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Wahrscheinlich war für den deutschen Wähler die Situation kaum jemals einfacher als diesmal. Daß, wie im Mai, mehr als zwanzig Parteien aufmarschieren, kompliziert nur scheinbar. In Wahrheit liegt für den von Affichen und Aufrufen bestürmten Staatsbürger die Sache recht simpel. Sehen wir von den kleinen, zwischen den Reihen der großen Streiter hoffnungslos gebetteten Interessentengruppen ab, so gibt es nur zwei Heerlager. Der Wähler hat zu entscheiden zwischen republikanischen und antirepublikanischen Parteien. Und obgleich es letzten Endes um eine Politik der Mitte geht, in diesem Wahlkampf selbst gibt es keine Mitte, sondern nur Rechts und Links. Was dazwischen, ist unsicheres, aufgeweichtes Terrain. Das ist ein Fortschritt gegenüber dem 4. Mai.
Der Kampf geht um die Konsolidierung des republikanischen Staates, der in den Nöten und Wirrnissen der letzten Jahre nicht immer imponierend Haltung gewahrt, sich aber trotzdem in der Erscheinungen Flucht als das Einzige von Haltbarkeit bewährt hat. Der Extremismus verschiedener Couleur, der gegen diesen Staat anrennt, hat bisher nur die Unfähigkeit bewiesen, den Ablauf selbst seiner eigenen bescheidenen Parteifunktionen zu regulieren. Es sind im Laufe dieses Jahres innen- und außenpolitische Tatsachen geschaffen worden, die weder ignoriert noch weggemogelt werden können. Jeder Sabotageversuch daran wäre ein Schritt in dunkle Ungewißheit, ein Verbrechen am ganzen Volk. Die Erfüllungspolitik, in London definitiv und feierlich festgelegt, ist der einzige Weg der deutschen Politik. Kein beredter Stresemann kann, um den Effekt auf Kötzschenbroda nicht zu versäumen, dieses Faktum zu Tode interpretieren. Die Zeit der bewußten organischen Arbeit hat begonnen. Die Ära der Charlatane mit dem Wunderrezept, der Vertrauten des germanischen Götterhimmels ist zu Ende. Die Wallfahrt zum Grabe Bismarcks oder zum Grabe Lenins hat mit einem ungeheuren Katzenjammer geendet. Lassen wir die Pilger unter sich.
Die Deutschnationalen, sonst durch gemeinsame Einsichtslosigkeit verkettet, treten seit dem Echec bei der Abstimmung über die Dawesgesetze mit gelähmten Flügeln auf die Walstatt. Die Wildheit der Gesten gelingt nicht mehr in der früheren schönen Selbstverständlichkeit. Die Deutschnationalen sind diesmal die Partei der verwässerten Schlagworte. Gegen die Erfüllungspolitik kann man seit dem 29. August nicht mehr mit altgewohnter Lungenkraft wettern, und erst recht der Fall Nathusius, die große Hoffnung, hat sich als eine in feuchtes Erdreich gelegte Mine entpuppt. Herriot hat das unerquickliche Intermezzo auf eine ebenso staatsmännisch kluge wie das Gerechtigkeitsgefühl befriedigende Art erledigt. Der Reaktion fehlt der unersetzliche Einpeitscher Poincaré. Herr Maurenbrecher hatte schon Recht, als er sein Gebet emporsandte, dem deutschen Nationalismus diesen Bundesgenossen zu erhalten. In die blutige Internationale ist Bresche gelegt. Wenn das Stichwort nicht zur rechten Zeit kommt, wird der Partner konfus.
