum denn? Ist es dir so heilig?«

»Das nicht. Aber es sieht nicht hübsch aus, wenn ein ganz junger Mann so etwas trägt.«

»Wieso?«

»Das ist Sache des Gefühls.«

»Der deutsche Kaiser soll sogar zwei Armbänder tragen, an jeder Hand eins.«

»Der ist eben auch kein ganz junger Mann mehr.«

Kurt löste es ganz langsam wieder von seinem Arm, prüfte das Schloss langsam und neugierig und tat das goldene Ding wieder in die Schatulle. Er warf noch einen letzten Blick darauf, dann klappte er zu. Es gab einen lauten Tacks, und es ward wieder still im Zimmer.

Als Kurt nach einiger Zeit ging, begleitete ihn Hehrmeister bis zur Flurtür, kehrte dann wieder zurück und setzte sich auf denselben Stuhl, von dem aus er während der letzten Viertelstunde zugesehen hatte, wie Kurt irgend etwas las. Sie hatten nicht mehr gesprochen.

Hehrmeister war noch immer etwas blass. Ob er es gesehen hatte, dass Name und Stempel einer Rigaschen Firma im Deckel des Kästchens angebracht war. Diesmal hat er vielleicht nicht viel nachgedacht. Aber es bleibt ihm im Gedächtnis und kann ihm einfallen bei irgend einer andern Gelegenheit.

Eine Weile verstrich, und er begab sich in die Wohnstube und schlug den Flügel auf. Er phantasierte, aber seine Gedanken waren nicht bei seiner Musik, er hörte nicht hin auf sein Spiel, seine Finger liefen nur so und es entstand nichts daraus. Nur das Werkzeug tönte und dröhnte, die Klavierphrasen jagten auf und nieder. Erst nach längerer Zeit erhob er sich. Er gewahrte seine Schwester, die in der Tür stand. Er hatte geglaubt, sie wäre nicht im Hause, und es war ihm nicht recht, dass sie diesem geistlosen Geklapper zugehört hatte. Er blickte hin. In der Tat, sie betrachtete ihn erstaunt, befremdet und etwas besorgt. Schweigend ging er an ihr vorbei, wieder in sein Zimmer zurück, und er fühlte, dass sie ihm nachsah.

Er öffnete seine Fenster und schaute über den Lichthof auf eine hohe, rötliche Mauer. Sein Blick lief auf ihr hin und her. Ihn fröstelte in der Herbstluft, die entgegenblies; er trat zurück, setzte sich und sah vom Lehnstuhl zu Boden, den sanfter Regen hereinstreichend besprühte.

Das nächste Mal, als Kurt kam und guter Dinge mit seinen frischen Augen in alle Winkel des Hauses spähte, da war Hehrmeister wie erstarrt, wie gelähmt und wortkarg, bis dann auch Kurts frohe Laune sich aufbrauchte. Und der Junge kam seltener, verdrossen darüber, dass man ihm nicht mehr die alte Freundschaft zuwenden wollte. Dieses meinte er wohl.

4.

An einem hellen Herbstsonntage machte Hehrmeister zusammen mit Krusensteins und seiner Schwester einen Ausflug an den Strand. In Bilderlingshof stiegen sie aus dem Zuge und schlenderten ans Meer und wieder zurück auf den Prospekt. Sie wollten in einem andern Badeort, etwa sechs Werst weiter hinunter, zu Mittag speisen. Frau Krusenstein, die müde war, fuhr mit Hehrmeister in einer Droschke, die anderen brachen zu Fuss auf.

Der Wagen rollte langsam im Sande. Rechts und links hinter den Zäunen standen die Villen, fast alle schon mit Brettern verschlagen und verlassen. Es war alles wie damals vor einem Jahr, als er nach Riga zurückkam und an den Strand zu Krusensteins hinausfuhr. Hehrmeisters Gedanken drehten sich um dasselbe, seit Stunden, seit Tagen. Kein Zweifel, ein älterer Mensch ist leicht zu täuschen dadurch, dass man seine Rolle durchführt und es dazu bringt, dass er zusieht. Aber den Blick eines solchen Jungen von irgendeinem Punkt abzulenken ist unmöglich, denn sein Intellekt besitzt noch nicht genug Energie, dass man sie sammeln könnte, um sie wegzuleiten. Verliesse er sich auf seine Beobachtungen, so würde man ihm ein Theater vorspielen. Aber die Gefahr ist da, dass ein solches halbes Kind mit einem Male gefühlt hat, ohne dass es mit scharfen Augen hinzusehen brauchte.

