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Das jüdische Mädchen

(1934)

So wie die jüdische Frau, ist auch das jüdische Mädchen nicht in einer modernen Momentaufnahme so zu knipsen, daß man in ihrem Bild auch die Hintergründe des Gewordenen sieht.

Um das zu erreichen, muß man schon an die sehr dehnbare Zeitbestimmung »bei den alten Juden« zurückgreifen, um für eine Darstellung von heute etwas Relief zu bekommen.

Bei diesem Vorgehen kommt man zu der eigentümlichen Feststellung, daß, während dem Geschlechts- und Eheleben der Juden die höchste Bedeutung zugesprochen wird, die beiden für diese Vorgänge unersetzlichen Partner nur sehr ungleich gewertet werden – als wenn nicht Gottes- und Weltdienst sich erschöpfen und auslöschen müßten, wenn sich nicht die Andersartigkeit von Mann und Frau in diesem Dienst ergänzen würde.

Die ungleiche Bewertung zweier Kategorien von Geschöpfen, die absolut aufeinander angewiesen sind, ist nur dadurch erklärlich, daß die männlichen Gesetzgeber und -Ausleger sich eine Vorzugsstellung zugebilligt hatten, die im Laufe der Zeiten zu einer Weltanschauung wurde, die allerdings bei starker weiblicher Solidarität – die es nicht gibt – durch einen amüsanten Frauenstreik hätte über den Haufen geworfen und ad absurdum geführt werden können.

Trotzdem den alten Juden die Erfahrung der Unentbehrlichkeit der Frau nicht entgangen sein konnte, wird das weibliche Kind bei ihnen als ein Geschöpf zweiter Güte betrachtet. Das geht schon aus dem verschieden betonten Empfang eines neuen Weltbürgers hervor.

Wenn nach der glücklich überstandenen Geburt der Vater oder andere Anwesende die Wehmutter fragten, was »es« ist, dann konnte die Antwort entweder befriedigt einen Knaben melden oder – mit deutlichem Mitgefühl an der Enttäuschung: »Nichts, ein Mädel«, oder: »Nur ein Mädel«. Damit war nicht nur die monatelange Spannung gelöst, sondern auch viele frohe Hoffnung für einige Zeit zurückgestellt.

Alle Mizwaus und Gebräuche, die für die Geburt eines Knaben um seine Aufnahme in den Bund vorgesehen sind, werden mit »nur« einem Mädel gegenstandslos und ausgeschaltet, und alle Wünsche und Hoffnungen für das Kind selbst sind weniger stolz und zukunftsreich.

Das Mädchen bekommt seinen Namen ohne besondere Feierlichkeit (mit Ausnahme von Süddeutschland, wo die hübsche Sitte des Hole Krasch etwas Farbe in die Monotonie des jungen Daseins bringt). Dabei unkte die Fama, daß »alle Schönchen miess und alle Gütelchen bös« sind. Es wird nur besonders wichtig genommen, welche Haar- und Hautfarbe das Neugeborene haben wird.

Daß alle jüdischen Kinder vom ersten Atemzuge an besonders schön und gescheit sind (die Glückel von Hameln ist eine klassische Zeugin dafür) unterliegt seit Jahrtausenden bis in die heutige Zeit keinem Zweifel. Nur bleibt die Frage, woher in unserer Gemeinschaft die anderen kommen.

Aber es gab auch bei den alten Juden für die unerwünschten Mädchen verschiedene Grade von Schönheit.

Rote Haare sind (trotz Tizian) immer sehr unbeliebt gewesen; schwarze Haare und dunkler Teint waren in Ansehung der Königin Saba (die schwarz-betamt war) zulässig; das Beliebteste für ein Mädchen war immer blond mit heller rosiger Haut. Das ging oft so weit, daß die rötlichen und bräunlichen Kinder von den Großmüttern immer blond gesehen und entsprechend beschrieben wurden.