Die Deutschnationalen müssen sich also mit Schlagwort-Ersatz begnügen. Und dies Surrogat glauben sie in der Aufwertungsfrage gefunden zu haben. Ein Problem, das tief aus den Nöten des Alltags steigt, das Problem der Inflationsopfer, die Fata morgana derer, die durch eine schreckliche wirtschaftliche Entwicklung plötzlich wie in die Wüste getrieben sind. Aber es ist das eigenartige Pech der Deutschnationalen, daß es ihnen diesmal nicht gestattet ist, diese primitive Demagogie als Monopol zu betreiben, daß ihnen nicht allein erlaubt wird, Hoffnungen zu nähren, an deren Erfüllungsmöglichkeiten sie selbst nicht glauben, sondern daß ihnen in dieser Branche Konkurrenz erwachsen ist von mindestens einem halben Dutzend »Aufwertungsparteien«, von denen sicherlich nicht eine einzige einen Reichstagssitz erobern wird, die aber gemeinsam ein gut Teil der Masse jener kopflos gewordenen Kleinbürger zersprengen werden, die bei den letzten Wahlen stets auf die Versprechungen der Rechtsparteien hereingefallen waren.
Vernunft steht gegen Phantasterei, Arbeit gegen Gaukelei und Phrase. Die Gegensätze sind deutlich herausgearbeitet, das Dazwischen schrumpft zusammen. Der deutsche Wähler, der weiß, daß die Stimmabgabe ein verantwortungsvoller Akt ist, braucht nicht durch den Wettbewerb der republikanischen Parteien verwirrt zu werden. Es handelt sich nicht darum: welche republikanische Partei?, sondern: daß die Republik siegt, daß die deutsche Demokratie die Scharte vom 4. Mai auswetzt. Keine Stimme einer Partei der Revanche oder auch nur der außenpolitischen Unzuverlässigkeit. Keine Stimme einer Partei des offenen oder maskierten Monarchismus. Keine Stimme einer Partei der Bürgerblockpläne, der unsozialen Belastung der Arbeitnehmer, einer plutokratischen Steuerpolitik, einer Beherrschung des Staates durch die »Wirtschaft«. Weder Hitlermütze noch Stahlhelm, aber ebensowenig der Zylinder des Industriefeudalen. Das Arbeitsgewand muß wieder Deutschlands Symbol werden – und möglichst ohne eine irgendwo an den Rand genähte Gösch.
Am 7. Dezember soll die Republik erweisen, daß sie stärker ist als ihre Feinde, die die ganze Unterwelt des Hasses gegen sie mobilisiert haben. Sie haben unsere Fahne besudelt, unsere Institutionen beschimpft und mißachtet, unsere besten Männer gemordet; sie haben sich gebärdet, als wären ihre Klüngel die Nation. Wir gehen einer großen Abrechnung entgegen, und der nächste Sonntag soll ihr Anfang sein.
Montag Morgen, 1. Dezember 1924
Ein spannender Film von sauberer Technik, der bei der Erstaufführung in der Alhambra freundlichen Anklang fand. Die Eigenart amerikanischer Filmarbeit zeigt sich hier von einer gewinnenderen Seite als in manchen anderen Produkten. Dorothy Phillips in der Hauptrolle ist eine Darstellerin von großen Mitteln, der Regisseur Holubar hat Temperament und Handgelenk.
Montag Morgen, 1. Dezember 1924
Mein Freund Laurentius hat den Freitod erwählt. Etwas weniger großartig gesagt: nachdem er mit sich ins Reine gekommen, daß endlich einmal etwas Energisches unternommen werden müsse, schrieb er einen Brief an die rangälteste Tante der Familie, zu der er stets korrekte aber unfreundliche Beziehungen unterhalten, in dem er mit beherrschten Gefühlen mitteilte, daß er, wenn sie im Besitz dieser Zeilen, bereits in eine schweigsamere Familie eingegangen, – und einen zweiten an die Pensionsinhaberin, daß sie das Zimmer ruhig vermieten könne, da bisheriger Inhaber mit Tod abgegangen. Dann nahm er im Steglitzer Ratskeller (dem geeignetsten Lokal für Henkersmahlzeiten) zwischen grünen Stahlhelmiten und ergrauten Ehrhardt-Troupiers einen einfachen, aber nahrhaften Imbiß. Dann ging er in nächtlicher Stunde langsam nach dem Lützow-Platz, legte Rock und Weste hübsch ordentlich auf einer Bank in der Calandrelli-Anlage zusammen und setzte kurz entschlossen mit strammem Hechtsprung übers Geländer der Herkules-Brücke in den Kanal, woselbst er verblieb.
