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Seit einiger Zeit arbeitete Hehrmeister an einem Quartett. Obgleich er sein Werk nur um eine Stückchen täglich förderte, nur den kurzen Vorabend dafür verwandte, versagten seine Kräfte plötzlich. Der Winter machte ihn träge. Wenn ihn die Dunkelheit in der Nacht nicht schlafen liess und die Kerze vor dem Bett wieder brannte, horchte er auf die Schlittenglocken von der Strasse. Dünn und ängstlich klangen die Schellentöne, als wären sie aus weiter Ferne hergeweht, um Nachricht zu geben von den Schrecken einer tödlichen Einsamkeit, die über allen Wäldern und Städten thronte und über allem Gelände. Und er lag da mit dem Blick auf die Wand in der dumpfen Stubenwärme, bis schwere Tritte über den Hof stampften, wo hastig und eilig gefegt wurde. Dann löschte er die Kerze; durch einen Spalt im Vorhang sprang das Licht einer Handlaterne vom Hof ins Zimmer und haftete mit einem Viereck am Ofen; der mattglänzende Widerschein von den weissen Kacheln schloss ihm die Augen und er konnte endlich schlafen.
Wochenlang keine Sonne am Himmel. Am Rande der Gassen stand der Schnee ellenhoch und machte mit seinem schmutzigen, bräunlichen Grau den Blick stumpf und müde. Es waren keine Tage mehr, nur eine kühle Dämmerung nach der Nacht und vor ihr flimmerte es hinter den krustigen Eisblumen der Fenster.
Hehrmeister war nicht stark genug, um den Eindrücken, die ihm der Winter bereitete, mit einer geregelten Lebensweise zu begegnen. Er suchte ein paar alte Bekannte auf, und mit denen und einigen Mädchen fing er an zu bummeln. Nach drei Tagen hatte er genug davon. Als er um die Mittagszeit nach einer durchschwärmten Nacht durch die Strassen schlenderte, war seine böse Laune gebrochen.
Er fühlte sich befreit von aller Mattigkeit und Trägheit und plötzlich zu Kräften gekommen. Die stille kalte Luft erfrischte ihn, und endlich einmal wieder stand die Sonne am Himmel und liess den Schnee leuchten. Es war Sonntag. Sein Weg führte durch eine feiertäglich leere Strasse, die sich breit und gerade im Rahmen niedriger Holzhäuser hinzog. Als er abbog und auf die innere Stadt zu weiterging, scholl aus der Ferne die Musik von einer Eisbahn herüber. Das Strassenbild veränderte sich. Aber die hohen steinernen Gebäude in diesem Teile standen sich so frostig und langweilig gegenüber, dass eher die Vorstadt mit ihren zweistöckigen Bretterhäuschen ein Gepräge breiten Lebens trug. Von einer Brücke sah er auf den Kanal, die Schlittschuhläufer tummelten sich dort unten auf der Bahn. Die Soldaten der Kapelle hatten ein Feuer angemacht, die Flammen zuckten hastig und kurz und vom Winde gedrückt im sonnigen Tage und konnten keinen Schein werfen.
Und Hehrmeister fiel ein, dass er Kurt finden würde auf einer andern Eisbahn, auf der er oft mit seinen Kameraden zusammentraf. Er ging hin, auch hier spielte Musik. Ein mit Tannenbäumchen besteckter Schneewall trennte die Bahn von der Strasse. Er schritt behutsam vorwärts auf dem Eise und spähte nach allen Seiten ins Gewirr der Gruppen. In einiger Entfernung sah er Kurt, der sofort einen tüchtigen Anlauf nahm und hersauste. Er prallte an Hehrmeister an und hätte ihn fast umgerissen. Sie hatten sich gegenseitig an den Armen gepackt und waren bemüht, das Gleichgewicht nicht zu verlieren.
Kurt lachte und bückte sich nach seiner Mütze, die auf dem Eise lag. Dann stand er gerade und stramm in seiner Uniform da, noch ganz atemlos und mit roten Backen. Er trug keinen Mantel, die Knöpfe auf der Brust und die Schnalle am Gurt blitzten in der Sonne und der Kragen sass schmuck und blendend weiss im kurzen, stehenden Rockaufschlag.
»Was für ein prächtiger Winter,« sagte Hehrmeister. »Aber warum sieht man Sie denn gar nicht mehr?«
»Mich?« rief Kurt ganz vorwurfsvoll. »Dreimal bin ich bei Ihnen gewesen und hab' Sie nicht getroffen. Wo haben Sie denn gesteckt die ganze Zeit?«
»Ach, zusammen mit allerlei Menschen. Aber versuchen Sie es nicht heute zum viertenmal, zu mir zu kommen?«
»Gut. Wann?«
»Wollen wir zusammengehn,« schlug Hehrmeister vor.
Kurt versuchte es noch mit einigen Kunststücken auf dem Eise, wobei er sich aber das Ziel meistens zu hoch steckte und trotz seiner gelenkigen Glieder und aller Geschicklichkeit mehrmals hinplumpste. Dann brachen sie auf, die Sonne war untergegangen und die Häuserfronten dämmerten im unfreundlichen Abendschatten.
Kurt war ohne Mantel gekommen, er brachte einen Dunstkreis von Eis und Schnee in die warmen Stuben, und wo er stand, duftete es nach dünner kalter Luft und nach dem ledernen Riemen, an dem er seine Schlittschuhe trug.
Er hing sie auf und es tropfte von ihnen herab. Die Lampen brannten, der Tisch war gedeckt und sie setzten sich. Fräulein Hehrmeister war nicht zu Hause und so blieben sie allein.
Als die zweite Tasse Kaffee rauchte, sprachen sie lebhafter.
»Und wie ist es denn Ihnen mittlerweile gegangen?« fragte Hehrmeister.
»Immer dasselbe zu Hause und in der Schule,« sagte Kurt mit einem Seufzer. »Die beiden letzten Sonnabende hatte ich Tanzstunde. Aber im Grunde ist es doch langweilig, so in den Familien eingeladen zu sein.«
»Waren keine netten jungen Mädchen da?«
»O ja. Sogar sehr hübsche. Aber wieviel liegt einem denn im Grunde daran.«
»Wieso? Warum sprechen Sie so gleichgültig?«
Kurt zuckte die Achseln. »Man darf sich doch nicht ernstlich mit ihnen einlassen.«
»Nein,« sagte Hehrmeister etwas erstaunt über diese Wendung. »Das natürlich nicht. Das geht nicht.«
Er war neugierig und wusste nicht, ob er ganz recht verstanden hätte. Doch wollte er nicht fragen, weil die Vertraulichkeit zwischen ihnen keinen Sprung machen sollte. Aber es schien, dass Kurt Lust hatte, selbst herauszukommen.