Sie hatten ihr Ziel, das Aktienhaus von Dubbeln, erreicht und stiegen aus. Es war ein grosses hölzernes Gebäude, ein Hotel, in dem jetzt, nach der Fremdenzeit, nur noch wenige Leute wohnten. Sie durchschritten das Haus und betraten die lange, schmale Veranda, deren Enden rechts und links mit einer Krümmung in den Garten ausliefen. Hehrmeister bestellte Wein und Mittagessen, der Kellner entfernte sich, und sie blieben allein.

Und wie kam er in dieses Verhältnis? Es war eben alles schon fertig gewesen. In Hunderten von Romanen war ihr jedes Wort vorgekaut, jede ihrer Gesten war bestimmt und vorgezeichnet und so vom ersten Tage an die Spannung da, die bis zu einem gewissen Grade auch ihn beherrschen musste. Und als es dann einen Anlass für ihn gab, brauchte er nichts zu tun, als das, wozu man ihn von klein auf erzogen hatte. Er schnurrte einfach seine Lektion herunter und sie die ihre. Aber wer mit einem jungen Manne sich befreunden will, der muss seiner Freundschaft erst einen Stil erfinden.

Er schwieg noch immer, wie er unterwegs auch nicht anders gekonnt hatte, und kam nicht los von seiner Nachdenklichkeit. Einigemal versuchte sie eine Unterhaltung anzuknüpfen, aber vergeblich.

Vor ihnen lag der Park, durch den es zur See ging. Hier und da war der sandige Boden ganz zugedeckt mit braunen, bunten Blättern. Der Wind holte das dürre Laub von den Bäumen, hob ein einzelnes Blatt zuweilen ein wenig, zerrte es hin und her und liess es dann fallen. Die Fichten tief im Garten und auf der Düne standen ruhig und hoch in der Sonne, die mit gläserner Klarheit von allen Dingen widerblinkte.

Einige Kinder stampften durch die Blätter, häuften sie mit den Füssen zusammen, griffen sie mit den Händen auf und warfen sie in die Höhe, sich zurufend.

»Sieh doch, wie lustig und munter sie spielen,« sagte Frau Krusenstein.

Mechanisch wandte er den Kopf, gab aber nichts zur Antwort.

Der Kellner kam, klapperte mit dem Gedeck und trug das Essen auf.

»Nein, sieh doch, sie werden nicht müde, diese Lebensfreudigkeit, es ist doch wirklich erstaunlich!« Sie wies mit der Hand auf den Schwarm der sich tummelnden Kinder.

Gehorsam blickte er wieder hin, sagte aber kein Wort. Sie zerschnitt hastig ein paar Kaviarbrödchen, die vor ihr auf einem Teller lagen, dann kreuzte sie Gabel und Messer über dem Imbiss, lehnte sich zurück und sprach beinahe grob: »Sei doch wenigstens einigermassen höflich.«

Er betrachtete sie verwundert.

»Du glaubst wohl, dass ich mir alles gefallen lasse. Woran denkst du überhaupt?«

»Wenn man oft zusammen ist, kann es doch wohl geschehen, dass man einmal etwas schweigsam ist,« meinte er ganz ruhig.

»Aber nicht so, nicht in dieser Art. Woran denkt du?«

Sie sprach so laut, dass der Kellner, der sich am Nebentisch zu schaffen machte, aufsah und während einiger Sekunden hinblickte.

»Beruhige dich, wir sind in einem Hotel, rede wenigstens leiser.« Hehrmeisters Stimme klang drohend, er fühlte, dass er rot wurde.