Für die gute alte Zeit ist es auch wichtig und bezeichnend, daß es kein Kopfzerbrechen über pädagogische Probleme gab. Die Basis der Erziehung war durch das jüdische Gesetz und seine Forderungen an das Leben genormt, und Bildungselemente außer den jüdischen fanden in der Familie nur wenig Eingang.

Im Osten war für die Knaben vom 3. Lebensjahre an der Cheder die Lernstätte. Mädchen pickten nur gelegentlich das Wenige auf, das sie wissen durften oder wollten. Im etwas vorgeschrittenen Westen war bei den wohlhabenderen Familien das Hauslehrersystem üblich, durch das Bachurim und Studenten eine gewisse Geistigkeit in die Familien brachten und im Austausch manches Stück Kultur und Zivilisation einheimsten.

Aber für das Leben der Mädchen und ihre individuelle Belehrung und Bildung waren nur wenig Vorkehrungen getroffen, weil ihr Lebensziel ganz in einer möglichst frühen Eheschließung gesehen wurde.

In einem Alter, in dem wir heute geneigt sind, die Mädchen noch als halbe Kinder anzusehen und so zu behandeln, war das jüdische Mädchen der Ghettozeit schon verheiratet oder doch verlobt. Diese Verlöbnisse und Frühehen wurden sehr oft ohne jedes Befragen und Hinzutun der jungen Partner von den beiderseitigen Eltern gründlichst vorbereitet, verabredet, in allen Einzelheiten vertragsmäßig festgelegt und von allen Beteiligten ohne jede Romantik hingenommen.

Die »Aufklärung« der vielfach ganz ahnungslosen Braut soll oft unter den stärksten seelischen Erschütterungen unter beiderseitigen Tränenströmen nach der Trauung von der Mutter vorgenommen worden sein. Hier scheint mir für unsere Zeit atavistisch der Ausgangspunkt (historisch vielleicht noch nicht einmal der tiefste Ursprung) für psychologische und sexuelle Möglichkeiten zu liegen, die der Auffassung der heutigen Zeit als Auswüchse und krasse Zumutungen erscheinen: Mädchenhandel und Certifikatsehe. Diese leichtfertige, kurzsichtige Art, über Zeit und Ort hinweg Bindungen anzubahnen, die keinerlei seelischen Zusammenklang zur Voraussetzung haben, denen aber auch die Voraussetzungen einer Vernunftehe fehlen, die an den heutigen kulturellen Gegebenheiten zerschellen müssen, und die Mädchen, resp. die Frauen zu den Leidtragenden werden lassen.

Das Ende der kurzen Mädchenzeit wurde herkömmlich und religionsüblich damit festgelegt, daß der jungen Braut innerhalb des Hochzeitszeremoniells, bei dem »Bedecken«, auch unter Tränen, das Haar abgeschnitten wurde, um den zerstörten Reiz durch einen meist mißfarbigen »Scheitel« oder eine den Haaransatz bis zur Stirne bedeckende umfangreiche Haube zu ersetzen. Die Haube war natürlich keine nur jüdische Haartracht. Diese kunstvollen Gebilde aus bunten Bändern und oft sehr kostbaren Spitzen bildeten im allgemeinen das Abzeichnen der fraulichen Würde, und – »unter die Haube zu kommen« und einen Kapotthut zu tragen, war allerwegen Traum und Ziel der Jungfräulein.

Trotz allem, was uns heute als befremdlich und überlebt berührt, scheint doch, als ob gerade in dem unsentimentalen, dem »konventionellen« Vorbedacht, in der vorsichtigen, gründlichen Erwägung der beiderseitigen tatsächlichen Verhältnisse und Ansprüche der Ehepartner, das Familienleben und das Familienglück eher eine Stärkung als eine Schwächung erfahren hätte.