»Im modernen Leben ist es dumm eingerichtet,« sagte er. »Was soll denn das sein? So etwas ist doch ganz unnatürlich. Am Ende kann man als junger Mensch doch nicht genug davon haben, sich immer in der Runde zu drehen mit diesen sogenannten anständigen Mädchen. Natürlich will man doch mehr. Und nachher muss man sich mit den allergewöhnlichsten begnügen.«
»Es ist immer ähnlich gewesen,« meinte Hehrmeister. »Dem Staat ist nun einmal daran gelegen, dass man Pflichten übernimmt, wenn man in dieser Richtung geniessen will. So hängt es zusammen, das ist der Grund, weswegen die öffentliche Meinung wacht über alle die jungen Mädchen, die einmal geheiratet sein wollen. Und die jungen Herren müssen sich bescheiden.«
Kurt schien dieser Einwand sehr zu überraschen, aber nicht zu gefallen. Doch tat er so, als hätte er ihn erwartet und fragte in einem Tonfall, als wäre er einer Antwort, die seine Meinung bestätigen würde, schon sicher: »In Paris oder München ist es doch gewiss ganz anders und viel freier. Nur bei uns ist man so zurück.«
»Ach nein, es ist in ganz Europa ungefähr dasselbe. Halbwelt und Welt scheiden sich überall ziemlich genau. Allerdings wird die Demimonde bei uns schlecht behandelt und steht auch infolgedessen auf einer recht niedrigen Stufe. Gehen Sie übrigens oft hin?«
»Dahin? Nein, ich bin zum erstenmal dagewesen, jetzt in diesen Tagen.«
»Es war also nicht zu vermeiden?«
Kurt schüttelte mit dem Kopfe. »Ich bin viel zu kräftig gebaut,« sagte er wie bedauernd und doch offenbar sehr zufrieden mit diesem Umstand.
Hehrmeister betrachtete ihn mit einiger Besorgtheit, die ihm Kurt sofort anmerkte.
»Und wie verschafften Sie sich denn das Geld dazu?« fragte er.
»Von Mama unter einem Vorwand. Oder ich hätte jemanden angepumpt.«
»Wen zum Beispiel?«
»Sie natürlich nicht,« sagte Kurt offen und dreist, wie es seine Art war bisweilen.
»Ja, nun; aber warum denn so bestimmt mich nicht?«
»Aber ich kann mir doch denken, dass Sie mir dazu nichts geliehen hätten. Und dass Sie überhaupt unzufrieden darüber sind.«
Wie seltsam, dass er das so richtig fühlte und dann, dass er es aussprach. Hehrmeister war etwas beunruhigt, er kannte sich nicht zurecht. Er schwieg, dann lächelte er und fragte: »Aber warum erzählten Sie es mir? Wenn Sie doch wussten, dass ich darüber unzufrieden sein würde.«
Kurt sah ihn gross und erstaunt an und lächelte, verlegen geworden.
»Ja, ich weiss wirklich nicht, ich auch nicht. Es kam so. Wir sprachen gerade so, und ich hatte Lust zu schwatzen. Natürlich, es hatte keinen Sinn und so was sind keine Heldentaten.«
»Nein, nein, so meinte ich es aber auch nicht,« rief Hehrmeister. »Es ist immer besser, sich über alles auszusprechen, gerade das liebe ich.«
Nach einer kleinen Pause plauderten sie von anderen Dingen.
Trotzdem der Junge Eigensinn besass, war es nicht schwer, ihn zu leiten. Er hätte weniger begabt und aufgeweckt sein müssen, um sich dem Einfluss eines älteren, überlegenen Menschen entziehen zu können. So, wie er war, half es ihm nichts, dass er zu widersprechen liebte. Ein kurzer Satz aus Hehrmeisters Munde genügte oft, um ein ganzes Kartenhaus unfester, hastig zusammengeraffter Meinungen umzublasen, und sehr bald erkannte Hehrmeister die wichtige Rolle, die ihm zugefallen war, und ward sich einer Verantwortlichkeit bewusst, die ihn einmal freute, ein anderes Mal nachdenklich werden liess. Immer wollte er seine letzte Ansicht über die Dinge nicht aussprechen, aber Kurt fragte das meiste heraus und man ward dazu verführt, mit seinem Besten nicht zurückzuhalten. Er wünschte ihr Verhältnis nicht zu intim und nicht zu kameradschaftlich. Das war schwer zu erreichen, denn die Art, wie Hehrmeister sich beim Anfang ihrer Bekanntschaft zu ihm gestellt hatte, war undeutlich. Und naturgemäss neigte Kurt zum Kameradschaftlichen. Was also sein wollen? Guter Kamerad oder Erzieher im landläufigen Sinne? Das zweite war ganz unmöglich.
Nach reiflichem Überlegen entschloss sich Hehrmeister dazu, ihm nicht zuviel an fühlbarer Aufmerksamkeit zuzuwenden. Dann würde sich ihr Umgang natürlich entwickeln, glaubte er. Er vermied es, ihn im Gespräch auszuhorchen und hatte es nicht eilig damit, ihn kennen zu lernen. Kurt würde schon selbst kommen und offen sein und man würde sich aufs Wort verstehen. Es wäre ein Fehler gewesen, der Zeit nicht zu vertrauen und sogleich tausend Dinge aus ihm herausholen zu wollen, und so gab er sich das Ansehen, als achte er nicht sonderlich auf seinen Gast, wenn Kurt am Nachmittage unter Hehrmeisters Büchern stöberte.
Kam er zu Krusensteins, so blieb Kurt nur im Zimmer, wenn es durchaus nicht anders zu machen war. Und auch dann schwieg er sich gründlich aus und legte es wie ein ganzes Kind darauf an, merken zu lassen, dass er durchaus nicht nötig hätte, mit seinen Gedanken bei den Dingen zu sein, von denen geredet wurde. Es schien Hehrmeister zuerst recht ungeheuerlich, dass Kurt in Gegenwart der Eltern so fremd gegen ihn tat, wo sie sich doch oft wenig Stunden nach einem solchen Zusammensein freundschaftlich und lebhaft unterhielten, ein paar Strassen nur weiter. Es missfiel ihm, dass Kurt das so wollte, es so natürlich zu finden schien. Aber er gewöhnte sich daran und mit der Zeit machte es ihm sogar Freude, dies, sich beim Gruss das eine Mal kurz und flüchtig die Hand zu reichen, das andre, waren sie allein, Hand in Hand zu verweilen einen Augenblick.
Er erzählte Frau Krusenstein, dass Kurt hin und wieder am Nachmittage zu ihm käme. Sie hatte nichts davon gewusst und war sehr überrascht, aber nicht unzufrieden damit. »Es ist ein ganz verdrehter Junge,« sagte sie. »Ich muss so oft Vorwürfe hören, dass ich ihn verwöhne. Aber, mein Gott, ich muss doch irgendwie für ein Gleichgewicht sorgen. Sie kennen meinen Mann darin vielleicht nicht genügend. Einmal ist er so und einmal so gegen den Jungen. Plötzlich ist er streng und schilt ihn, wirklich wegen gar nichts. Das hat zur Folge, dass der Bengel jetzt auf den Hinterbeinen hockt, kein unnötiges Wort mehr mit dem Vater spricht und ihm nur ganz kurz antwortet. In der Schule kommt er nicht ordentlich vorwärts, man hat immer Sorgen mit ihm. Ein widerspenstiger Racker.«
»Mir gegenüber zeigt er sich meist anders und durchaus nicht widerspenstig,« sagte Hehrmeister und empfand etwas wie Stolz.