Das alles wickelte sich sehr undramatisch ab. Der Selbstmörder von heute verschmäht die Aufmachung. Wo sind sie hin, die lauten und pompösen Sultane nächtlicher Orgien, die übersatt ihres irdischen Türkenparadieses, das sardanapalische Tempo ihres Seins noch einmal in eine einzige tolle Mitternachtsstunde preßten, um in den Armen schimmernder Odalisken aus einem kleinen Fläschchen das Prophylaktikum gegen alle weiteren Wonnen des Lebens zu schlürfen? Oh, wir sterben heute wieder preußisch-herb, nüchtern und mit geringem Kostenaufwand. Die deutsche Seele konsolidiert sich.
Bald darauf, an einem trüben, verregneten Abend, überlegte ich ernsthaft, ob es nicht besser sei, Laurentius zu folgen. Ich hatte mancherlei Gründe. Man hat immer mehr Gründe zum Sterben als zum Leben.
»Und doch ist nie der Tod ein ganz willkommener Gast«, näselt Mephisto und hat selten so unpräzis pointiert. Nicht in Helenens Armen hat sein wunderlicher Doktor sich molliger gefühlt als in der Osternacht, da er verzückt in die Phiole starrte. Der Tod ist scharmant als Gast, aber wenn er vom Haus Besitz ergreift, unangenehm. Wer das Leben in seiner ganzen bezaubernden Nichtigkeit ausschöpfen will, der muß gelegentlich auf dessen Grenzstrich flanieren, mit einer Fußspitze ein ganz klein wenig ins Ungewisse vortasten.
Wenn du müde bist, verbittert, zerfallen mit aller Welt und dir selbst, dann mag nichts wohltuender sein als ein kalter Pistolenlauf an der Schläfe. Du blinzelst verstohlen in die Mündung hinein; es ist kein Schaudern dabei. Ein beruhigender Defaitismus umzirkt dich, dein Leid wächst zu feierlicher Größe, blickt tolerant, fast tröstend auf dich herab. Du schämst dich nicht mehr, besiegt zu sein. Und während du mit kosender Hand die vielen kleinen Schlußzeremonien vornimmst, die Papiere ordnest, die letzten Briefe schreibst, gucken dir alle Gesichter über die Schulter, die du je geliebt und gehaßt. Sie lächeln wehmütig, nicken dir zum Abschied zu, ein Löckchen flattert herab; (wem gehörte es?), ein Seidenbändchen bleibt dir am Ohr hängen, alles ist so freundlich, selbst Schulmeister Bakel, Schrecken deiner Jugend, winkt dir zu, wie ein guter alter Kamerad. Oh, tränenseliges Versinken, nicht lange und die Gesichter werden blasser und verwehen wie weißer Mehlstaub. Ein neuer Zug naht, Genossen deines Schicksals, die dem großen Vielleicht auf den Grund gegangen, eine endlose Säule von kühlen, ernsten Gestalten. Du kennst manchen davon. Da ist Herr X., z. B., der vom Eiffelturm gesprungen, und Fräulein Y., die sich zwischen Frankfurt und Hanau auf die Schienen gelegt. Ja, du kennst viele, viele. Sie sehen nicht eigentlich traurig aus, aber so unbewegt, so peinlich neutral. Gehörst du schon dazu? Und dann flüstert es von irgendwoher: »Eigentlich hat es ja keine Eile! Nur nicht überstürzen! Wer weiß ...? Die Herrschaften da sehen auch nicht gerade zufrieden aus ...«
Die Toten sind empfindlich. Die Toten können keinen Zweifel vertragen (was auch den Spiritismus so schwierig macht). Du bist wieder allein. Wie dumm sieht dieser glatte, mausgraue Browning im kalten Gaslicht aus! Da liegt auch der alberne Brief ...
