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Hehrmeister hatte sich entschlossen, in seine Heimat, nach Riga, überzusiedeln. Auf zwei Jahre wollte er sich festsetzen, dann würde man sehn, wie die Welt weiterlief. Aber einen solchen Zeitraum musste er jedenfalls von vornherein bestimmen. Sonst wurde aus dem Ganzen nichts als wieder eine Reise, auf der man einen längeren Aufenthalt nahm, aber nicht ein langsames Hineingleiten in irgendwelche Lebensverhältnisse, unter denen man auf jeden Fall ausharrte. Der Ort sollte ihn binden und ein gefestetes sicheres Gefüge menschlicher Schicksale, in das er sich einschob.
Ohne sich in Berlin aufzuhalten, reiste er von Paris an die russische Grenze und von dort weiter. Zwei runde Tage schon war er unterwegs, während deren es ihm nicht an Musse gefehlt hätte, zu überlegen und vorauszudenken, und doch kam er erst jetzt dazu, sich die Zukunft so ungefähr vorzustellen. Jedenfalls gab es viele Leute, die sich sehr befriedigt zeigen würden über diese Heimkehr: die alten Kameraden und die Familie. Hehrmeister spähte ungeduldig in den kalten Herbstmorgen hinaus, aber das gleichmässige, trockene Grau der Landschaft machte ihm die Lider schwer, und er schlief kurz vor dem Ziel wieder ein. Erst auf der Brücke, die über den Fluss zur Stadt führt, erwachte er, eilte auf die Plattform und sah nun hin auf die Kirchen und gewohnten Häuserfronten. Mit einem Lächeln trat er in den Wagen zurück und raffte in guter Stimmung seine Sachen zusammen.
Er traf seine Schwester nicht im Hause. Sie leitete eine Mädchenschule und war in den Morgenstunden durch ihren Beruf gefesselt. Nur die Dienerin erwartete ihn, und wie immer, wenn er aus dem Auslande heimkehrte, stand sie auch heute vor der Haustür, eilte hinzu, als die Droschke hielt, und half das Gepäck tragen. In seinen Zimmern fand er alles so wieder, wie er es vor Jahren verlassen hatte. Er bewunderte das Gedächtnis seiner Schwester, die in ihrer Freundlichkeit jeden Stuhl, jeden Teppich, das kleinste Stück im Raume so zurechtgerückt hatte, wie er es liebte und gewohnt war. Er wusch sich und kleidete sich neu von Kopf bis zu Fuss, dann setzte er sich an seinen Schreibtisch, zog die Schubladen auf und sah nach seinen Briefen, Manuskripten und Kompositionsversuchen aus früherer Zeit, die hier mittlerweile jahrelang geruht hatten. In einem Messinghalter neben der Arbeitslampe stand eine ungerahmte Photographie seiner Schwester. Es war ein Brustbild, der Blick traf den Beschauer nicht. Hehrmeister beugte sich etwas vor, er kannte die Aufnahme noch und wollte sehn, ob die Augen auf dem Bilde so waren, wie er sie im Gedächtnis hatte, klug, kühl und nachdenklich.
Auch im Wohnzimmer stand jedes Möbel noch auf dem alten Fleck. Aber so frisch und neu und peinlich abgestaubt blitzte und glänzte jedes Stück, dass es schien, es wäre erst gestern das alles gerade so hingerückt. Der blankweisse hohe Kachelofen, die Lampen und Wandleuchter, die Ledermappen und das Familienalbum auf dem Sofatisch, der Flügel, die braunpolierten Rahmen einiger Kreidezeichnungen, das alles spiegelte im Licht der vollen Morgensonne, dass man glauben konnte, alle diese Dinge wären erst gestern aus der Werkstatt geholt. Einige Tonfiguren standen damenhaft ordentlich auf ihrem Platz, mit einer Bestimmtheit, wie in einem Museum. Die geräumige Stube war nach Frauenart etwas vollgekramt. Auf einem Seitentischchen nahmen sich eine Schale mit Zigaretten und ein metallener Aschenbecher sehr fremdartig in dieser Umgebung aus. Hehrmeister wusste schon – ein Willkommengruss an ihn und eine Konzession.
Eine Weile schritt er auf und ab im Zimmer und dehnte und streckte die reisemüden Glieder. Dann schlug er den Flügel auf und spielte lange. Seine weitläufig angelegten Phrasen drängten energisch und sich steigernd vorwärts, um dann ins Einfachste einzugleiten, mit einem Volksliede auszuklingen.
Es kamen ruhige Tage, wohlige Abende in matthellen Räumen, durch die auch ein leise gesprochenes Wort vernehmlich hintönt. Hehrmeister war an die laute Welt gewöhnt und anfangs schien ihm, man hätte ihn gegen seinen Willen gefangen und eingesperrt in diese Stille. Aber er hatte selbst gewählt und bald gewann er sie lieb, diese freundlichen, langsam gleitenden Stunden. Das Lampenlicht glänzte unter dem Schirm hinaus auf die gemusterte braune Tischdecke, die Geschwister sassen sich gegenüber und erzählten einander.
