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Am andern Morgen hätte es scheinen können, die Scene der Nacht wäre ein Traum gewesen.
Susa war wieder die demüthige Magd, die in dem gesäuberten Zimmer alle Spuren der Nacht vertilgt hatte und ruhig am Heerde die gewohnte Suppe kochte. Nees sprang wie gewöhnlich, um zu überraschen, in die Thür, und hatte sich bereits Alles ausgeredet, was ihn in Nachtheil zu Susa stellen konnte.
Den gewöhnlichen kalten Morgengruß Susa's beantwortete er heute besonders nicht, sich gleich mit Papieren beschäftigt zeigend, die er aus der Tasche zog.
Da Susa weder lesen noch schreiben konnte, sah er ohne großen Schreck seine Handelsbücher noch offen auf dem Tische liegen, daß er sie aber vergessen, schrieb er doch Susa an.
Sie war schon fort und jetzt blieb Jakob nicht so ruhig wie vorher. Er horchte – er hörte Angela über sich tappeln – er hörte ihre Stimme etwas kläglich gegen Susa's ermahnende Worte ankämpfen – er lachte kurz in seine geöffnete Faust – er wußte gleich, daß Susa ihm Angela's guten Empfang vorbereitete. – Wo ein Mensch unterließ, sich zu rächen, wo er Böses mit Gutem vergolten sah, höhnte er mit Verachtung den Schwachkopf, dem er den Muth zum Trotz absprach; oder er hielt Nachgiebigkeit für ein Mittel, Anderes zu erreichen – und hierbei blieb er für Susa stehen und irrte sich vielleicht nicht sehr.
Die unglückliche Magd fühlte nur zu bestimmt, wie wichtig es war, das wunderbare Verhältniß Jakobs zu Angela zu unterhalten, da die Liebe in dem sonst steinhart befundenen Herzen des Ersteren die einzige Stütze für ein sonst vollkommen trostloses Verhältniß war. Darum überredete sie Angela, welche nicht zu Nees hinunter wollte, mit widerstrebendem Herzen, sie sei unartig gewesen und müsse nun wieder freundlich sein, es gut zu machen. Sie mußte das Erstaunen des Kindes übersehn, welches sich wie aus einem Traume der Thatsachen erinnerte, sie immer nennen wollte, noch ihre geschwollene Stirn mit einigem Schmerz bei Susa's Waschen empfand und doch immer von ihr abgelenkt wurde, als habe dies Alles nicht existirt, und die Eindrücke dadurch schwächte und verwirrte. Aber es that ihr zugleich weh, in dem Kinde das natürliche Gefühl für Recht ersticken zu müssen, und nur die Gewißheit, damit größeres Unheil von dem geliebten Wesen abzuhalten, bezwang ihre Abneigung.
So gewann sie es über Angela, daß diese, unsicher in ihrer Erinnerung, sich endlich geneigt zeigte, hinunter gehen zu wollen. Zwar hörte der ängstlich horchende Nees nicht ihr fröhliches Lachen auf der Stiege, und als die Thür aufging, flog sie ihm nicht entgegen, um sich an seinen Hals zu hängen; aber sie kam doch – wenn auch schüchtern und langsam – auf ihn zu, gab ihm das Händchen, und obwohl das Köpfchen oft nach Susa über die Schulter blickte, setzte sie sich doch zu ihm und ließ sich seine Dienstleistungen gefallen.
Was für ein großes und merkwürdiges Räthsel in Bezug auf die Geheimnisse der Menschenbrust mußte aber Nees dem Beobachter darstellen und gewiß die tief erschütternde Wahrheit lehren, daß kein Mensch gänzlich und auf allen Puncten verderben kann; daß irgendwo ein kleiner Raum gesichert bleibt, wo wir das Ebenbild Gottes schimmern sehen, und wo dem, in dem Elende seiner Verdorbenheit Hinkeuchenden eine Ahnung der Tugend zu kommt, die ihn an Gott festhält, wenn auch das mangelhafte Bewußtsein und das baldige Wiederaufhäufen des Lebensschuttes an diesem Besitz zweifeln läßt.
Wir haben uns vielleicht noch lange nicht genug gewöhnt, fast bei jedem Menschen auf diesen unveräußerlichen Bestandtheil seiner göttlichen Natur zu bauen – darnach zu suchen mit der Treue des Hirten. Wir finden im Gegentheil uns gern mit einem entschiedenen Urtheil ab von dem ungewissen Zustande, den wir fast unseres Verstandes oder Charakters für unwürdig halten. Wir nennen es Menschenkenntniß, wenn wir von Eigenschaften wie von mathematischen Figuren sagen: ich weiß, wenn dies vorhanden, muß das folgen! Ja, wir werden uns betreffen, daß uns eine spätere Entdeckung guter Eigenschaften, die uns eines Irrthums zeihen, fast beleidigt, oder längeren Zweifel in uns erregt, weil solche nicht stimmen wollen mit dem Abschluß, den unsere Menschenkenntniß machte, der vielleicht nichts fehlte – als die Liebe – als das Bedürfniß, das Gute zu finden. Dies Nebeneinander von Gut und Bös' – diese Inconsequenz, auf die Jeder beim Andern rechnen sollte, der demüthigen Herzens ist, wird nur zu oft, einmal der größte Vorwurf, den wir auszusprechen wagen, andererseits der entscheidendste Grund, warum wir uns mißtrauisch von dem Guten wenden, was wir neben dem Bösen finden und doch zuerst festhalten sollten. Wie viele Lebenskeime werden auf diese Weise zertreten, ohne daß auch nur der leiseste Gewissensvorwurf den sicher darüber Hinschreitenden trifft, der sich damit in eine Glorie von Tugendsicherheit hüllt, welche die schwachen Nachbeter fremder Gedanken anerkennen, und da es so viel leichter ist, zu verachten, als zu ertragen und anzuerkennen, bald den Schwankenden allein läßt, welcher dem verkannten Guten in sich selbst zu mißtrauen beginnt, und so wenig ermuntert durch seine schlecht erprobte Wirksamkeit, den verrätherischen Vortheilen des Bösen sich hingiebt.
Jakob van der Nees schämte sich zwar etwas vor Susa; aber die überströmende Wonne, das Kind wieder neben sich zu sehen, riß ihn zu Aeußerungen hin, die Susa sich bestrebte zu übersehen, die aber dennoch in dem wenig zum Nachdenken kommenden Geiste des armen Mädchens ein nicht mäßiges Erstaunen erregten.
Dagegen war die arme Wahnsinnige die Einzige, welche in diesem scheinbar wiederhergestellten Verhältniß die Mahnung an das Vorgefallene erhielt. Sie war unruhig und blieb nicht wie sonst auf ihrem Platze – sie sah Alle mit ihren leblosen, verglaseten Augen forschend an und stand immer wieder auf und suchte hinter dem großen Stuhle.