So ging es mir in jener Nacht.
Am nächsten Morgen aber klebte an den Anschlagsäulen ein flehender Appell an Laurentius, unterzeichnet von der rangältesten Tante. Er möge doch die Seinen nicht länger in Angst sitzen lassen; man habe ihn ja noch eine Stunde nach seinem Tode im Anhalter Bahnhof gesehen, wie er ein Billett vierter Klasse nach Leipzig löste. Im übrigen werde die Familie diesmal noch usw.
Jetzt weiß ich auch, warum er bei der Parade der Schatten fehlte. Er ist halt immer so apart.
Das Tage-Buch, 6. Dezember 1924
Oben auf dem Verdeck des Omnibus 8 sitzt eine junge Dame und ist mit sich beschäftigt. Es ist schneidend kalt. Wir harten, wetterfesten Männer verfluchen unser Schicksal, das uns dem Omnibus aufs Dach steigen ließ. Wir haben den Mantelkragen hochgeklappt, die Fäuste in den Taschen vergraben und befassen uns mit düsteren Gedanken über kommende Grippen.
Die junge, leicht gekleidete Dame scheint gefeit zu sein gegen dergleichen. Sie hat das Handtäschchen aufgeklappt, blickt in einen kleinen Spiegel und macht abwechselnd schiefes Köpfchen und Schmollmündchen. Dann behandelt sie das Gesicht mit einem weißen Läppchen und holt ein Fläschchen rosa Pon-Pon aus der Tasche ...
Wir andern schauen blaugefroren zu und wundern uns über diese seltsam plazierte Boudoirszene. Ja, es hat sich etwas merkwürdiges zugetragen: das Boudoir mit seinen großen und kleinen Geheimnissen, mit seinen charmanten und gelegentlich ernüchternden Kleinigkeiten ist publik geworden. Richtiger: der Begriff ist weiter, unendlich viel weiter geworden. Boudoir ist alles und überall.
Es ist unendlich leicht, gegen die »Frau von heute« zu wettern, gegen die Frau dieser Jahre nach dem Kriege, in ihrer Ungebundenheit und Losgelöstheit von aller Konvention und übernommenen Schicklichkeitsbegriffen. Kapuzinaden auf die Frauen von heute wollen wir gern jenen vergrillten Herren der Schöpfung überlassen, die schon bei den Frauen von gestern mit Recht abgeblitzt sind. Die Frau ist das für Pädagogik ungeeignetste Objekt. An Männern mag man mit Erfolg modeln, die Frau muß so genossen werden, wie der Geist der Zeit sie serviert.
Und dennoch, meine Damen, so sehr wir uns freuen, daß nicht mehr jahrhundertealte Ketten um Ihre reizende Knöchel klirren, daß Sie heute junge Herren auf Ihrer Bude empfangen können, ohne daß jemand die Nase rümpft, daß Sie Zigaretten rauchen, allein ins Wirtshaus gehen, usw., übersehen Sie nicht, daß es noch immer unsichtbare Grenzen gibt, die nicht von Großmutters Moralität, sondern vom Schönheitsgefühl gezogen werden. Wenn die Freiheit beginnt, den natürlichen unverbogenen ästhetischen Sinn zu verletzen, dann wird etwas faul im Staate Dänemark.
Die Boudoirszene in der Straßenbahn, im Kaffeehaus, am Frühstückstisch, das ist eine Sünde gegen den guten Geschmack.
Der Toilettentisch gehört nicht auf die Straße, auch nicht, wenn en miniature im Täschchen mitgeschleppt. Es muß ein Geheimnis sein, um die vielen winzigen Hilfsmittel weiblichen Reizes. Auch der Zauber hat seine Technik, selbstverständlich, doch wenn diese Technik fortwährend und sichtbar bloßgelegt wird, verliert sie ihre Wirkung.