Als sie genug voneinander wussten, die äusseren Schicksale von Verwandten und Bekannten durchsprochen waren, ward es noch stiller an den langen Abenden. Nach der letzten Mahlzeit, wenn der Tag hinter ihnen lag, so lasen sie meist, jedes für sich. Oft sah sie von ihrem Buch auf und blickte auf ihn. Ob sie wünscht, dass ich ihr mehr von mir erzähle, fragte er sich dann. Vielleicht will sie, dass ich von mir rede, von meinen Plänen, von meinen Gedanken, von meinem Leben, das sie nur in den Umrissen kennt. Doch was wusste er denn von ihr? Auch sie schwieg. Ihr Leben hatte sie in den Beruf gelegt – ihr ganzes Leben? So schien es. Nein, man brauchte es nicht, dieses Sichaussprechen, Sich-in-die-Seele-gucken. Sie teilten miteinander, während sie schwiegen, so war es immer gewesen. Draussen stand die Nacht, man war sich nahe und hatte sich lieb.
Seit Hehrmeisters Ankunft war eine Woche vorübergegangen, als sie ihm sagte: »Du hast dich ja ganz eingesponnen im Hause. Nicht einmal bei Krusensteins bist du gewesen. Freilich sind sie noch am Strande.«
»Morgen wollte ich zu ihm,« erwiderte er mit einem kleinen Seufzer. »Es hat alles seine zwei Seiten. Am liebsten würde ich auch diesen Besuch mit meinen andern recht lange noch hinausschieben. Ich kenne seine Frau ja gar nicht.«
»Ich weiss. Es ist recht sonderbar.«
»Ich war meist ja doch nur im Sommer in Livland und sie dann immer nach Russland gereist, ins Innere, nach Moskau oder aufs Land irgendwohin. Auch Krusenstein hab ich in den letzten Jahren immer nur im Ausland getroffen, seine Frau nahm er ja niemals mit auf diese Reisen.«
Nach einer kleinen Pause begann Hehrmeister wieder: »Es sind aber auch fast drei Jahre her, dass ich ihn nicht gesehen habe, und nach so langer Zeit wieder vor einen soi disant alten Freund hintreten, das heisst ihm schon im voraus allerlei zugestehn. Aber was mich mit Krusenstein doch wieder verbindet, ist, dass er mit einer gewissen Treue an mir hängt. Im übrigen weiss ich, wie ich daran bin. Ich drücke ein Auge zu und verlasse mich nie auf ihn. Zu seinen Passionen gehört es, dass er sich mit allen Menschen vergleicht, um sich bei dieser Gelegenheit herauszustreichen. Damit hat er auch mich oft genug gequält.«
»Man muss sich mit den Menschen abfinden,« meinte sie. »Übrigens bin ich selbst nicht immer dazu imstande und komme aus meinen baltischen und vielleicht altjüngferlichen Vorurteilen nicht immer heraus. Frau Krusenstein mag zum Beispiel eine ganz ausgezeichnete Frau sein, ich kenne sie sehr wenig. Aber als ich bemerkte, dass sie sich zuweilen die Wangen puderte, war mir das so schrecklich, dass ich gar nicht darüber wegkommen konnte.«
»Ihn hattest du doch immer ganz gern?«
»Jetzt nicht mehr so sehr,« sagte sie kopfschüttelnd. »Als er jünger war, hielt ich etwas von ihm. Mit den Jahren ist er geworden, wie so viele bei uns zulande sind. Sehr behaglich und sehr abhängig von einem Gläschen und dreimal in der Woche am Kartentisch. Sie halten die Gemütlichkeit für ihre besondere Kunst, und wenn sie irgendwo hinkommen, wo man andres Holz brennt, so kritisieren sie zuerst die dortige Gemütlichkeit und meinen, ihnen tue es doch niemand zuvor in dieser Hantierung.«
Er sah seine Schwester etwas erstaunt an. Sie lächelte und sagte: »Ja, diesen Satz hab' ich auswendig gelernt, weil er so schön auf uns Balten passt. Er steht aber in der Vorrede zu den Leuten von Seldwyla.« – – –
Durch schmale gewundene Gassen ging Hehrmeister andern morgens zur Behörde, in der sein Freund seit vielen Jahren arbeitete. Er durchschritt einen geräumigen Flur und stieg die breite Holztreppe hinan. Hier oben auf dumpfen Gängen mit gewölbter Decke hallte es wider von lauten, hastig einredenden Stimmen, ein wütender Krieg im kleinen schien geführt zu werden, Bauern, Polizeibeamte und Türsteher schwätzten drauflos, offenbar ohne sich immer zu verstehen.
»Was geht vor?« fragte einer auf russisch, sich ärgerlich an einen Polizisten wendend.
