Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Kapitel IV

1.

Im Laufe des Tages war Büchner einmal unterwegs, um einen Privatdetektiv aufzusuchen. Alsbald aber gab er seine Idee wieder auf, so etwas brächte in diesem Fall zu viel Gefahr mit sich.

Nach fünf schellte er bei Ercole, der Diener öffnete – der Herr wäre noch nicht zurück, käme aber gewiß bald. Büchner trat ein, es dämmerte im Saal, er schritt langsam auf und ab und betrachtete gewohnheitsmäßig aufmerksam die Lorbeerkränze. Dann setzte er sich und griff nach einem Journal, doch war es zu dunkel um lesen zu können. Im Eßzimmer nebenan hörte er die Uhr fein und klar ticken, er ging hinüber und verweilte dort ein wenig. Als er in den Saal zurückkehrte, hatte der Diener schon angezündet und das Tuchwerk vor die Fenster gebreitet, dann sah er ihn ein paar Briefe auf das Tischchen neben dem Kamin hinlegen. Büchner wartete bis er die Thür hinter sich geschlossen hatte, trat nun hastig hinzu und überflog die Adressen mit einem Blick – zwei Briefe aus England an Frau Tomei, der dritte an Ercole mit dem Poststempel aus dem Zentrum. Das Papier schien ihm recht gewöhnlich, er hielt den Umschlag gegen das Lampenlicht, doch kein Wort schimmerte durch. Die Züge waren entschieden männlich, eine ausgeschriebene Hand. Er schämte sich doch beim Gedanken, den Brief zu erbrechen und sah unschlüssig auf, gerade in den goldgerahmten Spiegel, aus dem das Bild der schweren, dunklen Stoffe in seinem Rücken zurückfiel. Auch wußte Franz ja, daß es drei waren und nicht zwei. Vielleicht aber hatte Ercole, unordentlich, wie er ihn kannte, noch andere Briefe, schon gelesene, irgendwo im Hause herumliegen.

Er ging in Ercole's Schlafzimmer hinüber und begann zu suchen. Eine entsetzlich peinliche Empfindung beherrschte ihn, ganz unvernünftig ließ er das Licht der Kerze auf den Waschtisch fallen, als könne er hoffen, da etwas zu finden. Dann besann er sich auf einmal. Es war ganz thöricht, was er that. Briefe, wie er sie vermutete, würde Ercole jedenfalls verbrennen oder verschließen – wie oft hatte Büchner selbst ihn nicht zur Vorsicht ermahnt. Doch zog er die Schublade des kleinen Tisches neben dem Bett los und tastete behutsam. Der Leuchter stand zur Seite – er spürte etwas Seidenes an den Fingern und hob einen Zipfel der Flamme ein wenig näher, das Tuch war schneeweiß. Darunter lag ein Revolver, geladen, eine ganz neue Konstruktion offenbar.

Büchner hielt ihn ratlos in der Hand, nach einer Weile schob er ihn zurück unter's Tuch, noch immer verwundert und im Schreck. Dabei schien ihm, daß er eine Entdeckung von außerordentlicher Wichtigkeit gemacht hätte. Seit wann besaß er denn einen Revolver? Warum hatte er nichts davon erzählt? Was sollte das nur?

»Ob ich den Brief nicht lieber doch öffne?« dachte er.

Doch er hörte den Schnepper aufdrücken, es war jedenfalls Ercole, er faßte sich, löschte das Licht und war mit ein paar eiligen, leisen Schritten gleich wieder im Saal.

Erst ein wenig später trat Ercole ein – »da bist du ja schon –«

Büchner nickte ihm freundlich zu. »Ich bin noch keine Viertelstunde hier. Nun, und wie geht dir's, – ich meine, mit deinen Zahnschmerzen?«

Ercole überraschte diese Frage sichtlich, nach einem kurzen, mißtrauisch zuspähenden Blick antwortete er jedoch ganz natürlich: »Es geht besser, Gott sei Dank – zum Zahnarzt will ich jedenfalls nicht, das ist zu scheußlich.« – Dann machte er sich dran seinen Brief zu lesen. »Wieder ein Wohlthätigkeitskonzert,« rief er unmutig – »soll ich mitwirken?«

»Zeig' doch!«

Und der Brief ward Büchner zugeworfen. Er hielt ihn erstaunt und zufrieden in der Hand und überflog dann die Zeilen. »Wirst wohl müssen.«

»Ja, ich fürcht' auch.«

»Was meinst du, du kommst heute Abend zu mir essen?«

Er hoffte ganz sicher, Ercole würde nun einverstanden sein. Doch die Antwort fiel anders aus. »Heut' Abend? Ich hab' so schlecht geschlafen, du weißt, die vorige Nacht. Morgen muß ich früh heraus. Wollen wir lieber hier essen – Franz schafft uns schon was, vom guten Chianti ist auch noch da, außerdem will ich schon um halb zehn zu Bett gehen, ich bin fürchterlich müde –.«

Das klang alles so natürlich, aber Büchner war so enttäuscht, daß er Mühe hatte, sich nichts merken zu lassen. Er blätterte scheinbar sehr aufmerksam und interessiert in einem Notenheft und sagte mit einem anerkennenden Kopfnicken, in einer Weise, als wären seine Gedanken unwillkürlich von der Unterhaltung abgeschweift: »Die Sachen scheinen wirklich sehr gut zu sein. Kontrapunktisch sehr gut.«

Ercole sah hinüber, »die da? O gewiß, die sind gut, Bullmann kann schon was – gieb sie mir doch.«

Er schlug den Flügel auf, schob die ungehefteten Blätter zurecht, rückte die Leuchter, setzte sich und begann zu spielen.

Es war behaglich warm im Zimmer, Büchner saß zurückgelehnt abseits und hörte zu. Dann erhob er sich, um ihm die Noten zu wenden und blieb in seinem Rücken stehen. Müde und ganz in Gedanken ließ er die Hand niedergleiten und umspannte seinen Nacken mit losem Griff, wie sonst oft – Ercole störte das nicht in seiner Aufmerksamkeit beim Spiel, nur beugte er dann gewöhnlich den Kopf etwas zurück. Als Büchner es aber warm an seiner Handfläche spürte, besann er sich auf einmal, er schloß die Lippen wie im Zorn und hob die Hand wieder, so rasch, daß Ercole sich verwundert halb kehrte, doch mochte er sich nicht unterbrechen wollen. »Ist es nicht hübsch?« fragte er.

»O ja, kontrapunktisch sehr fein und hübsch auch.«

Später plauderten sie ziemlich lebhaft, doch Beide nicht ganz ungezwungen, namentlich Ercole war freundlicher und aufmerksamer, höflicher in der Unterhaltung, als sonst. Als sie bei Tisch saßen, gähnte er mehrmals. Büchner warf zuweilen einen versteckten Blick nach der Uhr ihm gegenüber. Gerade um halb zehn erhob er sich. »Also ich gehe jetzt – schlaf dich gut aus.«

»Ja richtig, ich wollte ja früh zu Bett, das wird das Beste sein.«

Nach einem kurzen Schweigen im Vorzimmer fragte Ercole plötzlich, während er etwas näher herantrat: »du bist doch nicht böse, Gerhart? Ich weiß nicht – du bist so – so.«

»Aber nein,« antwortete Büchner wie überrascht, doch sah er nicht auf.

»Ich bin heute so fürchterlich müde – wenn du willst, komme ich morgen zu dir essen, am Abend; ja willst du?«

»Gewiß, ich hab' doch nichts vor, also komme dann schon um sieben –«

Sie küßten sich und Büchner verließ ihn. Erst nachdem er etwa zehn Stufen hinunter geschritten war, erinnerte er sich, daß er die Thür oben nicht hatte ins Schloß fallen hören. Er wandte sich – Ercole stand im Flur auf dem Treppenabsatz und sah ihm nach.

»Weißt du,« begann er sofort, »ich wollte dich immer einmal fragen, glaubst du, daß es sich lohnen würde für mich, einmal bei Löwe zu singen?«

Einige Sekunden verstrichen bis Büchner begriff. Dann sprach er ganz langsam, als hätte er sich seine Antwort wohl überlegt: »Ja, ich denke schon. Es ist immer ein großes Publikum da, das ihn liebt, du könntest es gewiß versuchen.«

»Ja vielleicht – nun ich werde noch sehen. Aber du bist doch nicht böse auf mich, Gerhart?«

Büchner fühlte, wie ihm Thränen in die Augen steigen wollten, ruckweise und immer schneller, und wie er schwach wurde, er mußte sich irgendwie bewegen, um aufrecht stehen zu können, knöpfte sich den Mantel los und durchsuchte mit beiden Händen seine Taschen nach Feuer, um die verlöschende Zigarette neu anzubrennen. Er hätte zu ihm hinauf eilen wollen, seine Kniee umklammern und ihn anflehen – sag' es nur, sag' es nur, ich werde es schon hinnehmen und versprich mir, daß es diesmal das letzte war, ich will es dir gewiß glauben, aber quäle mich nicht so.

Er beherrschte sich und schüttelte den Kopf, als wäre er ganz verwundert, räusperte sich und antwortete endlich: »Aber warum denn? Warum soll ich denn böse sein? Also du kommst morgen?« – Damit wandte er sich.

»Gewiß, ich komme ganz bestimmt,« rief Ercole ihm nach und trat zurück.

Büchner stieg die Treppen langsam hinunter, mit geschlossenen Augen, seine vorgestreckte Hand rutschte gleichmäßig weiter auf dem kalten Geländer und führte ihn.

Draußen warf er seine Zigarette weg, ging auf die andere Seite hinüber, dann etwa zwanzig Schritt nach links und blieb stehen. Er konnte von hier Ercole's Haus bequem überschauen, gerade vor der Thür brannte zudem eine Laterne, es war ganz unmöglich, unbemerkt heraus zu treten. Es fror. Er schlug seinen Mantelkragen auf und wartete.

