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Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen
3 (1901) S. 456–461
Ercole Tomei, der uneheliche Sohn einer italienischen Mutter, und Büchner, der Spross einer norddeutschen Bürgerfamilie, haben sich auf dem Gymnasium eng aneinander angeschlossen. Zwischen dem Primaner Büchner und dem einige Jahre jüngeren Obertertianer Tomei kommt es bald zu innigem Freundschafts- und Liebesbündnis. In Büchner's Zimmer, durch dessen Fenster Tomei nachts an einem herabgeworfenen Seile heraufkletternd einstieg, haben sie traute Stunden verbracht und sich in leidenschaftlicher Jugendliebe gefunden. Ihr Liebesbund dauert auf der Universität fort, kaum zeitweise durch kleine Liebeleien Tomei's mit Weibern unterbrochen, bis Tomei ein Mädchen aus anständiger Familie, in das er sich verliebt, heiratet. Das junge Ehepaar und auch der alleinstehende reiche Büchner siedeln nach Berlin über. Tomei hat sich inzwischen zum Künstler (Musiker) ausgebildet. Büchner bleibt Hausfreund, aber die bisherigen Beziehungen hören auf; er will nicht zu einer entwürdigenden Teilung sich bequemen oder den Freund zum Bruch der beschworenen ehelichen Treue verleiten.
Zwei Jahre lang verkehrt Büchner fast täglich bei den jungen Eheleuten, kühle Freundschaft erheuchelnd und seine immer noch glühende Leidenschaft hinter gleichgiltiger Maske verbergend.
Eines Tages macht Tomei die Bekanntschaft des berühmten Sängers Bullmann. Dieser veranlasst Tomei, mit ihm nach Genf zu reisen, um dort in einem gemeinsamen Konzert aufzutreten.
Tomei hat an Blick und Benehmen des Sängers den Homosexuellen erkannt und seine Absichten erraten. Trotzdem begleitet er ihn nach der Schweiz, halb aus Neigung, halb aus Schwäche und Eitelkeit.
Büchner, der die Wahrheit vermutet, reist ihm nach. Er will wohl entsagen, aber nur, wenn kein Anderer die Gunst des Geliebten erwirbt. Tomei, der die Kälte Büchner's als das Erlöschen seiner Liebe gedeutet hatte, fällt ihm in die Arme. Bullmann reist ab. Die Liebe der alten Freunde lodert neu auf, völlig versöhnt kehren sie nach Berlin zurück und nehmen das frühere Liebesverhältnis wieder auf. Einige Wochen vergehen. Die Liebe Büchner's wird immer gebieterischer, eifersüchtiger, ausschließlicher.
Er weiß Frau Tomei zu überreden, einige Zeit zum Besuche ihrer Eltern Berlin zu verlassen, angeblich, damit die Liebe ihres Mannes, dessen manchmal eigentümliches Benehmen den Argwohn der jungen Frau erweckt hatte, aus der zeitweisen Trennung neu gekräftigt hervorgehe. Die Freunde verbringen einige ungetrübte Tage des Zusammenseins.
Eines Abends lässt sich jedoch Tomei zu einem vorübergehenden Abenteuer mit einem jungen Arbeiter hinreißen. Büchner ist ihm gefolgt und entdeckt seine Untreue. Es kommt zu lebhafter Auseinandersetzung; als Büchner sogar thätlich wird, zieht der heißblütige Tomei einen Revolver. Büchner entwindet ihm die Waffe und schießt auf den Freund, der getroffen niedersinkt. Tomei weiß durch die erfundene Erzählung eines Raubanfalls jeglichen Verdacht von dem Freunde abzulenken und verzeiht ihm.
Unter der Pflege des Geliebten und der zurückgekehrten Frau heilt die Wunde schnell; die Kugel ist aber nicht zu entfernen.
Im Charakter Tomei's hat das Ereignis eine Wendung hervorgebracht; jetzt, wo er empfunden, bis zu welchem Grade Büchner ihn geliebt, gehört er ihm und nur ihm voll und ganz an. Seiner Frau entgeht die Umwandlung in seinem Wesen nicht, sie fühlt, dass sie ihm gleichgiltig geworden, und entschließt sich, ihren Mann zu verlassen. Vergeblich will sie zuvor von Büchner die wahre Ursache der Änderung erfahren und nach der Frau, die ihr, wie sie glaubt, die Liebe ihres Mannes gestohlen, forschen. Büchner weiß jetzt, dass er den Freund für immer gewonnen. Die Abreise der Frau, der Revolverschuss, die innige Freundschaft beider Männer erregen in der Gesellschaft Verdacht, die wahre Natur des Verhältnisses beider Freunde »sickert durch«. Beide verlassen Berlin und reisen nach Italien, aber in Rom befällt Tomei eine beängstigende Schwäche: die nicht entfernte Kugel ist dem Herzen gefährlich geworden. Tomei stirbt in den Armen des Geliebten.