Susa und Nees wußten Beide recht gut, daß der Eindruck, den sie in der Nacht empfangen, doch zu stark gewesen war und ihr eine Erinnerung gelassen, der sie keinen Namen zu geben wußte. Susa – so gänzlich sie auch selbst auf jede Vergeltung gegen Nees verzichtet hatte, gönnte ihm doch die Erregung, die es ihm machte, daß gerade diese arme, verwirrte Seele, die er nicht strafen konnte, ihn an sein Vergehen erinnern mußte.
Dabei quälte ihn offenbar noch eine unbestimmte Angst über Susa's Entschlüsse. Während er länger wie gewöhnlich mit dem Kinde spielte, behielt er immer die arme Magd im Auge, um zu erlauschen, ob sie auch nicht das geringste Abweichende that, woraus er einen Schluß auf ihre Absichten ziehen könnte.
Endlich mußte er fort und Susa, die längst alle Geschirre bei Seite geräumt hatte und zur Bereitung ihres kärglichen Mittagsmahles Zeit genug behielt, saß wie gewöhnlich ruhig neben ihrer Gebieterin und spann den feinen Faden, der ihr kleiner Erwerb war, um manche Hülfe zu Kleidern oder besserer Nahrung zu liefern, wenn der rohe Geiz ihres Wirthes jedes Maaß überstieg.
In welchem Kampfe Nees war, als er sich endlich, eben so gebieterisch von dem Triebe nach seinen Geschäften fortgerissen, erhob, wollen wir nicht verschweigen; denn es war ihm eine Qual, die wir billig als seine Züchtigung ansehen dürfen.
Wie würde es ihm nur allein genügt haben, gegen dies Weib, das er fürchtete, seine unmenschliche, in ihm kochende Wuth auszulassen – sie einzusperren – sie lahm zu schlagen; – seine Raserei irrte in schrecklichen Grenzen der ihn befriedigenden Genugthuung umher. Aber da saß sie so still und bleich, so entstellt noch von seiner Mißhandlung, vor ihm, und doch so sicher vor neuen Gewaltthaten ihres Feindes; denn das Kind kniete auf der einen Seite neben ihr und die edle Gestalt von Grönevelds Gattin saß an ihrer andern Seite, und für Beide war sie der Mittelpunct ihrer Existenz – ihr Lebensborn – ihre ewig geduldige Magd – ihre Freundin – ja sie mußte die Gedanken haben, die ihnen fehlten.
Als Nees vor dieser unzerreißbaren Gruppe stehen blieb und dies Alles mit empörtem Herzen erwog, that er doch etwas ungewöhnliches, und so müde und matt an Geist und Herz auch Susa war, weckte es doch ihre Aufmerksamkeit, und als sie die trüben Augen zu ihm aufschlug, konnte er sich nicht enthalten, blitzschnell die Faust zu ballen und sie ihr drohend zu zeigen.
»Was wollt ihr, Nees?« sagte darauf Susa düster – »macht, daß ihr fortkommt und euer wildes Blut auslaßt – Angela und ich bleiben zu Hause! Sehen wir Beide aus, um unter Menschen zu treten?« Sie zeigte auf die angeschwollene Stirn des Kindes, von wo aus sich ein blauer Rand um Auge und Wange gesenkt hatte, und streifte schnell von ihrem zerschlagenen Arme den rauhen Aermel, daß er die Zeichen seiner Schandthat sah.
Nees fühlte, daß sie ihn angegriffen hatte und daß er sich nicht rächen durfte; aber auch, daß er entfliehen mußte, wenn er nicht Alles vergessen und die einmal gekostete Befriedigung seiner Wuth wiederholen wollte. Mit ein paar fürchterlichen Sätzen und einem rasenden Gemurmel von unverständlichen Verwünschungen stürzte er zum Zimmer hinaus – und hörte das laute kindliche Gelächter von Angela zuerst wieder, welche seine Kapriolen für Späße nahm und sich zuerst dadurch wieder unterhalten fühlte.
Wir übergehen die folgenden Tage, in denen Susa die Bäckerin nicht besuchte und für die Heilung von Angela's Stirn und ihren Arm den sanft sprudelnden Brunnen des Hofes sorgen ließ, dessen eisiger Quell die leidenden Theile erquickte.
Es gehörte der durch das Erfahrene abgestumpfte Sinn der armen Susa dazu, um mit Ruhe an die Ausführung ihres Entschlusses denken zu können; denn es war nicht allein die Kraft des Pflichtgefühls, die sie stärkte, es war eben auch, daß Jakob sie zu unglücklich hatte werden lassen, und nun nichts mehr zu schonen übrig blieb.
Jakob van der Nees aber lebte in der Hölle. War man im Kaufhause und auf den Märkten sein wahnsinnig unruhiges Treiben gewohnt und vergalt es halb mit Lachen und Spott, halb mit Grobheit und Beleidigung, wovon er dann viel hinnehmen konnte, so fiel doch selbst diesen an ihn gewöhnten Männern sein sonderbares Wesen auf. Mitten in einer Rede, in der ernsten Verhandlung um ein Geschäft sprang er wie rasend davon, rannte schnell, wie ein abgeschossener Pfeil, durch die Straßen und kam in Schweiß gebadet vor dem Gitter an, dem einzigen Ausgang für Susa, und sah nach, ob der Flicken Papier, den er in das Schloß geklemmt hatte, noch darin stecke; dann stürzte er zurück und kam an, um die Geschäfte fortzusetzen, bis er wieder fortgetrieben wurde, und nun oft den näher liegenden Bäckerladen wählte, wo er wie rasend hinein stürzte und die Frau fragte, ob Susa dort sei, und nur besänftigt zurückkehrte, wenn die erzürnte Bäckerin, die zu den offenen Naturen gehörte, die den Unterdrücker hassen, ihm barsch den Ungestüm verwies und seine Fragen trotzig verneinte. Es that ihm dann immer gut, wenn er Widerstand erfuhr; das dämmte seine Zügellosigkeit ein.
Susa wartete ruhig ab, bis die Wange ihres lieben Zöglings wieder so weiß wie die andere war; dann hüllte sie eines Morgens, bald nachdem Nees das Haus verlassen hatte, Angela in ein zu diesem Zwecke heimlich angefertigtes Regentuch und bereitete nun das überraschte Kind, was noch nie das Haus verlassen hatte, darauf vor, daß sie mit ihr auf die Straße hinaus sollte, und zu einem lieben Geistlichen, der ihr Lesen und Schreiben und das Christenthum beibringen würde. Angela's Freude war so grenzenlos, daß Susa ihren Weg verzögern mußte, um erst in das Kind einige Ruhe zurückkehren zu lassen. Dann ließ sie Angela die Mutter küssen und legte die Hände der Lächelnden auf das Haupt des knieenden Kindes und bat Gott, das gewagte Unternehmen zu segnen, als ob die arme Mutter selbst ihn darum bitte.