Aus den Fenstern drüben schimmerte es noch immer, die Vorhänge schlossen nicht ganz. Er spähte ununterbrochen hinauf, eine halbe Stunde mochte verstrichen sein, bis endlich das Licht oben erlosch.

Also jetzt, nach wenigen Minuten. Er stand regungslos, den Blick mit aller Schärfe auf die Thür geheftet. Ein Schauer überlief ihn sturzweise, er preßte die Zähne aufeinander und drückte, damit ihm die Kniee nicht zitterten, mit dem ganzen Körper in sie, als wollte er seine Füße in die Erde stoßen. Für einige Sekunden verlor er die Gewalt über sich und der Frost schüttelte ihn. Aber nach einem tiefen, schnellen Atemzug krampfte er die Finger um den Mantelkragen und beherrschte seine Muskeln wieder.

Etwa während einer halben Minute konnte er nicht hinüberblicken, die Wagen folgten einander unaufhörlich, doch gerade als der Fahrdamm wieder freilag, sah er Ercole heraustreten.

Büchner erschrak, als hätte er das niemals erwartet. Unwillkürlich hob er beide Arme gegen ihn, im Entsetzen, wie um etwas Furchtbares von sich zu stoßen. »Ich wußte es,« flüsterte er.

Ercole stand einen Moment, dann ging er die Straße auf der anderen Seite hinunter. Büchner folgte ihm. Er hätte ihn leicht einholen können und anreden, so war es auch seine Absicht gewesen, aber er führte sie nicht aus und mäßigte seinen Schritt. Im Gewühl der Fußgänger verlor er die Gestalt zuweilen aus den Augen, doch fand sie sich immer wieder, wenn er unentwegt zuspähte. Sie näherten sich gerade einer Reihe geschlossener Droschken, als er ihn auf einmal in einer ganz kleinen Entfernung vor sich bemerkte, offenbar ging Ercole jetzt langsamer. Büchner blieb also stehen und behielt ihn fest im Blick. Er sah ihn an den ersten Wagen gemächlich vorüberziehen, dann vor dem vierten etwa machte er Halt. Der Kutscher eilte vom Bock und öffnete den Schlag. Kaum war Ercole eingestiegen und die Thür angedrückt, so trat Büchner schnell näher, er hatte vielleicht zehn Schritte bis zur letzten Droschke in der Reihe. Er zupfte am Kragen des Kutschers, der anfangs abspringen wollte, sich dann aber zu ihm niederbeugte. Büchner sprach leise und rasch, jedoch außerordentlich deutlich: »Bleiben Sie nur sitzen, hören Sie, ich werde Ihnen sehr viel Trinkgeld geben, der Herr dort, der eingestiegen ist in die Droschke, die Droschke ist noch nicht abgefahren, sie wird es aber gleich, Sie müssen immer hinterdrein fahren, immer nach, verstehen Sie? Und wenn die halten, hören Sie, dann müssen Sie noch vorbei – so hundert Schritt, dann auch halten. Ja?«

»Is gut.«

Büchner schloß die Thür lautlos und sogleich zog das Pferd an. Kaum hatte dies hohle Dröhnen begonnen, so bedeckte er seine Augen mit der Hand und lehnte sich zurück. Dann warf er sich in die Ecke und lag seitwärts da, schräg im Wagen, in den rechten Ellenbogen gestützt, die Wange drückte er fest gegen den Arm. Die Ohren brausten ihm, er hörte die Hufen gleichmäßig geschwind auftappen, jedenfalls wurde sehr schnell gefahren. Mit einem Mal rollte es vom Asphalt hinunter und es ging schüttelnd weiter auf den Steinen, das Glas drohte zu springen, ein feiner Luftzug strich ihm zuweilen übers Gesicht. Er raffte sich empor und saß da, noch immer mit geschlossenen Augen, und suchte fröstelnd seine Kniee in den Mantel zu hüllen. Er bebte vor Kälte und wollte rauchen, um sich zu erwärmen und jetzt erst, als er nach Zigaretten und Feuerzeug tastete, bemerkte er, daß die eine Scheibe hinuntergeglitten war. Er zog sie eilig wieder auf und blickte hinaus – eine ganz fremde Straße. Wenigstens erinnerte er sich nicht, diese Häuser jemals zuvor gesehen zu haben, er wußte durchaus nicht, wo er sich befand. Im unsicheren Laternenschein las er eine Zeitlang die gleichgiltigen Krämernamen in Goldlettern über den Fenstern und Thüren, dann lehnte er sich von Neuem zurück.

Der Wagen bog kurz und bestimmt bald nach rechts, bald links in eine Gasse ab, es ängstigte Büchner, so schnell und mit solcher Sicherheit einem unbekannten Ziel näher zu kommen. Und doch ward er ungeduldig. Endlich ging es behutsamer und hielt.

Der Kutscher sprang im Nu vom Bock und riß den Schlag auf. »Der Herr löhnt dort ab – an der Ecke, sehen Sie.«

Büchner war ausgestiegen, drückte ihm zwei Thaler in die Hand und eilte hin.

Er hatte Ercole sofort erkannt, bemerkte aber gleich nach den ersten Schritten neben seiner Gestalt die eines zweiten Mannes. Von welcher Seite sie auf ihn zugetreten war, wußte Büchner nicht. Er folgte den Beiden, die in eine schmale Gasse abbogen. Gleich darauf standen sie vor einer Thür und traten nun ins Haus.

Er ließ etwa zehn Minuten verstreichen, dann ging er näher zu und betrachtete sich das Gebäude.

So dachte ich's mir, natürlich braucht man einen Revolver hier in dieser Gegend.

Er rührte sich nicht vom Fleck, als müßte noch etwas erwartet werden. Ein Schutzmann passierte, verwundert offenbar über diesen stillen, gutgekleideten Menschen hier, der sich allem Anschein nach auf irgend etwas sehr Wichtiges durchaus nicht besinnen konnte.

Büchner schritt gemessen auf und ab und allmählich gerieten seine Gedanken in Fluß. Er malte sich's aus, wie er ihn quälen wollte, wie er, ohne sich je bestimmt zu äußern, ihn von Zeit zu Zeit fühlen lassen würde, daß er irgend etwas wisse, oder besser noch, nur vermute. Ercole müßte so recht neugierig und ängstlich werden, aber klaren Wein bekäme er nicht eingeschenkt – bis er von selbst gestand und sich sehr schämte. Eine ganze Menge solcher Szenen führte Büchner im Geiste aus – und immer bat Ercole schließlich um Verzeihung. Doch ward er alsbald dieser Art Bilder müde und ergötzte sich nun bei der Vorstellung anderer Situationen. Zum Beispiel, er würde auf die Beiden zutreten, wenn sie das Hotel verließen, er würde auf sie zutreten, ganz ruhig, als träfe man sich hier so von ungefähr und etwa sagen: Guten Abend meine Herren – aber willst du uns nicht bekannt machen, Ercole, mit wem hab' ich das Vergnügen? Oder er würde plötzlich vor ihnen auftauchen mit einer verlöschten Zigarette zwischen den Zähnen, in einer Weise, als erkenne er niemanden und einfach sagen: Ich bitte um Feuer. Jedenfalls irgendwie ähnlich, so müßte man sich begegnen – und seine Phantasie arbeitete rastlos und erfand zum Abenteuer noch abenteuerliche Nebenumstände. Nun, vielleicht könnte der Fremde mit Ercole da ein verschollener Bruder Büchner's sein, von dessen Existenz kein Mensch eine Ahnung hätte. Ganz unerwartet würden sich eine Reihe der merkwürdigsten Geheimnisse aufklären und irgend welche Dinge sich begeben. Aber den Schluß jeder seiner wirren Träumereien bildete immer der Augenblick, die Stunde, in der Ercole Verzeihung erbat und sich sehr schämte.

Auf einmal unterbrach er sich. Das reine Delirium, dachte er, außerdem will ich es ja gerade nicht, daß er mich um Verzeihung bittet. Das ist wahrhaftig ein Laster, seine albernen Einfälle so weitläufig auszumalen. Wie ein Rausch überkommt es einen und sucht sich immer solche Momente aus.

Er eilte wieder in die Gasse, bemüht, sich ins Leben zurückzufinden. Wie lächerlich es war, so zu warten. Worauf überhaupt? Er hätte Ercole doch anrufen sollen, bevor er das Hotel betrat, zusammen mit dem Andern. Vielleicht wäre es am Platz, auch zu schellen und Einlaß zu begehren. Oder ganz plötzlich für immer von Berlin abzureisen. Da würde Ercole ein Gesicht machen! Jedenfalls gäbe es, anstatt hier herumzulungern, so viele Möglichkeiten, so Manches, so Manches – und unmerklich verlor er sich wieder in seine Phantasieen – er sah sich und Ercole und Elly und den Fremden und Bullmann und weiß Gott wen in die seltsamsten Situationen gebracht und suchte die Bilder einer ausschweifenden Vorstellungskraft klügelnd einander anzureihen.

Er spürte die Zeit nicht verstreichen und schrak auf, als sich drüben an der Thür Jemand von innen zu schaffen machte.

Rasch trat er beiseite. Sie waren es. Nach ihren ersten fünfzig Schritten folgte er ihnen, es ging der innern Stadt zu, schien ihm. Allmählich erkannte er die Straßen, nach geraumer Weile sah er Ercole's Begleiter abbiegen. Er war überzeugt gewesen, Ercole würde wenigstens nun eine Droschke mieten – Büchner wollte gerade in dem Moment während er einstieg auf ihn zutreten – aber nein, offenbar hatte er sich entschlossen, seinen weiten Heimweg zu Fuß zurückzulegen. Sie kamen unter die Linden, dann durch's Brandenburger Thor und bis zum großen Stern, dann nach links in die menschenleere Hofjäger-Allee.