Aber sie gehorchte nicht, mit einem zänkischen Tonfall schrie sie ihn an: »Du nimmst dir am Ende doch zu viel heraus. Du behandelst mich, als wenn ich deine Mätresse wäre, die du dir ein paarmal in Gnaden hast gefallen lassen. Woran dachtest du?«

Er unterbrach sie rasch: »Wenn du noch ein Wort sprichst, so gehe ich. Skandal passt mir nicht.«

»Ich habe überhaupt genug von dieser ganzen verrückten Stadt. Ich pfeife auf dieses alberne Riga!« rief er ganz plötzlich.

»Ah, sieh doch, du auf dem hohen Pferd!« Sie lachte höhnisch.

Er sah, dass sie den Streit fortsetzen wollte, stand im Nu auf und ging in den Garten. Sie lief ihm nach, holte ihn ein und packte ihn am Arm. Die Kinder unterbrachen sich im Spiel, standen umher und musterten die Dame und den Herrn mit grossen, ernsten Augen.

Und in jedem Augenblick konnten sie alle kommen, seine Schwester, Krusenstein und Kurt.

Er nahm ihren Arm fest unter den seinen und zog sie mit sich tiefer in den Garten bis zu einer einsamen Bank. Dort setzte er sie ab und stellte sich daneben. Als sie sprechen wollte, ergriff er ihre beiden Hände und presste sie so stark, dass sie beinahe aufschrie.

»Du wirst aber auch nicht ein Wort reden, nicht ein Wort, ehe du dich vollständig beruhigt hast,« sagte er.

Sie fing zu weinen an. Es war ein leises, gleichmässiges Schluchzen. Er setzte sich neben sie, schwieg und wartete. Nach etwa fünf Minuten steckte sie ihr Taschentuch wieder ein.

»Verzeih mir, aber ich bin gleich so heftig.«

»Wir wollen jetzt essen gehen,« entschied er. »Aber sei so gut, kein Wort mehr über diese Geschichte zu verlieren. Weder heute, noch morgen, überhaupt niemals.«

»Gut, aber du bist nicht mehr böse?«

»Nein, nein, es ist abgemacht.«

Als der Kellner sie zurückkommen sah, begab er sich in die Küche, um die Speisen zu holen, die er mittlerweile dorthin getragen hatte, und sie setzten sich. Als Kurt, der den andern vorauseilte, sichtbar wurde, wies sie auf ihn und sagte: »Auch mit dem habe ich Sorgen. Fortwährend braucht er in letzter Zeit Geld, bummelt, und wer weiss, ob er auch arbeitet.«

»Das wusste ich ja gar nicht,« erwiderte Hehrmeister. Doch er konnte nichts Näheres erfragen, Kurt stand bereits neben ihm und reichte ihm die Hand, die heiss war nach dem weiten Gange. Der Auftritt mit Frau Krusenstein kam ihm aus dem Sinn, und niemand aus der Gesellschaft merkte ihnen etwas an.

»Was ist denn mit dir? Du wirst sehr bald einen tüchtigen Katzenjammer haben,« sagte Hehrmeister am Tage darauf.

»Du hast mit Mama gesprochen?«

»Ja. Ich wusste gar nicht, dass du so lebst. Und warum denn?«

»Ach, ich muss mich soviel ärgern,« meinte Kurt und senkte faul und verdriesslich den Kopf.

»Sagst du das nicht nur aus Bequemlichkeit?«

»Was soll denn das wieder heissen?«

»Nun man ärgert sich, dampft dabei eine Zigarette nach der andern herunter und denkt sich sein Teil dabei, denkt nämlich, die gesamte übrige Menschheit wären lauter Schafsköpfe. Aber sich einmal zu schütteln, dass man stramm auf die Beine kommt, das macht mehr Mühe. Werde doch um Gottes willen kein baltischer Champagnerstudent. Verlasse dich darauf, es ist ganz altmodisch, über seine Mittel zu leben und Schulden zu machen, weil man ein fixer Junge ist.«

»Aber man kann doch einmal ein Glas Wein trinken?«

»Aber man kann es auch einmal nicht trinken. Wenn sich deine Mutter, die du lieb hast, nun Sorgen macht? – Und wie ist es mit dem andern?«

Eine kleine Pause entstand. Dann fuhr Hehrmeister fort: »Hattest du mir nicht so halb versprochen, dich nicht mehr mit diesen Frauenzimmern einzulassen?«

Sie schwiegen wieder. Er ging im Zimmer hin und her und betrachtete Kurt, der nicht aufsah.

