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480.

Die Robe der Frau Kollontai

»St., Yorkstraße. Ihr Gefühl der Empörung über die Aufmachung der Genossin Kollontai als Botschafterin der Sowjetrepubliken teilen mit Ihnen Tausende von Proletariern Rußlands. Genossin Kollontai hat sich in der Vergangenheit große Verdienste um die russische Revolution erworben, auch erfüllt sie ihr jetziges Amt gut, jedoch hat sie bei dem russischen Proletariat gerade durch dieses Gebaren viel an Ansehen eingebüßt.«

»Rote Fahne« vom 17. X. 24.

Diese Aufmachung der Frau Kollontai, die das Mißfallen der »Roten Fahne« erregt, wurde neulich durch illustrierte Blätter dem deutschen Publikum vermittelt. Man sieht eine sehr schöne und elegante Dame, die es sicherlich mit ihren diplomatischen Pflichten recht ernst nimmt. Der Mann des Kommunistenblattes, der mit St., Yorkstraße, das Gefühl der Empörung teilt, muß über mehr Gesinnungsbravheit verfügen als über Sinn für weibliche Grazie. Sonst wäre ihm die öde Vokabel »Aufmachung« verschämt in der Tinte stecken geblieben. Eine Frau von so viel natürlichem Reiz braucht keine Aufmachung wie irgend ein mittelmäßiges Buch. Diese Kleider gehören zu ihr, sind Teil von ihr.

Wer will es Rußlands Vertreterin in Skandinavien übelnehmen, wenn sie sich hübsch anzieht? Gerade die Sowjets haben ja so viele Vorurteile niederzuringen. Bekanntlich hat in Genua nichts so sehr überrascht wie das Exterieur der russischen Delegation. Man erwartete mit Bangen wüste Gesellen mit ungewaschenen Pfoten und Weichselzopf. Statt dessen erschienen befrackte Herren, die nach allen Seiten hin verbindlich lächelten und im Gegensatz zu den Vertretern der westlichen Zivilisation auf sorgfältige Innehaltung der Mittagspause pochten. So hielt die russische Seele ihren Einzug in Genua.

Frau Alexandra hat kürzlich ein Buch erscheinen lassen. Das heißt: »Die Liebe der fleißigen Bienen« und handelt, wie nicht groß hervorgehoben zu werden braucht, nicht von Bienenzucht, sondern von freier Liebe. Und da schämt man sich ein bißchen für die Verfasserin. Nicht daß diese ... Gott bewahre. Wenn man Botschafterin ist und dann noch über freie Liebe nachdenken muß und die Resultate dieses Nachdenkens schriftlich fixiert, dann hat man keine Zeit, seine Prinzipien in die Praxis umzusetzen. Aber welche Banalität des Themas! Frau Alexandra rennt offene Schlafzimmertüren ein. Kinder, seid ihr in Moskau rückständig!

In der Hochburg der roten Revolution allerdings hat es um das Buch heftige Fehde gegeben. Eine Genossin verübte eine turbulente Gegenschrift. Die Kollontai, exzentrisch und von bürgerlichen Atavismen besessen, proklamiere das Recht auf ungehemmtes Sinnenleben; ihr öffentliches Auftreten bereite Ärgernis. Das alles sei nicht sozialistisch.

Die Kollontai wieder hatte behauptet, gerade das sei sozialistisch. Was ist Wahrheit? Wer hat den echten Ring? Alexandra steigt kopfschüttelnd aus dem Frisiermantel und diktiert ein Telegramm an Drecoll.