Wie reizend ein hübscher Kopf vor dem Spiegel im halbdunklen Eckchen ... ein eiliger Blick zurück, wirklich, es sieht niemand; schnell die Puderdose heraus, schnell die Wangen betupft. Natürlich hat es jemand gesehen, aber das macht nichts. Daß es so flüchtig, so verschwiegen geschah, fast wie etwas Nichtstatthaftes, das macht die Szene so reizvoll. Das haben unendlich viele Künstler im Bild festgehalten. Aber keinem modernen Watteau oder Fragonard würde es einfallen, eine Schönheit von heute darzustellen, wie sie sich vor aller Augen breit und umständlich renoviert. Puderquaste, Lippenstift, Augenbrauenstift, dazu etliche Schachteln mit karmoisinrotem, tief schwarzem, blauem, violettem Inhalt, Kamm, Bürste, alles, was sonst in der Schublade zu ruhen, und dessen Anwendung sonst eine gewisse Diskretion zu erfordern pflegte, wandert mit der Besitzerin und wird benutzt, wo und wie es trifft.
Der widerspenstige Bubenkopf wird öffentlich gestriegelt; Haarsträhnen, die sich bei der Gelegenheit selbständig machten, fliegen freibleibend in der Nachbarschaft herum, um schließlich auf einem Rockkragen vorübergehend, in einem Suppenteller endgültig, zu landen. Das ist schon nicht mehr kokett, sondern eine ganz gelinde Unappetitlichkeit.
Du kommst ins Restaurant und auf der Tischdecke findest du in kleinen Tupfen die Farben schwarz-weiß-rot. Das bedeutet nicht, daß hier eine politische Demonstration von Anhängern des alten Regimes vor sich gegangen ist, es bedeutet nicht, daß du auch beim Essen immer an deinen Kaiser denken sollst, der in Holland darbt, während du dich mästest; es heißt ganz einfach: hier hat vor dir ein weibliches Wesen gesessen und da, wo du jetzt speisen sollst, Toilette gemacht. Diese roten Fleckchen, ja, da hat der Lippenstift geruht, daneben eine gelblich-weiße Puderschicht, daneben die Abdrücke von Augenbrauenschwarz. Das alles ist ja so fröhlich bunt, so pastos aufgetragen, aber zwischen weiß und rot liegt eine Gabel und da, wo die Reste der Manufaktur zur Herstellung von Augen à la Carmen verblieben, da wird gleich dein Brötchen liegen. Und das ist nicht schön.
Das Geheimnis der Wirksamkeit aller Toilettenkünste ist ihre Diskretion, ihre völlige Intimität. Man weiß, daß sie angewendet werden, aber man kennt das Wie nicht. Ein kluger Mann wird den Schleier nicht lüften wollen, und eine Frau, die den Effekt nicht gefährden will, auf den Schleier nicht verzichten. Ein hübsches Lärvchen, das sich vor aller Augen bemalt, das kann unter Umständen recht pikant sein. Aber der Typus, der bleibt, der aus tausend Verpuppungen immer neu schlüpft und in neuartigem Gewand immer gleich bestrickend bleibt, das ist schließlich nicht die kleine Midinette und ihre mehr oder weniger gelungenen Kopien, sondern – die Dame.
Montag Morgen, 15. Dezember 1924
Im Jahre 9 nach Christi Geburt wurden die Legionen des Quintilius Varus vom Häuptling der Cherusker, der mit den römischen Feinden verbündet war, ins Innere des Teutoburger Waldes gelockt und dort dezimiert. Bis heute gilt diese Tat als ein Rekord deutscher Mannestreue; ein Kolossaldenkmal ehrt den Hinterhaltstrategen.