Selbstverständlich in jener Zeit war, daß jedes jüdische Mädchen heiratete. Der »graue Zopf« der Unverheirateten, die alte Jungfer, war ein Schreckgespenst, und da die Mitgiftbeschaffung und die Brautausstattung für arme Bräute mit zu den Mizwaus der Familien und Gemeinden gehörte, so war die Heiratsvermittlung ein freier Beruf, der garnicht in üblem Ansehen stand.

Die Person des Heiratsvermittlers (Schadchen), heute durch Zeitungsannoncen vielfach verdrängt, ist von einer Fülle von Geschichten und Anekdoten umrankt, die nicht nur lustig anzuhören sind und sich bis in die heutige (zionistische) Zeit durchsetzen, sondern die auch ernsthaft betrachtet werden können, und – wie die jüdischen Sprichwörter – einen reichen Niederschlag jüdischer Kultur mit sich führen.

Dass jedes Mädchen heiraten soll und kann und muß, geht schon aus dem Midrasch hervor, der erzählt, daß bei der Geburt eines Mädchens im Himmel der Name ihres künftigen Ehepartners ausgerufen wird, und das erklärt auch das Gebet des beklommenen Vaters: »Lieber Gott, Du kennst doch den Chossen von meiner Saralieb, wo is er? Warum läßt Du mich so lange zappeln?«

Das Leben dieser kindlichen Mädchen wickelte sich ausschließlich in dem engsten Rahmen und unter der strengen Aufsicht der Familie ab. Unter Einbeziehung des Zieles ihres Daseins kann es auch mit drei Schlagworten gekennzeichnet werden: Kinder, Küche, Kleider – alles, was dazu nötig ist, in praktischer Uebung ohne bewußtes Spezialistentum angeeignet und bewertet.

Kochen können war schon durch die Bedeutung des Küchenrituals eine wichtige Kunst, besonders wichtig auch dadurch, daß das Essen von je her, als Gegengewicht zu dem verpönten Trinken, ein gepflegter, leiblicher Genuß der Juden war, der für den Freitag Abend und den Sabbat-Tisch bis auf den heutigen Tag eine religiöse Weihe erhält. Kochen – daß mußten die Mädchen und jungen Frauen lernen, d.h. können, das sind schätzenswerte Praktiken. Allerdings sind Kochen können und Haushalt führen ganz verschiedene Begabungen und Techniken. Die Handlangerarbeit dabei wurde von jeher von den jüdischen Mädchen nicht gern geübt und tunlichst auf einen anderen Personenkreis abgewimmelt, bei welcher Betrachtung, sehr zum Schaden der Einbezogenen, auch das Präsens anzuwenden wäre!

Eine wichtige psychologische Nuance dabei ist noch die, ob man etwas für sich im eigenen Haushalt oder im fremden Haushalt, im Dienst gegen Lohn tut. An dieser Stelle liegt die Wurzel der Ablehnung des Hausdienstes als Beruf, worüber die Akten noch längst nicht geschlossen sind, und die für das Leben der Mädchen von jeher bis heute eine wichtige Rolle spielt. An die so wichtige Aufgabe der Vergeistigung der Hausarbeit, des Hausdienstes dachten die jüd. Mädchen nie, und auch heute noch denken die wenigsten Frauen und Mädchen daran, sich dieser Flügel zu bedienen, um sich über den Alltag froh zu erheben.

Die knappe Anlernzeit des jüdischen Mädchens vor ihrer Verheiratung und des Werdegangs zur Frau und Mutter mit einer großen Kinderschar gab auch wenig Möglichkeiten zur Uebung in Nadelarbeit. Die Herstellung und Bereitstellung der Aussteuer, auf die der größte Wert gelegt wurde (Stapel von Leinen, Tischdecken, Seidenstoffen und Spitzen zeugten für den Besitzstand der Familie und wurde in die Mitgift eingerechnet) gab zwar Gelegenheit zum Nähen. Aber über ein Hemde mit Gosset, von welcher Art ein deutsches Mädchen monatlich ein Stück herstellen und wie »geperlt« nähen sollte, ging die Zuschneide- und Nadelfertigkeit selten hinaus.