»So?« Sie war ganz verwundert. Dann betrachtete sie ihn nachdenklich und neugierig und fragte ihn, wie ganz ohne Rat und mit einem dringlichen Tonfall: »Ja, aber mein Gott, was treiben Sie denn so mit Kurt zusammen, wenn er bei Ihnen ist? Ich kann es mir absolut nicht vorstellen. Es muss Sie doch furchtbar langweilen, sich mit ihm zu unterhalten.«
»Nein,« sagte Hehrmeister. Er war einigermassen in Verlegenheit gebracht.
»Kurt liest viel bei mir. Ich spiele ihm vor oder wir plaudern. Oft hat er den Kopf voll Fragen.«
So meldete er ganz kurz und schwieg.
»Es ist sehr freundlich von Ihnen,« sagte sie. »Ich muss Ihnen wirklich danken dafür. Früher steckte er in seinen Freistunden immer und immer mit den Kameraden zusammen. Viel zu viel, glaub' ich, sie trieben lauter Dummheiten. Alle Augenblicke hatte er seine Uhr versetzt und ich musste sie einlösen, damit mein Mann die Sache nicht merkte. Nun, bei Ihnen ist er jedenfalls besser aufgehoben und kann als junger Mensch etwas hören von der Welt. Ich meine, so kann ich mirs doch vorstellen. Sie erzählen ihm doch gewiss allerlei?«
»Gewiss, ja,« bestätigte er. »Es ist schade, dass sich die Lehrer so wenig um ihre Schüler kümmern. Allerdings, sie haben ja kaum die Zeit dazu. Doch überhaupt die etwas älteren Männer interessieren sich meist nicht für die Jugend, wahrscheinlich glauben sie, der Werdegang junger Menschen wäre sich immer ganz ähnlich. Aber sie täuschen sich darin und haben ihre eigne Jugendzeit vergessen. Kommt so ein Junge einem irgendwomit, so muss man Zeit für ihn haben. Setzt man aber ein Gesicht auf, als wollte man sagen: Nun, was kannst du denn doch vorzubringen haben! oder hört man nur mit halbem Ohr auf seine Fragen, ja, dann ist man geradezu dumm und ahnt nichts von der Macht, die man gewinnen könnte. Ich habe jetzt diese Erfahrung gemacht.«
Sie sah ihn überrascht an. Dann sagte sie: »Dabei fällt mir mein Bruder ein. Der nahm in jeder Beziehung grossen Anteil an seinen Schülern. Er war Lehrer hier am Gymnasium. Wie vielen ärmeren Jungen hat er nicht Privatstunden gegeben. Es tut mir leid, dass Sie ihn nie gekannt haben. Allerdings, er war sehr zurückhaltend. Er starb schon mit 30 Jahren.«
»Es ist lange her?«
»O ja. Ihnen kann ich's ja sagen. Es wissen sowieso viele drum, er erschoss sich.«
Hehrmeister horchte auf. »Warum denn?« fragte er.
»Er war verlobt und stand kurz vor der Hochzeit. Seine Braut war Schauspielerin. Wahrscheinlich hat er Dinge über sie gehört, über ihren Ruf.«
»Konnte es nicht anders zusammenhängen?« fragte Hehrmeister, nachdem er geschwiegen hatte.
»Aber nein, gewiss nicht,« sagte sie ganz überzeugt. »Wir waren geradezu gezwungen, das anzunehmen; denn irgend ein andres Motiv für seine Tat konnte man absolut nicht annehmen. Durchaus undenkbar.«
Er durfte nicht weiter daran rühren. »Ja, ja, natürlich, wenn kein anderer Grund ersichtlich war!« beeilte er sich ihrer Meinung beizupflichten. Und langsam und nachdenklich klopfte er die Asche von seiner Zigarette und blickte nieder, wie in den Boden hinein.
Sehr oft fühlte er sich im Umgang mit ihr unsicher und beengt. Er wollte gern gefällig sein, aber sie wandte ihm ein so grosses Mass an Aufmerksamkeiten zu, dass er in Verlegenheit kam und nicht wusste, wie ihr zu begegnen und ihre Liebenswürdigkeiten zu erwidern. Sehr geschickt horchte sie ihn aus, erkundete, was die Verteilung der Möbel in diesem oder dem Raum anbetraf, die Lage der Teppiche, die Verwendung irgend einer farbigen Decke, Hehrmeisters Geschmack, dem dann alles im Hause sogleich angepasst wurde, soweit das möglich war, ohne Krusenstein zu befremden. Auf ihrer Tafel erschien bisweilen ein kostbarer französischer Wein, dessen Hehrmeister wohl gelegentlich einmal Erwähnung getan hatte. Wenn er kam, machte es ihm den Eindruck, als hätte sie ihn erwartet, nicht zur Stunde nur, nein, schon seit gestern und seit noch länger. Sie war sehr einsam und streckte ihre blassen und leeren Hände aus, im voraus schon dankbar und zufrieden mit dem, was Hehrmeister in sie legen würde.
Bisweilen liess sie ihn durch Kurt zu Tisch bitten, zum Mittagessen um fünf Uhr. Wollte er dann vielleicht nicht hin und absagen aus irgend einem Grunde oder weil es ihm rätlich schien, sich ein wenig von ihr zurückzuziehn, so versuchte Kurt jedesmal ihn zu überreden. Er tat es, um ihr gefällig zu sein, wie Hehrmeister begriff, er hielt es für angemessen, darauf zu achten, dass man die Wünsche seiner Mutter durchaus berücksichtigte. Sie zeichnete ihn aus, Hehrmeister sollte das zu schätzen wissen und als eine Ehre empfinden, so meinte er es. Hehrmeister gefiel dieser Zug an Kurt, der seiner Mutter sonst nicht immer aufs zärtlichste begegnete, dessen Kindesliebe sich aber im stillen so hübsch äusserte. Und er tat, wie Kurt wollte.
Der Strom war eisfrei, der Winter zu Ende gegangen. Auf die frostigen Frühlingsmorgen folgten helle Mittage und Nachmittage, bis die schrägfallende Abendsonne in den aufgetauten Strassen sich spiegelte und aus hohen Fenstern widerglänzend Abschied nahm. Die Dämmerung schlich aus den Häusern und den dumpfen Höfen und über die nassen morschen Zäune auf die Gasse hinaus, und auf den Wegen in der Vorstadt lagen die grossen Pfützen kalt und still unter entblättertem Lindengeäste. Nur ein Hauch von Eis deckte sie und war fast unsichtbar und zerbrechlicher als Glas. Kam ein Strassenjunge daher und pfiff gezogen und grell in den blassen Himmel hinauf und warf ein Steinchen in eine der Pfützen, so zog der keinen Ring, sondern es knisterte nur wie eine zarte Glasscherbe, die man zertritt.