»Komm doch lieber zu mir, auch am Abend bisweilen. Anstatt deine Gesundheit aufs Spiel zu setzen in diesen Häusern.«

»Wenn ich hingehe, so tue ich es meist, um meine Kameraden dorthin zu begleiten. An den Mädchen liegt mir sehr wenig. Bei dem allen gibt es überhaupt nichts Ernstes, und es ist nur so zum Spass da und für den Körper. Frauenzimmer verstehen überhaupt nicht zu lieben, wenigstens mich nicht. Ich glaube, kein Weib in der Welt kann so gegen mich sein, wie du, wenn du willst. Aber du willst nicht. Alles das musst du doch wissen.«

Hehrmeister starrte ihn an. Er brachte nicht ein Wort über die Lippen.

Kurt schaute einmal hin auf ihn, senkte wieder den Kopf und schwieg ganz ernst.

»Komm alle Tage zu mir, alle Abende,« sagte Hehrmeister plötzlich.

»Aber komme ich nicht jetzt schon zu oft?« fragte Kurt, sich erhebend. »Du bist einmal so und einmal so gegen mich und gar nicht mehr so nett wie damals. Du weisst es selbst vielleicht nicht, du bist vielleicht anders gegen mich als du sein willst. Ich weiss nicht, wirfst du mir irgendetwas vor? Früher war es anders.«

Hehrmeister fing zu reden an mit vielen Worten. Es wäre nicht so und was es denn sein sollte. Kurt müsse sich täuschen.

Aber es klang so hergeholt alles, was er sagte. Er fühlte das und verstummte. Vielleicht hörte Kurt gar nicht zu, nur die Lebhaftigkeit, mit der Hehrmeister ihm widersprach, würde Eindruck auf ihn machen und ihn befremden.

Obgleich es ganz sinnlos war, sagte er nach einer kleinen Pause: »Du wirst schon sehen, mit der Zeit wird es anders werden, und wir werden uns besser verstehen.«

Als Kurt gegangen und die Tür ins Schloss gefallen war, stand er ein paar Sekunden da, dann eilte er ins Wohnzimmer. Er stellte sich an eines der Fenster, um ihm nachzusehen. Kurt kam aus dem Hause und zögerte einen Augenblick, ehe er seinen Heimweg antrat. Wie es schien, zufällig sah er sich um und sah Hehrmeister am Fenster. Er lächelte, grüsste mit Hutschwenken, und bis er sich wandte, um wegzugehen, nickte Hehrmeister ihm zu und winkte mehrmals mit der Hand.

Er blickte fort, ins leere Zimmer hinein. Als ob wir Abschied genommen hätten – dachte er.

Und in der Tat, ich werde abreisen, sogleich. Es ist alles verpfuscht.

Ihn würde er vergessen. Langsam würde sein Bild blass werden, ganz langsam, Tag neben Tag. Er hielt die Tränen zurück, die hinauf und hinaus wollten und besann sich. Seine Schwester kannte seine plötzlichen Entschlüsse und würde ihn ruhig ziehen lassen. Frau Krusenstein musste er sogleich erzählen, er käme wieder, in einigen Monaten. Dann hiess es ein paar Briefe schreiben und die Rückkunft immer wieder hinausschieben.

Und ihm würde er die Hand drücken und auch ihm sagen müssen – auf Wiedersehen.

Er ging zur Tür, die zur Küche führte, rief nach dem Stubenmädchen und trug ihr auf, den Hausknecht zu holen. Dessen Amt war es, ihn bei der Polizei abzumelden und seine Papiere zum Gouverneur zu tragen. Einige Tage würden darüber hingehen, bis der Reisepass ausgestellt wurde.

Ich werde nach Paris gehen, dachte er und erinnerte sich seiner Freunde dort.


 << zurück weiter >>