Um das Jahr 1520 krümmten sich die deutschen Reichsfürsten in Gewissensnöten. Sie hatten die Flugblätter des abtrünnigen Augustiners gelesen und verbrachten schlaflose Nächte, von der entsetzlichen Vorstellung gequält, daß zwischen ihnen und Gott der Papst sich breit mache. Bis sie sich endlich zu evangelischer Freiheit aufrafften: sie konfiszierten die geistlichen Güter und ernannten sich selbst zu Chefs ihrer Landeskirchen. Als dadurch angeregt, ihre Untertanen gleichfalls anfingen, immer dringender nach Gott zu verlangen, wurden sie unangenehm und fuhren mit Spießen und Stangen dazwischen. Die lutherischen Potentaten der Zeit führen deshalb in der Geschichte Beinamen, wie: der Fromme, der Großmütige, der Weise.
Der Große Kurfürst hat als Bravo im Dienst der verschiedensten europäischen Mächte gefochten und sich als Dank für seine Bemühungen von dem jeweiligen Arbeitgeber fetten Gebietszuwachs versprechen lassen. Er legte dementsprechend den Grundstein zu Brandenburgs späterer Herrlichkeit. Als er einmal in trüber Stunde die Konjunktur verkannte und an einen geriet, stärker und schlauer als er, da hob er tiefgekränkt die Schwurfinger und sprach die prophetischen Worte: »Möge aus meinem Gebein« usw.
Und in der Tat erwies sich sein Gebein als ergiebig. Es erstand daraus der Mann, der an Frankreich furchtbare Rache nahm, indem er Österreich in drei Kriegen um ein großes, blühendes Land erleichterte. In der Schule erfahren wir, daß Maria Theresia den Verlust Schlesiens nicht verschmerzen konnte, und schütteln den Kopf über die Bockbeinigkeit dieser Frau, die die Ehre nicht zu würdigen wußte, eine Provinz an Preußen zu verlieren.
Der General Yorck schloß die berühmte Konvention von Tauroggen ab, die nicht nur Verrat an seinem obersten Kriegsherrn Napoleon bedeutete, sondern auch seinen eigenen Monarchen in die peinliche Lage brachte, sein Volk zum Befreiungskrieg aufrufen zu müssen. Der General Yorck figuriert seitdem in unseren Geschichtsbüchern als ein Musterbeispiel militärischer Disziplin.
Und Bismarck jagte 1866 einen König und noch einige geringere Landesherren zum Satan und schlug die verwaisten Gebiete zu Preußen. Mit Recht sagt man deshalb, Bismarck habe sein ganzes Leben der Stärkung des monarchischen Bewußtseins gewidmet.
Aus solchen heroischen Einzelheiten setzt sich gemeinhin die Geschichte eines Volkes zusammen. Je mehr Episoden dieser Art, desto größer der nationale Stolz, desto deutlicher die Betonung, mit den Kräften der Vergangenheit verbunden zu sein. Unglücklicherweise sind diese Kräfte noch immer in hohem Maße wirksam.
Die Ketten des Besiegten sind unbequem, aber riechen wenigstens häufig nicht so übel wie der Lorbeer des Siegers. Wohl dem Unterlegenen! Am schönsten träumt und hofft es sich unter den Rädern der Geschichte.
Das Tage-Buch, 27. Dezember 1924
Es flatterten in dieser Woche nicht nur jubilierende Christenglein uns zu Häupten, sondern noch ganz andere, und weit weniger freundliche Geister: – die großen, dürren Galgenvögel der Verleumdung, die kleinen feisten Schmutzfinken der üblen Nachrede. Davon kann u. a. der Reichspräsident ein Lied singen, das kein Weihnachtschoral zu werden braucht. Aber auch manchen anderen Personen ist übel mitgespielt worden. Von der plumpen offensichtlichen Wahrheitsverdrehung und der raffinierten Umdeutung unbequemer Tatsachen bis zur versteckten Andeutung, es war jede Spezies vertreten. Die Konjunktur der trefflichen Minierer blühte und gute Reputationen sanken im Kurs. Was weiß man, wem der nächste Tag schon eine neue Kotbombe beschert?
Man sollte den braven Menschen nach Möglichkeit ihr Handwerk erleichtern. Warum müssen sie sich im Schweiße ihres Angesichts weiter plagen, das alles läßt sich nach einem fertigen Schema viel einfacher machen. Wer arbeitet endlich einen Handweiser für Verleumder aus? In der Praxis besteht er längst, es handelt sich nur noch um endgültige Paraphierung.