Büchner dachte, ihm bis an seine Hausthür zu folgen und ihn dort anzureden. Plötzlich aber eilte er sehr und blieb erst stehen, als er ihm ganz nahe war. Eine kleine Weile verstrich, dann rief er ihm nach: »Ercole.«

Es ward ganz still auf der langen, breiten Straße, kein Tritt scholl mehr. Ercole wandte sich nicht, nach ein paar Sekunden versuchte er weiterzugehen, doch trug ihn sein Schritt nicht geradeaus, sondern ein wenig seitwärts und stockte alsbald. Er warf sich herum und blickte zurück, gerade auf Büchner, der sich ihm langsam bis zu einer Entfernung von sechs oder sieben Metern näherte. Sie standen sich gegenüber und schwiegen, ohne sich in die Augen sehen zu können, es war zu dunkel. Ein Wagen rollte mittlerweile heran und vorbei.

Dies Schweigen erschien Büchner ganz natürlich, durchaus hätte er nichts sagen wollen. Und doch erwartete er irgend eine Äußerung, eine Geste. Als etwas Ähnliches ausblieb, begann er schnell und nicht sehr laut, in einer Weise, als gälte es Jemanden zu unterbrechen, eine Unterhaltung auf einen andren Punkt zu führen, als hätte man ihn nur nicht zu Wort kommen lassen: »Was ist denn eigentlich noch an dir, sag' doch – am ganzen da, sag doch, was ist denn an dir noch?«

»Bist du verrückt?« schrie Ercole ihm zu.

»Schrei doch nicht, schrei doch nicht. Ich versichere dir, lieber Freund, man muß nicht schreien. Oder – glaubst du denn, daß es einen Sinn hat, einem Menschen immer in Gedanken zu folgen und zu Haus zu sitzen? Man tummelt sich eben, man geht, man läuft – übrigens – du stehst dich wohl gut jetzt?« Er riß sich den Handschuh von der Hand, hob sie, streckte sie vor und rieb den Daumen fortwährend hurtig am Zeigefinger, wie man Geld aufzählt.

»So gemein bist du, so gemein,« zischte ihm Ercole entgegen, »du weißt, daß du lügst und doch sagst du so was.«

Büchner ließ seine Lippen höhnend anschwellen. »So einer, wie du bist, schweig' doch lieber still – du.«

Er trat ganz nahe auf ihn zu und betrachtete ihn, saugte die Augen langsam ganz fest an das wutverzerrte Gesicht vor ihm. Aber er bemerkte, daß dieser Ausdruck ingrimmiger Feindschaft, sich immer noch ansammelnden Jähzorn's, urplötzlich, unerklärlich rasch aus Ercole's Zügen wich, auf denen, kaum daß er Büchner's Blick eine Sekunde ertragen hatte, nichts zu lesen war, als ein halbverzweifeltes Entsetzen. »Laß mich gehen,« flüsterte er mit veränderter Stimme, »nicht hier, später Gerhart, sei ruhig.« Gleichzeitig fuhr er mit bebender Hand in die Brusttasche seines Mantels, eine Bewegung, deren Sinn Büchner sofort begriff. Ein Widerwille, ein zügelloser Haß schoß in ihm gegen Ercole auf, diese Angst da vor seinen Augen ließ ihn eine Begierde empfinden, unbarmherzig zu beleidigen. Er holte aus und schlug ihm die Faust ins Gesicht, dann sprang er dem Zurücktaumelnden nach, um ihm den Revolver zu entreißen, den Ercole erst jetzt herausbrachte.

Sie sprachen nicht während sie rangen und ihr Atem keuchte. Büchner hielt seinen Gegner am Halse, an Hemd und Kragen gepackt und suchte ihn mit aller Gewalt zu schütteln. Mit der andren Hand umklammerte er Ercole's Finger und drückte und zog sie nieder, um die Waffe aus ihnen herauszubrechen. Ein paar Mal spürte er die Kälte des Metalls auf der Haut. Er mühte sich fast eine ganze Minute vergeblich, sie ihm zu entwinden, die erlittene Beschimpfung, der Schlag hatte Ercole Kräfte verliehen, er schien durchaus keine Furcht mehr zu kennen, er wehrte sich nicht bloß, er wollte selbst angreifen. Sie kämpften Beide mit äußerster Anstrengung und Wut, bis ihm Büchner die Waffe endlich entrang. Im selben Moment aber hatte Ercole den Kopf gesenkt und sich fest in seinen Mittelfinger eingebissen, Büchner stöhnte auf und atmete zischend. Den Revolver hielt er in der andren Hand, er hätte ihn richten können, doch bewegte er sich nicht und ertrug sekundenlang den rasenden Schmerz, dann, betäubt von dieser Marter, fast besinnungslos, gelang es ihm durch einen wütenden Stoß, den Finger Ercole's Zähnen zu entreißen und Ercole zurückzuwerfen. Gleichzeitig hatte er jetzt die Waffe erhoben und abgedrückt.

Der Schuß fiel.

Ercole schrie auf, nicht sehr laut und schlug hin.

Er lag ganz still da, ohne sich zu rühren. Büchner war einige Schritte zurückgetreten und flüsterte ermahnend: »Aber Ercole.«

Nichts antwortete. Er strich sich mit den Händen das Gesicht und spürte das Blut von seinem Finger auf die geöffneten Lippen rinnen. Irgendwo ganz weit glaubte er Schritte zu hören und Rufe und Lärm. Aber nein, er täuschte sich, es blieb still, still – kein Windzug unter den Ästen. Er horchte. Ein jagender Schrecken befiel ihn, er sprang seitwärts in den Park und lief und lief.

Als er nach einer Weile inne hielt um zu atmen, war er immer noch im Tiergarten, nahe am Brandenburger Thor, wie ihm schien. Er stand und suchte mit seinem Taschentuch den brennenden Finger zu verbinden, der fortwährend blutete. Plötzlich fuhr er zusammen, es war still in den Bäumen, er hatte unausgesetzt gemurmelt und nun aufgehört. Er wußte nicht mehr was. Aber er fing gleich wieder an, flüsternd, doch laut genug, daß er jedes Wort deutlich verstand: »Ich bin also gerettet, das ist's – ohne Zweifel und jedenfalls gerettet. Wie soll man denn auf den Gedanken kommen, ich wär's? Man muß eben schlau sein. Gar kein Grund für mich da, so was zu thun. Niemand kann vermuten. Wir leben ja so heimlich – wir – wir – wir alle, – was weiß man von uns. Nur Bullmann wird erraten, aber er wird schweigen, ja.« – Er stockte auf einmal, tastete an sich und drückte die Ellenbogen gegen die Brust. Der Revolver war nicht da. Büchner zitterte an allen Glieder, er gab sich verloren, nun hatte man einen Beweis gegen ihn.

Er schritt weiter auf dem Fußweg, vor dem Brandenburger Thor sah er Leute. Er achtete auf alle seine Bewegungen, um nicht aufzufallen und diese angenommene Ruhe brachte ihm die Fähigkeit mit sich, seinen Geist aus einer planlosen Gedankenflucht herauszureißen. Ihm schien, das mit dem Revolver wäre ganz gleichgiltig, ob er ihn nun hätte oder nicht. Es war ja auch gar nicht seiner gewesen. Überhaupt, vielleicht lief alles ganz anders ab.

Unter den Linden blieb er stehen, er wollte klar überlegen. Ein Schutzmann näherte sich ihm langsam. Während er im Vorbeigehen dem Einsamen einen kurzen, aufmerksamen Blick zuwarf, unterbrach sich Büchner in seinen hastigen Erwägungen und bemühte sich recht eigentlich an gar nichts zu denken. Dann verfiel er ganz plötzlich auf eine Idee – daß er erst jetzt darauf kam, er begriff es nicht. Wenn Ercole gar nicht tot war?

Ihn so da liegen zu lassen.

Aber er konnte nicht mehr zurück, der Polizei wegen. Sie würden ihn gefunden haben, natürlich.

Zehn Minuten verharrte er regungslos und sprach nun langsam, während er seine unverletzte Hand betrachtete: Unsinn ist alles. Davonzulaufen! Ich stell' mich ja doch später. Man ist doch nicht anders. –

Das Gehen fiel ihm schwer, nur mühsam schleppte er sich bis zur nächsten Droschke. Er wünschte durch die Tiergartenstraße gefahren zu werden, dann nach rechts in die Hofjäger-Allee und stieg ein.

Er saß betäubt und ganz ruhig im Wagen. Ich kann aus dem Fenster alles sehen, sagte er sich in Gedanken wieder und wieder, ich brauche keineswegs auszusteigen. Als sie in schnellem Trapp in die Hofjäger-Allee abbogen, ließ er die Scheibe an der rechten Seite hinuntergleiten, lehnte sich tief in die andere Ecke und spähte von dort in die frische Nacht hinaus. Er fröstelte im Zugwind. Drüben sah er zwei Gestalten, die eilig aneinander vorüberschritten, etwas später einen ruhig dastehenden Schutzmann. Sonst Niemanden. Die Straße lag still im Mondlicht, keine Wolken mehr. Während er noch immer hinausstarrte mit suchendem Blick, hielt der Wagen am großen Stern.

Er sprang auf's Pflaster. – Nicht erkannt, den Platz. Weiß Gott, wo? Er wandte den Kopf zurück.

Der Kutscher seufzte ungeduldig, nach einer Weile befahl Büchner, ihn nach Hause zu fahren. Es ist einerlei, dachte er unterwegs, er ist jedenfalls nicht mehr da, ob er tot ist oder nicht, sie haben ihn fortgetragen.

