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Kapitel II

1.

Tags drauf schellte Büchner zur gewohnten Stunde, Franz öffnete ihm sogleich und berichtete kurz, der Herr wäre heute am frühen Morgen nach Genf abgereist. Der Doktor hatte es nicht anders erwartet, war aber gekommen, weil er es für angemessen hielt, Frau Tomei ein wenig Gesellschaft zu leisten.

Er trat in den Saal, die Theemaschine dampfte und summte, unter dem goldigen, ausgebauchten Kessel zu unterst am Schlot leuchtete es gelblich durch den umgitterten Kohlenfänger. Es war etwas dunkler im Zimmer als gewöhnlich und gerade die Helle im Raum sonst mit der Wärme zusammen, die sie auszustrahlen schien, hatten ihn immer so behaglich angemutet, wenn er dem finsteren Winter draußen entfloh, um hier einzukehren. So empfand er das Halbdüster eben nicht wie etwas Freundliches, Trauliches.

»Ob Ercole eine ganze Woche fortbleiben wird?« fragte sich Büchner, auf und abschreitend. Als er sich gedankenverloren rings umthat, bemerkte er, daß man den großen Spiegelrahmen frisch überputzt hatte; dann fiel ihm das Glas selbst auf, namentlich an einer Ecke, wo sonst ein blasser, weißlicher Makel die Fläche verdarb, heute aber nichts von ihm zu sehen war.

Frau Tomei ließ nicht lange warten und schenkte alsbald den heißen Thee ein, während er gemächlich sein Rauchwerk hervorzog. Allein mit ihr fühlte er sich nie unbefangen, doch wußte er ein für alle mal an einem freundschaftlich ruhigen Plauderton fest zu halten und so verbrachten sie auch heute ein halbes Stündchen fast ungezwungen, beinahe gemütlich. Übrigens schien ihm Frau Tomei zerstreut zu sein.

Als Büchner etwas augenfällig nach der Uhr sah, wie um darauf vorzubereiten, daß er nun gehen müßte, begann sie unvermittelt: »Sagen Sie, Herr Doktor, Ercole und Bullmann reisen doch allein?«

Er horchte auf, sie blickte ihn scharf an. Er begriff nicht, wo sie hinaus wollte, und schwieg ein paar Sekunden, überlegend, worauf die Frage zielen könnte. Da sie nicht fortfuhr, gab er zurück: »Sie meinen, ob jeder von ihnen apart nach Genf abgereist ist?«

»Ach nein, ich dachte nur, ob sie vielleicht in größerer Gesellschaft wären, irgendwie mit andern zusammen –«

»Meines Wissens nicht, Ercole hat mir nicht davon gesprochen – das heißt, der Impressario könnte allenfalls mit ihnen sein; übrigens auch sehr unwahrscheinlich, zudem weiß ich nicht, ob Bullmann nicht überhaupt allein zu konzertieren pflegt, selbst ohne Direktion. Warum fragen Sie?«

»Ach nur so, es hätte mich interessiert, dann wird er ja wohl allein mit Bullmann fahren. Hoffentlich klappt nun alles gut mit dem Konzerte,« sprach sie, wie um abzuschließen, kreuzte die Arme und sah still zu Boden.

»Sie erwartet wohl, daß ich nun aufbreche,« dachte er, und betrachtete Frau Tomei, wie sie ruhig gesenkten Hauptes dasaß. Doch war seine Neugierde wachgerufen und er blieb. »Also wann glauben Sie denn, daß Ercole wieder zurück sein wird?« begann er. »Voraussichtlich gleich nach dem Konzert?«

»Ja, ich glaub' schon; eine Woche wird aber immer hingehen.«

»Nun, Sie werden jedenfalls zufrieden sein, wenn er wieder da ist. Ich meine, ich erinnere mich aus früherer Zeit, daß Sie die Einsamkeit Ihrer Strohwitwentage niemals besonders zu genießen verstanden,« fügte er mit einem ganz flüchtigen Lächeln hinzu.

»O – gewiß, ich werde mich freuen – das heißt« – sie stockte, hob die Augen und blickte ihn unschlüssig an, prüfend, als wüßte sie nicht, ob es ratsam wäre, Büchner gegenüber offen zu sein. »Das heißt, vielleicht ist es auch ganz gut für ihn, wenn er eine Zeitlang von Berlin fortbleibt,« sprach sie langsam.

Er schwieg ein paar Sekunden. »Wieso?« fragte er dann.

»Ach, wie soll ich das erklären, ich glaube so, daß es ganz gut für ihn sein würde. Möglicherweise irr' ich mich auch.«

»Aber warum denn? Ich meine, Sie müssen doch einen ganz besonderen Grund für diese Annahme haben.«

Sie antwortete nicht. »Sprechen Sie doch,« überredete er, »so vermag ich in der That kaum zu verstehen.«

»Ich weiß nicht, ob das richtig wäre –«

»Aber warum nicht,« fiel er ein. »Ich könnte Ihnen vielleicht irgendwie Aufklärung geben, ich meine, Sie scheinen sich doch über irgend etwas Sorgen zu machen, am Ende gar ursachlos. Sie wissen, daß ich Ercole sehr gut kenne, um ihn scheint es sich doch wohl zu handeln.«

Sie ließ wieder einige Augenblicke verstreichen, ehe sie erwiderte. »Ja, es ist eben irgend etwas mit ihm, ich weiß es nicht zu sagen, aber seit ein paar Wochen ist er ganz anders – so – so –,« sie fand das Wort nicht, das sie zu suchen schien.

Es war still im Zimmer, die Theemaschine summte nicht mehr. Er wartete und blickte sie gerade an. »Nun?« fragte er.

»Ich weiß nicht, ich glaube, er liebt mich nicht mehr so wie früher.«

»Sie wollen sagen, er wäre kälter geworden?«

»Ja, er ist anders –«

»Sie sind häufiger allein als früher?«

Sie nickte.

»Namentlich des Abends?«

»Ja,« antwortete sie leise, ohne aufzusehen.

»Seit lange?«

»Ein paar Wochen.«

Ihre befangene Haltung verlor sich allmählich, nachdem sie einmal soviel gesagt hatte, und sie ward etwas redseliger.

»Ich verstehe gar nicht, wie das so gekommen ist. Ich wollte Sie eigentlich bitten mir zu raten, aber ich kann ja gar nichts thun, als abwarten. Ich weiß gar nicht, warum er so gegen mich ist, so verändert, als ob er immer an etwas Andres denkt, wenn er mit mir zusammen ist.«

»Wissen Sie, gnädige Frau,« erwiderte Büchner, »es scheint mir, daß Sie der Sache doch eine zu große Bedeutung beimessen, Künstler haben es eben nötig, um recht produzieren zu können, zeitweise ein Leben zu führen, wie sie es eben von früher her gewohnt sind, vom – sagen wir Mansardenkloster her. Scheint Ihnen das nicht verständlich?«

»Ja, schon, ich versteh' schon, aber wenn es am Ende nicht so zusammenhängt. Es ist vielleicht ganz unnütz, daß ich das mit Ihnen bespreche, wozu sollen Sie mir denn raten, aber ich dachte, weil Sie Ercole so gut kennen; ich weiß gar nicht mehr, wie ich mich zu ihm stellen soll.«

»Haben Sie denn irgend einen Anhaltspunkt, etwas, was Ihre Vermuthung stützen könnte?«

»Nein, eigentlich nicht. Das heißt, diese Reise nach Genf. Es war alles so überstürzt. Zuerst sagte er, er würde keinesfalls fahren, dann änderte er seine Meinung ganz plötzlich, Bullmann überredete ihn irgendwie. Gestern ist er den ganzen Tag fortgewesen – Sie wissen ja, Sie trafen ihn nicht um fünf. Er sagte, er hätte den ganzen Tag zu thun gehabt, des Konzerts wegen, mit Bullmann. Das kam mir so unwahrscheinlich vor.«

»Warum aber?«

»Ich weiß nicht, ich kann mich ja täuschen – aber ich denk' immer, daß es irgendwie anders zusammenhängt. Sie wissen wirklich nichts?«

»Nein, gnädige Frau.« Sie schwiegen; sie hatten sich immer zu Ende reden lassen und dann noch ein paar Sekunden über auf einen Zusatz gewartet, sich nicht unterbrochen, jedes Wort aufmerksam erhorcht, wohl beide darauf bedacht, den Andern auszuholen.

»Und dann,« begann sie von Neuem, »er ist so maßlos leidenschaftlich, gestern war es wirklich schrecklich, ich begreife gar nicht, woher diese plötzlichen Zornausfälle herkommen – den Spiegel da hat er absichtlich zerschlagen ich hab' ihn, das heißt, schon wieder einsetzen lassen.«

Als Büchner aufsah und den Blick stumm gerade auf ihr Antlitz richtete, fuhr sie fort: »Es war gestern Abend, recht spät schon, die Uhr ging auf eins, ich saß in meinem Zimmer und dachte immer, er würde doch endlich nach Hause kommen, am Morgen um zwölf war er weggegangen, nach seinen Stunden, um fünf wollte er wieder zurück sein, Nachricht hatte er nicht gegeben. Ich wartete und wartete, endlich hör' ich ihn ins Haus treten. Es vergehen vielleicht zehn Minuten, aber er kommt nicht zu mir hinüber. Ich wurde ungeduldig, ich hatte Lust ihn wiederzusehen, Sehnsucht nach ihm, ich wollte doch wissen, warum er so lange ausgeblieben war, vielleicht war ihm was zugestoßen. Ich stand also wieder auf, nahm mir was um und ging ganz leise auf Schuhen durch's Speisezimmer, und wie ich gerade mitten im Zimmer bin, sehe ich, daß Licht im Saal brennt und im selben Augenblick hör' ich einen Krach und Glas splittern. Sie können sich gar nicht vorstellen wie ich erschrak, ich war ganz starr im ersten Moment, ich dachte an Diebe oder weiß Gott was, ich lauf hin, er steht vor dem Spiegel, hält seinen schweren Leuchter aus dem Schlafzimmer in der Hand und stößt damit noch einmal ins Glas, ganz stark, mit Absicht – verstehen Sie! gerade dahin, wo das Glas nur gesprungen war, daß alles nur so in Trümmer geht, dann wirft er den Leuchter fort, auf den Boden, ich ruf ganz entsetzt: Aber Ercole! Er sieht sich um und fährt mich an, denken Sie! Als ob ich wirklich was gethan hätte –, ›was suchst du hier, du hast hier gar nichts zu schnüffeln‹ und in der Weise weiter. Allmählich wurde er dann etwas ruhiger und freundlicher, dann ging er gleich in sein Zimmer, zu Bett. – Heute Morgen war er ganz wie gewöhnlich, als ob nichts vorgefallen wäre. Ich begreife gar nicht, seine eigenen Sachen zu zerschlagen, wie ein Verrückter wirklich – und warum? Wenn er mir doch irgendwie erklärt hätte. Diese Wut – nein!«

Sie sah still zu Boden. »Wissen Sie nicht?« fragte sie gequält.

Büchner antwortete nicht. Er wußte, daß er etwas blaß war, senkte den Kopf und griff nach seiner Tasse. Das Getränk floß ihm lauwarm, beinahe kühl über die Zunge, der geschmolzene, doch nicht ausgerührte Zucker versüßte den letzten Schluck übermäßig, seine Lippen klebten und er brannte sich eine frische Zigarette an. Er verbarg seine Unruhe. Vor allen Dingen kam es darauf an, die Sache Frau Tomei gegenüber auf die leichte Achsel zu nehmen.

»Nun, das ist in der That seltsam,« ließ er sich endlich hören. »Weiß Gott, was ihn denn so bewegt haben mag.« Er erzwang ein flüchtiges, überlegen freundliches Lächeln und fuhr fort: »Bei Ercole muß man das italienische Blut doch immer sehr gründlich mit in Rechnung ziehen, sonst hält man ihn bisweilen wirklich nicht mehr für ganz gescheut.«

»Ja, aber er muß doch irgend etwas ganz besonderes erlebt haben, da muß doch irgend etwas passiert sein, wenn ich nur eine Ahnung hätte, heftig ist er ja immer gewesen, aber –«

»Wissen Sie, gnädige Frau,« fiel er ein, »es scheint mir, daß Sie der Sache doch eine zu große Bedeutung beimessen. Jedenfalls wird ja eine bestimmte Ursache vorliegen, die sein seltsames Benehmen veranlaßt hat, aber warum in aller Welt befürchten Sie denn, daß er Sie nicht mehr liebt? Irgend ein kleiner Arger vermag Ercole zu den größten Thorheiten fortzureißen, ich kenne das ja bei ihm, oft kann man noch von Glück sagen, wenn's weiter nichts ist als ein Spiegel, den er zertrümmert. Fürs erste müssen wir uns also in Geduld fassen. Wenn er zurück kommt, werde ich ihm ein bischen auf den Zahn fühlen und Sie dann gewiß beruhigen können. Übrigens lassen wir ihn am Besten nichts wissen von unserer Unterhaltung – nicht wahr?«

»Ich denke auch, ja,« erwiderte sie.

Büchner erhob sich, sie fragte noch einmal: »Also Sie glauben wirklich, daß da nichts irgendwie Wichtiges passiert ist?«

Er suchte ihrem forschenden Augenpaar mit einem freien, offenherzigen Blick zu begegnen und antwortete, scheinbar von seinen Worten gänzlich überzeugt: »Nein, gnädige Frau, ich glaube Ihnen versichern zu können, daß Sie Unrecht haben sich Sorgen zu machen, anstatt die Sache en bagatelle zu nehmen und sich ein wenig zu gedulden, bis unser Ercole wieder zahm wird. Und das dauert nicht lange; ich kenne seine Sprünge, das Füllen legt der nicht so schnell ab. Nun, wenn er wieder zurück ist, will ich doch versuchen ihn ein bischen auszuhorchen – dann, wenn es mir gelingt, plaudere ich ein wenig aus der Schule hinter seinem Rücken, das verspreche ich Ihnen,« schloß er lächelnd.