»Inexpressibles« gab es nicht. Stricken, Flicken und Stopfen wurde – je besser die Herkunft desto mehr – geschätzt. Die vorgesehenen Ausstattungsgegenstände waren meist mit roten Kreuzstichen auf den Namen der Braut gemerkt, weil man schon Vorräte sammelte, bevor man den künftigen Gesponsen kannte und weil – »Gott behüte – man kann nicht wissen –«!

Kunstgeschmack war wenig vorhanden, Technik unentwickelt, Zeichnung, wo immer sie angewendet wurde, primitiv.

Als sich die Fenster und Türen der Ghetti langsam öffneten, da waren es die Mädchen, die zuerst die Nase in die neue Luft steckten. Die Mädchen konnten es deshalb, weil man ihrer geistigen Entwicklung gewohntermassen wenig Interesse und Bedeutung beilegte, und auch weil sich das Heiratsalter mählich nach oben zu verschieben begann. Dadurch ergab sich erst eine wirkliche »Mädchenzeit«.

Ein nachhaltiger Einfluss einer neuen Zeit der »Emanzipation« kam für die Mädchen weniger auf rein geistigen Wegen, wie durch den Einbruch von Philosophie, Klassik und Romantik in der Literatur (die auf die Bereitschaft zur Heirat nur in seltenen Fällen retardierend wirkten) zustande, als von der Seite wirtschaftlicher Erschütterungen und Neuordnungen, die durch soziale und politische Inhalte Richtung und Wertung fanden. Einerlei woher der neue Wind wehte, der die Mädchen in geistiger und materieller Unabhängigkeit ein Ziel suchen ließ, das Gemeinsame lag in beginnender Kritik und in der Ablehnung und Abkehr von der Familie, vielfach freilich nicht in solcher Festigkeit und »Totalität«, der man einen gewissen Respekt nicht hätte versagen können, sondern oft nur unter Beibehaltung gewisser finanzieller Stützpunkte, einer Art Drachenflug an längerer oder kürzerer Schnur.

Diese Veränderungen ergaben sich natürlich nicht und nirgends sprunghaft, sondern waren nach Osten und Westen, nach Tradition und Wirtschaftslage, nach religiöser und politischer Einstellung der Familie aufs stärkste milieugebunden und sind in der Auffassung dessen, was für ein Mädchen richtig und wünschenswert ist, glücklicherweise heute noch nicht auf eine Einheit gebracht.

Unter der Verelendung und dem Druck, unter dem die Ostjuden zu leben gezwungen waren, und die sie zu pauperisierten und proletarischen Massen zusammenballten, verließen auch die jüdischen Mädchen sobald sie ihre Flügel wachsen fühlten, die Enge ihrer Häuslichkeit und rückten bald in die Reihen der Arbeiterinnen und der Studentinnen und damit auch rasch in die mit politischer Höchstspannung geladenen Personenkreise. Lange zurückgedämpfte Vitalität fand in solcher schwer errungenen, beglückenden Freiheit ihren Spielraum, so daß das Durchbrechen aller Bindungen und Formen für die Einzelne fast eine notwendige sakrale Handlung wurde.

Viele der jüdischen Mädchen, besonders in Rußland und in Polen, assimilierten sich völlig ihrer christlichen, d. h. areligiösen, nur politisch betonten, Umwelt in höchst revolutionärem Sinne. Der Typ dieser Frauen ist längst in die Literatur aufgenommen. Für andere brachte der Zionismus eine gleichzuwertende Entspannung und Anregung: d. h. eine Bewegung, »national«, sozial und revolutionär im gewissen Sinne, aber ohne die jüdische Tradition preiszugeben. Im Gegenteil, ihr nachzugehen und sie in Kultur, Geschichte und Sprache bewußt neu aufleben zu lassen, wurde höchste Aufgabe. Von weitem sieht es so aus, als ob der Zionismus den Frauen ihre Gleichberechtigung zugestehen würde; ob aber die Zionisten innerhalb der Gleichberechtigung die Andersartigkeit des Mädchens in ihrem Frauenschicksal in den sozialen Konstellationen respektieren, – d. h. ob die Frage nicht an bestimmten Stellen dennoch politisch überritten wird – scheint doch noch sehr die Frage.