 

Die Dame in Moskau ist sicherlich als Revolutionärin expert, ebenso wissen die »Rote Fahne« und ihr Leser St., Yorkstraße, was eine Harke ist. Aber was die Frau in der Revolution bedeutet und die Revolution für die Frau, das hat die Kollontai am instinktivsten erfaßt. Denn wie immer die Frau in die Revolution verstrickt sein mag, als Idol, als Bannerträgerin oder Troßdirne, verflochten in den Streit der Männer, kämpfend für die Programme der Männer, deklamierend die Manifeste der Männer, spielt sie doch immer nur ihre eigene Rolle. Während die Männer Verfassungsurkunden zerfetzen oder beschreiben, Tyrannenblut literweis abzapfen und mit jeder großen Revolte das Recht, Bürger zu sein, auf weitere Pariaschichten ausdehnen, kämpft die Frau für ihr eigenes Recht, für ein Recht, das kein Jurist der Welt jemals paragraphieren könnte, für das Recht, den Typus des Weibes zu vollenden, das Geschlecht in den Mittelpunkt aller Dinge zu rücken. Pathetisch verbrämt, parteipolitisch verklausuliert, durch Männerparolen falsifiziert, zwischen Männerhirnen und Männerfäusten, so kämpft die Frau ihre private Revolution durch, nachtwandlerisch sicher vom Trieb geleitet. Und das ist die ironische Marginalnote, zur Geschichte dieser »Emanzipation« gekritzelt, daß die bürgerliche Befreiung des Weibes nur immer neue Bindungen schafft und daß die feierliche Unabhängigkeitserklärung des Sinnenlebens den weiblichen Menschen zwar von der Herrschaft des Einen befreit, aber zur Sklavin Aller macht. Die Frau hat nichts zu gewinnen als neue Ketten, und diese Kettenlast zu vervielfachen, das ist der Sinn ihres Kampfes.

Es geht eine große Linie von den gleißenden Königinnen des Altertums zu den Revolutionärinnen unserer Zeit. Die Robe der Kollontai in ihrer provozierenden Eleganz ist die bessere und dauerhaftere Fahne einer Revolution als die gesammelten Papiere des Herrn Sinowjew. Und deshalb sind alle langweilig Gesinnungstüchtigen und alle instinktverlassen drauflospolitisierenden Frauenzimmer so entsetzlich mißtrauisch, wenn eine gutangezogene Dame plötzlich in den Kreis ihres Parteiwesens tritt. Sie wittern das Fremde, verlockend Gefährliche, das Uneingestandene – – das Geschlecht. Und sie schließen von den kostbaren visiblen Teilen der Bekleidung auf die andern nicht dem Auge preisgegebenen. Die Beziehungen aber zwischen saurer Tugend und ungelüfteter Unterwäsche sind zu bekannt, als daß sie nochmals markiert zu werden brauchten. Wenn man alle Fanatiker und Prinzipien-Monomanen veranlassen könnte, etwas häufiger die Wäsche zu wechseln, es würde weniger Unsinn geredet werden auf der Welt.

Das Tage-Buch, 25. Oktober 1924

481.

O.C.

Abermals lag in diesen Tagen über dem Leipziger Staatsgerichtshof der Schatten des Kapitäns Ehrhardt. Der wievielte Prozeß ist es nicht, der sich gegen Helfer, Kreaturen und Verführte dieses geheimnisvollen Mannes richtete? Nur der »Herr Consul« selbst fehlte wie immer. Die Deutsche Republik hat sich nicht besondere Mühe gegeben, diesen ihren Erzfeind ihrem Prokurator in die Hände zu liefern. Ist der allerdings in die Objekte seiner Tätigkeit immer so verliebt, wie in diesem Prozeß der Reichsanwalt Niethammer, nun, so war es vielleicht doch besser, daß Herr Ehrhardt vorher echappierte. Ein Vertreter der Staatsgewalt, der eine Lobeshymne auf einen zähen und skrupellosen Rebellen psalmodiert, könnte eine gefährlichere Belastung der Staatsautorität bedeuten, als dieser selbst.