Der Mai dann mit langen, hellen Tagen trocknete Häuser und Strassen und an den Abenden schien es noch wärmer zu sein als vor dem Sonnenuntergang. Wenn es dämmerte, wurde die Luft schwer und war wie gereift von der Sonne und gesättigt vom Duft der Pflanzen und der Erde und in den Atemzügen, die langsam in die Lungen strömten, war noch kein Stäubchen. An diesen Abenden ging Hehrmeister bisweilen in einen öffentlichen Park, weil er es liebte, Menschen zu sehn und unter ihnen allein zu sein. Ein paarmal traf er Kurt dort an, und dann sassen sie auf einer Bank irgendwo im Garten, hörten der Musik zu oder plauderten und liessen die Leute vorübergehn.
Aber bisweilen fiel ihm Kurts Unruhe etwas auf die Nerven. Namentlich bei den Besuchen am Nachmittage. Anstatt mit den Büchern seine Zwiesprache zu halten, schweifte er durch die Zimmer und störte mit seiner Beweglichkeit Hehrmeister, der schreiben oder arbeiten wollte.
So setzte er sich eines Tages ans Pianino und versuchte eine Polka zu spielen. Schon zweimal hatte Hehrmeister ihn gebeten, aufzuhören, wenigstens einstweilen, solange er mit seinem Brief noch nicht fertig wäre. Aber nach einer kurzen Pause war Kurt wieder am Pianino und fing von neuem an. Hehrmeister wandte sich und sah hin. Kurt klimperte ruhig weiter und sah seinerseits Hehrmeister an, neugierig auf die Wirkung seiner Ungezogenheit und schadenfroh. Er schien sich zu denken: Was kannst du doch dabei? Du wirst es ruhig anhören müssen, wie ich mir hier die Bässe für meine Polka zusammensuche.
Hehrmeister versteckte seinen Zorn, erhob sich und sagte in einem Ton, der kalt und ruhig und deshalb für so einen Jungen viel verletzender war, als im Augenblick zu berechnen: »Komme doch lieber dann, wenn du mich nicht absichtlich stören willst. Aber so, das hat doch gar keinen Sinn. Findest du nicht?«
Kurt schwieg und Hehrmeister ging wieder an seinen Schreibtisch und drehte ihm den Rücken. Eine Minute war es ganz still, dann sprang Kurt auf und ging zur Tür hinaus.
Nach wenigen Augenblicken folgte ihm Hehrmeister und eilte ins Vorzimmer. Aber er war schon fort und auf die Strasse gelaufen.
Hehrmeister kam sehr geärgert in sein Schreibzimmer zurück, verknüllte den begonnenen Brief, warf ihn in den Papierkorb und fing an, auf und nieder zu gehen.
Ehe dieser Auftritt sich begeben hatte, waren sie gerade einig geworden, dass sie sich am Abend im Park treffen wollten. Er war pünktlich zur Stelle und wartete weit über die anberaumte Zeit hinaus; aber Kurt kam nicht und missmutig erhob er sich endlich, spähte noch einmal nach allen Seiten in die buschigen, halbdunklen Gänge und schritt dann langsam des Wegs. Aber er machte wieder kehrt und begab sich zurück auf den Platz, auf dem er ihn bislang erwartet hatte. Dass Kurt noch kommen würde, war ganz unwahrscheinlich, aber Hehrmeister wusste nicht, was anzufangen mit diesem Frühlingsabend, der so langsam dunkel wurde, und so setzte er sich wieder und sass da auf der Bank, sehr verstimmt und ganz allein. Und eigentlich wartete er doch noch.
Am nächsten Tage ging er zu Krusensteins. Aber sobald er eintrat, verliess Kurt das Zimmer unter einem Vorwande, und er blieb allein mit Frau Krusenstein, die Hehrmeister sehr bald fragte, ob er Sorgen hätte. Er ärgerte sich und sah zu, recht bald wieder wegzukommen.
Er war entschlossen, ihn auf der Strasse anzureden und richtete es so ein, dass sie sich nach den Schulstunden begegneten. Kurt ging mit mehreren Kameraden zusammen und versuchte sich vorbeizustehlen, wie es schien, wollte er nicht einmal grüssen. Aber Hehrmeister trat sehr entschieden auf ihn zu, und ein wenig erstaunt setzten die Schulfreunde ihren Weg allein fort.
»Ich hab' neulich über eine Stunde auf dich gewartet. Warum kamst du denn nicht?« fragte er.
Kurt schwieg.
»Warst du denn wirklich so ärgerlich? Ich kann mir das gar nicht denken. Das hätte doch gar keinen Sinn gehabt. Du musst dir doch selbst sagen, dass es nicht so viel auf sich hat, und dass man einmal ungeduldig werden kann. Und du hättest mir doch auch gehorchen können, wenn ich dich nun bat, mich nicht zu stören. Nicht wahr?«
Kurt schwieg.
»Aber warum sprichst du denn nicht? So darf es doch nicht sein zwischen uns. So sage doch wenigstens irgend etwas. Aber dass du mir gar keine Antwort geben willst, was soll denn das auf einmal heissen?«
Kurt blickte immerzu auf den Boden und schwieg sehr böse.
»Nun so rede doch! Ich bitte dich.«
Er konnte nicht deutlich auf seinem Gesicht lesen, aber es schien ihm, dass Kurt im Grunde befriedigt war von diesem Auftritt, dass es ihm passte, sich so zu rächen und den Mund nicht aufzutun.
Hehrmeister errötete und ward zornig. »Also wie du willst,« sagte er. »Wenn du nicht begreifst, dass man sich so nicht betragen darf. Und dass das dumm ist von dir.«
Und er ging rasch weg und eilte ganz aufgebracht durch die Strassen. Niemals hätte er sich dessen versehn von Kurt, niemals gemeint, er würde ihm gegenüber mit einem solchen Trotz auffahren. Es war unverschämt.
Zu Hause ward er ruhiger und fing an zu überlegen. Es ist vielleicht auch meine Schuld, sagte er sich. Ich hätte so tun müssen, als wäre nichts gewesen, überhaupt von etwas anderem sprechen und keine weitläufigen Auseinandersetzungen beginnen. Ich war zu feierlich und auf diese Weise bin ich es selbst, der dieser kleinen dummen Geschichte einen Anstrich von Wichtigkeit gab. Ich verstehe eben nicht mit ihm auszukommen.
Man musste es ganz anders anfassen. Und er wollte ihm schreiben, mit ein paar Scherzen über die Sache weggleiten und ihn einladen für den nächsten freien Nachmittag.
Aber er stand wieder auf vom Tisch und legte die Feder beiseite. Nein, eben nicht. Eben nicht so. Das wollte er ja gerade nicht, so sollte es nicht sein. Er durfte ihm doch nicht nachlaufen wie einem Mädchen.