Im Westen hat die Entwicklung des Mädchendaseins ganz andere Formen angenommen, als im Osten.

Kein Proletariat, sondern eine Schicht von durchschnittlich in relativ gesicherter bürgerlicher Atmosphäre lebenden Juden bildet die Grundlage dafür, und entscheidend ist die allgemeine Schulpflicht, die in ihrem Aufbau durch alle Schulgattungen bis zur Universität für die 3 Konfessionen gleich zugänglich war.

Die Kämpfe, die in Deutschland für alle Berufs- und Ausbildungsmöglichkeiten der Frau durch die Frauen aus der Frauenbewegung geführt wurden, schlossen die jüdischen Mädchen nicht aus. So sehen wir sie fast ohne äußere Anstrengung (in manchen Kreisen und Familien war nur innere Gegnerschaft zu überwinden) fast selbstverständlich den Weg gehen, der bis zur jüngsten Schicksalswendung der Juden der gegebene oder doch der theoretisch mögliche war. Das jüdische Mädchen hatte danach etwa zwei Jahrzehnte lang innerhalb der allgemein gültigen Grenzen nach Anlage, Wunsch und Finanzen die Möglichkeit freier Berufswahl.

Das blieb natürlich nicht ohne Einfluss auf die menschliche Substanz und die Erscheinungsform für das bildsame Wesen der Mädchen, differenzierte sie aber sehr stark untereinander, so stark, daß die einzelnen Typen sehr bald von einander Abstand nahmen. Gemeinsam blieb ihnen das Abrücken von der Familie – oft als sacro-egoisma frisiert und das Hinaufrücken des Heiratsalters.

Als Wichtigstes auf dieser Linie ist zu beobachten, daß heute vielfach nicht mehr von einer »Mädchenzeit« im herkömmlichen Sinne gesprochen werden kann, wenn darunter die Uebergangszeit vom Kinde bis zur Heirat zu verstehen ist. Wir sehen vielmehr, daß im Altersaufbau die individuellen Grenzen einer Mädchenzeit sehr fließend geworden ist.

Die unverheiratete, reife, selbständige Frau hat sich, in allen Kulturkreisen anerkannt, zu einem lebensberechtigten und lebensbejahenden Typ entwickelt, zu einer Frau, die in ihrem ganzen Dasein Bindungen, Lösungen, Schicksalsgestaltung, auch in geschlechtlicher Beziehung, sich selbst und der Welt gegenüber allein und frei, die volle Verantwortung zu tragen gewillt ist.

Das Auftauchen dieses neuartigen Frauentypus, der in seiner besten Form vielleicht gärtnerisch mit einer Chrysantheme zu vergleichen wäre, lässt aber die Betrachtung sich anders auswirkender Mädchenzeiten nicht überflüssig oder uninteressant werden, denn sie sind im Bilde des jüdischen Gemeinwesens sehr bedeutsam, bedeutsamer als die Chrysantheme, die in ihrer hochgezüchteten Blüte einmalig und ohne persönliche Zukunft ist.

Wenn man den Begriff der Mädchenzeit mit dem des Heiratsalters identifiziert, und Möglichkeit, Wahrscheinlichkeit und Wunsch zu einer Eheschließung praktisch und psychologisch weitestgehend einbezieht, dann kann man diese Zeit für die deutsche Jüdin als mit geistigen und sozialen Entwicklungen ausgestattet ansehen, man könnte darin aber auch die Wurzel für den Vorwurf finden, daß manche Ausbildung von den Mädchen sehr oberflächlich betrieben werde, weil sie nur die Wartezeit bis zur Verheiratung auszufüllen und kein strenges, ernstes Berufsziel habe.