Es war rührend, die Aufregung der Erwartung in Angela zu beobachten; denn die Straße zu betreten, das war ihr als ein Glück erschienen, wofür sie keinen Namen hatte. Nun sollte sie überdies schreiben lernen, wie Nees; sie sollte in den großen Büchern, worin so schöne Bilder waren, und in denen das Christenthum stand, wie Susa sie gelehrt, und die noch aus der Purmurandschen Zeit in einer Kiste sich vorgefunden hatten, lesen können – das war mit einem Male ein so mächtig erweiterter Ideenkreis, ein so reicher Zuwachs an Glück, daß das arme Kind in seiner großen Isolirung keine Fassung dafür finden konnte.
Die Bäckerin hatte längst für Susa Partei genommen, und es erwärmte sie der Gedanke, sie unter ihren Schutz nehmen zu wollen gegen den wahnsinnigen Nees, den sie von Herzen verabscheute.
Sie liebkoste daher das jetzt erschrockene Kind und schenkte ihm einen Wecken und leitete Beide, nachdem sie mit bedeutungsvollen Blicken und Gebärden den Laden verschlossen, die kleine Stiege hinauf, wo Herr Harsens, der junge Hülfsgeistliche bei dem Seminar der Stadtkirche, wohnte.
Harsens erhob sich, als die kleine braune Thür sich öffnete und seine gütige Wirthin die Beiden fast gleich Verschüchterten nachführte.
Harsens bewohnte mit seiner jungen Frau und einem ersten Kinde die beiden Mansardenzimmer der guten Frau Lievers und genoß die ganze Liebe und Achtung der verständigen Frau, welche die Familie für Heilige und ihr Haus durch solche Bewohner für gesegnet erklärte.
Da Frau Lievers selbst ein Muster der Reinlichkeit war, so konnte sie auch nur Menschen anerkennen, welche diese Eigenschaft besaßen, und gewiß nöthigte sich dies dem Eintretenden sogleich auf; denn in der kleinen Wohnung des jungen Geistlichen, schien es, könne auch der Verwöhnte nichts entbehren, und der Entbehrende mußte hier die größten Vorzüge des Lebens kennen lernen, die von äußeren Mitteln unabhängig blieben. Die Zimmer waren klein und niedrig, und wie in diesen hölzernen Häusern gebräuchlich, zeigten die Wände die Sparren und die Decke das Gebälk mit brauner Oelfarbe, so daß sie bei einiger Sauberkeit glänzten. Zwischen den kleinen Fenstern stand an dem Spiegelpfeiler ein eichener Tisch, vor dem Herr Harsens saß und schrieb; drüber hing ein Gestell mit Büchern. Der Himmel schien klar und hell hinein, denn das kleine Haus hatte keine Hintergebäude und so hatte man den ganzen Blick bis zu dem Kanale der Amstel hin frei. Dazwischen lag der schon erwähnte Lusthof der Frau Lievers und die schönen Bäume, die jetzt zwar entlaubt waren, bildeten für dies kleine Zimmer mit ihren singenden Vögeln ein natürliches Sonnendach. Auch jetzt im Winter saß der dürre Baum voll kleiner lebendiger Gefährten, die sich in ganzen Reihen aneinander gedrängt, alle mit den Köpfen nach den kleinen Fenstern gewendet hatten, weil allerdings die Bewohner ihre einfachen Mahlzeiten niemals hielten, ohne das Fensterbrett mit einigen Brocken für ihre kleinen Gäste zu bestreuen.
Im Hintergrunde des Zimmers war der Kamin, und Frau Lievers hatte ihn der jungen netten Pastorin zu Ehren recht zierlich mit schwarzen Fliesen auslegen lassen, und einen schmucken blanken Feuerbock nebst Gitter hinzugefügt. Vor diesem Kamin lag eine bunte Strohmatte, wie die Schiffer sie aus fernen Landen mitbrachten und billig verkauften; darauf stand ein Rädchen, und auf einem runden Lederstuhl davor saß die junge Frau des Geistlichen und spann. An der Wand neben dem Kamin hing zwischen zwei eichenen Gabeln, die in dem Boden festgemacht wurden, ein gefütterter Korb, und in diesem Schwebebettchen ruhte der Reichthum des Hauses, das Glück der jungen Gatten, das erste holdselige Kind.
Der jungen Frau gegenüber lief eine Bank an der Wand hin, und vor dieser stand der Familientisch – der Träger aller Mahlzeiten und aller größeren Arbeiten. Der Wiege an der andern Seite des Kamins entgegen hing ein Bördchen mit blankem Zinn, einigen Kannen und Bechern mit Deckeln; drunter stand ein Tisch mit Vorhängen, der die Küchengeräthe verbarg, und an der sanften Glut des Kamins, welche das Zimmer behaglich erwärmt hatte, brodelte in einem Töpfchen die bescheidene Mittagsmahlzeit.
Das Nebenzimmer ward zum Schlafen und zu Schränken benutzt, und hierhin wußte sich Frau Harsens zurückzuziehen, wenn es ihr schien, daß die Personen, die ihren Mann besuchten, mit ihm allein zu sein wünschten.
Herr Harsens erkannte Susa sogleich wieder, und ging ihr freundlich und höflich entgegen, da er ihren bedrängten Gemüthszustand leicht bemerkte.
»Ach! Ehrwürden,« sagte Frau Lievers – »das ist ein arm bekümmert Ding – und hat wohl Ursach. Seid nicht zu streng – das arme Kind ist einmal da – soll's um der Eltern Sünde kein Christ werden?«
»Gewiß nicht!« sagte Herr Harsens milde. – »Auch wissen wir von der Sünde der Eltern noch nichts – und dies wäre doch ein Grund des Erbarmens mehr.«
»Ja! ja! so seid ihr! – Seht ihr, arme Frau« – fuhr Frau Lievers zu Susa fort – »sagt' ich euch zu viel? So ist er – dem vertraut – der hilft euch gewiß und macht euch das Herz frei – ihr tragt zu schwer, alle Tage geht ihr gebeugter – wo soll das hinaus? Doch ich gehe, wenn ihr erlaubt, denn unten bedient Niemand den Verkauf wie ich; aber seid sicher, ich schütze euch. Gott befohlen, Frau Pastorin – Gottes Seegen, Ehrwürden! – Ihr sollt ungestört bleiben – verlaßt Euch auf mich; ich kenne mein Hausrecht.« Sie machte, sich entfernend, eine sehr verständliche Bewegung, wenigstens für die Frau Pastorin, der sie ihre Noth mit Nees geklagt.
Susa faßte sich nun, und wie sehr ihr auch das Herz schlug, auf dieser Stelle, die ihren Frieden sogleich auf sie übertrug, fühlte sie doch auf's Neue, wie sehr sie im Recht war; sie holte daher das verhüllte zitternde Kind von der Thür weg, zog seinen kleinen Regenmantel von dem Kopf und sagte mit der Feierlichkeit, die ihr der wichtige Augenblick einflößte: »Im Namen des Heilandes, unseres Erretters und Versöhners, nehmt dies arme, verlassene Kind in euren Schutz, flößt ihm ein dauerhaftes Christenthum ein, und die weltlichen Dinge, das Lesen und Schreiben dazu.«
Dem armen Kinde brannte eine dunkle Röthe auf den Wangen, und Thräne auf Thräne perlte aus den gesenkten Augen. Voll Rührung sah der gute Pastor das arme vernachläßigte Wesen an, und indem er die Hände segnend auf ihren Kopf legte, gelobte er sich, es nicht zu verlassen.