Die Treppen zu seiner Wohnung stieg er leise, fast geräuschlos hinauf. In seinen Zimmern fand er es unbehaglich kühl, er warf im Dunkeln Hut und Mantel ab und machte Feuer, er zündete alles an, Lampen und Leuchter. Der Ofen war längst ausgebrannt, in gelindem Zuge strömte es von draußen durch die Fensterspalten, in der Mitte vor den Scheiben hob und senkte sich das Tuch regelmäßig und lautlos, ruhig, wie im Schlaf atmend. Gedankenverloren sah Büchner zu, es that seinen Augen wohl. Dann ging er an seinen breiten, runden Tisch und schob mit einer Armbewegung nur, wie um sich recht viel Platz zu machen, alles, was da unordentlich im Wege stand und lag, auf den Divan nebenbei, Handschuhe, Zigaretten, Döschen, verstaubte Arzneigläser und Bücher. Es gab einen gedämpften Ruck, die Sprungfedern im Divan klangen leise auf, zu Boden war nichts gerollt. Er griff nach seinen Schlüsseln und trat vor den Schrank, in dem er seine Manuskripte aufgestapelt hatte, dann öffnete er auch den Schreibtisch und zog die Schublade weit vor. Er blickte herein und wandte den Kopf zurück. Es gab eigentlich nichts zu ordnen – hier und dort. Für wen auch? Und außerdem, so schnell würde der Verdacht gewiß nicht auf ihn fallen, dazu, für solche Dinge war immer noch Zeit, viel Zeit.

Gewiß, die Papiere konnte man gelegentlich immer noch zusammenkramen, darauf kam es nicht an. Zudem bewahrte er Ercole's Briefe an ihn mit einigen Wertpapieren auf einer Bank. Kompromittiert würde also in keinem Fall irgend Jemand, ihr Verhältnis bliebe unentdeckt.

Er erhob sich, ließ sich aber kraftlos nach wenigen Sekunden auf die Kniee niedergleiten, streckte langsam die Arme über den Sessel und preßte den Kopf in sie. Er schluchzte leidenschaftlich ein paar Mal, während er zu Atem kam, flüsterte er: »Auf ihn, auf ihn hab' ich gezielt.« Dann weinte er ganz still.

Er suchte sich zu fassen, um irgend etwas thun zu können. Ihm schien, diese Ungewißheit wäre keine Minute mehr zu ertragen und doch fand er nicht den Mut, Ercole's Schicksal erfahren zu wollen. Sein Blick fiel auf das Bild seiner toten Mutter und er betrachtete es lange.

Wenn es schon Morgen wäre – er hob die Gardine, aber es dämmerte kaum. Dann wandte er sich, ging in sein Schlafzimmer und schaute sich dort nach einer Kognakflasche um, sie mußte irgendwo hier stehen. Er fand sie und goß sich beinahe ein ganzes Wasserglas voll. Als er in kurzen Absätzen ausgetrunken hatte und die Glieder ihm warm und schwer wurden, spürte er seine Gedanken aus dem Kreise springen und unaufhaltsam durcheinanderlaufen. Der Rausch machte ihn stumpf und warf seinen Schleier zwischen ihn und die Welt, er fühlte nur seinen Körper, groß und müde. Er rauchte in langen Zügen tief einatmend, dann setzte er sich auf's Bett und streckte sich nach wenigen Minuten auf den Rücken. Er lag da wohlig betrübt und immer mit dem Bewußtsein, noch nicht zu schlafen.

Nach guter Weile hörte er irgendwo schellen. Er schlug die Augen auf und starrte ohne sich zu regen in den grauen Morgen im Zimmer. Jetzt wurde gepocht – an seine Flurthür, spitz und hart, offenbar mit dem gebogenen Zeigefinger. Jedenfalls hatte man auch vorhin seine Glocke gezogen, doch konnte er sich auf den Klang nicht mehr deutlich besinnen. Er sprang empor mit dem Gefühl auf Tod und Leben eine Rolle spielen zu müssen, der er nicht gewachsen sein würde. Aber wie hatte man denn schon Verdacht gefaßt? Er trat ein paar Schritte vor. Vielleicht sag' ich's? Natürlich nicht die ganze Wahrheit – natürlich darf es nicht dazu kommen, zu einer Gerichtsverhandlung bei geschlossenen Thüren, ich werd' mich doch nicht hinwerfen vor die Zeitungen. Ich gebe nur zu, daß ich ihn erschossen hab', nur die Thatsache und schweige sonst hartnäckig, hartnäckig. Aber wenn man errät? Wenn die Welt neugierig ist, dann rät sie; zuweilen gar nicht falsch.

Es schellte wieder. Nein, nicht gestehen.

Also behutsam zu Werk.

In einer halben Minute hatte er sich bis auf's Hemd entkleidet und seine Sachen unauffällig auf einen Sessel gestapelt. Die Strümpfe lagen ganz ordentlich am Fußende des Bett's. Er sprang unter die warme Decke und zog sie bis zum Hals hinauf. Mein Gesicht hab' ich beherrschen gelernt und zähe kann ich auch sein, dachte er zufrieden und entschlossen.

Es schellte wieder. Büchner horchte, ob seine Wirtin nicht endlich öffnen würde. So mußte es sich doch abspielen. Man würde sie bei Seite schieben und dann sogleich eintreten, während Büchner scheinbar erwachte und sehr erstaunt über diese nächtliche Ruhestörung dreinschaute.

Plötzlich fuhr er in bleichem Schreck empor. – Ich denke ja ganz falsch, ich vergeß' das immer, wie sollten sie denn auch so schnell auf mich verfallen – er lebt ja vielleicht, sie können durch ihn auf mich gebracht sein – so ist's. Ganz unnütz diese Maßregeln.

Er eilte aus dem Bett, durchlief sein Wohnzimmer im Hemd, schloß die Thür zum Korridor auf und dann die andre zum Flur. Er trat zurück; aber nichts rührte sich, niemand stand da. Die Luft aus dem Treppenhause schlug ihm kalt entgegen, die Stufen dämmerten. Er sprang vor, mit den nackten Füßen auf den Stein, sinnlos in der Verzweiflung, außer sich. Wie eine kühle Wolke, die sich zusammen zog um ihn zu ersticken, spürte er das Halbdunkel um sich und die Angst vor etwas Übernatürlichem, Furchtbarem, das irgendwoher näher und näher kam, entpreßte ihm einen Schrei. Es hallte versagend, wie ein Ruf um Hilfe. Er umklammerte das Geländer, betäubt.

Nach wenigen Sekunden hörte er einen Schritt langsam herauftappen. Es ist nur ein Mensch, dachte Büchner. Er raffte sich auf und stand da, bewegungslos wartend – immer noch – immer noch, bis er unter sich auf dem Treppenabsatz einen Mann erblickte, der sich langsam anschickte, nun auch die letzte Stufenreihe emporzuschreiten.

Nahe vor Büchner hielt er mit einer erstaunten Geste inne. »Sie werden sich ja verkühlen, Herr Doktor. Es ist nur ein Brief, ich bin der Portier hier, den Brief soll ich gleich abgeben, ich hab' sechsmal schon geläutet.«

Büchner rührte sich nicht. »Nun und?« fragte er.

Der Portier streckte die Hand hin und begann noch einmal: »Ich soll ihn gleich abgeben, sehr wichtig, hier ist er, sechsmal hab' ich geläutet.«

»Nun ja, mein Lieber, ich werde ihnen ein gutes Trinkgeld geben, morgen früh, eben hier – ich hab' wirklich nichts bei der Hand.«

»Dank schön, dank schön, Herr Doktor, verkühlen Sie sich nur nicht.«

Er machte kehrt während Büchner zurücktrat und die Thür hinter sich schloß. Der Brief entfiel seinen bebenden Händen zweimal und er hatte Mühe, sich zu bücken. Als er in seiner Stube den weichen Teppich unter den brennenden Sohlen spürte, versagten ihm die Beine, er taumelte und mußte sich setzen. Wie betrunken bin ich, dachte er und erinnerte sich, daß er ein Wasserglas voll Kognak geleert hatte. Es war ihm nicht möglich, die Aufschrift zu lesen, im unsicheren Halblicht schien alles vor seinen Augen unruhig bewegt, er suchte nach Feuerzeug und erst als die Kerzen flammten, sah er zu und erkannte Ercole's Hand.

Er öffnete nicht gleich und wollte überlegen. Vielleicht hatte Ercole ihm aus irgend einem Grunde gestern Abend noch geschrieben, ehe er ausging? Aber nein, doch nicht, das konnte nicht sein – wie sollte zu dieser Stunde –

Er zerriß den Umschlag und entzifferte – es war undeutlich mit einem Bleistift geschrieben: Caro Gerardo, la polizia non sa nulla ho mentito. Sono ferito, Charité, vieni da me. Tuo Ercole.

Er übersetzte mißtrauisch, flüsternd, Wort für Wort: Lieber Gerhart, die Polizei weiß nichts, ich hab' was vorgelogen. Ich bin verwundet, Charité, komm zu mir. Dein Ercole.

Er breitete sorgsam den Zettel aus und legte ihn vor sich auf den Tisch. Er fröstelte im Hemd und schlug sich eine Decke um die Schultern. Und bis er zu ihm eilte las und las er, wieder und wieder, zuletzt nur die unscheinbaren Worte oben und unten: Caro Gerardo – Tuo Ercole.

2.

Als Büchner eingetreten war, blieb er stehen, ruhig, aber ganz unsicher. Im Halbdunkel der Krankenstube sah er Ercole's Augen aufleuchten, niemand sonst befand sich in der Minute hier. »So komm doch näher,« rief er leise, ungeduldig.