Diese Annahme wird natürlich, wie manche andere, nicht immer zutreffen, sondern von individuellen und sozialen Bedingtheiten abhängen; bei älteren Jahrgängen weniger, als bei den jüngeren.

Darum finden wir auch, wenn wir für den Zweck dieser Betrachtungen etwas schematische Ordnung in das Gewimmel der Mädchenzeit zu bringen versuchen, die Vertreterinnen der gewerblichen und kaufmännischen Berufe bei ihrem Start ins Leben am wenigsten beschwert. Durchschnittlich – Ausnahmen bereitwilligst zugegeben – haben sie wenig allgemeine Interessen, was schon aus der starken körperlichen Anstrengung bei jungen Leuten erklärlich ist. Natürlich greifen sie zu den nächstliegenden, billigen Vergnügungen, lassen sich gern sexuell anregen und denken zu ihrem Glück kaum daran, daß in ihrem Alter Lippenstift und Puderquaste der jugendlichen Frische und dem Reiz ihrer Erscheinung keine Verbesserung, sondern nur Schaden bringen.

Anders ist es, – nein, war es einst – mit der Studentin, die durch Gymnasialzeit und Abitur schon eine Willensprobe bestanden hat. Aber auch der Universitätsbesuch bedeutet nicht immer Reife, die der Mädchenzeit eine ernste Zielsetzung gibt, die mit gesunder, sprudelnder Fröhlichkeit durchaus vereinbar ist. Viele der Studentinnen, die in den Gängen und Hörsälen der Universität, bei mehr oder weniger gedämpften Flirt ihre Dauerwellen schütteln und aus der Tiefe ihrer Aktentasche, dem Attribut jeglichen Wissensdranges, erstaunliche Mengen von Aepfeln und Butterbroten holen, werden mit ihrem Streben nicht über die »Mädchenzeit« hinauskommen.

Auch Musik und andere Kunstbeflissenheit erheben sich nur selten über die Ansprüche, die die Mädchenzeit stellt, und – um eine glückliche Anlage zu ernstem Können und Streben hinaufwachsen zu lassen.

Die Ausbildung zur Lehrerin stellt schon während der frühen Mädchenzeit gewisse Anforderungen an eine künftige Kandidatin, die sich nicht übersehen lassen, und für die Religionslehrerin scheint mir schon die allgemeine Haltung eines jungen Mädchens zutiefst maßgebend zu sein.

Ganz anders betont sind aber die Inhalte der Mädchenzeit jener Persönlichkeiten – das Wort in seinem strengen Sinne gebraucht – die sich für pflegerische und sozialpädagogische Berufe entscheiden, wie Krankenpflege, Kindergärtnerin, Hortnerin, Sozialbeamtin etc., etc. Hat die Zeitwende auch hier mächtig eingegriffen, so liegen doch in der Ausübung dieser Berufe Licht und Schatten, Freude und Sorge, Befriedigung und Anstrengung (Sex Appeal inbegriffen) oft recht nahe beisammen, so daß diese Mädchenzeit doch als eine sehr reiche angesprochen werden kann. –

Das letzte Jahrzehnt hat das Leben des jüdischen Mädchens noch um zwei weitere Inhalte bereichert: Um den Sport und um das Leben in den Jugendbünden.

Das jüdische Sportmädel konnte ich nicht aus persönlicher Berührung beobachten und sehe nur die günstige gesundheitliche Beeinflussung von Turnen, Schwimmen, Rasenspielen und Wandern, sofern dies nicht übertrieben und so in den Vordergrund des Interesses rückt, daß es andere Betätigung zudeckt und ausschließt.