»Nichts, gnädiger Herr, Vormittag ists, man hat zu tun.«
Er fragte nach dem Sekretär Krusenstein, und man wies ihm den Weg. Auch im Zimmer, das er nun betrat, befanden sich eine Menge Leute in lebhafter Verhandlung. Die Beamten, meist ältere Herren, sprachen mit grober, zorniger Stimme auf die hämisch wortkargen Bauern ein, man begegnete diesem polternden Wortschwall, wie es schien mit dem grössten Misstrauen. Hehrmeister schob sich vorwärts und spähte über die Schultern der Leute vor ihm. Endlich entdeckte er Krusenstein, er sass drüben am Fenster in einer Entfernung von etwa zehn Schritten und schrieb über einen Stoss von Papieren gebückt. Als er den Kopf ein wenig hob und ihn langsam in die Hand stützte, sah man das Profil deutlich im Rahmen der grauhellen Fensterscheibe. Das Gesicht war rundlich, der braune Schnurrbart, der über die Mundwinkel lief und fast einen Halbkreis bildete, gab den Zügen einen sehr ernsthaften und dabei schlaffen Ausdruck. Hehrmeister schaute eine Weile hin. Unterdessen hatte Krusenstein mit seinem Kollegen am selben Tisch, einem älteren Mann, lebhaft zu sprechen begonnen. Im allgemeinen Tumult der Verhandlungen hörte man übrigens kein Wort, Hehrmeister sah nur die Bewegungen der Hände und hin und wieder ein hastiges Achselzucken. Der Herr gegenüber Krusenstein liess mehrmals sein Lineal wütend auf den Tisch nieder sausen, im Lärmen ringsum hörte man jedoch nichts aufschlagen. Das Fensterlicht fiel grell auf die beiden Köpfe, es war wie auf dem Puppentheater, wie der Streit vor der Prügelei in einer lustigen Pantomime.
Hehrmeister wusste nicht, wie er sich bemerkbar machen sollte. Und ärgerlich darüber, dass er diesem Auftritt zuschauen musste, wandte er sich plötzlich, ging wieder zur Tür, auf den Flur, die Treppen hinunter, und trat auf die Strasse.
Zufällig begegneten sie sich jedoch noch am selben Tage gegen fünf Uhr in einem Café. Trotzdem Krusenstein den heimgekehrten Freund nach tausend Dingen fragte, war es ersichtlich, dass er gern von seinen eigenen Schicksalen erzählen wollte. Doch zeigte sich Hehrmeister nicht besonders neugierig, er wusste, dass man bei einem Wiedersehn nach langer Trennung nur Äusserliches berichten konnte, und dass erst eine günstige Stunde andres zur Sprache bringen musste. Auch antwortete er ausweichend, wenn man in ihn drang. Es gefiel Krusenstein, zwischen seinem abgezirkelten Dasein und Hehrmeisters Lebensführung Vergleiche anzustellen. Er äusserte dieselben Ansichten, zu denen er sich schon in früheren Jahren stets bekannt hatte und meinte, im grossen und ganzen wäre alles gerade gekommen, wie zu erwarten gewesen.
»Gewiss, wenn man verheiratet ist, wie du, ist es gut, so zu leben,« sagte Hehrmeister. »Und wenn man einen Sohn hat,« fügte er hinzu.
»Und wenn man nicht verheiratet ist?«
»Wie ich dir sagte, ich bin ja entschlossen, mich aufs Geradewohl an Riga zu binden. Hoffentlich gelingt es mir, ein paar Klavierschüler zu finden.«
»Und wenn nicht, du hast ja Geld, du Glückspilz.«
Krusenstein bat ihn, gleich heute mit an den Strand hinauszukommen. »Du hast ja meine Frau noch nie gesehn?« rief er ganz erheitert bei diesem Gedanken. »Mein Sohn ist schon in der Schule, auf dem Lande, die Ferien sind zu Ende.«
Hehrmeister sagte nicht bestimmt zu und fuhr erst einige Tage später hin. Als er aus dem Bahnhof trat, lag das Gehölz schon im ersten Abendschatten. Die luftige, scharfe Helligkeit, die der Himmel in der Nähe des Meeres ausstrahlt, liess die Linien auch in der Dämmerung nicht zusammenschwimmen. Man glaubte die Baumstämme zählen zu können bis tief in den Wald hinein.
Ein Stück ging es gerade aus vom Bahnhof, dann auf kotigen Wegen im unbequemen, klappenden Gefährt vielleicht zwanzig Minuten entlang den Dünen. Rechts und links hinter den Zäunen standen die Villen, luftig gezimmerte Häuschen, zum Teil schon mit Brettern verschlagen und verlassen, der Herbst hatte die Sommergäste in die Stadt gescheucht. Ganz am Ende der Kolonie hielt der Kutscher. Hehrmeister klinkte die Zauntür auf und schritt auf den nassen Wurzeln und Baumzapfen dem kleinen Hause zu, das etwa 30 Schritte von der Strasse entfernt hart an den Dünen lag. Am Ende des Ganges gewahrte er eine Frauengestalt.