Angela, von derem Aeußern wir bisher noch nicht sprachen, war nicht schön. Sie hatte eine bleiche kränkliche Farbe und unregelmäßige Züge; ihre Größe war für ihr Alter bedeutend, wodurch ihr Körper aber abgezehrt erschien. Obwohl sie feine Glieder und eine geschmeidige Figur hatte, gereichte ihr dies noch wenig zum Vortheil, und nur ihr volles Haar und ihre großen nußbraunen Augen mit langen schwarzen Wimpern waren schön, und von diesen Augen verbreitete sich auch der eigenthümliche Ausdruck, der ihr Gesicht so lieb und anziehend machte, daß man den sonst auffallenden Mangel regelmäßigerer Formen übersehen konnte.
Zu Harsens war theilnehmend seine junge, blühende Gattin getreten, weil ihr der weibliche Tact sagte, hier könne sie helfen. Sie reichte dem Kinde die Hand, strich ihm die Wangen, und zog Stühle herbei, um das zitternde Kind zum Sitzen zu bringen, und Angela war so Hülfe bedürftig, daß sie plötzlich, da ihr Frau Harsens am nächsten blieb, beide Arme um den Hals der lieblichen Frau schlang, und an ihrem Busen in einen Strom von Thränen ausbrach.
Susa saß zusammengefallen vor dieser Scene, und tiefe Seufzer drangen aus ihrem Munde. Eine Fremde hielt das arme verwaiste Kind im Arm, und Susa sagte sich: So ist es gut – Gott hat ihr Schutz erweckt – bis jetzt bestand er nur in mir, und das war zu wenig in dem traurigen Hause.
»Herr!« sagte sie, während eine Andere die Thränen ihres Lieblings stillte – »dies Kind ist von ehelicher Geburt und ich bin nicht seine Mutter. Aber Gott hat mich an seine Wiege gestellt, und ich habe, obwohl seine Mutter noch lebt, nach Gottes Rathschluß, den wir nicht fassen, mehr als diese dafür thun müssen. Denkt daher nicht zu gering über das arme Wesen, wenn ihr sie in Gesellschaft einer so niedrigen Magd seht, als ich bin. Vielleicht, daß ich euch – da ihr ein Arminianer seid – wie ich hoffe, noch einmal sagen kann, von wie hoher Abkunft sie ist.«
»Lassen wir vor allen Dingen diese Bezeichnungen weg,« sagte Harsens – »ich will weder ein Gomarist, noch ein Arminianer sein, sondern ich strebe danach ein Christ zu sein, und durch den Glauben an meinen Erlöser, meine schwache, sündige Natur, deren Unzulänglichkeit ich jeden Tag auf's Neue fühle, auszugleichen. Das ist mein christliches Bekenntniß, gute Frau, und ich frage wenig danach, ob ich damit Gomarist oder Arminianer bin. Auch sind diese beklagenswerthen Händel durch die Weisheit unseres Statthalters Friedrich von Oranien seit den letzten Jahren in sich erstorben, wovon ihr vielleicht nicht so viel gehört habt, als von dem früheren Unfrieden.«
»Wie sollte es anders sein?« sagte Susa – »Kein Kloster verschließt seine Bewohner strenger, als uns das harte unverschuldete Schicksal. Doch, Herr! das gehört nicht hierher. Denkt, daß ich eine ungebildete Magd bin, die vom Schicksal in diese Lage gebracht, wenig weiß, wie sie sich zu benehmen hat.«
»Gott legt in demüthige Herzen das Verständniß für das, was Noth ist; darum seid getrost, arme Frau, und sagt mir, wie ich das Kind nennen soll.«
»Für's Erste, Herr!« sagte Susa – »nennt mich nicht Frau – nach Gottes Willen bin ich eine Jungfrau geblieben; aber laßt das auch weg; denn ich muß es mir um des Kindes Willen gefallen lassen, daß man meine Ehre beargwohnt. Nennt mich Susa, wie ich heiße, und damit seid ihr über Alles fort; das Kind aber nennt Angela.«
»Angela!« wiederholte der Pastor – »und wie weiter?« Susa schwieg und seufzte.
»Habt ihr keinen Taufschein?« fuhr er fort –
»Ja, Herr! der ist da, aber in diesem Taufschein steht mein unwürdiger Name, weil meine arme Herrschaft das Kind nicht auf den rechten Namen zu taufen wagte.«
Rasch stand Susa nach diesen Worten auf. »Herr! Herr!« rief sie – »lang' bin ich nicht mit Menschen gewesen, und weiß nicht, was man zu antworten hat, wenn man die Wahrheit verbergen will. Darum fragt mich nicht weiter, denn ich kenne euch noch nicht genug; und an dem Schritt, den ich gethan, indem ich euch dies Kind mit Gewalt gebracht habe, darf kein Vorwurf haften, denn ich kann daheim so wenig lügen, als hier.«
»Gott segne euch, Susa,« sagte Harsens – als wollte er ihr damit den Mund schließen – »zu dem, was wir vorhaben, brauchen wir wenig zu wissen, und haben bereits genug gehört. Da ihr in ungewöhnlichen Verhältnissen zu leben scheint und ich nicht übersehen kann, was euch schaden könnte, werde ich auch selbst bei vorkommender Gelegenheit nichts von dem äußern, was ihr mir gesagt. Und nun laßt uns über Angela sprechen – soll das junge Mädchen zu mir zum Unterricht kommen oder ich zu ihr?«
»Laßt es hier sein,« sagte Susa, und ihr Auge glitt über das friedliche Stübchen und folgte Angela, die, von der jungen Mutter geleitet, von den Vögeln am Fenster, welche durch die kleine geöffnete Scheibe aus der Hand gefressen hatten, sich wegwendend, jetzt vor dem Schwebekorbe stand und mit leuchtenden Augen und leisem Jauchzen das kleine rosenrothe Kind anstaunte, was ihr größtes Entzücken erregte, da sie noch nie ein solches gesehn hatte. »Laßt es hier sein,« sagte sie noch einmal. »Hier wird sie was Menschliches erleben, und das blieb ihr bis jetzt fremd. Morgen bringe ich sie euch wieder!«
»Gut,« sagte Harsens – »dann um dieselbe Stunde.« Susa stand auf; sie trat bis in die Fensternische und nöselte etwas an ihrem Halse herum; dann brachte sie ein schmales, schwarzes Sammtband hervor, an welchem, tief in das Mieder versenkt, ein Goldstück hing. Dies reichte sie Harsens hin und sagte mit zitternder Stimme: »Ob ich je mehr thun werde können, weiß ich nicht. Das habe ich noch und habe es immer für den letzten nöthigsten Fall aufgehoben – der ist nun da, und ich bin froh, daß ich etwas habe!«
Harsens wies es zurück. »Der Fall ist nicht da, liebe Susa, und ich nehme eure Gabe nicht. Ich habe längst beschlossen, das Kind in meinen Schutz zu nehmen ohne allen Lohn, und ich darf nicht zweifeln, daß eure Lage euch diesen kleinen Schatz vielleicht noch sehr wichtig machen könnte. Ich bedarf ihn aber nicht,« setzte er hinzu und blickte mit einer freudigen Genugthuung auf den behaglichen Ueberfluß, den für seine beschränkten Wünsche der kleine Raum ihm zu umschließen schien – und Susa dachte, er habe Recht; ihr kam aber ein neuer Gedanke.