Sie geleitete ihren Gast ins Vorzimmer und fragte: »Sie kommen morgen?«

»Ich denke, ja,« erwiderte Büchner. Er nahm eilig den Mantel um und verabschiedete sich hastiger als sonst, er wollte allein sein so schnell wie möglich.

Im Flur blieb er stehen, die Augen an den Boden geheftet, überlegend.

Um eine Kleinigkeit handelte es sich jedenfalls nicht. Man mußte Gewißheit haben. Er erinnerte sich eines alten Bekannten in Großlichterfelde, der jedenfalls im Stande wäre, ihn über Bullmann aufzuklären und er entschloß sich den Versuch zu machen. Er fühlte sich aus dem Gleichgewicht gebracht, niemals mehr hätte er es für möglich gehalten, daß sich so etwas begeben würde. Unterwegs in der Droschke und später auf der Bahn dachte er immerfort an Ercole und ihr ganzes gemeinsames Leben, an vergangene Tage, an die Zeit, da sie sich zum ersten Mal begegnet waren.

2.

In einer kleinen Stadt war es gewesen, Büchner, achtzehnjährig, Primaner, hatte die Ferien auf dem Lande bei seiner Mutter verbracht, nun begann das Semester wieder und er kehrte als Pensionär in das Haus seines Lehrers Rotström zurück.

Bei der Morgenandacht im Gymnasium fiel ihm einer von den neueingetretenen Schülern besonders auf. Keine merkwürdige Einzelheit fesselte seinen Blick zuerst, aber das Ganze. Dann als er genauer zusah, erschien Büchner Alles und Jedes an ihm höchst seltsam. Das blutjunge bräunliche Antlitz, ein keimendes fast nicht dunkleres Braun auf der reinen Haut ein kleines Stück über den Lippen, die nicht zu schlanke, beinahe ausgewachsene Gestalt, die Augenbrauen und die Augen selbst. Alles das ließ ihn ein unbekanntes Erstaunen empfinden, ebenso diese zierlichen, sonnverbrannten Hände, ungezwungen gefaltet, von den übermäßig breiten Stulpen bis über die Wurzel verdeckt. Eine grellfarbige, sehr ordentlich gebundene Kravatte leuchtete über den halben Saal und kam ihm recht geschmacklos vor, mißfiel ihm aber trotzdem keineswegs.

Der Knabe fühlte sogleich, daß man ihn beobachtete, und musterte Büchner nun seinerseits aufmerksam, sehr ernsthaft und ganz nachdenklich. Nach einer Minute wandte er sich ruhig und lauschte der Predigt von Neuem. Als das Gebet beendet war, winkte ihm der Rektor zu bleiben, während die andren Schüler den Saal verließen. Büchner wußte sich unauffällig in der Nähe zu halten und hörte den kleinen grauen Herrn fragen, mit einer gewissen Unzufriedenheit, beinahe vorwurfsvoll: »Sagen Sie doch, wie spricht man Ihren Namen aus – Tomei?«

»Ercole Tomei,« ward er eilfertig und sicher beschieden.

Am Nachmittage erkannte er ihn schon von Weitem; sie gingen gerade aufeinander zu, ihre Schritte verlangsamten sich ein wenig und als sie einander nahekamen, reichte Ercole die Hand zum Gruß entgegen, in die Büchner auch sogleich einschlug. Büchner fand im Augenblick nichts zu sagen, meinte außerdem, der Jüngere würde sich ihm vorstellen, wie das auf dem Gymnasium hier guter Brauch galt. Wie er also abwartend schwieg, löste Ercole seine Hand gemächlich aus der seinen, verlor im Übrigen kein Wort und zog seiner Straße geruhig weiter, ganz unbefangen, als wäre das anders gar nicht möglich und nun Alles in bester Ordnung. Büchner sah ihm erstaunt lächelnd nach, er bedauerte, daß ihre Begegnung so seltsam kurz ausgefallen war, es ging aber doch nicht wohl an, kehrt zu machen und ihm zu folgen. Am nächsten Morgen während der Andacht schien Ercole für nichts Auge zu haben, als für sein Gesangbuch und den Herrn Pastor.

Sonntags trafen sie sich am Fluß, an der Sturmaa. Es war heller Frühling, Sonnenschein überall im Gelände und auf dem Wasser, das Laub noch ganz jung und blaßgrün. Zuerst lief ihre Unterhaltung Gefahr, etwas langweilig und erzwungen zu bleiben und gar zu stocken, Ercole hatte eine ernste Miene aufgesetzt, er sah beinahe böse aus und antwortete karg und trocken, kaum blickte er auf. Dann aber ließ er seine Laune ganz plötzlich fahren, ward redselig und begann nun seinerseits den Andren ein wenig auszuholen, sowie ihn über allerhand absonderliche Gewohnheiten der Leute hier am Ort neugierig auszufragen. Jetzt schaute er Büchner unverwandt an, in seinen Augen glänzte eine unermüdliche Lebhaftigkeit.

Es fanden sich noch ein paar Schüler zu ihnen, unter denen einer ausgerüstet mit einer Angel und verschiedenen sonstigen Gerätschaften zum Fischfang, ein Klassenkamerad Ercole's, welcher übrigens seine gewichtige Haltung sogleich wieder annahm, wahrscheinlich um einen gewissen Eindruck auf Büchner zu machen. Die Schnur ward ausgeworfen, riß aber alsbald. »Sie ist eben nicht geklöppelt,« meinte Ercole.

Darauf käme es in diesem Fall nicht an, erwiderte man.

»O doch, ganz entschieden – sehen Sie doch, Büchner,« er wies auf den Rest der Schnur, »das ist doch nicht solide!«

Büchner verstand nichts von der Sache, prüfte jedoch dem Anschein nach sorgfältig und urteilte: »In der That – sehr wenig dauerhaft.« Ercole war befriedigt. »Und damit wollen Sie Hechte fangen!« rief er geringschätzig.

»Aber das will ich ja gar nicht,« unterbrach ihn sein Kamerad etwas gekränkt.

»Aber man könnte es mit einer geklöppelten Schnur.« –

»Ich hab' sehr gern geangelt – früher,« begann Ercole auf dem Rückwege in die Stadt, als sie wieder allein waren.

»Und jetzt macht es Ihnen keine Freude mehr?«

»Das schon; aber ich habe meine Angel nicht da – zu Haus gelassen!«

»Aber giebt es denn hier keine zu kaufen?«

»O ja; ich hab' mich schon erkundigt. Aber sie sind mir zu theuer. Übrigens so besonders theuer sind sie ja nicht, es kommt eben darauf an, im Gegenteil, sogar recht billig,« besann er sich auf einmal, musterte seinen Begleiter mit einem kurzen, lauernden Blick und guckte nun wieder ganz unschuldig vor sich hin. Büchner hatte wohl verstanden, kaum gelang es ihm ein Lächeln zu unterdrücken. Was das für ein Schlaufuchs war, dieser Jung!

Als sie sich trennten, fragte Ercole: »Kommen Sie morgen wieder zum Fluß?«

»Gewiß – ja, also zur selben Stunde.«

Tags drauf nach der Schule überzählte Büchner seine Barschaft. Es würde reichen, nahm er an, wieviel konnte so etwas denn am Ende kosten. Er fand die Preise niedriger, als er vermutet hatte und wählte aus den vorgewiesenen Gerätschaften alsbald eine Angel im Schraubstock, die ihm recht gut gefiel, sowie eine größere Anzahl künstlicher Fliegen. Von den Schnüren ließ er sich mehrmals versichern, sie wären »geklöppelt« und zwar auf eine äußerst solide Art. Nun zog er mit seinem Einkauf an den Fluß, setzte sich und wartete. Es war Nachmittag, die Sonne stand noch hoch am wolkenlosen Himmel.

Ercole trat nach wenigen Minuten auf ihn zu, bemerkte die Angel sogleich, fragte aber nicht, wo sie herkäme, offenbar glaubte er, Büchner würde ihn aufklären. Als der aber den Unbefangenen spielte und von anderen Dingen zu reden begann, unterbrach er ihn: »Gehört das Ihnen?« und wies hin.

»Ach so – die Angel –« schien Büchner sich zu erinnern, »nein, die hab' ich für Sie gekauft.«

Ercole that sehr verwundert. »Für mich? Aber – aber –«

»Oder ist es Ihnen unangenehm etwas von mir anzunehmen, weil wir uns erst seit gestern kennen?« Er brachte das absichtlich recht kleinlaut vor, wandte den Kopf, lugte aber verstohlen seitwärts.

Ercole stand da, ein wenig verlegen oder freute es ihn nur. Er sah zu Boden und sprach langsam: »Ach nein, eigentlich nicht.« Dann hob er die Augen und fügte hinzu, etwas schlau und ganz überzeugt: »Wissen Sie, ich denk', das kann ja später noch kommen, daß man sich kennen lernt.« Und er lachte, stützte seine beiden Hände auf Büchner's Schultern, küßte ihn rasch und kurz auf den Mund und rief: »Also ich danke sehr.« Am Abend sandte er noch einen kleinen Zettel in die Pension Rotström, um seine Dankbarkeit noch einmal zu versichern.

Nach ein paar Tagen fanden sie sich wieder allein am Fluß. Ercole hatte sich gebadet und stand da, nackt vom Scheitel bis zur Sohle, als Büchner auf ihn zutrat. Ob er so bleiben würde, mir zugekehrt, wenn er wüßte, wie er mir gefällt – dachte Büchner und starrte wortlos und verwundert auf den Körper im Sonnenlicht vor sich. Stiller Nachmittag ruhte über dem Ufergesträuch, bisweilen kräuselte ein jäher Windstoß den Wasserspiegel, dann sträubte sich's wie ein zartes Fell und huschte ringelnd gegen den Strom.

Sie plauderten. Ercole zog gemächlich Stück für Stück wieder an, nur Schuh und Strümpfe und sein Rock blieben liegen, er wäre so faul am heißen Tage.

Eine Weile strich so hin, dann rangen sie im Übermut. Büchner brachte seinen Gegner zu Fall, griff dann schnell zu und bog die Arme des Gestrauchelten links und rechts gerade auseinander, daß Ercole wie gekreuzigt im weichen Grase lag und keine Muskel mehr an ihm sich rührte. Büchner sah ihm ins Auge, ganz nahe, spürte seinen heißen, schnellen Atem und sog ihn tief ein, zusammen mit einem Dunsthauch frischen Wassers, den ihm der warme Körper entgegenstrahlte. Und er warf sich plötzlich auf ihn, sein Antlitz mit Küssen überdeckend, während Ercole die Hände im Nu über Büchner's Rücken zusammenschlug und sie faltend ihn an sich preßte.

Nach ein paar Sekunden ließen sie von einander und standen eilfertig auf. Ercole brach das Schweigen ganz unbefangen. »Warum liebt man sich zuweilen auf einmal so?« fragte er. »Ich hab' das schon einmal mit einem andern gehabt, wir wollten auch sehen, wer stärker ist. Aber es war nicht so herrlich wie mit dir. Kanntest du so etwas schon?«

Büchner antwortete zögernd, lächelnd: »O ja – aber nicht oft. Es war auch niemals so wie mit dir – so –«

»Schön?«

Büchner nickte. Am liebsten wären sie sich gleich wieder in die Arme gefallen. Aber sie wußten nicht recht – wie denn eigentlich? Sollten sie noch einmal ganz von vorn anfangen? Mußten sie sich zuerst wieder herumbalgen?

Büchner gefiel alles an seinem neuen Freunde, sein ganzes Wesen, diese ihm so fremde, erstaunlich offenherzige Art sich zu geben, der Wechsel in seinem Gebahren, von einem beinahe trotzig, schweigsamen Gleichmut bis zu plötzlich aufsprudelnder Fragseligkeit. Selbst seine knabenhafte Herrschsucht gefiel ihm. Jede gemeinsam verlebte Stunde ließ ein zärtliches, warmes Gefühl in ihm stärker werden und er sehnte sich nicht mehr fort nach Hause aus der Stadt, wie in früheren Tagen so oft. Der Umgang mit seinen anderen Bekannten ward ihm geradezu lästig, aus der dumpfen Klasse zogen seine Gedanken zu ihm hin, er konnte sie nicht fesseln an die Bücher. »Weißt du,« sagte er ihm einmal, »wenn es in der Schule recht langweilig ist, dann denk' ich immer an dich.« »Mir geht es ebenso,« meinte Ercole.

Die Kameraden Büchner's wunderte es, daß man den Beiden so oft Arm in Arm begegnete. Was bei allen Himmeln konnte es für Berührungspunkte zwischen dem Primaner Büchner und dem Tertianer Tomei geben? Und auch den Oberlehrer Rotström befremdete sichtlich dieser Verkehr, schwieg er auch für's erste noch. Büchner war klug genug zu begreifen, daß es notwendig wurde, die Freundschaft den Augen der Welt zu entziehen. Aber wie?

Eine andre Frage beschäftigte Ercole hingegen. Daß ihr häufiges Beisammensein auffiel, empfand er keineswegs unangenehm, im Gegenteil, der einmal gefundene Anschluß an die Prima sicherte ihm eine durchaus ehrenvolle Stellung in seiner Klasse. Doch über der neuen Freundschaft war er der schlechte alte Schüler geblieben, sein Hausvater, auch ein Oberlehrer, überschüttete ihn mit Strafarbeiten und beschnitt seine freie Zeit auf eine unerhört rücksichtslose Art. Wenn das so weiter ging, wie eigentlich sollten sie zusammen kommen?