Nehmen wir einmal einen Spezialfall. Man tuschelt z. B. etwas über Herrn Hugenberg (warum immer Leute der Linken zur Exemplifizierung nehmen?). Die Quellen sind nicht gut; aber was kommt es darauf an? Und nun steigt die Sache langsam. Eine erste dünne Notiz eröffnet die Kampagne:
»Wie von bestimmter Seite behauptet wird, soll im Fall der Apfelsinenkisten-Transport A.-G. ›Barcelona‹ auch der Name des Herrn Geheimrats Hugenberg genannt worden sein. Die in Frage kommenden Stellen lehnen jede Auskunft ab. Auf unsere Anrufe im Bureau des Herrn Geheimrats Hugenberg wurde geantwortet, daß dort nichts bekannt sei, Herr Hugenberg selbst wäre schon seit Tagen verreist.«
Da sitzt der erste Nagel. Aha! denkt der gebrochene Leser und findet in Träumereien über die Schlechtigkeit der reichen Leute seinen Lebensmut wieder.
Dann Dementi. Aber schon am nächsten Tage:
»Wie wir hören, zieht die Affäre der Apfelsinenkisten-Transport A.-G. ›Barcelona‹ immer weitere Kreise. Die Vernehmung einiger höherer Militärbeamten über den Verbleib der zehntausend zur Armierung des Truppenübungsplatzes Döberitz bestimmten Apfelsinenkisten ergab die schwere Belastung einer in diesem Zusammenhang bereits genannten, zurzeit nicht in Berlin weilenden weithin bekannten Persönlichkeit.«
Jetzt ist die Situation reif für den großen Schlag. Die Artillerie ist eingeschossen. Ein kurzes Leuchtsignal nur noch: »Hugenberg nach Turkestan abgereist?«, und dann wird das Trommelfeuer eröffnet:
»Hugenberg verhaftet!
Als Herr Geheimrat Hugenberg heute nachmittag gegen 1 Uhr nach Beendigung seiner Vernehmung über seine Beziehungen zu den Geschäften der Apfelsinenkisten-Transport A.-G. ›Barcelona‹ das Gerichtsgebäude verlassen wollte, wurde er von einem Beamten des Untersuchungsrichters nochmals zurückgeholt und ihm eröffnet, daß wegen Verdunkelungsgefahr seine Verhaftung notwendig geworden sei. Wie wir hören, ist Herrn Hugenberg als besondere Vergünstigung gestattet worden, den ›Lokalanzeiger‹ zu lesen« usw.
Aber schon im Morgenblatt wird versichert, daß die ganze Geschichte auf einem betrüblichen Irrtum beruhe. Der Herr, der Herrn Hugenberg im Eingang des Gerichtsgebäudes zurückhielt, war nicht der Beauftragte des Untersuchungsrichters, sondern der Toilettenmann, dem Herr Hugenberg vergessen hatte, seinen Obolus zu entrichten. Daran wird ein höfliches Bedauern geknüpft und der enttäuschte Leser auf das verwiesen, was noch werden kann.
So wird eine Verleumdung lanziert und bis zur letzten Konsequenz durchgeführt. So würde es Herrn Hugenberg ergehen, wenn er einmal das Unglück haben sollte, zum Jagdobjekt seiner eigenen Presse zu werden.
Wehe dem Beleidigten! Es gibt noch Richter in Deutschland, Juristen, die unter dem Talar ein menschliches Herz tragen und sich Mühe geben, den Angeklagten mit den mildesten Augen zu sehen. Ja, ihnen tut der arme Teufel von einem Verleumder in seiner Vereinsamung leid, und die moralische Verurteilung eines Verleumdeten bereitet ihnen mehr Freude als die Überführung und Verurteilung von tausend professionellen Giftmischern.
Montag Morgen, 29. Dezember 1924