Es paßt zum Charakterbilde des verschlagenen und weitherzigen Bandenführers Ehrhardt, daß er stets ruhig seine Werkzeuge bluten läßt. Immerhin kann er auch zu seiner Entschuldigung anführen, daß es in Leipzig nicht sehr blutig geworden ist. Die schließlich verhängten Strafen sind minimal; wie immer ist das Schwert der Justitia, wenn es sich um Rechtsradikale handelt, zum Galanteriedegen geworden, mit dem die leutselige Dame den Sündern ein bißchen die Fußsohlen kitzelt – und an einem Scherz von so weicher Hand stirbt keiner der hier in Frage kommenden Killinger. Dabei ging der endliche Spruch des Gerichtes noch immer um einiges über die Anträge des Reichsanwaltes hinaus und erregte dadurch Erstaunen. Wir sind so bescheiden geworden in Deutschland. Wie bezeichnend war der Auftakt. Ausschluß der Öffentlichkeit gerade bei der Erörterung der empfindlichsten Punkte. Die O. C. hat in Oberschlesien hervorragend mitgespielt. Herr Niethammer und die andern Verteidiger erblicken darin ein historisches Verdienst. Andere Leute können vielleicht auf Erzberger, Rathenau, Gareis und andere verweisen, deren Ermordung ja auch in den Aufgabenkreis der O. C. fiel. Wie, warum und zu welchem Zeitpunkte hing der Staat mit dieser Geheimorganisation zusammen? »Die Vereinbarungen, die zur Schaffung der O. C. führten«, betonte der Reichsanwalt, »sind derart, daß man öffentlich im Interesse des Landes nicht darüber sprechen kann. Auch die Anklageschrift dürfte die volle Wahrheit nicht sagen.« So ist die einzige wichtige Frage nicht geklärt, inwieweit der republikanische Staat selbst in seiner Blindheit diese Kammorra gefördert hat, der Griff ins Wespennest nicht unternommen worden. Selbstverständlich unterstrichen die Angeklagten die Legalität und Friedlichkeit ihrer Bestrebungen. Die Bezeichnung der Weimarer Verfassung als »antinational« sei nur als Scherz unter Brüdern aufzufassen, die Feme bedeute nicht mehr als ein Manicure-Institut, überhaupt, man habe dem Vaterland dienen wollen und mehr nicht. Da das Gericht nicht mehr Neugierde zeigte und die Öffentlichkeit auch nicht, konnte es dabei sein Bewenden haben. Es war unter diesen Umständen wirklich eine Kraftverpulverung, daß die Verteidiger es noch für notwendig hielten, sich in langen und aufgeregten Expektorationen zu ergehen; was am nachdrücklichsten Herr Meltzer tat, der Verfolger des armen Zeigner, der den höchst überflüssigen Mut aufbrachte, das Gericht zu ersuchen, sich nicht »von dem Federgeschmeiß einer entarteten Presse beirren zu lassen«.

So anfechtbar die Führung dieses Prozesses und der Spruch auch sind, aus einem ergibt sich doch die Ursache der öffentlichen Gleichgültigkeit: Die Ära der Geheimorganisationen ist zu Ende. Die Putsch-Konjunktur ist vorüber, Konspiration ist kein Handwerk mehr, das seinen Mann und die dazugehörigen Frauen nährt. Nicht der republikanische Staat in seiner Energielosigkeit und seinem Mangel an Verteidigungswillen bedeutete Damm und Deich gegen die Umsturzwelle von rechts. Ein solches Attest ginge, weiß Gott, zu weit. An den veränderten Zeitverhältnissen, an dem allgemeinen Zug zur Normalisierung ist die Geheimbündelei, sind die dilettantischen Diktaturpläne gescheitert. Man hat genug von den hysterischen Parolen »nationaler« Provenienz; man will wieder arbeiten und zur Ruhe kommen. Allerhand seltsames Volk hatte sich im schwarzweißroten Ku-Klux-Klan zusammengefunden. Die meisten wollten Geld verdienen, einige hatten auch Ideale. Mit dem Ende der Inflation, mit der Entmilitarisierung der Reparationsfrage entstand langsam eine Atmosphäre in Deutschland, in der die Chancen, als Verschwörer Geld zu verdienen, in gleichem Maße sich verringerten wie die Betätigungsmöglichkeiten für angeblich patriotische Ideale, deren Wiege im Tollhaus gestanden hat und die unweigerlich das ganze deutsche Volk schließlich dorthin geführt hätten. Seinen ersten Krieg hat der General Ludendorff gegen den Marschall Foch verloren, seine weiteren Schlappen sind gekennzeichnet durch die Namen Seeckt, Lossow, Faulhaber; die letzte und härteste Niederlage hat ihm der General Dawes beigebracht.