Sie trafen sich, jeder in Gedanken bei seiner Sorge, beide höchst unzufrieden mit dem Lauf der Dinge. »Weißt du,« begann Ercole, »in der nächsten Zeit werden wir uns wahrscheinlich gar nicht sehen. Mein Futterpapa ist nämlich blödsinnig geworden, drei ganze Tage darf ich nicht ausgehen, wegen Faulheit.« – »Aber das kann ich gar nicht aushalten, drei Tage ohne dich,« rief Büchner enttäuscht.

»Ja ich auch nicht – das ist es eben. Also es muß ein Ausweg gefunden werden. Weißt du einen?«

»Nein – und du?«

»O ja,« antwortete Ercole gedehnt. »Ich habe mir schon einen Plan gemacht. Es gehört nur etwas Mut dazu. Wir treffen uns ganz einfach bei Nacht.«

»Aber wie denn das?«

»Ganz einfach, ich klettere zu dir ins Fenster hinein. Du schläfst ja allein im oberen Stock, ich wohn' parterre und kann ganz leicht heraus und wieder zurück. Durch die Straßen werde ich schon unbemerkt kommen – so zwischen zwölf und eins. Aber du verstehst doch zwei Laken ordentlich miteinander zu verknoten? Sonst fall ich.«

Büchner schien die Sache höchst bedenklich – wenn man sie dabei ertappte! »Ob das gehen wird?« sagte er langsam.

»Aber warum nicht?«

»Es ist zu gefährlich; außerdem kann man gar nicht, an einer glatten Wand so herauf.« Und er schüttelte geringschätzig lächelnd den Kopf. Aber das kränkte Ercole offenbar ganz besonders. Er sprang auf, ballte die Hände, ein jähes Rot überleuchtete sein Antlitz, der Zorn dämpfte seine Stimme und er versuchte immer wieder von Neuem verletzende, beschimpfende Ausdrücke zu finden, wiederholte aber schließlich nur: »Wie du feige bist – oh la la – was für ein Feigling.« Büchner glaubte, er würde ihn schlagen, war aber so erstaunt, daß er kein Glied zu rühren vermocht. Nie im Leben hätte er es für möglich gehalten, daß ein Mensch in wenigen Sekunden in so maßlose Wut geraten könnte, er sah ihn starr und bewegungslos an, ohne Sprache und bleich vor Schreck. »Also willst du mich heute nach zwölf erwarten? Wenn nicht, dann ist es aus zwischen uns,« schloß Ercole.

»Mein Gott – was ist Dir denn geschehen?« fragte Büchner endlich, noch immer ohne Fassung.

»Wirst Du mich erwarten von 12 Uhr ab?«

»Nun gut – Du weißt ja, wie ich mich freuen werde, wenn Du kommst – aber warum bist Du auf einmal so furchtbar wütend?«

Ercole antwortete nicht, setzte sich jedoch sofort wieder, erbat sich eine Zigarette und rauchte gelassen und schweigsam. »Vor allen Dingen mußt Du das Laken am Kreuz gut und sicher anbringen,« begann er jetzt ganz ruhig von Neuem und sie erwogen des Näheren, was Alles zu geschehen habe, um den Plan auszuführen.

Nach dem Abendessen zu Hause begab sich Büchner sogleich in seine Stube hinauf, hielt Musterung unter seiner Wäsche und machte sich alsbald an die Arbeit drei Laken fest an einander zu knoten. Er ging leise und behutsam zu Wege, hinter geschlossener Thür im Nebenzimmer saß Oberlehrer Rotström über Schulheften und korrigierte; es hatte neun Uhr geschlagen. Noch drei Stunden also!

Er schob sein fertiges Werk unter anderes Bettzeug in den Schrank zurück, trat ans offene Fenster und lehnte hinaus. Von der Straße schimmerten die groben, mächtigen Pflastersteine zu ihm hinauf, unförmlich, grau, regellos nebeneinander, wie aus dem sandigen Boden herausgepreßt. Kein Wagen, auch kein Fußgänger zog vorbei, gegenüber lag Wiese. Der Schornstein auf dem Gemäuer rechts kräuselte ein Wölkchen Rauch in den Abend, empor zu den matten, seltenen Sternflämmchen. Weit am Saum pfadlosen Landes stand der Wald und zackte seine Kronen deutlich in den klaren Himmel nordischer Dämmernacht.

Von der Stadtseite her scholl gedämpfte Musik, ein warmer Luftzug strich über seine Stirn, er fuhr mit der Hand darüber wie um ihn zu halten und lächelte. Es löste sich in ihm, wuchs und durchleuchtete sein Antlitz wie Freude und Sehnsucht zugleich. Wie anders würde es nun mit ihm zusammen sein. Nun, wo es Abend war, wo die Brust sich aller Schönheit der Welt erschloß, wie dem Glanz silberner Mondesstrahlen ein hoher Park seine Wipfel erschließt, seine einsamen Pfade im Thal und in verborgenstem Winkel tief unten, entrückt allem Tag, seine großen, stillen Blumen, blühend am flüsternden Wasser.

Er lauschte auf und hörte daß der Oberlehrer sein Pult zuschob und sich nach unten begab. Gleichzeitig empfand er jetzt eine Unruhe, die sich in wenigen Sekunden zu einer quälenden Angst steigerte. Wenn das nur gut ablief! Doch die Sache war einmal entschieden, nun galt es sich vor Gefahr zu schützen. Er schlich auf Strümpfen dem Oberlehrer bis über die halbe Treppe nach, blieb dann stehen, hielt sich am Geländer und horchte sich weit vorbeugend ins Dunkel hinab. Geraume Weile verharrte er in dieser Stellung, angespannt aufmerksam bemüht, aus jedem Geräusch, jedem kleinsten Laut da unten herauszuhören, was etwa Außergewöhnliches vor sich ging. Und von jedem kaum vernehmlichen Schall erriet Büchner die Bedeutung – verdächtig schien ihm nichts, die Familie begab sich zur Ruhe, wie sonst immer um diese Zeit. Jetzt wurden die Hunde in den Garten gehetzt, zuerst der große nun der andre, dann ward es ganz still. Er lauschte noch immer. Nach zehn Minuten etwa zweifelte er nicht mehr, das Haus war zu Bett. Warum auch sollten sie heute gerade länger wachen?

Er kehrte in sein Zimmer zurück und entschloß sich nach reiflichem Überlegen seine Lampe anzuzünden. Dann durchschritt er leise die Arbeitsstube des Oberlehrers, öffnete die Thür zur Kleiderkammer und trat ein. Vor dem niedrigen, kleinen Fenster lief ein schmaler Streifen wuchernden Unkraut's wie ein Grenzbächlein zwischen dem Hause Rotström und dem der gleich gegenüber stehenden, toten Rückmauer des benachbarten Bau's bis an die Straße, hier nun mit Brettern verschlagen. Diesen Zaun sollte Ercole überklettern, dann waren es kaum noch zehn Schritte bis unter das Fenster.

Büchner holte die Laken und ging ans Werk. Erst nach längerer Zeit brachte er es fertig, das eine Ende der verknoteten Stücke fest und stark ans Querholz anzuknüpfen; jetzt ließ er die faltige Masse an der Außenwand niedergleiten – es war reichlich gerechnet, der unterste Zipfel berührte beinahe den Boden. Er beugte den Kopf hinaus, von den Gräsern stieg eine frische Kühle zu ihm auf, die gräulich überkalkten nackten Flächen der beiden Häuser schimmerten unruhig herüber und hinüber in der sinkenden Nacht, gleichsam gegen das Halbdunkel des engen Raums zwischen ihnen vorrückend.

Wieder in seiner Stube am Fenster blendete ihn beinahe der Abendhimmel, von dem drüben nur ein Ausschnitt in die klammartige Spalte hinausdämmerte. Er zog die Uhr – erst elf. Noch einmal schlich er sich hinunter über die Treppe und horchte, dann wieder in die Kleiderkammer zurück. Die Laken hingen bewegungslos und schlaff zur Erde nieder, kein Laut aus dem düsternden Schacht, im Hause und von der Gasse her.

Er ging in sein Zimmer und setzte sich an den Tisch vor die brennende Lampe. Ein Nachtfalter hatte sich im Messinggestell verfangen, sein Schatten huschte unruhig an der durchleuchteten, weißglänzenden Kuppel auf und nieder. Es war ganz still.

Büchner wartete. Er erhob sich, trat ans Fenster und lehnte hinaus. Nach guter Weile endlich pfiff Ercole. Er rief ihm leise von oben zu, alles wäre bereit, keine Gefahr.

Nach wenigen Minuten schlich Ercole über den Engweg, faßte das Laken so hoch er konnte und begann sich mit Händen und Knieen langsam herauf zu arbeiten. Büchner hörte ihn mühsam und angestrengt Atem schöpfen, es dauerte geraume Zeit, bis er die Gestalt nun in seine Arme nahm und zu sich hineinzog. »Aber jetzt bist Du müde,« sagte er ihm leise ins Ohr.

Ercole wartete im Dunkeln, währenddeß Büchner, um zu horchen, vorangegangen war. Als nichts im Hause sich rührte, folgte er ihm. Sie setzten sich vor die brennende Lampe ins Sopha, das Fenster zur Gasse ward geschlossen und verhängt. »Was thut's auch, wenn man kommt,« begann Ercole, jetzt ganz sicher geworden, »ich nehme einfach Privatstunden bei dir,« und er steckte sich hinter jedes Ohr eine Bleifeder, griff nach einem Schulheft neben sich und schaute aufmerksam hinein. Als Büchner ihm lachend zusah und wie erstaunt fragte: »Ja, was sollten wir denn auch bei nachtschlafener Zeit hier anderes treiben als studieren?« antwortete er, doch etwas verlegen, aber immer noch Schelm genug: »Ja, das weiß ich doch nicht.«

Büchner blies das Licht aus und umfing ihn, sie flüsterten mit gedämpfter Stimme, dann schmiegten sie sich wortlos, in leidenschaftlicher Inbrunst an einander.

Als sich der Morgen ins Zimmer stahl, Alles noch ohne sicheren Umriß farblos grau im Halbdunkel schwamm, ließ Büchner den schlaftrunken an seine Schulter gelehnten Ercole in die Sophaecke gleiten, schlich ohne Schuhe auf den Zehen ans Fenster, öffnete und spähte hinaus. Vom Felde tönte munteres Schwirren und Singen, ein kühler Hauch wehte über seine Stirn. Daneben aus dem Hof ward das Vieh zur Weide ausgetrieben. Und am Himmel weit am Saum pfadlosen Landes wuchs der junge rothelle Tag.

Ercole hatte sich aus seinem Halbschlummer aufgerichtet und stand nun mitten im Zimmer, Büchner wandte sich nach ihm und sie sahen sich an, verwundert, fast neugierig, musterten sich lächelnd, wie aus einem frohen, seltsamen Traum erwacht, stumm, eine leuchtende Freude in den Augen. Beide dachten sie dasselbe und jeder von ihnen kannte den Gedanken des Andren. Aber Büchner fragte doch, als wäre er nicht sicher: »Also wieder heute Abend?«

Sie eilten in die Kleiderkammer, nahmen Abschied und im Nu war Ercole an der Wand niedergefahren. »Auf Wiedersehen,« rief er leise nach oben. Von der Gasse grüßte er noch einmal mit einer kurzen Armbewegung herauf.

Büchner band die Laken auf und verschloß sie. Es war ihm ganz unmöglich, jetzt gleich schlafen zu gehen, er fühlte sich munter und frisch wie nur jemals im Leben. Er setzte sich wieder auf's Sopha, lehnte den Kopf auf die gekreuzten Arme über den Tisch und verharrte so eine Weile. Dann blickte er auf, stützte das Kinn in den Ellenbogen und ließ seine Augen vergnügt und listig von einer Zimmerecke in die andre wandern. Wahrhaftig, ja, wie früher noch alles nebeneinander! Die ehrwürdigen Möbel, die lederüberzogenen Stühle, der Bücherschrank und die nackten Wände mit dem blaßblauen Tapetenmuster und das Speibecken, dessen schnarrende Klappe man altvaterisch von oben aufdrückt. Aber das sah nun alles nicht mehr so grau und langweilig aus – er war ja hier gewesen und würde wieder hier sein, heut' Abend noch und wieder und wieder.

Ein toller jubelnder Übermuth erfaßte ihn. Er schlug die nächste beste Grammatik auf, griff mit den fünf Fingern hinein und riß sie wieder zurück, daß der Einband in allen Fugen krachte und die ganze verknüllte, halbzerfetzte Papiermasse nur noch an einer Klammer an den Deckeln baumelte. Er schämte sich seiner Thorheit und um an den bubenhaften Streich nicht mehr erinnert zu werden, stopfte er den raschelnden Blätterhaufen wieder zusammen, klappte notdürftig zu und schleuderte das Bündel mit kühnem Wurf aus dem Fenster in den kleinen Gemüsegarten über der Gasse drüben, daß die Spatzen am Boden entsetzt zum leuchtenden, klaren Morgenhimmel ausschwärmten.

Übrigens war es immer kein leichtes Stück, sich an einer glatten Wand so heraufzuschieben und Büchner schlug vor, die drei Laken, ihre »Notleine,« wie sie's abgetauft hatten, durch eine kunstgerechte Strickleiter zu ersetzen. Was man brauchte ward zusammengekauft, der größeren Vorsicht wegen in verschiedenen Läden, um in der Stadt nicht aufzufallen und während der nächsten Nächte kauerten sie heimlich und fleißig über der Arbeit, die geflochtenen Sprossen – ihrer zehn reichten hinlänglich aus – an die Seile zu schnüren und an den Enden je rechts und links die zwanzig Knoten in feinen Silberdraht einzuspannen. Von nun an gelangte Ercole ungefährdet zu Büchner hinein und heraus und rings die kleine Welt schien nichts von diesen Besuchen zu ahnen.