Erst in dieser Stunde der Ratlosigkeit ward ihm bewusst, wie fest und sicher ihn diese Macht eingeschlossen hatte. Flüchtige Stimmungen vielleicht, die vorbeigehuscht und zerflossen waren wie Träume, sonst niemals etwas Ähnliches seit der Zeit auf dem Gymnasium. Und nun war Kurt auf seinem Wege gestanden und Hehrmeister hatte von Tag zu Tage mehr und mehr unverbrauchte, nicht angerührte Lebenskraft in sich entdeckt. Gesucht hatte er nie nach so etwas, es war ihm unbekannt gewesen, dass es solche Möglichkeiten gab. Nun schien ihm fast, seinem Leben hätte es an Inhalt gefehlt, die Jahre wären leer und er selbst wäre wie in einem Halbschlafe gewesen, überall in der Welt unter seinen vielen Bekannten und Freunden und mit den Frauen.
Er besann sich wieder auf die Gegenwart, auf den Augenblick. Nein also, nicht schreiben, sondern ganz einfach abwarten, bis sich die Sache wieder zurechtschob. Entweder würde Kurt kommen, nächstens einmal, wenn sich sein Ärger ausgedampft hatte, oder sie würden sich sonst irgendwie begegnen; so etwas vergass sich schon.
Ein paar Tage strichen hin, er wartete immer ungeduldiger. Aber Kurt liess nichts von sich sehn und hören und in jedem Augenblick störte er mit seiner Abwesenheit Hehrmeister, dessen Arbeit ruhte und den die Bücher mit jeder Zeile langweilten.
Auf der Strasse begegnete er Krusenstein, der unter anderem ihm mitteilte, Kurt wäre fort, abgereist aufs Land, ins Pastorat Schwanstein. Hehrmeister hatte gewusst, dass in der Familie der Plan bestand, ihn auf dem Lande konfirmieren zu lassen, aber gemeint, erst zu Ende des Sommers würde seine Lehrzeit beginnen, nicht jetzt.
Also ohne Abschied weg, ein Abbruch. Mich einfach abgeschüttelt – nun ja, weswegen? Weil ich einmal schlechter Laune war. Und seine Enttäuschung verband sich mit einem Gefühl der Beschämung. Er schämte sich, dass er sich so zuversichtlich hereingelebt hatte in dieses Verhältnis, mit frohen Hoffnungen, mit gutem Mut und ohne jeden Zweifel. Und er schämte sich, dass er Kurt seine Neigung offenkundig und ohne Rückhalt hatte fühlen lassen, diese Neigung, die ihm so gedankt wurde.
Oh – keine Frage, man kam auch wieder weg darüber. Und gewöhnlich viel rascher als man anfangs meinte und als es zuerst den Anschein hatte.
Er war allein im Zimmer, aber bemüht, sich mit keiner Miene gehn zu lassen, mit keiner Handbewegung, mit keinem halblauten Wort.
Es blieb ja alles im Geleise, es würde sich nichts ändern, nichts verschieben in seinen Plänen. In wenigen Tagen also würde er an den Strand übersiedeln und das Häuschen beziehen, das er vor einigen Wochen gemietet hatte und würde dann nach langen Jahren wieder einmal das haben – einen Sommer am Meer. Es tat ihm leid, dass seine Schwester nach Moskau zu einer Freundin reisen und dort bis zum Herbst bleiben wollte. Nun, vielleicht liess sich ein Ausflug dahin unternehmen. Vor allem aber musste er an die Arbeit gehen, namentlich einige Aufsätze schreiben, um die ein ausländisches Blatt ihn gebeten hatte.
Er schritt auf und ab im Zimmer und rechnete alles zusammen, was ihm blieb.
Den ganzen Vormittag lag er da und spielte mit dem Sande, den er durch die Hand fliessen liess und aus dem er die Fichtennadeln herauszupfte. Zuweilen schaute er in den Himmel oder aufs Meer, kniff die Augen zusammen und hörte zu, wie badende Kinder sich zuriefen und kreischten. Um die Mittagsstunde erhob er sich und ging auf den engen Bretterstegen dem Bahnhof zu. In seinen Ohren summte noch die Dünenstille und der Kopf sass ihm ganz gross auf den Schultern und war schwer und warm vom vielen Sonnenschein.
Er sah Frau Krusenstein ihm entgegenkommen. Sie trug weder Hut noch Handschuhe, es war Sitte, sich's in den Badeorten hier so bequem wie möglich zu machen und niemand nahm Anstoss daran. Ihren blauen, beinahe wie eine Halbkugel gewölbten Schirm hatte sie aufgeschlagen, auf dem Dach oben lag ein helles Schleifenband, das der Wind leise verschob, während sie dastand und er über den Weg zu ihr hinüberging.
Sie begrüsste ihn sehr heiter und redselig, fragte, ob er schon gebadet hätte, wie er sich den Tag während der Strandzeit einteilen würde und im Gespräch gingen sie gemeinsam weiter, vom Bahnhofsweg abbiegend, durch den Wald und den Villen zu. Er ward aufmerksam auf ihre Lebhaftigkeit, die sich vielleicht gegen ihren Willen so offenkundig äusserte.
Sie schritt auf dem engen Holzstege, neben ihm, der sich im Sande der ungepflasterten Waldstrasse hinschleppte. Der leuchtende Himmel schenkte den Kiefern auf den Grundstücken, die zu den Bretterhäuschen gehörten, eine sattbraune Farbe. Durch die Stabzäune blitzte aus einem Garten eine Glaskugel von ihrem weinlaubumrankten Postament; helle Fusspfade, hier und da vom Schatten eines Baumes überquert, führten mit weichen Krümmungen zum Blumenbeet, über dem sie thronte. Schwer und massig entstieg die Wärme dem Sande, durch den Hehrmeister watete. Am Ende des Prospektes, ganz weit, schaukelte die heisse Luft wie von den langen Zaunreihen links und rechts plötzlich gefasst und in einen Spalt zusammengepresst, in dem sie immerfort tänzeln musste, ohne entschlüpfen zu können.
Vor der Zauntüre ihrer Villa blieb er stehn. Sie klappte ihren Schirm zusammen, griff mit der Hand an die Klinke und sie beeilten sich, ihr Gespräch zu beendigen. Es handelte sich um einen englischen Roman, an dem Hehrmeister wenig Gutes lassen wollte. Sie benutzte eine kleine Pause, um rasch zu fragen: »Frühstücken Sie nicht mit mir?«
Er sah auf, aber sie war seinem Blick ausgebogen und spähte irgendwonach auf die Strasse hinüber.
Er dankte und sie gingen schweigend dem Hause zu. Sie liess ihn allein, er setzte sich auf einen bequemen Korbstuhl unter die Bäume, atmete langsam und genoss den Schatten nach dem Wege im heissen, sonnigen Prospekt.