Sie sah ihm unverwandt entgegen, bis er dicht vor ihr den Hut lüftete. Während sie die ersten Worte wechselten, betrachtete sie ihn scharf zuspähend. Diese fast unverhohlene Neugierde nahm ihn gegen sie ein. Das ist doch ganz und gar keine Art, sich die Leute anzuschauen, dachte er. Er wollte nicht denselben Fehler begehen, streifte sie nur mit einem flüchtigen Blick, setzte sich sofort, noch ehe sie ihn dazu auffordern konnte und sprach während der ersten Minuten, ohne sie voll anzusehen. Doch fühlte er, dass seine betonte Gleichgültigkeit ihrer äusseren Person gegenüber auf die Dauer ebenso unschicklich war wie ihre abschätzende, prüfende Miene, und als sie ihm etwas ausführlicher auf eine Frage erwiderte, schaute er sie fest und ruhig an. Das feine Köpfchen mit der russischen, ein wenig breiten Nase und dem weichlichen, hübschen Munde nahm sich fast kindlich unscheinbar aus, doch wahrten die dunklen Augen dem Ausdruck des ganzen Gesichts einen Zug von Energie, von Willen und Festigkeit. Unwillkürlich glitten Hehrmeisters Blicke auf ihre Hände, die sie im Schoss gefaltet hatte. Die Fingernägel waren mit Blüten bedeckt. Diese kleinen, dichtgetupften, mattweiss schimmernden Fleckchen zogen seine Augen ganz mechanisch an, wieder und wieder sah er hin. Er war überzeugt, dass sie es bemerkte, aber nicht einmal, während sie plauderten, rührte sie die Hände.
»Es ist hübsch von Ihnen, dass sie schon mit dem Zuge um fünf gekommen sind,« sagte sie. »Mein Mann kommt immer so schrecklich spät.«
»Allerdings beabsichtigte ich, mit Hans zusammen zu fahren. Ich habe aber diese Strandzüge nicht mehr im Kopf und muss mich offenbar in der Zeit geirrt haben.«
Sie erhob sich plötzlich und fragte: »Wollen Sie nicht ans Meer gehen? Hans wird vor einer halben Stunde jedenfalls noch nicht da sein.«
Mit jedem Schritt, den sie hinanstiegen, wurde es heller und der gleichmässige Wogenklang dröhnte härter. Oben auf der Düne strich der Wind durch die Kiefern, die hohen spitzen Gräser im Sande schaukelten. Eine beissende Kälte strömte ihnen entgegen, die Wolken leuchteten gelbrot und hingen tief am Himmel. Es war ihm beschwerlich, gegen den Wind zu sprechen und als er einigemal nur kurz und notdürftig auf ihre Fragen geantwortet hatte, schwieg auch sie. Nach ein paar Minuten sah sie ihn ein wenig von der Seite an, er wandte sich, und sie schritten wieder hinunter in den geschützten Kessel.
Krusenstein war schon von der Bahn gekommen und sass auf der Veranda und wartete.
»Was, du bist schon da?« rief Hehrmeister ganz betreten. »Wir waren noch einen Augenblick ans Meer gegangen.«
»Dann hat sich der Zug also heute nicht verspätet,« sagte sie scheinbar sehr verwundert.
Es missfiel ihm, dass sie ihren Mann über die zur Mahlzeit festgesetzte Stunde hinaus hatte warten lassen und sich dafür mit keinem Wort entschuldigte. Und er unterhielt sich angelegentlich mit Krusenstein, ohne viel Rücksicht auf sie zu nehmen, bis sie dann endlich, etwas erstaunt, ganz still schwieg. Dann erst ward er liebenswürdig auch gegen sie und als er aufbrach, war es spät geworden und ganz behaglich gewesen während der letzten Stunden.
In den nächsten Tagen siedelten Krusensteins in die Stadt über, die Winterzeit kam. Bei anbrechender Dunkelheit ging Hehrmeister bisweilen hin und speiste mit ihnen, doch blieb er in der Regel nur bis zum Abend und brach dann auf. Als er Frau Emmy Krusenstein zum erstenmal nach seinem Besuch am Strande wiedersah, gewann er einen neuen und andern Eindruck von ihr. Er war nur im Walde und auf der Veranda mit ihr zusammengewesen. Hier im geschlossenen Raum, im kleinen behaglichen Salon oder im Esszimmer entbehrte ihre Gestalt nicht der Umgebung, die nötig war, damit sie nicht unansehnlich erschiene. Das feine, zierliche Köpfchen fand eine warme Wand oder einen dunklen Stoff, um sich lebhaft abzuheben. Und ihre leise Stimme, die er von der ersten Begegnung her als etwas spitz und grell klingend im Gedächtnis hatte, kam ihm nun, wo sie aushallen konnte, weicher und runder vor und trotz einer gewissen schleppenden Eintönigkeit ausdrucksvoll.
Wenn er bei ihnen weilte, so gaben sich Krusensteins alle Mühe, es ihm recht behaglich zu machen. Aber es gefiel ihm in der Einsamkeit bei seiner Schwester oft mehr. Als er einmal eine ganze Woche fortblieb, verstimmte das den alten Freund. Hehrmeister tat es leid, und er kam wieder häufiger. Zudem bildeten Krusensteins fast seinen einzigen Umgang, denn der Verkehr mit den meisten alten Bekannten war doch viel unbequemer, als er sich vorgestellt hatte.