Das Urteil von Leipzig befriedigt nicht das Gerechtigkeitsgefühl, aber es bedeutet trotzdem einen feierlichen und deutlichen Schlußstrich unter jenen tragischen und verworrenen Abschnitt deutscher Geschichte, der mit dem Einbruch der Baltikumer begann und in der Rolle Ehrhardts seinen Höhepunkt erstieg. An den Realitäten des Alltags, an der schlichten Wahrheit, daß die Tatsachen der Wirtschaft stärker sind als phantastisches Abenteurertum, ist das moderne Landsknechtstum zerspellt. Und wenn auch über diesem Prozeß noch der Schatten des »Herrn Consul« lag, – diesmal war es wirklich nur noch ein Schatten.

Montag Morgen, 27. Oktober 1924

482.

Herr Pipagran fährt nach Paris

Gute Freunde des Verfassers Franz Schulz beteuern, daß man das Beste des Stückes meuchlerisch fortgestrichen habe, und daß das Schlechteste dessen, was wir hörten, nicht dem Haupte des Dichters, sondern der disziplinlosen Laune Max Adalberts und Paul Morgans, vielleicht auch des Regisseurs Stahl-Nachbaur, entsprungen sei. La recherche de la paternité est interdite, wir sind also der Mühe überhoben, nachzuforschen, wer eigentlich der Schuldige an der lebensunfähigen Kreuzung von Hinterpommern und Pappdeckel ist, die schließlich zustandekam. Der alte Maupassant, der es sich gefallen lassen mußte, entdichtet zu werden, hat jedenfalls nichts damit zu schaffen.

Montag Morgen, 27. Oktober 1924

483.

Parteienkrise

Im vergangenen Frühjahr standen mehr als zwei Dutzend Parteien im Wahlkampf. Das machte damals den Ausblick auf den Endeffekt schwierig. Diesmal sind die alten Parteien wieder unter sich. Aber vier davon befinden sich in inneren Krisen, in Krisen verschiedener Ursachen, verschiedener Art. Und niemand weiß im Augenblick, inwieweit das in der Folge wirken wird.

Am durchsichtigsten stellt sich die Situation der Völkischen dar. Hier ist die Krise längst zur Katastrophe geworden. Daß die Ludendorff-Partei völlig desolat der Zersprengung in Grüppchen und Konventikel entgegentreibt, das liegt nicht allein an den selbstverständlichen Kontrasten, die sich aus der Zusammenkoppelung konservativ-militaristischer und kleinbürgerlich-sozialrebellischer Elemente in einem Parteigefüge ergeben. Die Zeit selbst hat sich gegen die Leute erklärt. Wie die Periode der Stabilisierung wirtschaftlich mit den Inflationsgespenstern aufräumt, so auch geistig und politisch. Die romantischen Bandenführer und Adolf Hitler, ihr tönendes Blechinstrument, waren die Kinder einer desperaten Epoche, die den Glauben an die Vernunft verloren und ohne Hoffnung auf organische Weiterentwicklung nach dem Goldmacherrezept der »Patentlösung« suchte. Die Rentenmark hat die erhitzten Demagogen und die machtlüsternen Offiziere überwunden. Sinnfälliger Ausdruck der Veränderung: die Völkischen haben kein Geld mehr, ihre Presse nagt am Hungertuch. Die Schwerindustrie hat keinen Anlaß mehr, eine Prätorianertruppe zu unterhalten, die nur Unfug anstiftet und das Geschäftsleben stört. Der jähe Zerfall der Hakenkreuzler mag ein soziologisch nicht uninteressanter Prozeß sein, die Politik berührt er kaum. Herr Ludendorff hat wie immer die Gelegenheit zu einer auch nur halbwegs imponierenden Sortie verpaßt. Der Rest gehört den Witzblättern.