Auf der Straße oder sonst etwa in Gesellschaft der Schüler, erheuchelten sie ein höchst gleichgiltiges Wesen im Verkehr miteinander, nur mühsam ihre Freude am täuschenden Spiel verbergend. Übrigens sahen sie sich nicht oft, wenn nicht bei nächtlicher Weile im stillen Zimmer oben; auch an der gemeinschaftlichen Morgenandacht nahm Ercole als Katholik nicht mehr Teil, seitdem der römische Priester des Ort's, nach kurzer Krankheit genesen, das Schulgebet für seine Glaubensgenossen wieder abhalten konnte. Einmal streifte ihr Gespräch religiöse Fragen und da setzten Ercole's kindliche Ansichten Büchner in Erstaunen; ihm als überkühlen, in nordischer Einfalt auf seine »Aufgeklärtheit« knabenhaft stolzen Protestanten erschien diese Frömmigkeit, diese knieende Ehrfurcht vor allen Dogmen der ewigen Kirche, diese unbedingte Heiligenverehrung viel weniger unsinnig und albern, sondern als eine ganz unverständliche, gespenstische Macht, von der er Zeit seines jungen Lebens nicht geahnt hatte, daß sie seit dem Jahre 1519 noch irgendwo in der Welt wirksam bestand. Doch war mit Ercole nicht zu reden, der für den Ketzer nur ein stummes, grenzenlos hochmütiges Lächeln übrig hatte.

Ercole faßte bald ein warmes Vertrauen zu seinem Freunde und brach das Schweigen, das er bisher über seine Herkunft beobachtet hatte. Büchner erfuhr, daß er der natürliche Sohn eines Italieners und einer Friesin war; sein Vater müsse ein grand seigneur gewesen sein oder ein monsignore, seinen Namen kenne er nicht und habe ihn nie gesehen, wie auch seine Mutter nicht, die im Wochenbett gestorben sei. Die Schwester seiner Mutter ließe ihn in deutschen Landen erziehen, lebe aber selbst in Florenz, wo er bei ihr im Hause jedesmal die Schulferien verbringe. »Eigentlich ist es doch was ganz Besonderes und eine Schande, wenn man außerehelich geboren ist,« meinte Ercole nachdenklich, »deshalb bin ich ja auch frommer als andere Menschen, aber ich weiß nicht wie es kommt, daß ich meine sündhafte Abstammung immer ganz vergeß', zuweilen fällt es mir wochenlang gar nicht ein. Würdest du immerfort daran denken?« fragte er plötzlich und sah Büchner sehr gespannt und aufmerksam ins Gesicht. »Aber nein, gewiß nicht,« gab der lächelnd zur Antwort, »das würde ich nicht, mein lieber Ercole.«

Das Semester ward geschlossen und sie mußten sich für den Sommer trennen. Beim Abschied auf dem Bahnhof sprachen sie wenig, nur wiederholte jeder ein paar mal: »Also nach zwei Monaten.«

Unterwegs war Büchner ganz anders zu Mut, als sonst auf der Heimreise. Doch bei der Ankunft zu Hause, als seine einsame alte Mutter ihm entgegentrat, freudig still bewegt ihn wiederzusehen und sogleich an tausend kleinen Dingen für ihr Kind Sorge tragend sich leise-geschäftig um ihn rührte, fühlte er sich wohl und zufrieden.

Aber nach wenigen Tagen schon empfand er eine Unruhe, er war so allein an den altgewohnten, vertrauten Stätten – könnte er sie ihm doch zeigen seine geliebten Wege draußen im Walde und den Blick zur Abendzeit auf die überwölkten, dämmernden Felder. Und später würden sie dann, wenn die Nacht wuchs, gemeinsam in die entlegene Niederung aufbrechen, um am Fluß vor der gesenkten Angel zu wachen. Fiel sein Auge auf den neuen, blitzenden Flügel im Saal, so dachte er immer dasselbe; Ercole wäre so froh sich auf ihm zu begleiten, wenn er sang.

Früher einmal hatte sich Büchner in ein Mädchen verliebt und sich nach ihr gesehnt, als er fern von ihr weilte. Aber das war nichts weniger als ein qualvoller Zustand gewesen, nur eine süß-wehmütige Träumerei, die einen um Mitternacht in festen, langen Schlaf wiegte.

Am Lesen wissenschaftlicher Bücher fand er keinen Gefallen wie sonst abends; Ercole würde ja nicht kommen zur gewohnten Stunde, daß man doch wußte, wann das Buch zuschlagen, um seinen leisen Pfiff besser zu erhorchen.

Er schrieb zuerst, Ercole antwortete auch recht bald auf vier ganzen Seiten über sein Leben in Florenz, über alle Welt und nichts plaudernd. Erst in einem kurzen, zärtlichen post scriptum erkundigte er sich nach den Schicksalen des Freundes. In den nächsten Briefen entdeckte Büchner zu seinem Erstaunen eine ganze Menge grammatischer Fehler. – Ercole konnte doch vollständig reines Deutsch, vergaß er die Sprache wirklich so schnell während seines kurzen Aufenthaltes in Italien? Allmählich wurden seine Nachrichten weniger ausführlich, Büchner empfand, daß es ihn langweilte zu schreiben. Vergaß er auch ihn? Bisweilen hatte er zu bemerken geglaubt, daß Ercole unbewußt seine Stellung zu allen Personen fortwährend aufgab und anderes wieder neu einnahm. War das nur knabenhafte Unrast? Er selbst schien nichts von diesem ewigen Wechsel in sich zu ahnen. War das ein Zeichen von Oberflächlichkeit, wenn man so wenig Gedächtnis besaß?

Endlich begann das Semester und sie sahen sich wieder. Ganz zuerst in Gegenwart anderer Schüler auf der Straße fühlten sie eine gewisse peinliche Befangenheit, doch als sie sich in einem kurzen, prüfenden Blick begegneten, wußten sie's gleich, daß sie noch die alten Freunde waren. Und die Strickleiter, die sich unversehrt in der verschlossenen Truhe wiederfand, ward nach wie vor abends ausgehängt und frühmorgens eingezogen.

Ein paar Wochen verstrichen, als Ercole auf einmal ganz freimütig erzählte, er habe die Liebe einer Ladenmamsell gewonnen und ein ordentliches Verhältnis mit ihr. Allerdings könnten sie nur Sonntags zusammen sein, der Prinzipal wäre ein neidischer, erbärmlicher Hallunke. Und er tischte eine ganze Menge so abenteuerlicher Einzelheiten auf, über Orte, an denen sie sich träfen und über die höchst merkwürdige Person dieses Mädchens, daß Büchner glaubte, er sollte geneckt werden und sich Mühe gab gleichgiltig und nichts weniger als neugierig zu scheinen. Heimlich aber forschte er nach und als er entdeckte, daß etwas an der Sache war, fragte er: »Also du liebst sie mehr als mich?« – »Aber nein!« rief Ercole ganz überrascht, daß einem so etwas einfiel, »das ist ja nur so ganz nebenbei, mir liegt weiter gar nichts an ihr. Übrigens reist sie in den nächsten Tagen mit dem scheußlichen Prinzipal fort und wird nicht mehr zurückkommen.«

Und so war's auch und damit der Zwischenfall erledigt.

Wieder nach einigen Wochen erzählte Ercole, der offenbar Geschmack dran fand, Büchner eifersüchtig zu machen, daß einer der jüngeren Oberlehrer ihn ganz besonders bevorzuge, namentlich während der Privatstunden in seiner Wohnung wäre er sehr zärtlich und küsse ihn in einem fort, sie schlügen Ciceros » de senectute« überhaupt gar nicht auf, sondern unterhielten sich nur so recht munter und angenehm. Etwas später erfuhr Büchner zufällig, daß der betreffende Oberlehrer diese Privatstunden ganz plötzlich abgebrochen und Ercole aus der Klasse nach Hause geschickt hatte, mit einem Zettel, auf dem im hier gebräuchlichen gymnasial-lapidar Styl zu lesen stand: Der Tertianer Tomei ist faul und unverschämt. – Ercole hatte sich wohl in Gegenwart seiner Kameraden, um zu imponieren, etwas viel herausgenommen und der geängstigte Schulmann auf verbotenen Wegen nicht anders aus der Klemme zu helfen gewußt.

Bei nächster Gelegenheit fragte Büchner, außer Stande seine Zufriedenheit und einen leichten Hohn zu verbergen: »Nun was macht der Cicero? Liebt er dich noch so, dein lateinischer Freund? Was? Wie ist's dir denn neulich ergangen?«

Aber Ercole verstand keinen Scherz, wenn seine Eitelkeit im Spiel war, er geriet in Wut und ward tüchtig ausfahrend und es kostete Büchner Mühe genug, ihn wieder zu versöhnen.

Mit dem Schluß des Semesters zu Weihnachten hoffte Büchner sein Examen zu bestehen und wollte dann sogleich eine Universität beziehen, um alte Sprachen zu studieren. Sie würden sich trennen müssen, falls Ercole noch länger auf dem Gymnasium blieb. Aber Büchner riet ihm nicht dazu, weil er darin klar sah, daß Ercole nicht das geringste Interesse für irgend eine Wissenschaft besaß und dann, weil er von seinem musikalischen Talent fest überzeugt war und ihm eine Ausbildung nach der Seite in diesem Fall das Beste schien. Den ersten seiner Gründe führte er gar nicht an. – Ercole hätte ja niemals zugegeben, daß er, wenn er nur wollte! nicht auch ein großer Gelehrter werden könne, – doch mit desto größerem Erfolge den anderen, Lust und Liebe zur Kunst waren bald geweckt. »Du hast ganz recht,« entschied er sich, »ich habe wirklich Talent und Stimme und außerdem ist es auch zu langweilig, allein, ohne dich in dieser dummen Stadt.«

Die Tante in Florenz wurde mit ungestümen Briefen überschüttet, bis sie denn schließlich dem Plan zustimmte. »Es ist nur Eines« sagte Ercole, sie giebt mir nicht mehr als 130 Lire für den Monat – ist das auch genug um zu leben?« – »Nun, verhungern werden wir doch nicht« meinte Büchner, der sicher war, während seiner Studienzeit über einen guten Wechsel verfügen zu können.

Die nächsten Wochen verlebten sie in Gedanken und Gesprächen immer wieder eine frohe Zukunft ausmalend recht glücklich mit einander, sahen sie sich auch nicht allabendlich wie sonst, da Büchner sehr eifrig zum Examen arbeitete. Nur einmal kam es zum Streit; Ercole war zu Zeiten von einer ganz maßlosen, unnützen Neugierde geplagt und hatte sich plötzlich in den Kopf gesetzt, Büchner dürfe vor einem Freunde wie ihm keine Geheimnisse haben und müsse ihm alle Briefe zeigen, die er nach Haus' an seine Mutter schriebe. Aber der erklärte diese »Idee« für höchst »geschmacklos« und wollte nicht, und Ercole spielte den Gekränkten, bis er seine Rolle nach ein paar Tagen glücklich vergaß.

Mitte Januar trafen sie sich in Wien. Obgleich Beide voll Schaulust zum erstenmal in einer großen Stadt waren, fanden sie doch Zeit genug um zu arbeiten, Ercole namentlich kam ungemein rasch in seiner Kunst vorwärts. Zu Ostern blieb er in Wien, Büchner reiste heim.

Als er jedoch nach einigen Wochen wiederkehrte, trat ihm Ercole entgegen – ein ganz andrer Mensch: merkwürdig geziert in seinem Wesen, stutzerhaft gekleidet, perlgraue Handschuhe mit grünen Raupen an den Händen; bisher hatte er nie welche getragen. Er gehörte zu einem Kreise junger Leute, die sich bei seltsamen, immer griechisch ausklingenden Spitznamen riefen, größtenteils Musiker mit langen aber sorgfältig durchgekämmten Haaren. Büchner bemühte sich auch in diesen Verkehr zu treten, doch nur einer einzigen ihrer geselligen Zusammenkünfte bedurfte es, um die Hohlheit dieser Leute zu erkennen.

»Ich begreife Dich gar nicht, was Du eigentlich an diesen faden Menschen hast!« begann er aufgebracht, als sie allein waren.

»Ja, ich sollte mich wohl von ihnen losmachen« gab Ercole zu und fuhr dann in kläglichem Ton fort: »Aber es gelingt mir nicht, ich kann der Schmeichelei nicht widerstehen, ich bin zu schwach und sie sind alle so gut zu mir und laufen mir nach, das gefällt mir so. Außerdem ist es sündig und ich werde gewiß in die Hölle kommen. Aber was soll ich thun als beten!«

Büchner wußte, daß er über die Religion nicht »spötteln« durfte und erwiderte also ernsthaft: »Gewiß, lieber Ercole, aber beim Beten muß doch auch irgend etwas herauskommen!«

»Aber ich fall' immer wieder in die Netze des Teufels, das ist es; Schulden habe ich auch.« Er seufzte.

»So. Wieviel?«

»400 Gulden. Ich weiß gar nicht, wer die bezahlen wird!«

»Da deine Tante dir nur 130 Lire im Monat schicken kann, weißt du das ja ganz genau. Warum also diese unschuldvolle Frage?«

Ercole wurde verlegen und sah ganz befangen drein, atmete aber gleichzeitig auf, wie von einer peinlichen Sorge befreit. Büchner mußte lächeln über diese beschämte Miene zusammen mit dem fröhlichen Atemzug und ward seinem Bösewicht schnell wieder gut. »Weißt du,« begann er, »Wien gefällt mir nicht mehr, meine Kollegiengelder hab' ich noch nicht bezahlt, wollen wir doch wo anders hin, zum Beispiel nach München, am Konservatorium da wirst du ja schon einen guten Lehrer finden.«

Ercole ging sehr vergnügt auf den Vorschlag ein und sie packten ihre Koffer und reisten anderen Tages nach München.