Aber der Einfluss der Jugendbünde ist doch in einer ernsten Betrachtung wie diese wenigsten in Kürze anzuführen. Die Mädchen ziehen begreiflicherweise die gemischten Jugendvereine und Bünde den Nur-Mädchenvereinen vor, trotzdem in diesen auf spezielle Interessen, Ausbildungsmöglichkeiten, in Aussprache und Lektüre viel mehr eingegangen werden kann; aber das gemischte Gebaren ist der Jugend gemäßer und auch sicher amüsanter durch die Fäden, die spielerisch oder ernst die beiden Geschlechter verbinden.

Der strengen, parteimäßigen Bindung scheinen mir die weiblichen Mitglieder weniger verfallen zu sein, als die männlichen; vielleicht halten sie sich instinktiv etwas »minnich«. Dass die Jugendverbände an und für sich schon die Zellen der späteren Parteizerrissenheit darstellen, ist im Hinblick auf die wünschenswerte friedliche Gesamthaltung der jüdischen Gemeinschaft sehr bedauerlich, steht aber in dem Thema dieser Betrachtung nicht zur Diskussion. Wohl aber ist mit Bedauern festzustellen, daß der bündische Einfluss auf die jungen Mädchen vielfach kein günstiger ist. Die Bünde zerren die in der Vorentwicklung und in der Entwicklung begriffenen jungen Menschen aus dem Familienkreis, in dem sie für ihre Zukunft wurzelfest bleiben sollten, und auch was an religiösem Bestand in der Mädchenzeit durch häusliche Erziehung und Gewöhnung den Inhalt des geistig religiösen Seins umkleiden soll, wird durch die außerhäuslichen Ansprüche an die Kraft und Zeit der Jugend vielfach in der Kontinuität gestört und entwertet.

Die Loblieder auf die Familie von Kanzel und Katheder stehen oft in befremdlichem Gegensatz zu den praktischen Auflösungstendenzen, die nicht nur geduldet, sondern auch von bestimmten Stellen systematisch betrieben werden. Hier tauchen in meinem Sinn die Pastores, die sogen. Jugendrabbiner, auf, die – wenn sie auch wie ihre Herde täglich um 24 Stunden älter werden – doch schon beim Dienstantritt älter und reifer sein müßten, um nicht die Spannungen zwischen der älteren Generation und der heranwachsenden Jugend zu erhöhen.

Auch die ungenügende, aber selbstgenügsame Art der Anlernung in manchen Hachscharahs ist für die Lehrzeit vieler junger Mädchen kein Vorteil, und die Koedukation dort (mehr Ko als Edukation) bildet die Basis für Praktiken, gegen die sich ernste Sozialpädagogen mit großer Energie auflehnen müßten.

Noch ein Wort zu der Haltung, die die gesamte heranwachsende Generation, nicht nur die jüdische, der Frauenbewegung gegenüber einnimmt. Hoheitsvoll überlegen in der Beurteilung der Ziele der »alten Damen« beurteilen besonders die Akademikerinnen die Zeit, der sie entwachsen sind, die Frauen, die für sie gekämpft haben, mit nachsichtigem Mitleid. Aber die Mühlen der Zeit mahlen manchmal auch unheimlich schnell. Was gestern erreicht und erworben wurde, ist vielfach im Zerfließen begriffen. Darum wollen wir Alten nicht von Undank sprechen, sondern Gesetze und historische Entwicklungen zu erkennen bemüht sein.

Wie immer aber die soziologische Entwicklung der Judenschaft an irgendeiner Stelle sich gestalten möge, das jüdische Mädchen wird als ein lebendiges Glied derselben zu werten sein, von dessen Willensbildung und Leitungsfähigkeit die Aufbaumöglichkeit und Festigkeit des Gefüges zum großen Teil abhängen wird, als Vorbereitung der hohen Aufgabe zur Mutter in Israel, als letztes und höchstes Ziel weiblichen jüdischen Seins.

31. 12. 34 Isenburg
Bertha Pappenheim.


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