Durch die Wipfel der Kiefern schimmerte es blau und weiss, massig getürmte Wolken leuchteten am Himmel. Er lehnte sich zurück und starrte hinauf in die Helle, ohne einen Gedanken zu haben. Er vergass seinen Körper und empfand ihn nicht, die Wärme und das Licht schienen ihn zu tragen und zu schaukeln und er wusste nicht, ob er seine Augen offen hielt oder die Lider zugefallen waren. Sie kam zurück, setzte sich neben ihn und sie schwiegen einige Sekunden über. Er sah auf sie. Sie war luftig gekleidet, die runden weissen Unterarme kamen nackt und frei von den Ellenbogen herunter. So im Aufschauen holte er einen langen Atemzug, als wollte er mit der freundlichen Erscheinung zugleich den vollen Hauch des Sommers auf sich einströmen lassen. Er streifte sie mit einem Blick und wusste, dass sie lächeln würde und dann sprechen und wusste, dass er auf ihre Worte nicht viel achten würde und ein sinnenschwüles Behagen machte ihn still und matt. Aber er wartete nicht darauf, sie lächeln zu sehn, sein Blick fiel nieder auf ihre Arme und ihre Hände, die sie im Schoss gefaltet hielt, und dann auf ihre Finger mit den weisslichen Blütentupfen in den Nägeln.
Als sie irgend etwas gesagt hatte und er geantwortet, brannte er sich eine Zigarette an und wollte von neuem schweigen.
Sie bat zu Tisch. Man hatte auf der Veranda, die auf der Seeseite lag, gedeckt, sie schritten um das Haus und über die beiden Holzstufen, die hinaufführten. Sie befanden sich hier gerade am Fusse der Düne. Der Windzug vom Meer ging höher und traf den geschützten Winkel nicht, aber es war doch kühler als drüben.
Eine Frische kam von ihr und eine Lebendigkeit, auf die Hehrmeister immer aufmerksamer wurde. Wie mochte sie sich gefreut haben auf diese Strandzeit! In ihrem ganzen Wesen war sie aufgerührt, Tür und Tor taten sich auf und der Wunsch flog hinaus aus seinen Verstecken. Das Natürliche in der Art, wie sie offen war, erstaunte ihn, kaum jemals war ihm eine Frau so einfach und rückhaltslos entgegengekommen.
Bevor sie ihre Mahlzeit beschlossen, wies er mit einer Handbewegung auf die sorgfältig und reich gedeckte Tafel und sagte: »Sie verwöhnen mich, gnädige Frau.«
Mit einigem Humor erwiderte sie: »Mein Gott, man muss doch sein Möglichstes tun. Sie haben in der grossen Welt gelebt und sind wahrscheinlich an Besseres gewöhnt, als Sie bei uns finden können. Allerdings, unsere baltische Küche hat ihre Vorzüge.«
»Jedenfalls, Sie haben recht,« fiel er ein. »Übrigens versichere ich Ihnen an Eides Statt, dass ich noch niemals mit einem Botschafter zusammen gefrühstückt habe. Und auch mit keinem Nuntius. Mit der grossen Welt, in der ich gelebt haben soll, ist es nicht so weit her.«
»Aber Sie besitzen Scharfblick für alle Dinge und kennen die Welt von mehr als einer Seite.«
»Man sieht doch nur einen Ausschnitt. Sein gutes, ehrliches Brett trägt noch ein jeder vor dem Kopf. Und so auch ich, namentlich weil ich im Grunde ein Spiessbürger bin.«
»Aber das sind Sie doch gar nicht!« rief sie heraus.
»Aber warum denn nicht, wenn ich es doch sage,« widersprach er ihr, sehr vergnügt über ihre gute Meinung. »Jeder ist ein Spiessbürger, der Hang zum Eigensinn hat und es nicht versteht, sich sehr bald auch in das verrückteste Milieu hereinzuleben.«
»So? Das könnten Sie also nicht,« fragte sie nachdenklich betont.
»Ich glaube es wenigstens nicht.«
»Wer weiss, ob Sie sich nicht täuschen? Sollten wir nicht die Probe machen?« – Sie lachte und errötete.
»Und wie denn?« fragte er sehr im Zweifel, fühlte aber, dass sie etwas ganz Bestimmtes einleiten wollte, ihren Plan hatte.
»Es fällt mir gerade ein. Es war sowieso meine Absicht, mit Ihnen darüber zu sprechen. Also. Sind Sie vielleicht imstande, mir zu sagen, wer der neue Stern im Café chantant Monopol in Riga ist? Mein Mann ist dort nämlich Stammgast, wie Sie wissen werden. Und es scheint mir, dass er etwas gefunden hat, was ihn wieder einmal ganz besonders fesselt.«
»Ich könnte Ihnen wirklich keine Auskunft geben,« sagte er, mit einem halben Lächeln zur Seite sehend. »Ich bin in letzter Zeit nur selten mit Hans allein gewesen.«
»So. Also Sie wissen es nicht. Nun, es tut nichts, ich erfahre es ja jedenfalls sehr bald. Ich brauche nicht einmal zu fragen. Hans ist ja so gesprächig. Er versteht nicht zu schweigen und über kurz und lang kommt er und erzählt mir das ganze grossartige Abenteuer. Also? Was sagen Sie zu diesem ›Milieu‹? Wie finden Sie es, dass er mir solche Dinge erzählt. Ist das oft so? In Romanen kommt es nicht vor.«
»Gewöhnlich ist das natürlich nicht in einer Ehe,« antwortete er.
Nach einer kurzen Pause griff sie nach einem zusammengefalteten Papier, das auf dem Tisch lag und reichte es ihm hinüber. Nachlässig, kaum verächtlich bemerkte sie: »Es tut mir leid für meinen armen Mann. Er hat nämlich tatsächlich sehr viel zu arbeiten in diesem Sommer. Und dann nachher am Abend das viele Trinken und Nachtwachen in dieser Gesellschaft.«
Er bog das Papier auseinander und las. Es war ein Telegramm von Krusenstein und lautete: Ich bleibe über Nacht in der Stadt, geschäftliche Abhaltungen.
O weh, dachte Hehrmeister, so weit durfte ich es nicht kommen lassen.
Es beunruhigte sie, dass er schwieg. Er sah nicht auf und sie wusste nicht, was in ihm vorging. Aber sie wusste, dass sie an einem Kreuzwege standen und war ängstlich.
Er rückte ein wenig auf seinem Stuhl. Sie hob die Tafel auf und sie schritten im Garten auf und nieder. Recht unvermittelt begann er etwas zu erzählen, irgend etwas, das ihm einmal auf einer Reise passiert war. Sie glaubte, er wollte auf einem Umweg doch wenigstens auf das erste Gespräch zurückkommen, auf die Sache mit dem Spiessbürger und dem Milieu und sie wartete auf eine Nutzanwendung, eine Parallele, die er ziehen würde. Aber er brach mit seiner Geschichte plötzlich ab, griff hastig nach seiner Uhr, liess den Deckel aufspringen, guckte aufs Zifferblatt, bemühte sich, ein sehr erstauntes Gesicht zu machen und sagte: »Aber wie ich sehe, meine Zeit ist längst gemessen, gnädige Frau.«
Er blickte sie nicht an und fasste rasch nach ihrer Hand, die er, ohne dass es einen Sinn hatte, fest drückte, ehe er sie höflich und freundlich an die Lippen führte. Dann eilte er fort.