Als er nach Tisch einmal mit ihnen zusammensass und Hans für einen Augenblick in sein Zimmer hinüberging, fragte sie plötzlich: »Herr Hehrmeister, als Sie damals vor anderthalb Monaten nach Riga kamen, warum fuhren Sie nicht gleich an den Strand zu uns, sondern erst nach einer Woche?«
Er begriff nicht, was sie eigentlich wollte. Sehr natürlich doch, dass man erst seine sieben Sachen auskramte und mit seiner Schwester allein war. Doch kam er gar nicht dazu, ihr zu antworten, denn Hans trat wieder ein, früher als sie erwartet haben mochte, und sie begann rasch und sehr lebhaft von etwas ganz anderm zu sprechen. Hehrmeister merkte sehr erstaunt, dass sie seine Erwiderung also lieber dann einmal hören wollte, wenn ihr Gatte nicht anwesend war. Und doch hätte er ihr jedenfalls nur mit einer ganz gleichgültigen Phrase aufgewartet. Waren sie allein, so gefiel es ihr oft, einen intimen, persönlichen Ton anzuschlagen, als hätten sie ihre Vertraulichkeit miteinander. Das steckte unmerklich an und bisweilen ward auch er, wenn Hans nicht dabei war, lässiger und bequemer in seiner Sprechweise. In Gegenwart ihres Mannes dagegen blieb er in der Unterhaltung mit ihr sehr förmlich, wie sie das offenbar wünschte. Er verstand es nicht, sich darin ihrer geschickten Leitung zu entziehen, und ihr Verkehr verlor etwas an Unbefangenheit.
Zuweilen traf er mit Krusensteins in einem Konzert oder im Theater zusammen, und sie speisten in einer Weinstube gemeinsam zu Abend. Hehrmeister nahm sich vor, weiter keinen Gedanken nachzuhängen. Sie langweilte sich eben und brachte ein klein wenig Gefahr in einen harmlosen Verkehr, es sollte immer eine entfernte Möglichkeit da sein, dass nicht alles beim gut spiessbürgerlich Gewohnten bliebe. Vielleicht liess die Furcht vor den Jahren, vor dem Alter, sie unruhig werden. Und es mochte ihr der vielgereiste Hehrmeister wie ein Sendling aus einer freieren Welt erscheinen.
Übrigens würde sich der Verkehr in nächster Zeit anders gestalten, glaubte er. Der Sohn des Hauses, Kurt, sollte zu Weihnachten das Internat auf dem Lande verlassen, um dauernd in Riga zu bleiben und hier das Gymnasium zu besuchen. So würde Frau Krusenstein wahrscheinlich im Winter ein weniger geselliges Leben führen.
Er bat seine Schwester, sie möchte sich doch nicht ganz von Krusensteins zurückziehen. Es wären nun einmal alte Beziehungen und die Häuser schon seit Generationen befreundet. Und er lud sie und Krusensteins zusammen ins Theater ein und dann in eine Weinstube zum Abendessen. Fräulein Hehrmeister war noch nicht 40 Jahre alt, trotzdem kleidete sie sich durchaus nicht mehr jugendlich und kam wie immer, wenn sie ausging, in dunkler Seide, ohne irgend einen Schmuck. Krusenstein begegnete ihr freundlich, gab sich aber nicht so aus wie sonst, wenn er seiner gesprächigen, munter lauten Natur folgen durfte. Er wusste, dass sie auf Akkuratesse hielt und fürchtete ihre Spitzen, mit denen sie unter Umständen keineswegs geizte. Frau Emmy ihrerseits war gegen Fräulein Hehrmeister eitel Liebenswürdigkeit.
»Es geschah wohl mehr, um dir zu gefallen,« sagte Fräulein Hehrmeister, als sie mit ihrem Bruder wieder allein war.
Wenige Tage vor Weihnachten traf Kurt ein. Hehrmeister hatte ihn zuletzt in einem ausländischen Bade gesehen, wohin der zehnjährige Knabe vom Vater mitgenommen war. An einem kalten Wintersonntage speiste Hehrmeister bei Krusensteins, sass dem jungen Mann bei der Tafel gerade gegenüber und betrachtete ihn. Er war etwas unordentlich gekleidet, die unfertigen, derben Hände reckten sich vor aus den Ärmeln, das dunkelblonde Haar war nicht aus der Stirn gekämmt und liess die Schläfen nicht sehen. Er ass ohne aufzuschauen und es gelang Hehrmeister lange Zeit nicht, seinem Blick zu begegnen. Es war durchaus nicht ungewöhnlich, dieses blutjunge Gesicht, auf dem sich noch so wenig Eigenes, Bestimmtes, Persönliches ausprägte. Die Hautfarbe leuchtete warm und in vollem Ton, ohne rötlich zu sein. Wenn er mit seinen grauen Augen aufsah, blickte er kurz und gleichgültig hierhin und dorthin, scheinbar ohne das geringste Interesse für seine Umgebung. Der Mund war ziemlich gross und ohne deutlichen Ausdruck, wenigstens jetzt, solange er schwieg. Nichts war selten an ihm und doch strömte etwas zu Hehrmeister, das ihn belebte und erfreute, und er empfand die Befriedigung, etwas Schönes zu sehn. Die Schönheit des jungen Mannes war in Form und Wesen das Unfertige und dabei Starke, die Gesundheit, die jeden Atemzug einholte, die Kraft, die sich auswuchs, hineinwuchs in den Körper, in die Arme, in die derben Hände und in die Brust, die prall im vertragenen engen Rock sass.