In der Hahnengasse fanden sie auf demselben Flur zwei hübsch möblierte Zimmer und mieteten Thür an Thür. Ercole trat nach einigem Überlegen in die Musikschule ein und beide arbeiteten nun recht fleißig jeder für sich. Abends waren sie zu Hause oder saßen auch wohl mit andren Bekannten bei Bier und Wein.

In einsamen, nachdenklichen Stunden fühlte Büchner, wie sein ganzes Wesen allmählich mit dem Freunde verwuchs. Daß er wohl auf der Hut sein mußte, der Sitte wegen ängstlich geheim zu halten, was ihn an Ercole schloß, was ihn glücklich machte, was ihm seine Lebenskraft gab – die Leidenschaft, mit der er liebte – das focht ihn nicht an. Im Gegenteil, ergingen sich gelegentlich die Leute in behaglichem Geschimpfe über das »Unnatürliche«, wie sie es nannten, so hörte er ihnen still und vergnügt zu »wie Blinden, die über die Farbe reden«, eine Farbe, die er gesehen hatte und zugleich den goldenen Sonnenschein auf ihr spielen.

So verbrachten sie fast ein Jahr miteinander, als Büchner merkte, daß Ercole zu Zeiten seine Gesellschaft mied. Und bald gestand er auch, er sei in eine Musikelevin verliebt und da sie im selben Hause oben wohne, hatten sie bereits Mittel und Wege entdeckt, nächtlich zusammen zu kommen. Es sei übrigens gar nichts Besonderes, so etwas, meinte er, und sei der Lauf der Welt, sie würden ja deshalb immer Freunde bleiben – ganz genau so wie früher. Aber Büchner wollte das nicht, er konnte mit Niemandem teilen, der Gedanke erschien ihm unerträglich peinigend, daß ihm Ercole seine anschmiegende Zärtlichkeit wie früher in langen, glückseligen Stunden schenken sollte, um dann am nächsten Abend zu einem Mädchen zu laufen.

Ein quälender Unmut stieg in ihm auf; warum war er gerade so ein Mensch, dessen Neigung immer in gleicher Stärke fortlebte, so einer, der treu sein mußte, bei dem das nicht ging und kam wie bei Andren, denen es ja auch möglich wurde in ihrem Fühlen für eine Person eine Zeit lang auszusetzen, um ihr dann oft nur nach einer kurzen Tagesfrist wieder ganz ebenso gegenüber stehen zu können, wie Ercole von sich behauptete? Warum blieb gerade sein ganzes Empfinden dem Wesen eines Einzigen unlösbar angegliedert?

Er entfremdete sich Ercole durch ein angenommenes schroffes Gebahren und ließ sich von einigen Bekannten überreden in ein Korps einzutreten. Im Trubel des studentischen Lebens auf der Kneipe an langausgedehnten Abenden bei Gesang vor dem steinernen Kruge, vergaß er denn auch; was ihn umgab, war ja Alles so neu. Aber mochte er auch noch soviel getrunken haben, unterwegs nach Hause fühlte er seinen Rausch jedesmal verfliegen. Er fürchtete sich, an der Thür vorbei, am Zimmer, wo Ercole nicht einsam war, wie er. Diese Augenblicke im Flur wurden ihm so qualvoll, daß er oft irgendwo im Hotel schlief. Schließlich mietete er sich ein zweites Zimmer am anderen Ende der Stadt, nur um dort zu nächtigen, nur um diesen peinigenden Momenten auf der Treppe zu entfliehen. Wirklich umzuziehen, dazu entschloß er sich nicht, seine Habseligkeiten verblieben allesammt in der Hahnengasse.

Um wieder eine Annäherung herbeizuführen, lud ihn Ercole einmal zu sich auf's Zimmer ein, das Mädchen würde auch da sein, man sollte doch zusammen Abendbrot essen. Aber Büchner lehnte rundweg ab und meinte, diese Musikelevin wäre eine ganz ordinäre Hure. Das nahm ihm Ercole tüchtig übel.

Büchner überwarf sich alsbald mit seinen Commilitonen, trat aus der Verbindung aus und hatte zwei Säbelduelle auszufechten. Nach einem kurzdauernden Verhältnis mit einer Tänzerin geriet er in einen Kreis deutscher Rußländer, die viel und leidenschaftlich spielten und fand an der Karte eine neue, ihm höchst willkommene Zerstreuung. Untergetaucht in einem Leben, dessen Sinnlosigkeit er wie einen innerlichen Stich fortwährend empfand, erreichte ihn die Nachricht vom Tode seiner Mutter. Ercole wollte ihm etwas Gutes und Freundliches sagen, ihm zusprechen, als er aber diesen stummen, thränenlosen Schmerz sah – er wußte wohl, wie Büchner sie geliebt hatte – brach er in seinem Mitgefühl selbst in so leidenschaftliches Weinen aus, daß am Ende Büchner der war, der trösten und beruhigen mußte.

Beim Abschied war aller Groll in ihm versöhnt, was in der Welt blieb ihm denn jetzt, als Ercole!

Weitläufige Geschäfte fesselten ihn monatelang an den Besitz, der nun ihm gehörte. Entschlossen, seine Studien nicht aufzugeben und ganz ohne Verständnis für Landwirtschaft, beabsichtigte er ihn zu veräußern. Doch gelang es ihm damit nicht so schnell, als er wohl gewünscht hätte, denn, selbst ohne einschlägige Kenntnisse, fehlte es ihm an einem zuverlässigen Berater und er mußte fürchten, von herandrängenden Unterhändlern übervorteilt zu werden.

Ercole schrieb ihm bald sehr stolz und ganz ausführlich, er habe die Schlußprüfung in der Musikschule mit besonderer Auszeichnung bestanden und würde nun nach Paris gehen, wo er sich mit andren Künstlern zusammenthun wolle, um eine Konzert- tournée für Amerika zu arrangieren. Es hätte aber noch Zeit bis zur Abfahrt von London nach New-York, Büchner solle nur gleich aufbrechen, damit sie noch ein paar Wochen in Paris zusammen wären.

Und Büchner, müde seiner verwickelten Angelegenheiten, voll Ungeduld den Freund wiederzusehen, schlug das Gut los, am Ende zufrieden, mit seinen Zinsen auskömmlich und sorgenfrei leben zu können, und reiste ab. Gleich in der ersten Stunde, unter grünendem Laub über den boulevard des Capucines schlendernd, vertraute ihm Ercole an: »Hörst du, du mußt nicht glauben, daß ich meine Elevin oder etwas Ähnliches mitgebracht habe, nein, ich bin jetzt nur für dich da, ganz allein für dich!«

»Bis du nach Amerika losziehst!«

Ercole hörte die Bosheit aus den Worten nicht heraus, glaubte, er würde gefragt und antwortete ganz naiv, bereitwillig und nachdrücklich versichernd: »Ja, das verspreche ich dir, bis ich nach Amerika geh'.« Dabei schaute er so froh aus, als hätte er recht was Angenehmes und Freundliches gesagt, so daß Büchner über das Mißverständnis ohne Unmut auflachte, nach Ercole's Hand griff, sie streichelte wie die eines Kindes und den Kopf schüttelnd ausrief: »Bist du wohl ein Jung'!«

Als sie sich getrennt hatten, und Büchner wieder nach Deutschland zurückgekehrt war, kam er sich namentlich in der ersten Zeit wie von aller Welt verlassen vor. Und doch mied gerade er die Menschen, bog ihnen aus auf allen Straßen, um nur seiner Arbeit zu leben und in seinen Mußestunden, die Gedanken weit über Land und Meer sendend, ungestört in Träumen und Wünschen auszuschweifen.

Wie er Ercole nach einem Jahr in Rom wiederfand, überraschte ihn seine äußere Erscheinung. Aber er verstand nicht recht, warum. Ganz wie früher doch, die ebenmäßige, ausgeglichene Gestalt, der feine Kopf und der dunkle, scharf zuspähende und doch kindlich freundliche Blick und die weichen, sonnverbrannten Knabenhände; die makellose Haut leuchtete vielleicht um einen Ton bräunlicher. Erst nach einigen Tagen wußte er, was ihn in den ersten Minuten ihres Beisammensein's so erstaunt hatte: Ercole sah kräftiger und muskulöser aus und – jünger. Das kam Büchner so wunderbar vor – aber nein, er täuschte sich gewiß nicht – kräftiger und jünger.

Auch Ercole's Wesen fiel ihm auf, er war nicht offenherzig und geradezu wie sonst, namentlich in Gesellschaft suchte er sich eine gewisse vornehme Zurückhaltung anzugewöhnen, ein wenig den »Berühmten« herauszukehren, was ihm natürlich sehr schlecht zu Gesichte stand, zum blutjungen Burschen so gar nicht paßte. Es war ja wohl ganz erklärlich, daß schnelle künstlerische Erfolge einen so eitel machten, aber Büchner berührte diese Unaufrichtigkeit, dieses den Gleichgiltigen spielen und dabei gierig nach Lob haschen und allen Tadel als ungerecht und böswillig empfinden, trotzdem ebenso peinlich, wie die Art sich mit der gewollten, mühsam ausgeklügelten Nachlässigkeit des histrio zu kleiden. Das sagte er denn Ercole einmal und neckte ihn; aber der begriff gar nicht, was da merkwürdig und seltsam und am Ende gar lächerlich sein sollte. »Wovon sprichst du eigentlich, mein Lieber? Alle Musiker sind so, das gehört eben zu unserem metier. Siehst du das wirklich nicht ein?«

Eines Tages teilte ihm Ercole mit, etwas langsam und zögernd, er hätte sich mit einem jungen Mädchen aus Norddeutschland verlobt. Büchner's Stolz ließ ihn die Nachricht ruhig hinnehmen, er erniedrigte sich nicht durch Bitten, wußte er doch, daß alles Reden vergeblich war, wenn Ercole sich einmal leidenschaftlich verliebte.

Ihn fror beim Gedanken an die kommenden Jahre, an diese Einsamkeit. Nur die Hoffnung tröstete ihn, die Frau würde vermögen, was er nicht vermochte, Ercole vor einem ausschweifenden Leben zu behüten, in dem er seine Gefühle und Kräfte vergeudete.

In ihr glaubte er bald ein ganz gewöhnliches hübsches Weib zu entdecken, gutherzig und herrschsüchtig, edler Regungen nicht unfähig, aber seichten Gemüts. Den eifersüchtigen Haß, den sie ihm einflößte, suchte er gewaltsam zu dämpfen. Er bemühte sich kein ganz oberflächliches Verhältnis mit ihr zu haben, galt es doch später einmal durch sie auf ihn einzuwirken. Denn das wußte er wohl, daß er ihn ebenso lieben würde wie früher, auch jetzt noch, wo ihre Freundschaft in allen Äußerungen kälter und farbloser werden mußte, bis sie nach der Heirat fast als Fremde gegenüber treten sollten. So nämlich wollte es Büchner, das verlangte die Ehrfurcht vor dem Altar.

Daß Büchner gerade in dieser Zeit sein Doktorexamen zu bestehen hatte, bot ihm erwünschten Anlaß, sich unauffällig allen Hochzeitsfeierlichkeiten zu entziehen und ein paar Tage vor der Trauung nach Deutschland aufzubrechen.

Die Neuvermählten schlugen ihren Wohnsitz in Berlin auf, und dorthin siedelte auch Büchner über, um an seiner Seite zu leben, zu aller Hilfe bereit. Kraft maßte er sich genug an, sich nicht zu verraten, seine seltene Gegenwart im Hause des jungen Paar's sollte auch nicht wie ein leiser Schatten zwischen die Beiden fallen. Und wo anders in der Welt bleiben? Und erwuchs nicht auch aus bracher Scholle im Garten oft eine duftende Blume? So neben dem Geliebten zu gehen auf allen seinen Wegen ihn schützend, daß er's nicht spürte, in steter, leiser Sorge um ihn bemüht, daß er's kaum ahnte, war das nicht mehr als ein Entsagen? Gleich einer heimlich rauschenden Quelle die Wurzeln seines Wesens zu tränken – war das nicht mehr?

Nur während einer kurzen Spanne Zeit alltäglich weilte er bei ihnen, sonst menschenscheu vor seinen Büchern, in wissenschaftlicher Arbeit versunken draußen in der Vorstadt zu Haus! Anfangs besuchte ihn Ercole zuweilen, aber Büchner empfand ein längeres Alleinsein mit ihm peinlich – wie auf einen fernen, kühlen Stern wollte er zu ihm hinüberblicken – und bat ihn, er möchte doch lieber nicht kommen. Ercole that etwas befremdet – er schien nicht zu begreifen, doch ward er nicht unmutig und blieb ganz gehorsam aus. Und wenn Büchner regelmäßig des Nachmittags zu ihm in die Wohnung trat, eilte er ihm entgegen und begrüßte seinen Gast freundlich, wenn auch ein wenig gezwungen und unsicher jedesmal mit einer versteckten Frage im Auge.

Bis zu einem gewissen Grade gewann er es lieb, dieses Leben einer stillen rastlosen Thätigkeit. Nur bisweilen, einsam vor dem glühenden Kamin in trägen Winternächten packte es ihn an und die tröstende Gewißheit, Herr über sich zu werden, verwandelte sich in etwas ganz anderes, in einen sehr stechenden Zweifel – wozu Herr über sich sein? Dann bohrte er das Auge in die grünlichen Zitterflämmchen über den roten Kohlen – wie sank doch auf Alles, was ihn der Zukunft so freudig entgegengetrieben, bei jedem Schritt weiter ins Leben, grauer, lähmender Nebel und hüllte die Farben, die ihm gewinkt, in seinen festen Mantel.