Büchner gehorchte. Ercole hob die rechte Hand mühsam, faßte zuerst seinen Arm und suchte sie dann um seinen Nacken zu spannen, um sich den Freund näher zu bringen. Der gab dem sanften Druck nach und beugte sich vor, daß er seinen Atem spürte, wie Ercole nun eilig flüsterte: »Ich darf mich nämlich nicht bewegen. Gott sei Dank, daß du da bist, ich hab' gar nicht schlafen können vor Unruhe und bin so matt. Lebensgefährlich ist es nicht für mich, hat man gesagt. Es weiß doch niemand? Was? Von unserem – rencontre

»Nein, nein.«

»Gott sei Dank. Ich hab' den Leuten was von einem Raubüberfall erzählt, später muß ich das für die Polizei recht schlau ausschmücken – übrigens darauf kommt ja doch niemand. Ich schrieb italienisch, damit man nicht lesen kann, durch den Umschlag.«

Es drängte sich Büchner etwas auf die Lippen, ein Gedanke, ein Gefühl nur, das nach irgend einem Ausdruck rang. Er ahnte, daß es ihm nicht möglich sei, es deutlich zu formen, was er nicht in sich verschließen konnte, doch brach er damit aus, er mußte es fragen. »Aber ich – muß ich es nicht sagen, die Wahrheit, muß ich mich nicht stellen?«

Ercole brauste auf: »Aber nein, dummer Mensch, das ist wieder echt so eine Idee von dir. So etwas albernes fällt immer nur dir ein – Du bist solch ein, so ein –«

»Sei ruhig, bitte, bitte,« unterbrach ihn Büchner ängstlich.

Ercole hielt seine Hand und lächelte. Dann begann er von neuem, ein wenig ärgerlich noch immer: »Aus welchem Grunde denn? Warum willst du das?«

»Ich will es ja nicht, Ercole, ich will es ja nicht – ich.« Er stockte auf einmal und sah zu Boden, mit einem Empfinden, wie er es ihm gegenüber noch nie verspürt hatte. Plötzlich vollendete er schnell und leise: »Ich dachte, ich müßte so etwas fragen, ich müßte.« – Während einer halben Minute schaute er nicht auf; er fühlte Ercole's dunklen Blick auf sich ruhen. Dann sprach er hastig besorgt: »Aber ich bin so gar nicht bei Sinnen – hast du Schmerzen?« – Er kniete vor dem Lager, schluchzend und sah ihm ins bleiche Gesicht. Die Stimme bebte ihm. – »Wie verrückt gewesen bin ich. In der Brust ist's? Sag' doch, sag', hast du Schmerzen?«

»Nicht, nur müde.«

»Schlaf nur, wenn du wach bist, bin ich wieder da.«

Ercole hatte die Augen geschlossen und atmete langsam und tief. Büchner erhob sich und ging leise zur Thür, wo er mit einem älteren Herrn, einem Arzt wahrscheinlich, zusammenstieß.

»Sie sind Dr. Büchner?«

»Ja – ich –«

»Sehr schön. Herr Tomei bestand drauf, Ihnen selbst zu schreiben, es wird ihn beruhigen, daß Sie da sind. Ich sehe eben nach ihm – warten Sie auf mich im Korridor.«

Er war gleich wieder zurück. »Herr Tomei ist im Einschlafen, das ist ja auch das Beste.«

»Ist es sehr schlimm?«

»O, so was wird schon durchgemacht, die Kugel freilich bleibt stecken, ziemlich nahe am Herz, aber so gefährlich ist das nicht. In einigen Wochen wird er schon gehen können. Ja, was nicht alles vorkommt. Man hat Ihnen wohl erzählt?«

»Ich war nur eine Minute bei ihm, nicht genau.«

»Da draußen in der Hofjäger-Allee ist es passiert, ganz einfach ein Raubmordversuch! Mit zwei Leuten hat er gerungen, eine ganze Zeit über, dem einen hat er das Messer aus der Hand gewunden und dem Kerl selbst damit einen Stich beigebracht, währenddeß hat der andere geschossen. Dann müssen sie irgendwie gestört sein, jedenfalls haben sie in der Eile nichts weiter stibitzen können als sein Portemonnaie mit etwas Kleingeld und einem Goldstück – Uhr, Brieftasche, alles ist da. Und fort sind sie beide, auch der mit dem Stich. Kolossale Frechheit.«

»Ja, das ist erstaunlich, in der That.«

»Aber die werden gefaßt, dafür garantiere ich Ihnen, solche Herren blitzen bei uns nicht durch, bei unserer Polizei.« Der Doktor machte eine entsprechende Handbewegung und schneuzte zweimal dröhnend. »Sagen Sie, ist das wohl der Sänger Tomei?« fragte er dann.

»Ja, mein Freund ist Sänger. Sie meinen also, es wäre nicht so gefährlich? Aber er sieht so bleich aus.«

»Ohnmachten, Blutverlust, ist nicht so böse, ich hoffe gewiß, daß es gut abläuft. Ja, meine Zeit ist beschränkt.«

»Entschuldigen Sie, noch eines, darf ich immer zu ihm?«

»Ja, das heißt, nicht immer, natürlich nicht am Abend. Sie können ihn täglich sehen, aber er darf nicht sprechen möglichst wenig sprechen, ich werde ihm das noch einmal einschärfen – und bleiben Sie nicht über eine Viertelstunde. Selbstverständlich darf er nicht gestört werden, wenn er schläft. Mahlzeit.«

Auch Büchner machte kehrt. Draußen blieb er stehen und ging dann langsam über den Platz. Nach hundert Schritten vielleicht wandte er sich um und blickte zurück auf das Gebäude, unschlüssig und wie erstaunt. Wie hatte sich das alles nur so schnell ereignet? Wie war es denkbar, eine solche Geistesgegenwart zu entwickeln, wenn man dalag, schwer verwundet, aus einer Ohnmacht erweckt? So schnell und sicher zu handeln, alle Welt naszuführen in solch einem Zustande? Woher nahm Ercole das, diese Kraft? Und warum bethätigte er sie, wenn sie sich doch kurz vordem – so gegenüberstanden? Daß ihm die Wahrheit nicht im ersten Zorn entschlüpfte, diesem heißen Blut gerade.

Er ging weiter, verwundert sinnend. Jedenfalls, das muß geschehen – unterbrach er sich in seinen Gedanken. Er rief eine Droschke an und befahl, ihn zum nächsten Postamt zu bringen, er wollte Elly sogleich telegraphieren. Morgen Abend kommt sie dann wohl, übermorgen erst werden sie sich sehen, überlegte er.

Es war elf Uhr, er kehrte irgendwo ein um zu frühstücken und verlangte nach Zeitungen. Sehr bald schon fand er eine Lokalnotiz, die von einem räuberischen Überfall handelte und die Sache genau so wiedergab, wie sie der Doktor in der Charité soeben erzählt hatte. Auch daß der bekannte Sänger Tomei im ersten Schreck keineswegs die Besinnung verloren, sondern einem der Mordgesellen den Dolch entrungen und nun den Angreifer selbst verwundet hätte, war nicht vergessen. Büchner las die paar Zeilen wohl zwanzigmal durch und konnte sich dann eines herzlichen und frohen Lächelns nicht erwehren. Jetzt aber erkenne ich ihn wieder, meinen Helden, dachte er – wie wird er sich bewundern lassen!

Als er am Nachmittage wiederkam, schlief Ercole nicht mehr und grüßte mit einem kurzen Aufleuchten der Augen zur Thür hinüber. Büchner hob sich einen Stuhl ans Lager, faßte seine Hand, hielt sie in der seinen und betrachtete ihn aufmerksam und ruhig. Es war still im Gemach. Mit dem leisen Carbolgeruch verband sich ein frischer Duft nach Leinwand. Draußen vor dem hohen, klaren Fenster lärmten die Spatzen ungeberdig und fröhlich.

»Was siehst du mich denn so groß an, so durchdringend?« fragte Ercole.

»Thue ich das? Ich wußte nichts davon. Aber hörst du, du sollst nicht sprechen. Sag nur noch, ob du Schmerzen hast.«

»Nicht sehr stark,« antwortete Ercole in mattem Ton. Dann jedoch belebte irgend ein schlauer Einfall seine Mundwinkel. Einige Minuten verstrichen, bis er plötzlich fragte: »Wie kamst du darauf?«

»Ich wartete vor deiner Hausthür, ob du noch ausgehen würdest, dann spürte ich dir immer nach, zuerst im Wagen, dann zu Fuß, als du auch gingest. Die ganze halbe Nacht, überall war ich.«

»Und dein Finger?«

»Ach, es brennt nur noch von Zeit zu Zeit.«

Büchner schwieg, nicht beklommen gerade, aber doch von irgend etwas in Schach gehalten. Erst nach geraumer Weile begegneten sich ihre Blicke wieder, ein paar Mal nur flüchtig, dann sahen sie sich tiefer in die Augen, Ercole lächelte unbefangen und frei.

Es war still. Ein warmer, voller Lichtstrom brach ins Zimmer und sonnte Millionen verwirrter Stäubchen, die in ihm schwammen und langsam emporzugleiten schienen, zum klaren Fenster und hinaus. Im hellen Februarnachmittag lärmte der Schwärm draußen noch immer.

So strich eine Viertelstunde hin, dann erzählte Büchner: »Ich hab' Elly telegraphiert.«

»Du hast ihr telegraphiert zu kommen?« fragte Ercole verwundert.

»Ja, natürlich.«

»Dann werd' ich sie morgen oder übermorgen sehen?«

»Ja, gewiß,« erwiderte Büchner noch verwunderter. »Sollte ich sie denn nicht benachrichtigen, sag' doch, Ercole, wie meinst du das?«

Ercole schwieg.