»Vielleicht,« sagte sie daher nach kurzem Schweigen – »nehmt ihr es doch, da es einmal von meinem Herzen los ist, und verwechselt es in kleine Münze – und kaufet dem Kinde gelegentlich, was ihm Noth thut – oder« – fuhr sie zagend fort – »sie ist abgezehrt und hat nicht viel Kräfte – das kann an der Nahrung liegen – vielleicht zuweilen eine kleine Erquickung wenn sie den Weg gegangen ist – die Luft griff sie heute an, Herr – sie schwankte ein paar Mal. Zu Hause geht das nicht, sie würde es wieder sagen, wenn ich ihr heimlich zu gut thäte, und das würde auf geheime Schätze schließen lassen, die doch nur noch darin bestehen, und mir viel Qual bereiten, und wieder will ich ihre Unschuld nicht mit unnützen Verboten und Lügen vielleicht beflecken. Was sie aber hier empfinge, könnte sie sagen, das wäre eure Wohlthätigkeit, und euch wird nie Jemand danach fragen. Aber wenn ihr auch dem Kinde Lehren umsonst geben wollt, habt ihr doch kein Recht, ihr auch Brod dazu zu geben – Brod, was eurer Gattin und eurem Kinde gehört, und wovon ein Hülfsprediger selten das doppelte hat – und« – fuhr sie noch eifriger fort – »für den aufheben muß, der gar nichts zu brechen hat, was hier nicht der Fall ist.«
Harsens lächelte zwar über das Anerbieten, aber er hatte ein stilles und anspruchloses Aufmerken für die Absichten und Wünsche Anderer, und es ward ihm leicht, dabei willfährig zu bleiben, wenn es ihm auch neu war oder weit ablag von seiner eigenen Ansicht. Hier kam dazu, daß viel Rechtliches und Verständiges in der Rede der armen Susa hervortrat, und so unbekannt mit ihrer wahren Lage, hielt er es vorläufig für das Beste, ihren Wunsch zu erfüllen.
Er nahm daher das Goldstück zu sich und sah dadurch einen kurzen Sonnenschein auf Susa's Gesicht entstehn; vertraulich trat sie ihm etwas näher und sagte leise: »Giebt's recht viel kleine Münze, wenn ihr es umsetzt? – Ich denke zum Beispiel, etwas Milch und ein kleiner Wecken, das sollte ihr das Blut versüßen – bei uns haben wir nur die grobe Brodsuppe.«
Harsens wurden die Augen feucht. Wie hoch achtete er das arme geringe Mädchen und wie traurig war der Blick, den er in ihr Leben that.
»Seid sicher, Susa,« sagte er – »meine liebe Frau wird das Geld redlich verwalten, und es wird viel kleine Münze geben und lange vorhalten.«
Susa fühlte über diese letzte Einrichtung wahre Freude, und die Hoffnung, dem armen Kinde bessere Nahrung zu verschaffen, wälzte einen Stein von ihrem Herzen.
Langsam öffnete sich jetzt hinter ihr die Thür; Frau Lievers trat sehr feierlich ein, und nachdem sie einen langen forschenden Blick über das ganze Zimmer geworfen und damit den Verlauf des Beisammenseins sich aufzuklären getrachtet, sagte sie bedeutungsvoll: »Susa, es wird Zeit sein, daß sie nach Hause geht mit ihrem Mädchen; denn hier sind schon unnütze Dinge vorgefallen, und wer weiß, was geschehn, hätte ich nicht mein Hausrecht gebraucht.«
Susa's Gesicht erblaßte und der kurze Schimmer von Freude machte wieder dem verzagten Ausdruck des Schreckens Platz, der sich darauf eingefurcht hatte.
Rasch griff sie nach Angela's Hand, grüßte zerstreut die beiden besorgten Ehegatten, gab keine Antwort auf Harsens Anfrage über den morgenden Besuch und eilte verstört aus dem Hause, Angela mit sich ziehend, welche Mühe hatte zu folgen, da ihr das Steinpflaster und der für sie schon weite Weg viel Beschwerden machte.
Susa sah zu ihrem großen Schreck das eiserne Gitterthor der Straße offen, ebenso den kleinen Hauseingang von der Gasse, und je weiter sie vordrang, fand sie alle Thüren offen – und als sie alle hinter sich verschlossen hatte, hörte sie auf dem großen Hausflur schon ein lautes brüllendes Geheul und fand nun auch die Thüre nach dem Saale offen. Hier saß Jakob van der Nees hinter dem eichenen Tisch, den Kopf auf beide Hände gelegt, und stieß dies thierische Geheul aus, das mit einem Schluchzen verbunden war, welches ihn fast zu ersticken drohte. Ueber ihn gebeugt stand die arme Wahnsinnige und weinte bitterlich und sah trostlos umher und rang die feinen blassen Hände.
Susa's Herz, so muthig sie sich auch gerüstet fühlte, blieb doch vor Schreck stehen, und ihr kam ein Gedanke an Flucht, den sie jedoch sogleich wieder schwer bereute. Aber sie konnte doch ihre Furcht nicht überwinden und zu keinem Entschluß kommen, als ihr dieser schon erspart ward, denn Angela riß sich im selben Augenblick von ihrer Hand los, stürzte in das Zimmer und fiel über Jakob her, der sie bei seinem verhüllten Gesicht und seinem Geheul weder gehört noch gesehn hatte.
Als er ihre kleinen zarten Finger sich um seine groben Hände schlingen fühlte, verstummte plötzlich das Geheul, und als Angela die nicht mehr widerstrebenden Hände von seinem Gesicht wegzog, konnte selbst Susa nicht ohne Rührung den Ausdruck desselben sehen, als er Angela dicht vor sich und mit dem kindlich zärtlichen Ausdruck der Liebe und Angst über ihn gebückt erblickte.