Was ihn als das Schwerste in solchen Stunden anfiel, er wußte, daß der Geliebte nicht ahnte, wie es in ihm aussah, hatte erkannt, daß Ercole diese Kälte nicht mehr als ein mühselig Stück Vollendung in der Schauspielkunst empfand, sondern mit der Zeit ganz ehrlich zur Überzeugung kam, Büchner fühle anders für ihn als früher.

Ihm sagen, wem er noch jetzt sein Bestes schenken wollte, wenn er könnte, zu ihm sprechen zu dürfen von seinem Elend – das ging nicht.

Ercole hörte jetzt mehr auf ihn und ging ihn während dieser Jahre einer kühleren Freundschaft häufiger um Rat an als sonst. Warum eigentlich? Warum vertraute er Büchner nun mehr, als damals in früheren, wärmeren Tagen?

Als gute alte Bekannte Büchner nach längerer Trennung wiedersahen, meinten sie einstimmig, er hätte sich sehr verändert. Sein Wesen wäre ernster, stiller und ruhiger, geschlossener. Seine Ausdrucksweise und Sprache merkwürdig hart und klar. »Du bist so vertieft, so spießbürgerlich,« sagten sie aus. »Ja, meine Lieben, so pflegt es zu gehen,« antwortete er einfach lächelnd.

3.

Wie er in Großlichterfelde aus dem Wagen stieg, trieb ihm flüchtiger, wirbelnder Schnee ins Antlitz, der Wind sauste kalt und trocken von den Feldern. Er kannte den Ort wenig und ging irr; keiner Menschenseele begegnete er auf den finsteren breiten Gassen, die Uhr mochte acht sein, weiß Gott, wie den rechten Weg zu finden. Eine dichte Flocke schlug ihm gerade ins Auge, er kniff die Lider zusammen und wollte stehen bleiben, um die Tropfen an den juckenden Wimpern in seinen Ärmel zu wischen, stolperte aber über einen Hund am Boden, glitt aus und fiel. Das Tier heulte auf und verschwand in der Dunkelheit. Büchner erhob sich, er hatte keinen Schaden genommen, doch der Schreck saß ihm noch eine Zeitlang in den Gliedern: überhaupt war ihm nichts peinlicher, als unvermuthet zu fallen.

Lieber nach Haus umkehren, dachte er, den werd' ich ja doch nicht treffen.

In einer Apotheke endlich beschrieb man ihm auf's Genaueste, in welcher Richtung er seine Straße zu suchen habe und er fand sich glücklich hin.

Der alte Freund aus München, ein Petersburger, zeigte sich höchst erfreut, nötigte seinen Gast sogleich redselig ins trauliche Zimmer vor den Ofen, erschloß den Wandschrank, mischte seine heimatlichen Schnäpse, befahl der Wirtin, kalten Braten herbeizuschaffen und begann nun mit der Zubereitung des »warmen Bauch's«, ließ nämlich eine Flasche Portwein gründlich aufkochen, die später aus einer silbernen Kaffeekanne in die Gläser zu füllen wäre. Nicht anders verlange es das Klima nördlich der Mainlinie, meinte er.

Im Verlauf von mehreren Stunden brachte Büchner das Gespräch unauffällig auf einen Punkt, von dem ausgehend er rein aus müßiger Neugierde nun erfragen konnte, woran ihm zu wissen lag. Was ihm mitgeteilt ward, bestätigte seine Vermuthung. Übrigens schien ihm jetzt, als sei er ganz unnützer Weise hierher nach Großlichterfelde gefahren, er war über Bullmann sofort im Klaren gewesen.

Wieder in Berlin, entschloß er sich nicht dazu, gleich seine Wohnung aufzusuchen, sondern ging schnell auf Umwegen bis unter die Linden, um die Wirkung des genossenen heißen Wein's abzuschwächen. Plötzlich müde geworden, setzte er sich in einen Wagen der Ringbahn und fuhr dem zoologischen Garten zu. Es mochte elf Uhr sein, volles Leben strömte auf den Gassen, durch die man rechts und links vom Damm weit gerade hinaus in die Stadt blickte.

Zu Hause machte er Licht in beiden Zimmern und warf seinen Mantel ab. Im Kamin fand er wie gewöhnlich Papier und Reisig vor und darüber die Kohlen sorgsam gestapelt. Er legte Feuer an und es prasselte auf im Nu. Der Widerschein zuckte wie fernes Wetter über die Mauern und aus den Ecken, er löschte die Kerzen, nach und nach ward das Spiel ruhiger. Dann richtete sich die Glut langsam zu einer Flamme auf und stand da fast unbeweglich, hell, und gleichmäßig dröhnend, und er sah still in den Brand.

Aber schon nach wenigen Minuten erhob er sich sehr lebhaft, ließ die kaum erst angerauchte Zigarette fallen und trat zurück vom lodernden Feuer. Ein heftiges Unbehagen erfaßte ihn, ein Zorn gegen sich. Nach einer Stunde reiflichen Überlegens nämlich, ob er sofort nach Genf aufbrechen solle oder nicht, hatte er sich ganz fest vorgenommen, in Berlin zu bleiben, und nun fühlte er gerade im Moment, wo ihm vollständig klar ward, daß es unsinnig wäre zu reisen, daß er doch reisen würde, ganz bestimmt doch. Er wußte auf einmal, daß er nicht anders konnte.

Ercole mußte ja in vier bis fünf Tagen zurück sein. Dann wollte er ihn ja befreien von diesem Bullmann – er sollte ihm schon gehorchen, Ercole! Büchner würde schon wissen wie ihn anzufassen. Es war doch zu spät, wenn er jetzt reiste. Zudem könnte Frau Tomei davon hören und am Ende irgendwie Verdacht schöpfen. Übrigens, sie war ja so herzlich und ungefährlich, erzogen in Weltunkenntnis wie alle Frauen, nicht die leiseste Ahnung besaß sie.

Und er suchte nach Gründen, die ihm seinen Wunsch, nach Genf zu eilen, begreiflich machen sollten. Gewiß, vielleicht wäre es auch besser. Wenn Ercole sah, daß Büchner die große Reise nicht scheute, mußte er doch schneller verstehen, daß es sich da um nichts Kleines, Gewöhnliches handelte. Und wie gemein dieser Treubruch war!

Eine Wuth ergriff ihn plötzlich, als wäre er um ein Recht betrogen – nicht sie. Dann ward er traurig; ungehört verklungen der Schritt an seiner Seite, verweht die Freude, aus einsamem Winkel nach ihm spähend, ihn wachsen zu fühlen an Kraft für Kunst und Leben. Er achtete sie nichts, Ercole, diese keusche Liebe und verriet sie. Um was zu tauschen!

Der Zug nach Genf über Frankfurt verließ Berlin frühmorgens, es war also Zeit ein paar Sachen zusammenzupacken, wenn er noch etwas schlafen wollte. Er machte wieder Licht und schleppte seinen Handkoffer herbei. Als er jedoch die Schubladen aufzog, um Hemden und Strümpfe und Ähnliches aus der Kommode hineinzuthun, ekelte es ihn vor diesen Vorbereitungen, überhaupt vor jeder, auch der kleinsten Beschäftigung. Wozu das, man würde ja ganz ohne Gepäck auskommen die paar Tage. Das Notwendigste gab es ja in Genf zu kaufen. Und die kaum begonnene Arbeit blieb liegen, ohne daß der Koffer bei Seite gestoßen ward.

Nach wenigen Minuten aber änderte er seine Meinung. Es hat doch keinen Sinn so etwas, dachte er ärgerlich; sich am fremden Ort Wäsche zu kaufen, weil man gerade zu faul ist, sie mitzunehmen. Er erstaunte über sich; er wußte sich doch wohl in andrer Selbstzucht zu halten, stand unter andren Disziplinen. Wie konnte man sich auf einmal derartig gehen lassen? Er überwand sich und fing von Neuem an und packte seinen Koffer sehr ordentlich und behutsam, Stück bei Stück, ohne das Geringste zu vergessen. Dann verschloß er ihn sorgfältig zweimal und schnürte die Riemen.

Ihm fiel ein, daß er am nächsten Morgen geweckt werden mußte. Das hätte früher bedacht werden sollen, jetzt schlief seine Wirtin jedenfalls schon seit längerer Zeit. Doch er störte sie auf und gab Weisung, um sechs Uhr früh an die Thür zu klopfen.

Geld war da. In einem verborgenen Winkel seines Schrank's befand sich ein kleines Blechkästchen mit der leserlichen Aufschrift von Büchner's Hand: Für Calamitäten. Der Inhalt betrug sechshundert Mark in Gold.

Er feilte noch an ein paar Zeilen für Frau Tomei. Er sei erkältet, müsse das Zimmer hüten und es wäre ihm zu seinem Bedauern so leider unmöglich gemacht, der gnädigen Frau Nachmittags wie sonst Gesellschaft zu leisten. Das klang unverdächtig, und wenn ein böser Zufall ihr die Reise auch entdeckte, hinter die Wahrheit kam sie ja doch nicht.

Er entkleidete sich nicht und lag halbwach auf dem Sopha bis zum ersten Tagesgrauen.

Im Schnellzug nach Frankfurt und auch später unterwegs nach Basel fand er keinen bequemen Platz, er war in eine Gesellschaft geschwätziger Berliner Kaufleute geraten und fühlte sich äußerst unbehaglich. Ein Zustand gänzlicher Gedankenlosigkeit überkam ihn. Er sah aus dem Fenster, sein Blick haftete an den Telegraphendrähten und lief an sie festgesaugt neben dem eilenden Wagen her, ihre leise, wiegende Schwingung auf und nieder von Pfosten zu Pfosten immer und immer wieder begleitend. Wenn die Schienen unter den Rädern in heftigen Stößen wechselten, wenn die Bahnhöfe kleinerer Ortschaften vorübertrieben, als bliese ein Sturmwind sie vor sich her, klangen ihm die hellen Schläge der Wärterglocke im Ohr wie einstmals zu Haus in der Heimat das Läuten einer Waldkirche am Sommernachmittage in trägem, wohligen Halbschlummer erhorcht. Auf ganze Stunden vergaß er – wohin es ging und zu wem und warum er reiste. Nachts schlief er fast gar nicht, erst andren Morgens übermannte ihn die Müdigkeit. Als er erwachte, war es Frühling geworden weithin, nur die Alpen am See, aus blauem Sonnenlicht in dunstige Helle aufragend, nur das Hochland von Savoyen krönte eisiger Winter. Er atmete langsam und tief, wie beglückt von der großen Welt vor ihm. Dann schrak er zusammen. Was hoffte er wiederzuhaben? Verlorenes nicht nur, Versunkenes. Was warf ihn an dieses Ufer? Irrfahrt, zerbrochenes Leben.

Gleich nach fünf Uhr erreichte der Zug Genf. Büchner stieg in einem Hotel nahe am Bahnhof ab. Er hatte lange genug mit Künstlern verkehrt, um zu wissen, daß er nicht die Unvorsichtigkeit begehen durfte, Ercole noch vor dem Konzert aufzusuchen. Er verschaffte sich ein Programm – Bullmann spielte zum Schluß, also konnte man mit Ercole währenddeß ein paar Worte reden.

Er wusch und kleidete sich. Etwas vor neun Uhr ging er langsam zum salle de reformation. Es gab noch Billette, die zweite Abteilung sollte eben beginnen, er betrat den Raum und setzte sich auf einen versteckten Platz in die letzten Reihen zurück.

Und kaum hatte er die affiche entfaltet, als die Thür drüben sich aufthat.

Der Frack schmiegte sich fest an den strammen, nicht eigentlich stämmigen Körper, die fahlen, hüpfenden Gasflammen ließen seine braune Stirn etwas heller unter dem dunkelkrausen, kurzen Haar hinleuchten. Er schritt sicher vor und verbeugte sich mit dieser kindlich ernsten Vornehmheit im Wesen, die Büchner von jeher angestaunt hatte. Es ward still im Saal und auf den Galerien. Und Büchner senkte die Augen gewohnheitsmäßig, wie immer wenn Ercole sang.

Vertraute, oft gehörte Klänge; über ihnen vergaß er zuweilen Alles rund um sich, Bilder aus verwehten Stunden rückten wieder nah – dann schrak er zusammen und er fühlte die Gegenwart tausendpfündig auf ihm lastend.

Als Ercole geendet hatte und der Applaus ihn wieder und wieder zurückrief auf die Estrade, da durchströmte auch ihn eine stille Wärme, er vergaß sich für ein paar Sekunden und war stolz auf seinen Freund.

Ercole zögerte nicht lange und begann wieder. Es war die alte geliebte Musik, die er ihm damals ganz leise zugepfiffen hatte unter dem Fenster, damals auf der Schule, Nacht für Nacht, vordem er hinaufstieg aus der Dunkelheit und die Arme um Büchner's Nacken schlang, daß der ihn an sich preßte und zu sich hob.

Das Blut schoß Büchner ins Gesicht, wie er die Weise klingen und singen hörte, kaum beherrschte er sich. Das scholl über die fremden Menschen zu ihm hinüber und saugte sich an ihn, wie beizender Hohn. Auf die Gasse trug sich Ercole, seinen Leib und seine Seele und warf sich fort und verrieth Büchner's Liebe!

Mit beiden Händen knüllte er das Programm fest zusammen, er wollte die bebenden Glieder durch eine Muskelanspannung wieder in seine Gewalt bringen. Dann faltete er es hastig auseinander, um das Papier von neuem wie in eine Kugel zu verrollen. Einer Dame neben ihm fiel seine Unruhe auf, sie betrachtete ihn aufmerksam, erstaunt und ärgerlich, deshalb erhob er sich und schlich leise und rasch aus dem Saal.