»Sonst hätte sie es durch die Zeitungen gehört, ich meine, das wäre doch nicht gegangen.«

»Das ist freilich wahr, das wäre nicht gegangen. Nun also gut, dann wird sie kommen, aber wollen wir nicht mehr sprechen.«

»Nein, nein, du sollst auch nicht, liege nur so da, ganz still. Hast du Schmerzen?«

»Nicht schlimm.«

Hab' ich es ihm nicht recht gemacht? fragte sich Büchner erstaunt und im Zweifel. Sie rührten sich nicht Hand in Hand, es dämmerte.

Nach geraumer Weile trat der Arzt ein. »Nun, wie steht's?« Während er zum Bett ging und sich zu schaffen machte, hielt sich Büchner abseits.

»Ich bin nicht unzufrieden, und die Stimmung?«

Der Kranke lächelte und antwortete matt aber mit klarem Tonfall: »Danke, gut.«

»Das ist ja sehr erfreulich zu hören. Wenn Sie sich nur schonen und nicht zu viel sich unterhalten mit dem Herrn Doktor,« er wandte sich, – »Büchner, nicht wahr?«

»Jawohl.«

»Die Hauptsache ist nämlich,« begann er plötzlich sehr entschieden, »daß, wenn man gesund werden will, vernünftig ist. Übrigens viere haben sie schon, hörte ich.«

»Eingesteckt?«

»Jawohl, hinter Schloß und Riegel, da werden die Rechten wohl auch drunter sein.«

»Denen soll es aber an den Kragen gehen,« meinte Ercole grimmig.

»Wird's auch. Nun, am Abend komme ich noch einmal vor.« Der Doktor wandte sich der Thür zu und reichte Büchner die Hand. »Gar zu lange dürfen Sie aber auch nicht bleiben, es wird spät,« sagte er eilig.

Als sie allein waren, schwiegen sie einige Minuten.

»Die werden einen schönen Schreck haben, diese vier.« Ercole war ganz belustigt.

»Ja, es ist doch furchtbar, wenn sie wirklich unter Anklage kommen und gar verurteilt werden. Was fangen wir da an.«

»Du bist sehr dumm, Gerhart,« entgegnete Ercole ruhig. »Ich habe ja behauptet, daß ich die Beiden genau gesehen habe. Man muß sie mir doch vorführen, nun, und ich werde sagen, sie wären es nicht. Auf diese Weise kann man mir auch viertausend Strizzi vorführen, ich werde jeden aufmerksam betrachten und dann erklären, er wäre es leider ganz bestimmt doch wieder nicht. Dabei schimpf ich etwas auf die schlechte Polizei. Wie gut ich lügen kann, weißt du doch.«

Büchner sah ihn an.

»Nun ja,« fuhr Ercole beinahe ärgerlich fort, »ich behaupte zuweilen das Gegenteil, aber du weißt es ja doch. Übrigens, ich möchte dir gern einen ganz kurzen Brief diktieren, das Schreiben fällt mir schwer. Hier ist eine Bleifeder, du mußt es aber zu Hause recht sauber abschreiben mit Tinte, damit man es ganz deutlich lesen kann und dann zur Post tragen.«

Büchner nahm ein Blatt Papier und machte sich bereit.

»Es ist nämlich an ihn. Du weißt, du hast ihn auch gesehen. Es ist ein ganz junger Mensch, neunzehn Jahr, ein Steinbildhauer, er geht in die Lehre bei seinem Meister. Es war so hübsch, wie wir uns kennen lernten – ich erzähle dir das später einmal. Er hat mich sehr gern, sehr gern – o er wird traurig sein.«

»Warum?«

»Aber ich werde ihm doch jetzt schreiben, daß ich krank bin, daß ich verreisen, daß wir uns überhaupt nicht wiedersehen werden. Schreibe also: »Sei nicht traurig, ich werd' dich sehr lieb behalten und oft an dich denken. Es war so schön mit dir zusammen, ich werd' das niemals vergessen. Ich schicke dir siebzig Mark, davon kannst du dir immer Zigaretten kaufen und wieder abonnieren beim Buchhändler auf die Kriminalromane, die du so gern liest. Vielleicht kannst du dir auch etwas zurücklegen für den nächsten Winter und dir dann einen warmen Mantel kaufen, damit du nicht ohne solchen bist, wenn es kalt ist beim weiten Weg von zu Haus bis in dein Geschäft. Vergiß mich nicht, ich werde oft an dich denken. Athen und Rom grüßen. Leb wohl, lieber Paul. Dein dich liebender Friedrich.«

»Nun und die Adresse?«

»Herrn Paul Lange, Postamt Marienstraße lagernd. Ich habe in meiner Brieftasche einen Hundertmarkschein, nimm ihn bitte und wechsele in zwanzig und fünfzig.«

»Und was soll denn das, Athen und Rom grüßen.«

»Nichts Besonderes, nur so eine dumme Redensart zwischen uns, die er sich ausgedacht hat.«

Büchner lachte kopfschüttelnd.

»Nun, was dachtest du eben?« fragte Ercole.

»Das werde ich dir einmal sagen, wenn du mir erzählst, wie Ihr Euch kennen gelernt habt.«

Als Büchner im sinkenden Abend heimschritt, fragte er sich wieder: Ob es ihm nicht recht war? Was ihn nur dabei wunderte, daß ich Elly telegraphiert habe?

3.

Während der beiden nächsten Wochen erholte sich Ercole sichtlich, von Tag zu Tag. Die Ärzte stellten eine völlige Genesung in Aussicht, rieten jedoch auch für die Zukunft zu äußerster Schonung, auch wenn er aus dem Krankenhause entlassen wäre, wie nach Ablauf einer kurzen Frist zu erwarten stand. Singen dürfte er wenigstens ein ganzes Jahr lang keinen Ton.

Büchner lebte in einer Ungewißheit, die ihn aber nicht beunruhigte und ihn morgens, war er früh erwacht, wie sonst eine Hoffnung in neuen Schlaf wiegte. In andren Stunden wieder quälten ihn Zweifel und um den Weg zu finden, der aus ihnen zur Klarheit hinausführte, suchte er sich alles recht genau ins untreue Gedächtnis zu rufen, was seine Eindrücke vervollständigen könnte. Wie sah es in Ercole aus? Keinen Vorwurf, eine Frage nicht einmal that er, sein Wesen blieb freundschaftlich zärtlich, fast ohne irgend eine Schwankung. Und kein Won einer Aussprache war gefallen. Und dabei hatte Büchner durchaus nicht das Gefühl, Ercole vermiede absichtlich, gewisse Punkte zu berühren; offenbar fand er es nur unnütz, sich mit einer Silbe auch nur bei Dingen aufzuhalten, die sich von selbst verstehen müßten, wie er zu meinen schien. Warum bist du mir jetzt gerade so gut? Büchner wagte es nicht zu fragen, eine Schüchternheit lähmte ihn, es käme ihm nicht zu, den Freund auszuholen, glaubte er – er sollte reden, Ercole. Oder schweigen, wie immer es ihm gefiel.

Auch waren sie nicht oft allein seit Elly's Ankunft. Er erwartete sie auf dem Bahnhof, unterwegs hatte sie durch die Zeitungen schon Näheres über den räuberischen Überfall gehört, er fand kaum noch etwas hinzuzufügen und beruhigte sie über Ercole's Zustand.

Er hielt es für richtig, mit seiner Gegenwart am Krankenlager etwas mehr zu kargen, es schickte sich doch wohl nicht anders. Als er jedoch einmal einen ganzen Tag wegblieb, merkte er, daß Ercole unzufrieden war und es sehr übel aufnahm, verlor er auch kein unmutiges Wort. So kam er denn häufiger und obgleich der Arzt es offenbar nicht sehr wünschte, geschah es, daß sie hin und wieder zu Dreien miteinander plauderten. Ercole redete nicht viel, hörte aber nicht ohne Interesse zu; größtenteils achtete er auf Büchner, fragte er einmal dazwischen, so richtete er sich gewöhnlich an ihn. Er war überhaupt auf ihn aufmerksamer als auf sie. – Allmählich fiel Büchner eine Unruhe und Zerstreutheit an Elly auf. Dann sah er sie zu seinem Befremden Ercole gegenüber eine leise Kälte zur Schau tragen. Bat er um irgend einen kleinen Dienst, um einen Schluck Wasser etwa, so hielt sie still, bis Büchner, das erste Mal nicht ganz sicher, aufstand, eingoß und ihm reichte. Währenddeß blickten ihre Augen starr ins Leere.

Schon nach einigen Tage ward Ercole aus der Charité entlassen. Man hoffte, er würde schon in wenigen Monaten völlig wiederhergestellt sein, es gab keinen Grund, anzunehmen, daß die Kugel dem Herz gefährlich nahe säße. Sie hatten beschlossen, seine Rückkunft ins Haus mit einem kleinen Abendessen zu feiern, doch ihnen ward nicht recht behaglich bei der Mahlzeit am gewohnten Tisch. Wie Büchner bemerkte, sprachen sie so wenig, daß es selbst den Diener befremdete, da er dem Anschein nach nicht so leise auf und abtragen konnte, wie sonst. Als er den Champagner entkorkte, sahen sie ihm alle drei aufmerksam und gespannt zu, im Grunde aber befangen von ihrem Schweigen. Später im Saal ging Büchner ruhig auf und nieder, er zwang sich dazu, lebhaft zu reden, zu erzählen, fürchtete aber, man würde das sehr bald herausfühlen. Er vermied es, sie anzublicken und schaute zu Boden, doch lugte er bisweilen seitwärts in den hohen viereckigen Kaminspiegel, der ihm Ercole's und Elly's Bild entgegenwarf, wie sie still nebeneinander saßen. Doch nur schattenhaft im Umriß erkannte er sie, es herrschte ein gedämpftes Licht, so daß es ihm nicht möglich war aus der Haltung ihrer Köpfe zu entscheiden, ob sie ihm zuhörten. Kurz bevor Büchner aufbrach und Ercole für einen Augenblick aus dem Zimmer war, sagte sie schnell: »Ich wollte Sie bitten, Herr Doktor, morgen lieber nicht zu uns zu kommen. Ich habe nämlich Briefe von zu Hause bekommen, eigentlich sind es ganz gleichgiltige Sachen, um die es sich handelt, aber wir müssen es einmal erledigen. Es würde nur langweilig für Sie sein, obgleich es keine großen Geheimnisse sind.«

»Aber gewiß, gnädige Frau, ich –«

»Es ist ja nur morgen. Aber ich muß mich mit Ercole besprechen. Das heißt, es ist nicht wichtig.« Sie schwieg sehr plötzlich, hatte aber offenbar die Absicht, sich noch weiter zu entschuldigen.