»Nees! Nees! mein lieber Nees!« rief sie und schlang ihre Arme um seinen Hals – »du wirst doch nicht krank sein? Nees! Nees! was ist dir denn – was fehlt dir denn?« Und immer drückte sie ihn wieder und küßte ihn und trocknete seine Thränen mit ihrem Halstuch. Während dem ging wie mit Zauberschlägen die größte Veränderung in Jakobs Zügen vor. Entstellt von den entsetzlichen Gemüthsbewegungen, die er von dem Augenblick an durchgemacht, als er entdeckt hatte, daß Susa das ausgeführt hatte, was ihm wie ein Todesstoß erschien – hatte er alle Grade der Wuth sowohl für sich allein, als bei der Bäckerin durchgespielt, und da er endlich eingesehn, er könne die Festung, welche die mannhafte Frau Lievers vertheidigte, nicht einnehmen, obwohl sie das ganze Glück seines elenden Lebens umschloß, war er zurückgestürzt, und beinahe ohnmächtig vor Wuth und Erschöpfung war er endlich in dies maaßlos krampfhafte Weinen verfallen, worin ihn Angela unterbrach. Mit jedem Male nun, daß Angela mit ihrer kleinen Hand über sein entstelltes Gesicht fuhr, strich sie eine neue Last von Gram daraus fort, und als er sich endlich überzeugt hatte, sie sei wirklich zurückgekehrt, er halte sie in seinen Armen, sie hasse ihn nicht, sie liebe ihn noch ebenso wie früher, ja zärtlicher jetzt als die Tage vorher, wo noch ein Rest von Scheu ihr geblieben war – da stieg das Glück ebenso leidenschaftlich und ungestüm in ihm und er plusterte sich auf und schnitt einige Gesichter, die Angela immer zum Lachen zu reizen pflegten und auch jetzt ihre Wirkung nicht verfehlten. Die arme Mutter saß schon längst wieder nichts beachtend in ihrem Lehnstuhl, denn nur Jakobs ungebührliches Gebärden hatte sie der Theilnahmlosigkeit entziehen können, in welche sie gewöhnlich versenkt war – und nun hörte Susa, welche sich noch immer zurückhielt, wie Angela, überfüllt von dem, was sie erlebt hatte, mit der größten Lebendigkeit und Ausführlichkeit Nees Alles mittheilte, was vorgefallen war, und dabei ihr Glück, ihre Freude ihm auf eine Weise schilderte, die auch diesen Stein erweichte, denn das Glück des Kindes riß ihn zur Vergessenheit der Veranlassung hin und Susa sah ihn lachen, in die Hände schlagen und possierliche Geberden machen, wodurch Angela's Freude noch zu steigen schien.
»Morgen früh gehe ich wieder hin,« fuhr Angela fort – »ach Nees, bringe du mich hin, damit ich dir Alles zeigen kann, die Vögel, das kleine Kind und die weite, weite Aussicht. Dann sollst du sehn, wie gut Herr Harsens ist, was er mich all' lehren wird – und hilfst mir die Vögel zählen, denn Frau Harsens sagte, ich könne nicht ordentlich zählen, es würden immer zu viel, und ich wüßte nicht, wie die Zahlen folgten.«
Es war gewiß wohl begründet, daß Nees hierbei zuerst mit einiger Erregung die Unwissenheit seines Lieblings erkannte. Der Gedanke, daß sie die Zahlen verwechselte und sich verzählte, nöthigte ihm ein mißbilligendes Kopfschütteln und ein gewisses Knurren ab; er brütete darüber etwas ernst vor sich hin, und es war der kleine Anfang, der ihn mit der ganzen Maaßregel endlich aussöhnte.
Nur als Susa eintrat, wußte er nicht recht, welche Partie er nehmen sollte. Er hatte sich während seiner Qualen mit der Vorstellung gesättigt, wie grausam er sich an ihr rächen wollte, und die einmal gekostete Lust an Mißhandlungen gab ihm die wildesten Gedanken ein. Nun trat sie ruhig und demüthig wie immer ein, ohne den Blick auf ihn zu richten – und wo war die Kraft der Rache in ihm geblieben, in ihm – der Angela in seinen Armen hielt, mit ihr gescherzt, gelacht und ihres Glückes froh sie von Allem hatte sprechen hören, was er beschlossen zu verwünschen und zu verbieten.
Zwar verfolgte er sie mit drohenden Blicken, ballte die Faust und grunzte, während er mit den Füßen scharrte. Aber Angela hatte die glückliche Gabe der Kindheit, alles Vorkommende in ihren Bereich zu ziehen, zu ihren Zwecken anzuwenden, und so fing sie auch augenblicklich an, ihn entgegen zu necken – ihm nachzubrummen – sich zu schütteln und immer darauf zu bestehen, nicht Susa, sondern er solle sie morgen zum Herrn Pastor bringen – und damit mißriethen Jakobs Versuche, sich zu erzürnen – alle. Und er hatte endlich sogar eine Art Einwilligung gegeben, Angela's Wunsch für den andern Morgen zu erfüllen, womit die Sache, daß sie überhaupt hinginge, gegen seinen Willen außer Zweifel kam.
Nun traf es sich, daß es grade einer von den oft wiederkehrenden Tagen war, wo bei Susa das Geld wie die Lebensmittel ausgegangen waren – und da Jakob außer dem immer vorhandenen Grunde seines Geizes diesmal noch den doppelten gehabt hatte, erstlich Susa von dem Besuche bei der Bäckerin abzuhalten und sie durch die Sorge um diese Nahrungsmittel zu ängstigen und zu quälen, so hatte er ihre Ansprache um Geld mit Härte zurückgewiesen.
Susa hatte ihren kleinen Rest Mehl mit Wasser verdünnt und mit etwas Salz gekräftigt, in einem viel zu kleinen Töpfchen zubereitet; und daran gewöhnt, bei solchen Gelegenheiten sich von der Mahlzeit auszuschließen, setzte sie traurig die elende Suppe mit dem Geschirr auf den Tisch. Jakobs funkelnde Augen überliefen den geringen Inhalt, und er fragte gleich heftig und barsch, ob das die ganze Mahlzeit sei.
»Ja, Herr!« sagte Susa – »und ihr wißt es und könnt euch nicht wundern, denn ich sagte es euch schon vor zwei Tagen.«
»Ach!« rief Angela trostlos – »und ich bin so hungrig! O, gieb doch nur Susa Geld, lieber Nees, damit wir Brod bekommen!«
Jakob sah in großem Kampfe vor sich hin. Er hatte gewiß eine Ahnung seiner Abscheulichkeit, denn die arme Mutter näherte sich auch mit der Hoffnung, zu essen, dem dürftigen Speisetische, und sagte naiv: »Es ist sehr lange, Susa, daß wir nicht aßen – hier thut es mir so weh« – sie zeigte auf ihren Magen.
Da kam wieder die entsetzliche Stimme, die Jakob in solchen Fällen anrief, vor der er sich nicht wahren konnte, und die ihm seine Gewissenlosigkeit vorhielt, und ihn so lange stachelte und reizte, bis er das Geld mit einer Art von Entsetzen von sich gab. Sein feiger Sinn hielt diese Aufregung von Reniers Geist bewirkt, und diese Furcht machte, daß die innere Stimme oft Gestalt annahm und er Renier vor sich zu sehen glaubte, und immer die entsetzliche Benennung hörte, die Susa einst ausgesprochen, nämlich das Wort »Räuber!«
In dem Augenblick, den wir bezeichnen, hörte Jakob plötzlich, wie aus der Erde herauftönend, die Worte: »Räuber – meine Schätze liegen in den Wänden dieses Zimmers aufgehäuft, und du läßt mein Weib und mein Kind fast verhungern?«
Die Wirkung hatte Susa schon oft mit heimlichem Erstaunen bemerkt. Auch heute duckte Nees plötzlich vorne über, stieß einen Schrei aus, sah sich wild um, und leerte dann seine Tasche aus, ohne zu wissen, was er that, und mit rollenden Augen um sich schauend. – Angela sammelte jauchzend das blanke Geld, was über den Tisch rollte, und schüttelte es in Susa's Schürze, die augenblicklich damit verschwand, da sie wohl wußte, wie bald Nees die Reue ergreifen würde.