Im Flur atmete er ein paar mal auf, mit dem Rücken an eine Mauer gelehnt; die Kälte aus den Steinen überlief ihn, er trat einen Schritt vor und blieb so stehen, nur die gespreizten Finger seiner Rechten berührten die eisige Wand. Niemand sonst war hier. – Nach einer Weile, zehn Minuten mochten verstrichen sein, hörte er Bullmann wieder spielen. Jetzt konnte er Ercole allein sprechen, wahrscheinlich wenigstens. Sollte er lieber nach Berlin zurückkehren, ihn lieber nicht wiedersehen, niemals? Warum diese Qualen? –

Aber er ging zu ihm. Durch mehrere Korridore bis zur Thür des Künstlerzimmers. Vielleicht, daß Niemand dort war.

Er öffnete und trat ein. Ercole blickte ihn starr und schweigend während einiger Sekunden an, dann lächelte er kurz und freundlich, wie um zu grüßen. Er sprach nicht, auch schien er keineswegs nach Worten, nach einer Frage zu suchen. Büchner griff nach seinen Zigaretten, bot an und sagte langsam, mühsam, es sollte gleichgiltig und sicher klingen, aber die Silben dehnten sich merklich: »Zünd' dir eine an, und schäm' dich, mein Lieber.«

»Und woher weißt du?« fragte Ercole schnell und neugierig.

»Ich war bei ihr und sie erzählte mir – genug, daß ich errathen konnte.«

»Ahnt sie etwas?«

»Die Wahrheit natürlich nicht. Sie fühlt nur im Allgemeinen, daß etwas nicht richtig ist mit Dir – denkt natürlich an Weiber – kurz und gut, ich machte mir meinen Vers. Warum hast du ihr das angethan, warum?«

»Aber sie wird es ja nie wissen,« unterbrach ihn Ercole schnell, »und was ich fragen wollte, warum eigentlich bist du denn so ganz plötzlich hierher gekommen?«

Er betrachtete ihn freundlich lächelnd, wie ein Kind, das man neckt. Büchner that, als bemerkte er diesen Blick nicht. Seit Jahren hatte es Ercole nicht gewagt, sich ihm gegenüber in der Weise zu geben. Diese heitere Sicherheit im Wesen, die so gar nicht am Platze war, machten ihn ärgerlich und verlegen. »Weil das eine Gemeinheit ist gegen deine Frau,« erwiderte er rasch, und seine Stimme klang zornig, ungleichmäßig.

»Also ihretwegen?«

»Wie du siehst. Zudem hab' ich geschäftlich in der Schweiz zu thun.«

Büchner erschrak selbst über seine dumme Lüge. Aber es war zu spät, Ercole lachte auf wie ein echter Straßenjunge – »schäm' dich doch, Gerhart, so zu blaguieren,« rief er ganz laut, dann hielt er sich die Hand vor den Mund und sprach gedämpft: »wir müssen leise hier sein«; – dabei sah er ihm höhnisch ins Gesicht. »Sehr leise,« wiederholte er.

»Ich dächte, es stände dir eben nicht an, Witze zu machen,« begann Büchner gereizt von Neuem. »Ich finde deine Handlungsweise ganz erbärmlich. Ich hätte nie geglaubt, daß du dich so weit vergessen könntest. Ist dir denn das alles nichts gewesen, deine Ehe? Du brichst ihr die Treue, um dir von diesem Hansnarr von ›Tondichter‹ die Cour schneiden zu lassen. Verstehst du denn nicht, mein Lieber, daß es eine furchtbare Beleidigung für sie ist? Ich begreife dich nicht. Wie ist man zu so etwas überhaupt fähig. Und dann, ich will nicht, daß du mit diesem Leben wieder anfängst.«

Er hielt inne; seine eigenen Worte mißfielen ihm in hohem Grade. So verbraucht klang das Alles, was er sagte, so phrasenhaft, so gar nicht besonders, so gar nicht auf den besonderen Fall gemünzt. Aber sie ließ sich so ganz anders an, diese Begegnung, gar nicht so hatte er sie sich gedacht. Übrigens, wie hätte sie anders sein können? Was eigentlich sollte er denn vorbringen?

Auch Ercole schwieg. Dann fragte er mit einem übermütigen Spott in den Augen, während er sich den Frack gemächlich glatt zupfte: »Soll ich Ihnen vielleicht sagen, warum Sie hergekommen sind, Herr Geschäftsreisender?«

»Ich finde dein Betragen albern und unverschämt,« rief Büchner fassungslos.

Ercole maß ihn mit einem überlegenen Blick. »Nun, ich finde dein Betragen unhöflich und außerdem furchtbar dumm. Ganze zweitausend Kilometer kommt er angereist – meiner Frau wegen! Warum nimmst du dich ganz plötzlich ihrer an? Diese Ungeduld, dieser unegoistische Mensch! – Und das soll ich dir glauben. Wo denkst du denn, daß ich meinen Kopf hab'! Ich kenne dich doch. Der Professor Doktor Büchner konnte doch auch so gelehrt sein, daß er sich nicht so verrät. Du eifersüchtiger Mensch du.«

Büchner zwang sich ruhig zu bleiben und sagte, nach einem ganz bestimmten Ton, in dem er sprechen wollte, suchend: »Red' doch keinen Unsinn, mein Lieber, du weißt recht gut, daß ich seit der Zeit, wo du verheiratet bist, nicht mehr eifersüchtig bin.«

»O – la la, das weiß man erstens nicht so genau. Und überhaupt, so lange es sich nur um Mädchen handelt. – Und das ist auch ganz was andres – ich kenn' dich doch, wenn man verheiratet ist – da willst du bei Seite bleiben – das ist bei dir so eine Idee, so eine Idee von der Weltordnung – eine ganz richtige übrigens, aber aber, wenn du selbst es nicht sein kannst, dann darf es auch kein anderer sein, das, das, das hältst du nicht aus. Als ich heiratete, versprach ich dir, allem zu entsagen und nur meiner Frau zu leben, du erinnerst dich wohl, jetzt wo ich Dummheiten mach' – jetzt bist du wieder eifersüchtig wie früher. O – wie du ihn nicht ausstehen kannst, diesen Bullmann!«

Ercole sprang plötzlich vor und legte seine Arme auf Büchner's Schultern, der aber schüttelte sie ab und warf ihn zurück.

Sie schwiegen; vom Saale her erklang ernste, getragene Musik. Hier im kleinen Raum war es still, nur das Gebläse oben an der Wand surrte unaufhörlich geschwind.

»Nun also,« begann Ercole wieder, ohne eine Spur von Unwillen oder Mißmut zu zeigen, »was wird nun sein? Du bist jetzt also auf einmal in Genf. Schön. Aus gar keinem andren Grunde natürlich, als um diese malerisch gelegene Stadt einmal wiederzusehen. Was werden wir also jetzt machen?«

Es war Büchner nicht möglich, gleich zu antworten. Er hielt den Kopf gesenkt. Endlich überwand er sich und sagte schnell: »Wozu eben sprechen, ich sehe, daß es dir nicht möglich ist, offenbar kannst du nicht ernsthaft reden.«

»O doch – gewiß,« fiel Ercole ein, »im Gegenteil, gerade jetzt kann ich, gerade jetzt, mein Lieber, möcht' ich dir was sagen. Weißt du, ich begreif dich eigentlich nicht ganz. Auf einmal kommst du hierher wie aus der Pistole, um mir zu helfen. Seit ich verheiratet bin, hast du dich auch nicht ein einziges Mal um mich gekümmert. Was hab' ich denn davon, von deinen Nachmittagsbesuchen, wo Elly immer dabei ist? Was ist denn das, ein Freund mit dem man niemals allein ist! Weißt du denn, was ich alles mit dir hätte besprechen wollen? Wenn ich in deine Wohnung komm', schmeißt du mich ganz einfach heraus. Sehr einfach wirklich! Du kennst mich vielleicht gar nicht mehr. Ich hab' mich vielleicht ganz und gar verändert. In dieser Zeit in Berlin bist du vor mir davon gelaufen, als hätte ich die Pest – das heißt, sobald du mich irgendwo allein sähest. Und jetzt auf einmal machst du so, als ob diese ganze Zeit gar nicht dagewesen ist, als ob du mit mir sprechen könntest, wie damals, als ich unverheiratet war. Dazu hast du ja gar kein Recht mehr.«

»Es ist ja gar nicht möglich, ich meine, daß du mich so mißverstehen kannst, du kannst das gar nicht denken, was du sprichst,« sagte Büchner leise, ohne aufzusehen. Es trat ihm kaum ins Bewußtsein, daß man ihn kränkte, er fühlte sich stumpf, unfähig zu aller Widerrede, unfähig klar zu überlegen oder gar etwas aufzuklären, in seinen Ohren dröhnte es nach – rollende Räder und der dumpfe Kolbentakt. Reisestaub brannte ihm in den Augen, der Gasduft rings schien sich um seine Stirn zu verdichten. Schwer und sicher sank ihm die Müdigkeit in die Glieder, wie ein mächtiger Anker in meerüberspülten Sand. Er schleppte sich bis zum Sopha, setzte sich mit einem Ruck und lehnte zurück, doch ohne den Kopf zu heben. Sie schwiegen Beide. Ercole betrachtete Büchner prüfend, offenbar erstaunt, daß der nun gar nichts mehr vernehmen ließ. Nach einer halben Minute vielleicht verzog er den Mund kaum merklich, dann schnitt er dies Lächeln mit einer trotzig bösen Miene ab und fragte: »Nun?« und begann von Neuem, als Büchner sich nicht rührte: »Ja, mein lieber Gerhart, du hättest vernünftig sein sollen und das Alles ein bißchen vorher bedenken. Mich fragt er gar nicht, der Professor Doktor Büchner und besucht mich alle Tage in Berlin, aber wenn ich einmal auch zu ihm geh', dann will er mich nicht empfangen. Es ist mir ganz unbegreiflich, aus welchem Grunde du täglich zu uns kommst in Berlin. Sag doch, warum? Warum bleibst du nicht überhaupt lieber ganz fort? Und ebenso jetzt – auf einmal coûte que coûte reist er nach Genf – mir nach. Weißt du denn überhaupt, ob du mir hier irgendwie von Nutzen sein kannst? Glaubst du, daß mir das Alles sehr angenehm ist? Kommt her, schimpft, sagt, daß ich ein gemeiner Mensch bin und je ne sais was für Geschichten. Warum läufst du mir denn nach, wenn ich so ein gemeiner Mensch bin? Bleib' doch wo du bist. Misch' dich nicht in meine Angelegenheiten. Hab' ich mich je darum gekümmert, mit wem du umgehst? Ich glaube, wir sind uns ein bischen fremd geworden, mein Lieber. Gewesen ist gewesen. – Ich glaube, es wäre am Besten, wenn du recht schnell wieder umkehren würdest,« fügte er langsam hinzu, ohne sein Gegenüber eine Sekunde aus den Augen zu lassen.

Büchner sah auf und richtete einen unschlüssigen, starren Blick gerade auf Ercole, dann schien er sich erheben zu wollen. Ercole begriff sogleich, daß Büchner kein Wort mehr reden würde, war im Nu bei ihm, preßt seine Kniee mit den Ellenbogen an die Brust, umklammerte seine Hände mit aller Gewalt und küßte sie heiß und schnell. Büchner's Widerstand währte nur einige Sekunden, wie auf einen Schlag lösten sich die angespannten Glieder und Muskeln, die Arme sanken in die Gelenke, er schloß die Augen und ein Zittern durchlief seinen Körper in jähen Stößen vom Haupt bis unter's Fußblatt. Ercole beugte die Gestalt leicht und sicher in die Lehne zurück und schmiegte sich an ihr hinauf. Und Büchner zog ihn noch fester an sich, ihn umschlingend, als er diese glühende Nähe spürte und ihr Atem flammte zusammen.

Vom Saal durch die gesperrten breiten Thürflügel klang leises Spiel, gedämpft perlend im Diskant. Über die Straße draußen rollte von Zeit zu Zeit ein Wagen und oben schnarrte das Gebläse eintönig.

Nach ein paar Minuten sprach Ercole mit flüsternder Stimme Büchner ins Ohr: »Sei nicht böse, bitte, bitte, daß ich so dumm und frech zu dir gesprochen hab', ich wollte dich nur ein bischen quälen, ich bin so schlecht – so schlecht, aber es ist so herrlich, von dir geliebt zu werden. Ich sprach ja nur so, ich weiß ja ganz genau – warum du immer so kalt warst – weil du besser bist, als ich. Aber, du weißt, ich kann nicht leben, wenn du nicht da bist, dann mach ich nur Dummheiten. So lange bin ich ohne dich gewesen – denkst du noch an alte Zeiten? Hörst du – wir müssen uns wieder lieben, so wie damals, damals.« »Aber was hast du denn,« unterbrach er sich noch leiser werdend, »warum weinst du Gerhart? Wein' nicht, ich will nicht, daß Du weinst. Bist du traurig? Du hast dich zu sehr gesehnt nach mir, weinst du deshalb? Sprich doch, sag' doch!«

»Nein, ich bin ja nicht traurig – das kommt nur so nach, nach der Sehnsucht, wie du sagst,« meinte Büchner. Und er drängte zu Ercole, über sich selbst lächelnd. Wie das zusammenrann, alle Kraft und Stärke der Jahre in die paar weichen Thränen.