Er schien nicht acht zu geben auf die Gespräche, die man führte. Ja, wenn man jung war, so hörte man nicht hin auf eine ziemlich oberflächliche Unterhaltung, sondern hing lieber seinen eigenen Gedanken nach. Und erst wenn über schwierige Materien geredet wurde, philosophische oder politische Fragen zur Erörterung kamen, dann erst merkte man auf. Nicht einmal, wenn ein Scherzwort fiel, lachte der junge Mann mit. Hehrmeister ward ungeduldig, er wollte das Antlitz doch endlich irgendwie belebt sehn. Um zu seinem Ziel zu kommen, stellte er im Gespräch mit Krusenstein wie in vollem Ernst eine ganz alberne, unsinnige Behauptung auf. Während die anderen lachten, betrachtete ihn Kurt gutmütig spöttisch, aber doch noch im Zweifel, wie das wohl gemeint sei.
Dass Kurt den Ausspruch wenigstens während einiger Augenblicke noch ernst zu nehmen versuchte, gefiel Hehrmeister. Damit verriet sich die Gewohnheit, nicht alles rasch abzutun und eine Ahnung davon, dass eine Wahrheit immerhin auch im dümmsten Zeug versteckt liegen könnte. Er wandte das Wort an Kurt. Es war offenbar etwas Neues, dass der junge Mann seine Meinungen in Gegenwart der Eltern auseinandersetzen durfte, und er tat es nicht unbefangen. Vielleicht geschah es zum erstenmal, dass man ihn ausreden liess. Er bemühte sich, seine Unsicherheit möglichst zu verbergen und sich in seinen Antworten sehr aufmerksam und auf die Hauptsache bedacht zu zeigen. Es ehrte ihn, wie man seine Einwände anhörte und sich bisweilen von ihnen überzeugen liess. Auch als Frau Krusenstein lebhafter mitzureden begann, sorgte Hehrmeister dafür, dass Kurt nicht gänzlich aus der Unterhaltung ausfiel, sondern an den Gesprächen teilnahm, wenn auch schweigend. Er war geweckt und brütete nicht mehr gleichgültig gegen alle Welt über seine Gedanken.
Krusenstein hatte das Gespräch zwischen seinem Sohn und Hehrmeister schweigend angehört und mehrmals zu seiner Frau hinüber gelächelt. Als sie von neuem lebhaft miteinander zu reden begannen, unterbrach er sie und rief: »Wisst ihr, es ist schon zu drollig, wie ihr euch unterhaltet. Ihr tut gerade, als hättet ihr euch euer Lebtag nicht gesehn, so förmlich und steif bist du, Hehrmeister, und dabei hast du den Burschen schon gekannt, als er zehn Jahre alt war.«
Er wandte sich zu Kurt: »So sage doch ›du‹ zu ihm und ›lieber Onkel‹ wie damals. Das ist doch natürlicher. Warum denn so feierlich tun?«
Nach einem Augenblick des Schweigens erwiderte Hehrmeister: »Nun ja gewiss, wir könnten auch ›du‹ zueinander sagen.«
Die Unterbrechung kam ihm ungelegen, er sah zu Kurt hin. Der war etwas rot geworden und blickte nicht auf. Wahrscheinlich hatte er sich geärgert und war gekränkt. Der junge Mann mochte es seinerseits keineswegs drollig finden, dass man sich ernsthaft und förmlich mit ihm unterhielt. Ach ja, Krusenstein mit seiner Ungeschicklichkeit.
Sie nahmen das Gespräch wieder auf. Aber Kurt redete ihn nach wie vor mit ›Sie‹ an. Zuerst hätte man glauben können, es geschähe im Versehen, doch sehr bald bemerkte Hehrmeister, dass er es absichtlich tat, aus Trotz gegen den Vater.
Und so war das Unheil nicht mehr zu vermeiden. Krusenstein erboste sich, schalt ihn und befahl ihm schliesslich, das Zimmer zu verlassen. Kurt hatte dem Vater mit keinem Wort geantwortet, erhob sich rasch und ging. Wenn er die Tür hinter sich auch nicht ungebührlich laut schloss, so klinkte er sie doch sehr bestimmt und kräftig zu.
Hehrmeister räusperte sich ärgerlich. »Es scheint mir, dass Pädagogik nicht gerade dein Fall ist, mein lieber Krusenstein,« sagte er dann und trank ein volles Glas Rotwein sehr ungeniert und mit einem Zuge herunter. Darauf blickte er sie an. Und auch sie machte ihrem Gatten einige Vorhalte. Der aber wollte sich auf nichts weiter einlassen, murmelte irgend etwas von Flegeljahren und man wechselte das Gespräch.