Die Sonne brannte auf die heissen Bretterstege nieder, trotzdem ging Hehrmeister sehr schnell seiner Wohnung zu. Unterwegs fiel ihm mehrmals ein, dass Goethe oder irgend jemand gesagt hätte, die erste Grobheit wäre immer die beste und er war ganz zufrieden mit sich.
Abends machte er am Meer einen ausgedehnten einsamen Spaziergang, von dem er plötzlich nach Hause eilte, ohne erst zu Nacht zu speisen.
Er schritt über die Veranda sogleich in sein enges Schlafzimmer, zündete eine Kerze an, entkleidete sich und ging zu Bett. Er war müde, doch nicht schläfrig und rauchte in der müffigen warmen Stube auf dem ungewohnten Lager nicht recht behaglich ausgestreckt.
Er blickte in die Flamme neben ihm, mitten hinein in sie, wo sie am hellsten brannte, starrte er, so dass Kopf und Augen ihm weh taten.
Er kam nicht los von Kurt mit seinen Gedanken.
Er sah ihn vor sich dort auf dem Lande, tollend mit anderen Knaben, im Spiel mit ihnen auf grünem Platz, Bälle werfend und fangend, im Wettlauf mit ihnen oder er sah ihn auf dem Fluss im Kahn, wie er die Ruder fest und sicher eintauchte. Dann ging er mit den Kameraden auf schmalem Weg durch die Roggenfelder bis zum Waldrande, wo gerastet wurde. Und dort stand er unter ihnen, noch atemlos vom Lauf und nahm das weisse Taschentuch in die braunen, sonnverbrannten Hände und rieb sich lachend den Schweiss von der Stirn.
Wäre er hier, wären sie wieder versöhnt. Er riss seinen Blick aus der Flamme heraus und blickte auf die Wand, auf der bunte und schwarze Flecke kreisten, auseinanderzuckten und wieder verschwammen. Und neben der stillen Kerze glitt er in einen Halbschlaf, der langsam auf ihn eindrang, und sah Kurt vor sich, hier in der Stube. Er sah unter dem krausen Haar das Antlitz, das mit einem freundlichen ernsten Ausdruck ihm zugekehrt war, mit den Lippen, die halb offen waren und dem leisen braunen Flaum über ihnen. Kurt stand da, frei, im Ebenmass seiner Glieder und kam auf ihn zu und hob die nackten jungen Arme und breitete sie aus, um Hehrmeister in sie einzuschliessen.
Das Bild scheuchte ihn auf und er sprang erschrocken vom Lager. Er kleidete sich vollständig vom Kopf bis zu den Füssen, zog seinen Mantel an und setzte den Hut auf. Dann zündete er die Lampe an und trug sie hinaus auf die Veranda. Er kam noch einmal ins Zimmer, ging an seine Schublade, griff eine ganze Hand voll Zigaretten heraus, trug sie ebenfalls auf die Veranda und schüttete sie auf den Tisch. Er setzte sich und fing zu rauchen an. Es regnete etwas, frischer, satter Baumduft kam vom Dünenwalde, das Meer rauschte so, als wäre es ganz weit. Die Nachtschmetterlinge huschten um die Lampe, eines von den zarten grauen Dingchen sass oben auf der Kuppel und zog die Flügel aus und ein, als atmete es mit ihnen.
Es ist eine Verrücktheit, sagte er sich. Wie kann es mir nur so nahe gehn. Ich muss damit fertig werden. 15 Jahre habe ich gelebt, ohne so etwas zu kennen. Es gibt eben keine Möglichkeit, weil kein Widerhall da ist, ich bin ganz unnütz in Bereitschaft gewesen. Und er ward in Gedanken wieder zornig auf so einen dummen Jungen, der so mit ihm umsprang, und fühlte sich gedemütigt.
Dann besann er sich aber. Es ist ja ganz gleich, ob wir uns veruneinigt haben oder nicht. Es kommt nicht darauf an. Die Hauptsache ist, dass ich mich überhaupt von einer falschen Idee verführen liess. Wozu braucht er mich? Ein junger Mann schlägt sich allein durch die Welt und findet sich zurecht. Man sieht es. – –
Und einmal wäre es doch so gekommen.
Und was uns dann am festesten verbunden hätte, wäre das Geheimnis gewesen, das gefährlich ist für mich, und so hätte ich nie die Macht über ihn gehabt.
Nein. Es steht nichts neben mir, was mir Rechte gibt, was mich beruft. Es gibt keine Möglichkeit.
Und mit solchen Gedanken redete er noch lange auf sich ein und sass mit seinen Zigaretten da und rauchte.
Als er am nächsten Morgen erwachte, schien es ihm, dass seinem gestrigen Rückzuge, in solcher Eile ausgeführt, entschieden etwas Lächerliches anhaftete. Besonders dachte er daran, wie er mit sorgenvoller, krauser Stirn dagestanden war und die alberne Redewendung getan hatte: Wie ich sehe, meine Zeit ist längst gemessen, gnädige Frau.
Um die Mittagsstunde ging er auf den engen Holzstegen wieder zur Villa, es war heiss, wie am Tage vorher, sonnig und windstill. Er wurde nicht empfangen, es hiess, Frau Krusenstein wäre nicht wohl, das Stubenmädchen lief ihm bis an die Zauntür entgegen, um das zu melden.
Aber sie trafen sich zufällig in der Dämmerung des späten Abends, nahe am Bahnhofe. Es wäre auch nicht zu vermeiden gewesen, dass er sie begrüsste.
Als er, die Zigarette wegwerfend, seinen Hut lüftete und auf sie zutrat, befiel ihn eine unzweifelhafte Verlegenheit, eine Aufregung, die nicht zu verstecken war, und er räusperte sich mehrmals und hob die Augen nicht, während er liebenswürdig zu lächeln versuchte.
»Sie fühlen sich nicht recht wohl, gnädige Frau?« fragte er.
Sie forderte ihn nicht dazu auf, doch er begleitete sie und ging neben ihr im Sande. Sehr beflissen nahm er sich der Unterhaltung an. Anfangs schwieg sie eigensinnig und gekränkt und war absichtlich unaufmerksam, allmählich aber erreichte er wenigstens, dass sie so tat, als hörte sie zu. Im Dünenwalde setzten sie sich auf eine Bank, er behauptete, nicht müde zu sein, blieb vor ihr stehen und plauderte weiter. Aber mit einmal bemächtigte sich seiner eine Spannung, etwas Dumpfes, Lähmendes fiel auf seine Gedanken, heftete sich an sie und hielt sie fest, so dass er einzelne Worte und ganze Sätze wiederholte. Er sprach immer schneller und eifriger, aber kam nicht hinüber über die Linie, nicht heraus aus dem Kreise, in den seine Gedanken einmal eingelaufen waren und aus dem sie nicht entschlüpfen konnten. Er hielt inne, atemlos.