Ercole küßte ihm die Augen trocken, dann sprach er weiter, immer flüsternd, sein Mund berührte fast Büchner's Wange, daß der den warmen Hauch der Worte einsog: »Weißt du, in Berlin hab' ich dich immer angesehen und gedacht – ist er wirklich so kalt, dieser Mensch? So ein Schneemann – kann es so einen wirklich geben – wie aus Stein, nicht ein einziges Mal hast du dich verraten. Aber im Grunde hoffte ich immer, vielleicht liebt er mich doch noch und quält sich – ja darum hab' ich sogar einmal gebetet, daß du mich im Stillen immer weiter lieben sollst ebenso heiß und dich quälen – und jetzt wo du kamst, da wußte ich gleich, daß ich Recht hatte und war so froh, daß ich dir um den Hals fallen wollte – aber du stellst dich groß hin und fängst an, deinen alten langweiligen sermon zu halten, ich konnte kaum ernst bleiben – nicht böse sein, Gerhart – du hast ja ganz Recht mich durchzuschimpfen, ich bin ja ein ganz und gar ekelhafter Mensch – so verdorben von grundauf bin ich – aber ich war so furchtbar froh, daß du da warst. Und daß du so dumm warst den Heiligen zu spielen. Weißt du, ich hätte ja schon längst wieder angefangen, aber ich war zu schüchtern, ich hatte doch Respekt vor deiner strengen Miene. Aber jetzt ist Alles gut. Ach Gerhart, es war so langweilig ohne dich!«

»Und Bullmann?« fragte Büchner ganz leise.

»Siehst du, siehst du, wie du eifersüchtig bist,« jubelte Ercole, »o du dummer Mensch, du Geschäftsreisender, du Lügenmaul –«

»St,« mahnte Büchner, er mußte lachen, »schrei doch nicht so, lieber Jung.«

Und mit gedämpfter Stimme munter und schnell erzählte Ercole: »Das ist ja gar nichts Besonderes mit Bullmann – den werden wir gleich wieder los, das kam überhaupt nur so, du weißt, ich kann die Menschen nicht nach mir schmachten lassen, ich bin darin furchtbar wenig stolz, das heißt in andrer Beziehung bin ich auch wieder sehr stolz. Außerdem scheint mir, daß er hier nach einem jungen tartarischen Fürsten hinguckt, das heißt, man weiß nicht, ob der Fürst echt ist – du wirst ihn heute Abend auch sehen, später geben Bullmann und ich das gewöhnliche souper, da bist du auch mit dabei – du siehst doch, ich kann mich nicht mehr zurückziehen. Auf Bullmann brauchst du wirklich nicht eifersüchtig zu sein – und übrigens, wenn er dich hier sieht, so wird er gleich totalement anders zu mir sein – paß nur auf! er hat nämlich Angst vor dir, das heißt, du weißt, nicht Angst eigentlich – ich weiß nicht – so was wie Respekt vielmehr.«

»Und warum denn das?«

»Ja, du weißt –,« Ercole ward ein bißchen verlegen, »er kennt dich ja nur durch mich, ich hab' ihm nämlich erzählt von uns, und da hab' ich gemerkt, daß er so etwas wie Bewunderung für dich bekommen hat, weil du so treu sein kannst – er sagte übrigens nicht ›treu‹, es war ein anderes Wort.«

»Du bist doch eine alte Klatschbase! Du hast natürlich wieder renommiert mit mir.«

Ercole war aufgestanden, setzte sich aber sofort wieder und bat: »Sei doch nicht gleich so – es kann dir ja nur sehr angenehm sein. Übrigens hast du ganz recht, ich bin sehr commère, das heißt zuweilen, öfters bin ich auch sehr verschwiegen.«

Und einige Augenblicke schien er ganz nachdenklich gestimmt, über die Seltsamkeiten seiner eigenen Natur. Dann lauschte er zum Saal hin und sprang auf. »Das Konzert ist gleich aus, ich freue mich schon auf Bullmann's Gesicht. So, nun warten, bis er ›fertig geklimpert‹ hat, wie er immer sagt.«

Und sie schwiegen und warteten. Und wie sich ihre Blicke trafen, überkam sie beide eine kleine Befangenheit und sie sahen weg von einander.

»So lange sind wir uns gewesen – wie Freunde – und nun –.« Ercole vollendete nicht.

Büchner wollte ihm etwas erwidern, ihn fühlen lassen, daß er Ähnliches gerade empfunden hätte, aber kein Wort sonst, nur Ercole's Namen sprach er leise aus und trat wie unwillkürlich um einen Schritt näher an ihn heran. Dann, nach einer kurzen Weile verstummte der frohe Glanz in seinen Augen. Doch nur zögernd unterbrach er das stille Schweigen, das sie verband: »Sag doch – ich wollte noch eins fragen, wir haben uns so lange nicht mehr unterhalten über so Manches, ich meine – du liebst Elly nicht mehr?«

»Ach sei gut, fang doch nicht jetzt davon an,« fiel Ercole unwillig ein, »ist denn das ein Vergnügen, den Menschen immer Gewissensbisse zu machen! Ich quäl' mich schon so genug. Warum denn immer an morgen denken.«

Und er lehnte sich unmerklich an Büchner, der ganze Schelm ward in ihm lebendig in Aug' und Stimme, als er fortfuhr: »Mach' es doch im Leben einmal so wie ich, morgen ist so grau und langweilig und ich bin so froh heute – und du, bist du nicht glücklich? Sag' doch, Gerhart!«

Büchner zog ihn an sich.

Vom Saal tönte plötzlich lebhaftes Klatschen herüber, sie ließen von einander und schauten voller Erwartung auf die Thür. Bullmann trat ein, blieb nach dem ersten Schritt ins Zimmer angewurzelt stehen und blickte starr auf die Beiden. Eine Anzahl von Leuten strebte ihm nach, doch als der Führer seiner Straße so unvermutet nicht weiter zog, wagten sie es nicht, sich an ihm vorbeizuschieben, sondern verharrten allesammt ehrfürchtig im Rücken des berühmten Mannes, so daß sich im Nu Alles hinter ihm staute, durch den Thürengpaß ein gutes Stück in den Saal hinein.

Es war Ercole nicht möglich, ehrbar zu bleiben. Zu allgemeinem Erstaunen vergnügt und gutmütig lachend sah er Bullmann ins Gesicht, etwa nach einer halben Minute erst faßte er sich soweit, daß er sprechen konnte: »Ich glaube, die Herren sind sich flüchtig schon begegnet – Jakob Bullmann – Doktor Büchner,« stellte er vor.

Bullmann schien die Situation allmählich zu erraten. Er trug plötzlich eine äußerst erfreute Miene zur Schau und rief oder schrie vielmehr ganz laut: »Jesus Maria, sind Sie aber ein Kunstenthusiast, fünfundzwanzigtausend Kilometer Eisenbahn, und nur, um uns musizieren zu hören. Ungemein schmeichelhaft, ich danke, ich danke« – und er trat so schnell auf Büchner zu und drückte ihm die Hand so fest und sicher, daß der gar nicht den Moment fand, sich über die Anzüglichkeit zu ärgern.

Der Applaus erneute sich immer wieder und Bullmann ging sein Kompliment machen. Inzwischen vermittelte Ercole die Bekanntschaften. Die Herren traten vor. Es waren ein paar deutsche Musiklehrer, zwei Agenten, die Begleitung, der junge Fürst aus der Tartarei und noch Einige – unter ihnen nur ein Waadländer. »Mein Freund, le docteuer professeur, ist der Präsident eines größeren noch im Entstehen begriffenen Aktienunternehmens, il est en voyage, er gehört zu einer commission de Propaganda,« sagte er sehr ernsthaft und nachdrücklich. Büchner widersprach dem Unsinn nicht und man verbeugte sich also sehr respektvoll vor ihm.

Bullmann kehrte alsbald wieder und die Aufmerksamkeit des Schwarm's heftete sich sogleich an seine Person. Zwei alte Damen aus Amerika, modisch gekleidet, mit graugepudertem Haar, Cousinen, traten aus dem Saal, um Glück zu wünschen, auf Bullmann zu, der sich sehr erfreut zeigte, alte Freundinnen unvermutet begrüßen zu können und sogleich sehr lebhaft und munter mit ihnen in englischer Sprache zu plaudern begann. Die übrige Gesellschaft wurde ihnen vorgestellt und nun baten Bullmann und Ercole zum souper hinüber.

In einem größeren Gelaß des benachbarten Hotels sollte aufgetragen werden. Die Tafel war reich gedeckt, vom braunseidenen Läufer, der den blendenden, schneeigen Damast geradlinig durchschnitt, aus dem Beieinander duftender Blumen, schwerer, leuchtender Früchte, in ihre Schalen gebettet auf herbstliches Blattwerk, ragte ein ganzer Wald atemlos flammender Kerzen empor. Hart am Rande des teilenden Streifens hier und drüben hielten gedrängte Häufchen von Gläsern, immer neu und anders verstellt, bei jedem Teller Wache. »Bullmann hat den Tisch vor dem Konzert eigenhändig mit einem Kellner zusammen aufgekramt, – das sieht man gleich!« erzählte Ercole, als er sich zu Büchner setzte.

Es ging lebhaft zu in der Runde während die Schüsseln wechselten. Gesprochen ward französisch, deutsch und englisch. Als man den Braten auftrug, war der Champagner schon in die geschliffenen, matt graulich überblümten Kelche geschüttet. Büchner fühlte, daß seine Kräfte sich ausspannten, in diesem geräuschvollen Durcheinander. In die Unrast eines munter tafelnden Kreises geraten, empfand er eine Ruhe, eine Beruhigung, wie er sie lange nicht gekannt hatte. Weil ich weiß, daß er mich noch liebt? fragte er sich und wandte sich zu Ercole, der ihm sein Glas entgegenhob.

Die Musiklehrer versuchten es wohl dann und wann, den berühmten Virtuosen in ein fachmännisches Gespräch zu ziehen, erfolglos; Bullmann trieb seine Possen und ließ sich dabei nicht stören. Eben neckte er die alten Damen in äußerst drolliger Weise, jedenfalls um seinen jungen Freund zu belustigen und gut zu launen. Ercole unterhielt er fast gar nicht, richtete er das Wort an Büchner, was häufiger geschah, so empfand der ganz deutlich, daß ihm etwas Besonderes entgegen gebracht wurde, ging die Rede auch über die gleichgiltigsten Dinge. Und blieb, was sie einander sagten auch gewöhnlich, so schien es Büchner doch schon nach einer kurzen Stunde, daß es zu etwas ganz Eigenem zwischen ihnen gekommen war, wie zu einem kameradschaftlichen Einverständnis. Er hatte diesen höflich vertraulichen Ton nicht angeschlagen, hielt aber unwillkürlich auch an ihm fest, im Stillen die überredende Formsicherheit des Andren bewundernd.

Bullmann empfand plötzlich den Wunsch, nachträglich noch etwas Tafelmusik zu hören. Die Klavierlehrer begriffen es zwar durchaus nicht, daß ihm das eigene, doch so gediegene Können nicht ganz und gar Genüge leisten sollte, daß ein so feiner und geschmackvoller Künstler und Tondichter Vergnügen an platten, schaalen Walzern und aufdringlich taktfesten Märschen fand, da sie aber doch auch Musensöhne und keine Philister vorstellten, scheuten sie sich, ihren Gedanken in Miene oder Wort Ausdruck zu verleihen und der chasseur machte sich auf die Suche nach einer der Straßenkapellen, die Genf allzeit durchschwärmen.

Die Musikanten waren bald zur Stelle mit Fiedel und Bogen, Brummbaß und Flöte. Offenbar war ihnen gesagt, wer sie hatte rufen lassen, sie spielten warm, man fühlte, daß sie ihr Bestes geben wollten. »Es sind ganze Künstler und fromme Seelen,« meinte Bullmann.

Es ward nachgefüllt. Büchner trank, aber als die weiche, singende Weise, von zartem Tanzschritt getragen, aufbebte, sog sie sich tiefer in sein Blut, als der Wein, der ihn durchströmte. Er sah zu Ercole und der sah ihn wieder an und sie lächelten nun, betreten und erstaunt; so anders war die Welt, weil sie wieder die Alten waren.

Nach einer Weile stahlen sie sich aus dem Schwärm. Und hinauf in das stille Gemach. In das Taumelglück ihrer Liebe tönte die Musik noch lange, mauergedämpft.

Morgens um zehn Uhr erreichte sie ein Briefchen, ihre beiden Namen standen auf dem Umschlag und sie lasen: via Genova nach Syracus zwei Colli. Colli Nr. 1 Bullmann, Konzertelephant. Nr. 2 Pawel Iwanowitsch, Konzert-Lazzarone. – Und darunter:

Im Jänner in Berlin giebt's keine Lilien,
Vereint drum braust man schleunigst nach Sicilien.

»Das ist wieder echt nach ihm,« sagte Ercole.

»Ja weiß Gott, immer halb Narr und halb –.« Büchner schien das rechte Wort nicht zu finden und schwieg. »Also nach Italien abgereist,« sprach er langsam, in Gedanken. »Wann müssen wir dann nach Berlin?« fragte er dann plötzlich.

»Spätestens doch morgen Abend, du weißt, es geht nicht anders, womit soll ich mich denn entschuldigen.« –

Und nach ein paar sonnigen Tagen reisten sie ab. Unterwegs, sie hatten nur wenige Stunden noch zu fahren, zwang sich Büchner zu einem Lächeln und begann: »Nun, ich hab' es jetzt einmal im Leben so gehalten, wie du, und nicht an morgen gedacht, aber was wird nun sein?«

»Aber was soll denn sein?« gab Ercole unwirsch zurück, »man wird sich eben so einrichten. Wird man leben, wird man sehen. Ich kann mich doch nicht scheiden lassen!«

Nein gewiß, davon konnte nicht die Rede sein. Doch wovon sonst?

Noch waren es ein paar Stunden bis Berlin, aber im Geist sah Büchner schon Alles: den Winter, den großen Bahnhof und die kleinen, hastenden Menschen, und wie der Zug hielt und wie sie ausstiegen – in Berlin.


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