Als Hehrmeister am Abend aufbrach, begleitete ihn Krusenstein, sie wollten noch ein Glas Wein miteinander trinken. Es war bitter kalt und noch kein Schnee gefallen. Durch die Allee jagte der Wind und wirbelte ihnen eisige Staubwolken entgegen, dass man die Augen oft schliessen musste und stehn bleiben und warten, bis man wieder einige Schritte weiter kam. Es sauste und krachte in den dürren Ästen und die Telephondrähte heulten ihren eintönigen Jammerlaut durch die Dunkelheit. Der Sturmwind schien einem die Haut vom Gesicht zu reissen. Schon seit Tagen hielt der Kahlfrost an und keine Flocke fiel.
Sie fanden keine Droschke und mussten den ziemlich weiten Weg zu Fuss zurücklegen. Miteinander reden konnten sie nicht, und als er sich im Pelz warm gegangen hatte, fing Hehrmeister an, seinen Gedanken nachzuhängen. Der Auftritt mit Kurt kam ihm wieder in den Sinn. Ja, wenn man jung ist. Auch ich würde nicht gehorcht haben und die Tür hätte ich genau so hinter mir zugeklinkt, so bestimmt und fest, dachte er. Er stellte sich die Zeit vor, als er selbst 17 Jahre alt gewesen war und wollte so erraten, wie es in Kurt aussah. Doch erinnerte er sich nicht ganz deutlich an seine Jugend, an seine damaligen Empfindungen und Gedankengänge. Das kam ihm sehr merkwürdig vor, deshalb, weil er gerade noch so viel wusste, dass er das Leben damals am ernsthaftesten genommen hatte. Seltsam, dass man trotzdem das meiste vergass oder nicht mehr im rechten Licht sehn konnte. War denn so viel Grosses gekommen nachher? Nicht alles blasser geworden? Mit 17 Jahren kennt man auf der ganzen Welt keinen Spass, jedes Ding nimmt man ernst und es hat nur eine Seite. Später sieht man kaum noch hin und lässt die Welt laufen, wie sie mag und fürchtet sich vor allem Krassen und tut so oder so doch nichts andres, als dass man seine Behaglichkeit anstrebt.
Sie waren am Ziel, betraten die Weinstube und wählten sich eine freundliche Ecke. Ausser ihnen sassen nur noch einige alte Herren da, an einem andern Tische. Man sprach mit gedämpfter Stimme im hohen, lauschigen Gemach, in das der Kamin seine Glut meterweit hineinstrahlte. Hehrmeister hatte das Feuer im Rücken und spürte seine Wärme durch die lederne Rücklehne des Stuhles hindurch. Fuhr draussen ein Wagen vorbei, so klapperte der Aschenbecher ganz kurz auf dem ungedeckten, massiven Eichentische, an dem sie sassen. Sie hatten Champagner bestellt und hörten aus dem Nebenzimmer, wie man die Flasche im Kübel drehte. Ehe der Wein nicht kam, wollte keiner von beiden mit dem Reden den Anfang machen, sie holten ihre Zigarrentaschen hervor, legten sie bequem zur Hand und sahen durch die Stube, wohl auch zu den alten Herren hinüber, deren Gesichter, Namen und Schicksale sie von Jugend auf kannten, ohne dass sie jemals mit einem von ihnen persönlich verkehrt hätten. Das ist so in Halbgrossstädten, dachte Hehrmeister. Gewiss waren die Herren auch über sein und Krusensteins Leben recht genau unterrichtet.
Als der Wein in den Kelchgläsern vor ihnen stand und Krusenstein fragte: »Nun, mein Lieber, verdienst du viel mit deinen Klavierstunden?« wusste Hehrmeister sofort, dass man allerlei von ihm zu hören wünschte, dass er wie in früheren Jahren dem Freunde von sich erzählen sollte. Aber es würde nichts daraus werden. Er fühlte sich nicht mehr jung genug, dass es ihn erleichtert hätte, sich auszukramen.
»Nein, ich verdiene nicht viel mit meinen Klavierstunden,« antwortete er.