Sie kann nicht klug daraus werden, dachte er. Sie merkt es, dass ich ganz anders bin, als ich gestern war, und weiss nicht, wie es zusammenhängt. Wie könnte sie auch ahnen, was in dieser Nacht von gestern auf heute vorübergegangen ist in mir.
Sie sahen sich an, ganz kurz und sehr ernst.
Als sie die Gewissheit hatte, dass er endgiltig unterbrochen war, erhob sie sich und sie zogen schweigend wieder des gleichen Wegs zurück, auf dem sie in den Dünenwald gekommen waren. Er wusste nicht, ob sie ein Ziel hatte oder nur so schlenderte, wich aber nicht von ihrer Seite und fragte nicht danach. Es war sehr warm, der Prospekt lag da im bleichen, wolkigen Halbdunkel der nordischen Sommernacht, hier und dort wanderten Leute auf den Stegen und leuchteten mit bunten Papierlaternen auf ihren Weg. Kinder riefen durch die Stille; sie schritten an einem Häuschen vorbei, vor dem, nahe am Zaun unter den Bäumen, zwei alte Damen im Schein einer Lampe sassen, von denen die eine rasch und leise vorlas. Lautlos, in toller Hast, kreisten die Insekten um die helle, weissliche Kuppel.
Als die Strasse zum Bahnhof abbog, sagte sie: »Wir könnten noch hin, Hans kommt mit dem letzten Zuge.«
Auf der Station war ausser einem bärtigen Herrn, der langsam, würdig und stumm auf und nieder schritt, nur noch eine grössere Familie anwesend. Die jungen Mädchen kicherten unaufhörlich und krampfhaft, ein kleiner Gymnasiast stand neben ihnen und sah hin mit unzufriedenem Gesicht, offenbar war ihm nicht gelungen, zu erfahren, worüber die Schwestern so lachten. Die Mutter ermahnte bisweilen zur Ruhe, jedesmal mit denselben Worten.
Hehrmeister und Frau Krusenstein kannten die Leute, hielten sich aber abseits, um nicht ins Gespräch mit ihnen zu kommen. Sie lehnten an der Barriere, schwiegen und warteten. Endlich standen die Augen der Maschine am Waldrande und blitzten. Unbeweglich verharrten sie so eine Weile, ohne stärker zu glänzen, bis sie mit einem Ruck ihre Stellung zueinander veränderten und ein rascher Lichtstrom über die Schienen voraushuschte. Und in langer Kette sah man die hellen Wagenfenster über die Weiche herbiegen.
Der Zug hielt, wenige stiegen aus, niemand ein. Eilig wurden die drei Signale abgeläutet, mehrmals gepfiffen und mit einem plötzlichen Anzug, der polternd von Wagen zu Wagen sprang, fingen sich die Räder mühselig und langsam zu drehen an.
Es war der letzte Zug aus der Stadt. Krusenstein war nicht gekommen.
Er blickte sie an.
»Auch heute nicht, es ist doch zu merkwürdig,« sagte sie, wie es schien sehr verwundert.
Sie gingen auf der breiten Bahnhofstrasse langsam nebeneinander durch die Nacht. Hehrmeister wartete. Was wird nun sein? dachte er. Aber diese Ungewissheit war ihm nicht unangenehm, er wollte in ihr bleiben und genoss diese Befangenheit und das Schweigen, das zwischen ihnen tätig war. Er schritt langsam und leise an ihrer Seite, atmete mit halben Zügen und fühlte, dass sich diese stillen Augenblicke in ihr sammelten, Tropfen für Tropfen, bis zum Rande. Sie schwiegen wie in einem Einverständnis, wie nach einem Entschluss, und die Freude am Abenteuer machte ihn heiss. Aber plötzlich fuhr es in ihm auf gegen seine Sinne, er wollte nicht geknechtet werden von ihnen und sich herausreissen aus diesem Zustande der Erwartung, und ihm kam die Lust an, boshaft zu sein.
Er suchte den gewöhnlichsten Plauderton zu treffen und fragte ganz rasch: »Ja, hatten Sie denn überhaupt einen Grund, um anzunehmen, dass Hans mit diesem Zuge eintreffen würde?«
Sie blieb stehen. »Wie meinen Sie? Ich begreife durchaus nicht, was Sie sagen wollen.«
»So antworten Sie mir doch, ich bitte darum!« rief sie zornig und laut, als er auf ihre erste Frage nicht rasch genug etwas zu erwidern fand.
Hinter ihnen hörte man Stimmen, die grosse Familie kam in lebhafter Unterhaltung vom Bahnhof, die Kinder schaukelten die roten, gelben und weissen Papierlaternen und liefen voran.
»Beruhigen Sie sich doch,« bat er, »wir wollen uns später verständigen.«
Aber er sah, dass sie jedenfalls durchaus auf gar nichts Rücksicht nehmen würde.
»Ich begreife überhaupt nicht, was Sie sich einbilden!« rief sie, ihre Stimme erhebend. »So sprechen Sie doch!«
Er schob ihren Arm unter seinen und zog sie auf einen schmalen Fussweg, der in den Wald führte. Nach etwa 30 Schritten waren sie in Sicherheit und die Papierlaternen blitzten nur ganz selten einmal durch eine lichtere Stelle von der Strasse bis zu ihnen.
Ihre Stimme klappte um, und sie fing zu weinen an.
Sehr erschrocken über diesen Auftritt stand er vor ihr, und mechanisch, ohne zu überlegen, wie man etwas ganz Selbstverständliches tut, nahm er ihre Hände, hielt sie und küsste sie auf die Stirn.
»Warum sagen Sie so etwas?« fragte sie leise und matt nach einer langen Pause.
»Wirklich, ich wollte Sie nicht kränken.«
»So, aber ich glaubte es,« sagte sie in einer Weise, als wäre alles nun wieder gut, da es sich ja anders verhielt, als sie gemeint hatte.
»Ich gebe Ihnen mein Wort, ich erwartete ihn ganz bestimmt,« sprach sie.
»Aber er ist nicht gekommen,« rief sie nach einem kleinen Schweigen und legte sich seinen Arm um den Hals. »Liebst du mich?« fragte sie.
»Ja,« sagte er schnell. Und wie es einen kalt durchläuft, wenn man plötzlich etwas Warmes berührt, fröstelte er, als er ihren zarten, heissen Nacken in der Hand hielt und ihn umspannte. Er wollte geniessen, rasch und sogleich, und ihr widerfuhr ein Ausbruch hastiger, rücksichtsloser Zärtlichkeiten.
Wir müssen durch den Wald in meine Wohnung, dachte er. Es sind noch Leute auf der Strasse.