Der Roman ist eine wohlgelungene homosexuelle Studie.
Styl und Sprache hätte ich abgerundeter gewünscht; die Katastrophe wäre wohl auch besser auf andere Weise herbeigeführt worden, als durch den etwas groben Effekt des Revolverschusses; der Entschluss der Frau Tomei, ihren Mann zu verlassen, und seine sofortige Ausführung scheint mir nicht genügend motiviert; aber andererseits dienen diese Mittel nur dazu, die Wandelung in der Seele Tomei's zu erklären, und diese Änderung ist mit Verständnis und Geschick entwickelt. Die Mängel des Buches werden durch seine Vorzüge weit überwogen. Auf den ersten Blick wird man vielleicht geneigt sein gewisse Widersprüche und manches Unwahrscheinliche in den Gefühlen und Handlungen Tomei's zu finden, aber das Gemisch von Schwäche, Eitelkeit und Güte, aus dem sich sein Charakter zusammensetzt, sein heißblütiges italienisches Temperament und die psychische Hermaphrodisie, die den Urgrund seines Wesens bildet, machen ihn vollauf begreiflich.
Obgleich der Verfasser psychologische Einzelheiten vermeidet, lassen die Handlungen und das Benehmen Tomei's seine zwitterhafte Natur hervortreten. Tomei vermag zu gleicher Zeit zweierlei verschiedenartige Liebe in sich zu vereinbaren, die Liebe zu seiner Frau und die Liebe zu Büchner. Solche Fälle der Neigung zu beiden Geschlechtern sind nicht selten und bei Tomei um so erklärlicher, als er aus einem Lande stammt, wo man derartigen doppelseitigen Naturen häufiger begegnet.
Büchner ist der echte Homosexuelle, aber nicht der Durchschnittsurning, sondern der virile, ernster Liebe fähige Konträre, der nur einmal liebt und dann für's Leben.
Bullmann dagegen vertritt den Typus des mehr weibischen, gutmütigen, flatterhaften, in seinen Neigungen wechselnden, liebenswürdig oberflächlichen Homosexuellen.
In dem Roman sind die sinnlichen Elemente in den Hintergrund gerückt und direkt geschlechtliche Situationen diskret übergangen; die soziale und strafrechtliche Seite wird gleichfalls nicht behandelt; das Interesse des Buches besteht vielmehr in der trefflichen Seelenmalerei beider Helden, in der Schilderung ihrer Charaktere und Gefühle und deren Reaktionen. Diese psychologische Analyse wird mit derselben Selbstverständlichkeit entwickelt, an die man bei der Darstellung ähnlicher Beziehungen zwischen Mann und Weib gewöhnt ist. Meist ist in den bisherigen belletristischen Erzeugnissen homosexuellen Inhalts die Homosexualität entweder verschleiert, oder in überschwängliche oder auffällige Freundschaftsgefühle gekleidet, oder aber sie wird in Auflehnung gegen die herrschenden Vorurteile als außergewöhnliches Gefühl, als die Empfindung, die erst nach ihrer Berechtigung ringt, wiedergegeben. Ein Vergleich z. B. mit den Werken Eekhoud's zeigt deutlich den zuletzt angedeuteten Unterschied. Eekhoud, dessen Romane und Novellen in Gedanken, Sprache und Darstellung ein größeres künstlerisches Gepräge tragen, mehr poesievollen Schwung und eine kraftvollere künstlerische Eigenart aufweisen, schildert die homosexuelle Liebe als Kampfgefühl gegen die Norm, als verfehmte Empfindung, und die Homosexuellen als Ausnahmsmenschen, als Parias der Liebe. Bei Pernauhm reihen sich seine Homosexuellen in die Gesellschaft ein, gleichsam als normale Glieder, die leben, fühlen und handeln wie die Heterosexuellen; aus ihrer Liebe entstehen zwar Konflikte, aber in ähnlicher Weise und mit ähnlichen Konsequenzen wie zwischen Mann und Frau. Die Ruhe und Selbstverständlichkeit, mit der die Beziehungen der beiden Männer vom Verfasser verfolgt und dargelegt werden, bringt den Eindruck der Natürlichkeit des homosexuellen Empfindens und der Gleichstellung mit der heterosexuellen Liebe gerade durch die schöne Objektivität des Erzählens hervor und vermag, ohne diese Absicht irgendwie zu verraten, überzeugend und aufklärend zu wirken.
»Ercole Tomei« kann nur wärmstens empfohlen werden.
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Als weitere Neuausgaben liegen vor:
Fritz Geron Pernauhm (Guido Hermann Eckardt), Der junge Kurt
(Bibliothek rosa Winkel, Band 55, 2010)
Fritz Geron Pernauhm (Guido Hermann Eckardt), Die Infamen.
Mit einem Nachwort von Wolfram Setz
(Bibliothek rosa Winkel, Band 56, 2010)