Als er sie mit dem Gelde forteilen sah, war es ihm, als müsse er nachstürzen. Er fing an zu zittern und that einen Sprung nach der Thür; aber solchen Scenen hatte Angela oft mit beigewohnt und schon kleine Listen gelernt, ihn vom Nachlaufen abzuhalten, und so hing sie sich auch jetzt wieder um seinen Hals und bat ihn, er solle Susa das Geld lassen, sie müßten sonst so hungern.
Dies Wort erschöpfte ihn, und matt setzte er sich nieder, und stumm starrte er vor sich hin. Wer das Vorangegangene erlebt hatte und ihn jetzt sah mit dem zernagten, eingefallenen Gesicht, der durfte wohl sagen: Es sündigt Keiner umsonst – kein Verstand ist listig genug, uns rein zu reden – und der, welcher sich zu erleichtern hofft, indem er Andere über seine Handlungen zu täuschen sucht, wird doch durch den Unglauben, den er findet, durch den Widerspruch gezüchtigt werden, der der Engherzigkeit überall entgegentritt – und das Unheil der Welt, was er durch seine Leidenschaften herausfordert, wird doch der stachelnde Dämon sein, den er fürchtet, den er sich gewinnen möchte, und dessen ewigen Vorwurf er zu seiner Züchtigung lauter hört, als selbst wahr ist.
Hiervon paßt wenigstens auf Jakob van der Nees, daß er auf's Tiefste den Widerspruch empfand, dem er selbst in diesem kleinen Kreise, den er nur um sich gelassen, nicht entging.
Dennoch sehen wir ihn den andern Morgen Angela's Wunsch erfüllen, und sie selbst zu Herrn Harsens hinbringen. Freilich diesmal von Susa begleitet, welche dem künstlichen Labyrinth in Jakobs Gedanken nicht folgen konnte, und es daher sehr unwahrscheinlich fand, daß er das Kind wirklich bei Herrn Harsens abliefern würde.
Aber Nees wandelte ruhig, wie es schien, mit Angela des Weges; grüßte höflich die erstaunte Bäckerin und erkundigte sich, wie ein stiller gesetzter Mann, ob man ohne Weiteres zu Sr. Ehrwürden herauf gehen dürfe.
Der guten Bäckerin verging die Sprache. Sie blinzelte mit den Augen und glaubte, dieser verständige Mann sei Nees nicht, derselbe, der gestern vor ihrem Laden sich wie ein Wahnsinniger gebärdet hatte. Aber es war Nees, und sie sah auch bald das nicht ganz zu unterdrückende boshafte Lächeln auf seinem Gesicht, womit er sich über ihr Erstaunen innerlich belustigte.
»Einen anständigen Besuch nimmt Se. Ehrwürden jederzeit an,« sagte sie daher ziemlich gereizt – »wonach sich diejenigen zu richten haben, die den Anstand nur zu oft vergessen.«
»Nun,« sagte Nees, und grinste die gute Frau, welche hochroth ihren Kopf wiegte, höhnisch an – »so können wir denn ohne Weiteres vordringen.«
»Ja,« rief die Bäckerin – »aber wenn ihr gedenkt, dort oben eins von euren Stückchen aufzuführen, und rechnet etwa auf die Sanftmuth des guten Herrn Pastors, der sich so was nicht vermuthen könnte, so vergeßt nicht, daß mir das Haus da oben eben so gut gehört, wie hier unten, und ich überall mein Recht behaupten werde!«
»Ihr scheint heute sehr böser Laune zu sein,« erwiderte Nees fortwährend grinsend und die Zürnende mit seinen Augen verfolgend – »und das paßt nicht zu unserer Stimmung. Nicht wahr, Angela! wir sind lustig und wollen uns über nichts erzürnen – darum komm zu dem guten Herrn Pastor, das wird besser für uns sein.«
So zog er mit dem Kinde, das so heiter und glücklich an der Seite des geliebten Nees war, der sie aus einem Scherz in den andern verflochten hatte, die Stiege hinauf, und Beide traten mit völlig heiterem Gesichte und Nees mit gesetztem Wesen zu dem guten Pastor ein, den wir in derselben Situation finden, als den Tag vorher.
Dennoch war Herr Harsens nicht wenig überrascht, Angela an der Seite des Mannes zu sehen, den er nach der ihm aufgedrungenen Beschreibung der Frau Lievers zwar zu erkennen glaubte, aber als einen halb Wahnsinnigen und den Peiniger und Tyrannen der armen Susa und des Kindes ansehen mußte.
Daß die Ansicht über ihn keine andere sein konnte, wußte Nees recht gut, und die Ueberzeugung, daß seine boshafte Strenge das Uebel nicht von ihm habe abhalten können, was er so sehr gefürchtet, lehrte ihn, daß die rohe Gewalt früher eine Grenze findet, als der für möglich hält, der damit lange haushielt. Er war zu klug, um sich länger zu täuschen, und als er von dieser niederschlagenden Ueberzeugung Besitz nahm, erwuchs ihm auch bald ein neues Hilfsmittel, und er beschloß nachzugeben; aber, indem er nachgab, die Sache selbst zu übernehmen, und sie damit in seiner Gewalt zu behalten. Diese sich abgerungene Verfahrungsweise ward aus besonderen, ihm nur allein bekannten Gründen, immer dringender nöthig, wenn er die Aufmerksamkeit von sich und seinen Hausgenossen abhalten wollte, da Susa einmal die Schranke durchbrochen hatte und im Fall seines fortdauernden Widerspruchs sich andere Vertheidiger finden konnten, die dann seine ganze Existenz in Gefahr zu bringen drohten.