»Also wir sehen uns dann übermorgen wieder,« sprach er schnell, während sie ihm die Hand reichte.

Was für Angelegenheiten sollte es denn geben, dachte er zweifelnd bei sich unterwegs nach Hause. Sie will allein mit ihm sein, voilà tout. Er fühlte sich getadelt, als wäre er zudringlich gewesen und zum ersten male seit Ercole's Krankheit spürte er sie wieder, leise und schnell wachsend, die Eifersucht.

Um zwei Uhr etwa am andren Tage hörte Büchner bei sich schellen, wie seine Wirtin öffnete und wie im Korridor rasch einige Worte gesprochen wurden. Er glaubte eine Stimme zu erkennen, erhob sich und blickte gespannt auf seine Thür. Und wirklich, er hatte sich nicht getäuscht, Elly war es; sie trat nach leisem Pochen ein und schloß hinter sich.

»Sie sind verwundert, mich bei Ihnen zu sehen.«

»Aber es ist sehr liebenswürdig von Ihnen, gnädige Frau, sich einmal heraufzubemühen. Legen Sie nicht ab, einen Augenblick?« Während er sprach, betrachtete er sie; sie sah bleich und furchtbar ermüdet aus und vermied es, seinem Blick zu begegnen. Büchner erschrak, der Atem ging ihm aus, als er überstürzt fragte: »Ist es schlimmer? Sagen Sie doch!«

»Wie denn? Was?« Sie schaute ihn groß an im Zweifel.

»Ercole, Ercole?«

»Nein, nein. Es ist nicht das, ich bin nicht deshalb hier. Es geht ihm ganz gut, ganz gut, auch heute gar nicht schlechter. Sie können ganz ruhig sein.« Ihre Stimme brach ab mit einem jähen, lauten Aufklingen der letzten Worte, nach denen es totenstill im Zimmer wurde. Aus dem Flur hörte man gedämpfte Schritte, eilig treppauf, treppab.

Sie hatte sich gesetzt. Büchner stand ratlos vor ihr, dann setzte er sich auch, ihr gegenüber. »Hat irgend eine besondere Veranlassung Sie bewogen, mich aufzusuchen?« fragte er entgegenkommend aufmerksam. »Ich meine, es scheint so.«

Sie antwortete nicht gleich, erhob sich wieder, lehnte sich mit dem Rücken nahe der Thür zum Korridor an die freie Wand und räusperte sich. Offenbar versuchte sie mehrmals anzufangen, that es aber doch nicht, bis sie ihm endlich einen kurzen Blick zuwarf und die Augen nun senkte. »Ich bin gekommen, um mich von Ihnen zu verabschieden. Und dann ist noch ein Grund da, den ich Ihnen gleich sagen werde. Übrigens weiß Ercole nichts davon, daß ich hier bin. Es ist auch unnütz, daß Sie es ihm später erzählen. Übrigens, wenn Sie wollen, so können Sie es ja auch thun, es ist ja ganz einerlei. Das alles ist ja überhaupt ganz gleichgiltig.«

Sie schwieg während einiger Sekunden. Er hielt den Blick starr auf sie gerichtet.

»Ich verlasse ihn nämlich, ich bleibe nicht bei ihm.«

Büchner schnellte empor. Sie weiß alles, dachte er – aber nein, dann wäre sie doch niemals hier.

»Wieso? Sie reisen fort? Wohin?«

»Das ist ja einerlei. Ich habe mich entschlossen, ihn zu verlassen und nicht mehr zurückzukehren. Es ist aus zwischen uns.«

»Ja, ich begreife das gar nicht, warum denn? Und so plötzlich,« rief er ehrlich bestürzt.

»Warum?« fragte sie leise zurück, böse und stolz lächelnd. »Warum? Erraten Sie das nicht? Erinnern Sie sich nicht, wie ich Sie damals um Rat bat, vor einiger Zeit, weil ich darunter litt, daß er bisweilen so kalt und gleichgiltig war, nicht nur launisch, wie Sie sagten? Erinnern Sie sich, damals, als er den Spiegel zerschlug? Sie wollten mich wohl nur beruhigen. Sie haben wohl früher als ich gewußt, daß er mich nicht wirklich liebt. Damals gelang es Ihnen – nun – meine Befürchtungen zu zerstreuen, jetzt weiß ich aber, daß ich mich schon damals nicht täuschte, da war irgend etwas. Jetzt fühle ich, daß es aus ist zwischen uns. Er hat sich auch nicht sonderlich angestrengt, um mich zu halten, obgleich er auch nicht den Mut fand, es geradezu auszusprechen, daß es ihm lieber wäre, wenn ich ginge. Vielleicht wäre es ihm auch lieber, daß ich bleibe – aber ich will nicht, ich will nicht unter solchen Umständen.«

Sie schwieg. Ihre letzten Worte klangen leise, aber sicher und stark empfunden und betont. Sie stand da gequält und wie in tausend Gedanken verloren. Den einen Handschuh hatte sie abgestreift und zusammengeknüllt, daß die gepuderte Innenfläche alles Bräunliche überzog. Büchner begriff nicht, wo hinaus sie eigentlich wollte, was sie zu so gewaltsamen Entschlüssen drängte, auch erstaunte ihn ihr ganzes Wesen so, daß er nicht die Muße fand, zu überlegen. »Ich verstehe nicht, gnädige Frau, unter welchen Umständen? Wollen Sie sich nicht etwas deutlicher aussprechen, ich meine, ich verstehe wirklich nicht, Sie sagten unter solchen Umständen.«

Sie trat rasch vor ihn hin und brach in leidenschaftlichen Zorn aus: »Ihnen gegenüber soll ich deutlicher sein? Ihnen? Sie müssen es doch wissen, mein Gott, Sie wird er doch eingeweiht haben, ich bin gerade zu Ihnen gekommen, damit Sie es mir sagen – ich, ich, kenne ich sie denn genauer, diese Umstände, unter denen ich nicht mehr leben will? Ich fühle nur, daß irgend etwas zwischen ihm und mir ist, ich hab' ihn angefleht, er soll es mir sagen, aber er hat es nicht gethan. Aber Sie sollen es thun, Sie müssen es, er hat tausendmal geschworen, es wäre nichts Bestimmtes zwischen uns, aber ich weiß, daß er lügt. Sie sollen sprechen. Was ist's? Reden Sie doch. Was ist das alles? Man verbirgt mir was. Warum zerschlug er den Spiegel? Ich meine, was hat ihn damals so aufgeregt, daß er es that? Warum ist er in der Nacht im Tiergarten und wird von Vagabunden überfallen? Und Sie sind immer so sanft und ruhig und wissen von Himmel und Erde nichts. Alle diese Geheimnisse quälen mich mehr als die schrecklichste Wahrheit mich quälen würde. Sie sind doch sein bester Freund, Ihnen muß er doch erzählt haben – aber Sie wissen von nichts natürlich – die reine liebe Unschuld, nicht wahr? Das alles ist grauenhaft.«

Büchner war gefaßt, aber sehr bleich, es flimmerte ihm hell vor den Augen. Nachdem man jahrelang in einer ganz bestimmten gesellschaftlichen Form auf einander eingegangen war, in Ernst und Scherz, da zerbrach diese Form auf einen Schlag – das ängstigte ihn. Wie nun mit einander auskommen? Er gab sich Mühe weltmännisch höflich und sicher zu bleiben, um zu erzwingen, daß auch sie einen anderen Ton anschlug, aber ihm gelang es im ersten Moment nicht, ihre zornige Sprache steckte an und er fiel ein, rauh und viel zu laut: »So setzen Sie sich doch! Beruhigen Sie sich, so kann man sich doch nicht verständigen.«

»Gut, wie Sie wollen, auch so wird's gehen,« meinte sie etwas verächtlich und rückte sich ihren Stuhl wieder bequem. Dann sprach sie weniger heftig, doch immer noch in einer Weise, als wolle sie drohen: »Nun, ich warte.«

»Das alles kommt so plötzlich und überraschend,« sagte Büchner um Zeit zu gewinnen, sehr langsam, »daß ich durchaus nicht vollständig begreife, was für besondere Geheimnisse Sie bemerkt haben wollen, worauf Sie eigentlich so entschieden anspielen, was für Dinge mit solcher Sicherheit zu vermuten Sie sich berechtigt fühlen, ich meine fast –«

»Lassen Sie doch diese Schnörkel, Herr Doktor,« unterbrach sie ihn mit einer bösen, hochmütigen Traurigkeit, so herablassend sicher, daß Büchner erschrak.

»Sie sind unhöflich, gnädige Frau,« sagte er.