»Am Ende hast du es ja auch nicht so nötig.«
»Gott sei Dank, nein, ich hab' es nicht so nötig. Als Junggeselle, der ich bin, kann ich wo und wie ich will, ziemlich bequem leben.«
Etwas zögernd begann Krusenstein nach einer kurzen Pause: »Aber ob es immer so bleiben wird. Man hat es schon oft erlebt, dass jemand sich in der Beziehung verschwört. Allerdings weiss ich gar nicht, ob du jemals ernstlich daran gedacht hast.«
»Jedenfalls wäre das sehr lange her. Nun würde ich jedenfalls, mein' ich, nicht mehr heiraten.«
»Und du wirst nichts dabei vermissen?«
»Vielleicht doch. Man sehnt sich bisweilen danach. Nach einem Kinde, nach einem Erben.«
Krusenstein machte grosse Augen. »Ach daran denkst du. Die Hauptsache ist doch eigentlich das Zusammensein mit der, die man liebt. Überhaupt, dass man durch ein Weib gehoben wird. Der ganze innere Halt, den man mit der Zeit gewinnt, das Aufgehn ineinander.«
Hehrmeister unterbrach ihn: »Erlaube, du sagst, man würde durch ein Weib gehoben. Wenn ich fragen darf, wie macht man das?«
Krusenstein lachte. »Nun ja, ich geb es zu, ich mag mich etwas altmodisch ausgedrückt haben. Aber es ist doch so. Es ist immer die eine, die einen wieder heraufzieht. Dabei braucht man gar kein Philister zu sein, gar kein unmoderner Mensch. Wenn es auch tausendmal wahr sein mag, dass der Mann in der Liebe den Wechsel braucht, er würde untergehen, wenn er nicht in einem Weibe, das ihn versteht und ihn zu fesseln weiss, seinen Halt fände und etwas, was ihn nicht ganz planlos durchs Leben rennen lässt.«
Er lächelte. »Und nach schwachen Stunden ist es doch wieder nur die eine, nur sie,« setzte er hinzu. »Du verstehst mich doch?«
»Ich will einmal indiskret sein, es liegt nichts daran und am Ende sind wir doch beide Philosophen. Also, um es mit einem Wort zu sagen, ich bin meiner Frau bisweilen untreu gewesen, aber ich hab sie nie betrogen.«
Hehrmeister verzog keine Miene. Mit einem schlauen Lächeln sagte Krusenstein: »So versteh doch, ich beichte ihr die Sache später.«
»Gut. Aber was hast du davon?«
»Sie vergibt mir und ich sehe meine Dummheit ein.«
»Schön, das erste Mal. Aber wenn sich das wiederholt? Und du im voraus schon weisst, dass sie dir verzeihen wird?«
»Nun, so ganz sicher ist das doch nicht. Es kostet immer einen kleinen Kampf und viele Tränen, bis wir uns wieder versöhnt haben. Dann komme ich mir zuweilen wie ein ganzer Hallunke vor, denn sie leidet wirklich jedesmal sehr darunter. Du musst übrigens nicht glauben, dass es gar so oft passiert ist. Bloss nur ein paarmal. Aber es ist doch besser und verständiger so, als wenn ich es ihr verheimlichen würde. Und sie ist so klug, meine Frau, im letzten Grunde begreift sie ja gewiss, wie wenig meine kleinen Streiche zu bedeuten haben. Sie versteht, dass der Mann nun einmal so ist. Du wirst dir ja auch denken können, wie es so geht, irgend ein kleines Erlebnis schiebt sich einem entgegen. Mein Gott, ja, es ist seltsam, wenn man längere Zeit verheiratet ist, dann hat man gerade nach der Demimonde wieder Sehnsucht. Ach ja, aber man ist bald belehrt und kehrt bald wieder zurück und dann weiss man erst, was man hat, wenn man wahrhaft liebt und geliebt wird. Alles andere ist nichts, alles andere ist Schwindel, verlasse dich darauf.«
Hehrmeister sagte nichts mehr zur Sache und so begann Krusenstein von anderen Dingen zu reden.
An einem der nächsten Vormittage erhielt Hehrmeister einen Besuch, der ihn überraschte. Kurt machte ihm seine Aufwartung. Das verschossene Gewand, das er am Sonntage getragen hatte, war mit einer blitzneuen Schüleruniform vertauscht, die ihm gut anstand. Er sah frischer aus und wohl und versuchte bei aller Höflichkeit seinem Auftreten eine gewisse Sicherheit zu wahren. Hehrmeister fühlte, dass Kurt aus eigenem Antrieb kam, war erfreut über diesen Besuch, jedoch während einiger Augenblicke verlegen um die ersten Worte. Er geleitete seinen Gast ins Arbeitszimmer, dort sassen sie und plauderten. Als die etwas förmliche Unterhaltung stockte, erhob sich Hehrmeister und zog die Vorhänge von seinen Büchern fort. Kurt stellte sich neben ihn und sah über die Regale hinauf und hinunter, dann trat er ein wenig zurück, um die obersten Bücherreihen besser sehen zu können.
»Wenn Sie sich zuweilen das eine oder andere von mir leihen wollen – übrigens nein,« verbesserte er sich schnell, »aufrichtig gesagt, ich leihe meine Bücher nicht gern aus. Aber wenn Sie zu mir kommen würden und bei mir lesen? Wie? Was meinen Sie dazu?«
»Danke, das wäre in jedem Fall besser,« erklärte Kurt. »Zu Hause habe ich doch nicht die nötige Ruhe. Sie können sich das wohl denken.«
Hehrmeister musste lächeln. Dann sagte er, er könne sich das natürlich nur zu gut vorstellen, gewiss, ja.
Als er seinen Gast hinausbegleitet hatte, kehrte er in sein Arbeitszimmer zurück, setzte sich und blickte im Zweifel zu seinen Büchern hinüber.
Ob es sich nicht empfehlen würde, diesen oder jenen Band beiseite zu legen. Aber wie war zu entscheiden, was dieser sechzehn- oder siebzehnjährige Mensch brauchen konnte an Wissen und was nicht?
Er überlegte längere Zeit. Plötzlich fiel ihm ein, dass Krusenstein, den Ausdruck auf Kurt beziehend, gesagt hatte: Flegeljahre.
Eigentlich doch gar kein bezeichnendes Wort; nur ein oberflächliches Urteil konnte es gemünzt haben.