Nun besaß er so viel Verstand und Verschlagenheit, daß er im vorkommenden Falle sich ganz zu benehmen wußte, wie es passend war. »Herr Pastor,« sagte er, sich anständig verneigend – »ich höre durch meine ehrliche Magd Susa, daß ihr als ein wahrer Christ euch großmüthig entschlossen habet, dies geliebte Kind in euren Schutz zu nehmen und ihm den heilsamen Unterricht der Religion und der dazu nöthigen Hülfswissenschaften zu ertheilen, und ich konnte nicht anders, als euch dafür selbst den gerührtesten Dank eines Herzens auszusprechen, welches wahrhaft väterliche Liebe für dies arme Wesen empfindet. Möge Gott euer frommes Vorhaben segnen und euch das große Unrecht, was ein unverschuldetes Schicksal ihr that, durch euren heilsamen Unterricht auszugleichen suchen.«
Herr Harsens schwieg noch immer, und das war Nees ganz angenehm, obwohl er wußte, daß es die Folge des Zweifels und des Erstaunens war. »Lasset euch demnächst dies geliebte Kind empfohlen sein,« fuhr er schnell fort, da ihm daran lag, ihm den ganzen Eindruck zu machen, den er hervorzurufen wünschte – »und helfet mir über ihr Schicksal wachen; denn bis jetzt habe ich es mit der Hinopferung meines eigenen Lebens gethan, indem ich Tag und Nacht für sie gearbeitet habe, um ihren nöthigen Unterhalt anzuschaffen; und wie die Mutter ihr Kind habe ich sie bewahrt vor den Gefahren, die ihrer harrten. So kann ich sagen, ihr bekommt sie unverdorben und rein wie einen Engel – und wenn ihr mich zitternd und zagend seht und eben so trostlos als doch auch zufrieden, daß ich sie nun aus meiner eigenen treuen Obhut entlasse, um sie euch zu übergeben, so vergebt das dem treuen Herzen, welches nur dies eine höchste Glück besitzt.«
Hier hatte sich Nees so gerührt und dies letzte, was er sagte, fiel so mit der Wahrheit und der einzigen Schwäche, die er kannte, zusammen, daß seine plötzlich hervorstürzenden Thränen als wahre und sichtliche Erschütterung nicht zu verkennen waren. Diesen Eindruck verstärkte Angela noch dadurch, daß sie sich mit ihrem alten Ausruf: »Nees! lieber Nees! weine doch nur nicht!« um seinen Hals warf und ihn mit kindlicher Zärtlichkeit zu besänftigen strebte.
Herr Harsens sah still beobachtend dieser Scene zu, und sagte dann: »Ihr seid, wie ich glaube, ein heftiger, reizbarer Mann – und der Schritt, den ihr mit dem armen Kinde gethan, scheint euch ganz um eure Männlichkeit zu bringen; denn gestern, wie mir Frau Lievers sagte, habt ihr euch gar großer Heftigkeit hingegeben, und heute vergeht ihr in Weichheit!«
»Ja, ja!« stammelte Nees – »ich fühle das selbst zu meiner großen Beschämung, und gewiß, ich leide sehr an Heftigkeit und bitte euch, mich schonend zu beurtheilen. Aber ihr wißt nicht, wie heilig ich gelobt habe, über das Kind zu wachen, und wie nöthig es ist, daß es vor aller Augen verborgen bleibt.«
»Ich kann das nicht beurtheilen,« sagte Harsens, »und ihr dürft nicht fürchten, daß Schwatzhaftigkeit euch von hier aus in Verlegenheit bringen wird. Doch kann ich immer nicht glauben, daß ihr durch die angedeuteten Rücksichten entschuldigt seid, daß ihr dies arme Kind ohne allen Unterricht so hoch habt aufwachsen lassen und euch dem frommen Entschlusse der guten Susa so nachdrücklich zu widersetzen getrachtet habt!«
Ein kurzer, brennender Blick schoß aus Jakobs Augen; aber schnell senkte er sie wieder und mit derselben mäßigen Stimme sagte er seufzend: »Wir müssen es oft ertragen, falsch beurtheilt zu werden, wenn wir nicht alle Gründe nennen dürfen, die uns entschuldigen würden: aber gewiß trifft sich dies am ersten da, wo wir mit Roheit und Beschränktheit der niederen Stände zu thun haben. Modelt euer Urtheil nicht nach dem Bericht dieser guten, aber einfältigen Magd; sie kann nicht übersehn, was ich thun muß.«
»Es sei so,« sagte Herr Harsens, entschlossen, ein Gespräch abzubrechen, von dem ihm ein inneres Gefühl sagte, es werde zu keinem andern Resultate führen. Beide Männer trennten sich, ohne sich näher gekommen zu sein, froh einander los zu werden, und Jakob ließ Angela zurück, indem er eben so still und bescheiden, die Bäckerin grüßend, das Haus verließ, und Susa lächelnd mit der Hand winkte, da diese arme Seele in ängstlicher Sorge vor der Thür harrte, um zu sehen, ob er Angela zurücklassen würde oder mit sich führen.
Von diesem Tage an ging Angela ungehindert jeden Morgen zu Herrn Harsens, theils von Jakob selbst geleitet, theils von Susa, später oft ganz allein. Sie war kein von der Natur bevorzugter Geist und der lange Druck, die Vernachläßigung, in der sie bis zum zehnten Jahre gelebt, wo die erste Stufe der Entwickelung gemacht sein will, blieb für ihr ganzes Leben fühlbar. Herr Harsens hatte bald erkannt, wie weit die Entwickelung seiner Schülerin gehen dürfe, und es schien ihm bei ihrer übrigen traurigen Lage, die ihm nachgerade nicht verborgen blieb, kein Glück, sie in ein höheres geistiges Wissen einzuweihen.
Sie lernte mit großer Mühe lesen, schreiben und rechnen, und trotz ihres guten, folgsamen Charakters konnte sie nicht ganz den Ueberdruß bezwingen, den ihr die ungewohnte Anstrengung verursachte. Dagegen war es ihre größte Lust, der Frau Harsens geschäftig zur Hand zu gehen, das Kind zu warten, nähen, klöpfeln und weben zu lernen; und da sie ungestört den täglichen Besuch bei dem Pastor machen durfte, erlangte sie dennoch eine Bildung, die ihr sonst fremd geblieben wäre.
Harsens belebte durch den Religionsunterricht alle die natürlich guten Gefühle ihres Herzens und sah mit Freude, daß sich ein starker, wahrer Charakter entwickelte, eine grade Anschauung der Dinge und eine Festigkeit in Bezug auf das einmal als gut erkannte, welche unerschüttert blieb bei jeder Gegenwirkung und auch seinen Grund in der Begrenzung ihres Geistes hatte, welcher von der großen Verschiedenheit menschlicher Ansichten nicht hören wollte, oder dieselben neben den einmal aufgefaßten nicht aufnehmen konnte.
Wie aufrichtig nun auch ihre Liebe zu dem Pastor und dessen Familie ward – kein Gefühl ihres Herzens kam doch der Liebe zu Nees gleich. Selbst als sie mit zunehmendem Alter und wachsender Einsicht seine Fehler erkannte, erschütterte das ihre Liebe zu ihm nicht. Sie waren Beide wie durch einen Zauber aneinander gekettet, und die Gewalt, die Angela über Nees ausübte, mußte diese Bande gerade durch die Zeit verstärken, da sie erst mit dem klareren Bewußtsein den Einfluß erkannte, der so merkwürdig und schmeichelhaft zugleich war.
Der Pastor und seine Gattin hatten durch keine Aeußerung diese Gefühle zu erschüttern gesucht; denn sie wußten nach vielen Jahren noch eben so wenig von den eigentlichen Verhältnissen Angela's wie zu Anfang und sahen daher den Schutz, den sie unbezweifelt an Jakob hatte, als ein Glück für das verlassene Kind an.
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