»Und Sie nur höflich, nur, nur. Sie unterschätzen mich aber, das ist der einzige Punkt, wo Sie unhöflich sind. Sie glauben, ich wäre blind, wie eine junge Katze, nicht wahr, das glauben Sie?«

Büchner erwiderte schnell, beinahe lächelnd: »Und Sie überschätzen mich, gnädige Frau, Sie glauben, ich wäre allwissend. Ihre Meinung ist zwar sehr schmeichelhaft für mich, leider kann ich ihr aber nicht beipflichten. Aber wollen wir doch ernsthaft reden, so kommen wir nicht weiter, auch lieben Sie ja die Schnörkel nicht. Ich muß Sie bitten, mir mitzuteilen, was sich in den letzten Tagen zwischen Ihnen und Ercole ereignet hat, denn ich habe durchaus kein Bild davon. In welcher Weise hat sich das abgespielt? Sie verlassen ihn pour tout de bon – weil er sie nicht liebt. Hat er Ihnen das gesagt, oder wie sind Sie denn dessen so sicher? Teilen Sie mir das alles doch etwas greifbarer mit, gnädige Frau, ich bitte Sie darum.«

Sie schwieg. Dann sagte sie niedergeschlagen und ruhig, ohne aufzusehen, während sie sich in den Ellenbogen stützte: »Es läßt sich eben nicht so greifen, mit Händen. Doch gut, ich werde Ihnen erzählen, wie es gekommen ist.«

»Wirklich ja, thuen Sie es. Ich versichere Ihnen, ich habe durchaus kein deutliches Bild.«

Sie ließ einige Minuten verstreichen, ohne sich zu bewegen. Er fühlte, daß sie ihre Thränen mühsam zurückdrängte. Endlich räusperte sie sich, schwieg aber auch dann noch, es schien, daß sie überlegen, sich besinnen wollte und daß es ihr Mühe kostete.

»Wie soll man das erzählen,« fing sie an. »Man merkt es eben so ganz langsam, wenn man doch nicht dumm ist und aufmerksam, wie ich es bin. Ich habe mich erst gestern so ganz davon überzeugt – deshalb bat ich Sie, Sie möchten lieber nicht zu uns kommen, ich wollte allein mit ihm sprechen, einmal mußte das doch ein Ende nehmen, diese Ungewißheit. Also nur in ein paar Worten: als mich Ihr Telegramm herrief und als ich ihn wiedersah, schien mir gleich, daß er sich nicht so recht von Herzen freute, daß ich gekommen war, daß ich da war. Anfänglich glaubte ich, er wäre nur der Schmerzen wegen so seltsam. Aber nach und nach wurde ich immer unruhiger, denn ich sah ganz deutlich, daß er sich Mühe gab, recht freundlich und gut gegen mich zu sein. Das war es nämlich. Wäre er nur gleichgiltig gewesen das ist man ja oft, wenn man krank ist. Aber nein, ich sah, daß er sich zwang, daß er befangen war, daß er es sich nicht merken lassen wollte, daß er sich anstrengte, um mir von Zeit zu Zeit einen liebevollen Blick zuzuwerfen. Ich merkte auch, daß er keine Lust hatte, mit mir zu sprechen, er wußte nichts zu sagen, er wollte es vermeiden – oh nicht deshalb, weil der Arzt ihn ermahnt hatte, wenig zu sprechen, nicht deshalb, so etwas fühlt man. Zuerst that ich, als sähe ich nichts – übrigens sprach er mit allen Andren viel lieber – gerade mit Ihnen und auch mit dem Doktor, ich that also, als wäre alles in Ordnung, ich hoffte, es würde irgendwie so vorbeigehen, aber es kam anders. Von Tag zu Tag wurde es schrecklicher, wir schwiegen mehr und mehr, wenn wir allein waren. Zuweilen versuchte ich ihn etwas auszufragen, so ganz behutsam, aber er antwortete nur trocken und so müde, nur so allgemein, an seinen Augen sah ich es, daß ich ihn quälte, daß er über irgend etwas nicht herüberkam. Und ich schwieg wieder und er. Immer stiller wurde es. Ich begriff es nicht, das alles, wenn man verheiratet ist und auf einmal ist alles aus und man schweigt. – Und als ich schließlich ganz genau verstand, daß er es nicht liebte, mit mir allein zu sein – wie anders war er gleich, wenn Sie kamen, doch Sie können das eben nicht beurteilen, aber er sah gleich ganz anders aus, so ruhig und froh, wie erlöst von einem Zwang. Ja – was wollte ich sagen – ja, ich quälte und quälte mich – woran denkt er, wenn er mit mir ist, was fehlt ihm? Er war ja auch früher von Zeit zu Zeit so, so in sich gekehrt, aber es war immer in ein paar Stunden vorüber oder in wenigen Tagen. Warum liebt er mich nicht mehr, dachte ich. Und da wollte ich endlich klaren Wein haben und seit heute Morgen bin ich ganz sicher, daß es aus ist. Deshalb bat ich Sie nicht zu kommen. Ich setzte mich wie gewöhnlich vor sein Bett heute und nach einigen gleichgiltigen Worten, sah ich ihm fest ins Gesicht und fragte schnell, ganz unvermittelt: »Du liebst mich nicht? Du willst, daß ich dich verlasse.«

Und da wußte ich es. Er war überrascht, nicht einmal erstaunt. Er antwortete nicht einmal gleich, ich bemerkte sogar, wie er überlegte, was er thun sollte. Und dann fing er an, mir zu widersprechen, mich zu überreden, ich sollte bleiben, gar nicht lebhaft und ohne Sicherheit. Und was die Hauptsache war, war das: Auch nicht ein bischen schien er verletzt zu sein, daß ich so etwas fragen konnte. ›Wie kommst du drauf? Warum glaubst du, daß ich dich nicht liebe?‹ Nichts Ähnliches, nichts Ähnliches hat er gefragt. Das war's. Er begriff wohl, daß ich genug ahnte. Als ich ihm nun schroff sagte, ich würde gehen, machte er kaum irgend einen ernsthaften Versuch, mich zu halten – nur ›beruhigen‹ wollte er mich. Aber er begriff wohl, daß ich zu stolz bin, einen Moment lästig zu fallen. Oh, er kennt mich. Aber das werde ich ihm nachtragen, daß er mir die Wahrheit nicht gesagt hat, jetzt, wo so wie so alles aus ist. Alles war vergeblich. Was hat ihn so verändert und mir entfremdet? Er wand und wand sich – es läßt sich nicht sagen, man kann es gar nicht, es ist nichts Bestimmtes, aber ich merkte, daß da irgend etwas Bestimmtes ist. Ich war zu stolz, ihn noch länger zu bitten. –«

Schon während der letzten Minute hatte ihr Blick ein paar Mal mißtrauisch prüfend Büchner's Antlitz gestreift, jetzt blieb er tot und starr an ihm heften und sie fragte ganz tonlos: »Was ist mit Ihnen, Doktor Büchner, warum sehen Sie so aus? So – Ihre Augen glänzen.«

Er fuhr im Schreck zusammen, sprang auf und stotterte irgend etwas – sie täusche sich, es wäre nicht so, er wäre nur erstaunt, er hätte nur zugehört. Dann kehrte er sich ab, scheinbar hastig nach Zigaretten und Feuerzeug suchend, er wagte es nicht, sie anzusehen, der Schimmer von Glück könne noch immer in seinen Augen leuchten, fürchtete er.

Aber sie beachtete ihn gar nicht, offenbar nahmen ihre Gedanken eine andere Richtung, sie schien über den seltsam freudigen Blick, den sie aufgefangen hatte, nicht weiter nachzusinnen. Sie sprachen nicht.

»Ich weiß wohl,« begann sie müde, »daß auch Sie mir keinen andren Rat geben können, als den, zu thun, was ich thun wollte, ihn nämlich nicht mehr wiederzusehen. Ich geh' auch nicht mehr zurück ins Haus. Ich war auch nicht zu Ihnen gekommen, damit Sie mir raten sollen. Ich will nur wissen, ehe ich Berlin verlasse, worum es sich handelt, was das für ein Geheimnis ist. Sagen Sie mir, es ist meine letzte Bitte, wer ist dieses Weib?«

Büchner errötete, als würde er sich erst eben der Lüge bewußt, die sein und Ercole's Leben verschüttete, für die Welt und für sie überdeckte, wie graue, sinkende Asche. Daß es dahin kam, daß sie blind sein mußte, so blind. Ihn das zu fragen.

Es lastete auf ihm, wie eine Schmach, daß sie vor ihm stand. Zu ihm war sie geeilt, ihm vertraute sie. Für einen Augenblick wallte es in ihm auf und er hätte sie ihr gesagt, die Wahrheit, die Wahrheit. Aber wie dies Schweigen brechen, wie rufen aus verschollenem Grunde, daß sie es hören – da oben?

Und er durfte nicht – wenn Ercole es nicht gesagt hatte.

»Nun?« fragte sie endlich, ohne Ungeduld, aber aufmerksam auf jeden Lidschlag seines Aug's. Dann war es wieder still im Zimmer.

»Gnädige Frau, ich kann Ihnen nicht helfen,« sprach er so entschlossen, daß sie zu begreifen schien, es wäre vergeblich, weiter in ihn zu dringen.

Sie stand auf und wandte sich zu gehen. »Sie wissen also auch!« rief sie leise aber durchdringend stark und überzeugt.

Büchner wiederholte noch einmal, seine Stimme zitterte, weil es hart klingen sollte: »Ich kann Ihnen nicht helfen, gnädige Frau. Es war überhaupt – alles unmöglich.«

»Was?«

»Gehen Sie, so gehen Sie doch, ich bitte,« sagte er überlaut und dabei ängstlich und lebhaft. Ihre Gegenwart peinigte ihn bis zur Verzweiflung und drohte ihm alle Fassung zu rauben.

»Aber ich gehe ja schon,« erwiderte sie zornig und musterte ihn während einiger Sekunden mit einem verächtlichen, scharfen Blick.

Vor der Thür besann er sich auf einmal. »Aber wie ist das alles so gekommen, so furchtbar schnell, wie werden Sie das alles abbrechen, ich meine, das heißt, sich überhaupt auseinandersetzen?«

Sie antwortete nicht.


 << zurück weiter >>