Was in den letzten Wochen auf der deutschnationalen Stechbahn vor sich ging, mutet als Gesamtbild nicht viel ernsthafter an, ist aber ohne Zweifel konsequenzenreicher. Wir wollen in diesem Zusammenhang unerörtert lassen, ob die Deutschnationalen tatsächlich schon eine Tendenz zur Entradikalisierung, eine Neigung zur Mitte zeigten. Jedenfalls haben die Intransigenten das Steuer in der Hand und säubern alle repräsentativen und verantwortlichen Plätze von den Mitgliedern des opportunistischen Flügels, der die Annahme der Dawes-Gesetze ermöglichte. Zunächst erfolgte ein großer Schub in den Redaktionen. Zu bedauern ist das Scheiden des Herrn Professors Hoetzsch als außenpolitischer Wochenchroniqueur der »Kreuzzeitung«. Ein kluger, wissender und urteilsfähiger Mann, der sicherlich als Fraktionsredner oft intellektuelle Opfer in reichem Maße dargebracht hat, aber zwischen Laverrenzen und Westarpen stets wie ein Grieche unter Barbaren wirkte. Dem untern Tisch gefallenen Führer Hergt wird niemand eine Träne nachweinen. Einer jener ewig Kurslosen, die hypnotisiert nach der Macht starren, im teutonischen Bärenfell ein zappeliger Neurastheniker. Unentwegt oppositionell und immer bereit, eine perhorreszierte Regierung für ein paar Ministersitze aus der Patsche zu ziehen. Und doch nimmt Herr Hergt fast staatsmännisches Format an neben Herrn Claß, dessen Pronunciamento ihn so unvermittelt in den Sack rollen ließ. Denn Herr Hergt mag ein konfuser und über normales Pferdehändlermaß hinaus bedenkenfreier Taktiker sein, er weiß immerhin, daß es Wände gibt, an denen sich selbst ein deutschnationaler Schädel blutig stoßen kann. Von solcher Erkenntnis ist Herr Claß frei. Seit zwanzig Jahren spielt dieser ehrgeizige und ränkesüchtige Provinzadvokat als Einpeitscher des Alldeutschen Verbandes den geheimnisvollen Gewaltigen, den »Mann im Zapfendustern«. Die nüchterne Beleuchtung des Seeckt-Prozesses tat dieser konspirativen Kellerassel des Nationalismus nicht besonders gut. Optimisten nannten damals Moabit seinen tarpejischen Fels. Herr Claß, vor einem Jahr noch willens, als Diktator das Reich in seine Privatregie zu nehmen, stand stumm und hilflos wie ein Verkehrsturm im Gerichtssaal. Aber was wäre bei uns auch imstande, eine vaterländisch untermauerte Reputation zu durchlöchern? Heute bringt er wieder die ganze Partei zum Kuschen. Absehen läßt sich noch keineswegs, ob die Deutschnationalen konstitutionell geschwächt aus diesen Auseinandersetzungen und Umschichtungen hervorgehen. Sie verfügen über die leichtgläubigsten und unwissendsten Wählerscharen. Ihre Presse übergeht die Konflikte mit Schweigen. Wird man es in Pommern, ja, auch nur in Steglitz, jemals erfahren, daß die Fraktion die Erfüllungspolitik im entscheidenden Moment herausgehauen hat? Kaum.

Völlig anders muß dagegen die gegenwärtige Position der Demokraten bewertet werden. Auch hier hat es im Fraktionszimmer heftige Kollisionen gegeben, von denen die Öffentlichkeit allerdings erst erfuhr, als einige Prominente protestierend gegangen waren. Die Rechtspresse höhnt über diesen Aderlaß, aber es ist schlechtes Blut, das die Partei hergegeben hat. Die Krise der Demokraten ist eine ausgesprochene Gesundungskrise. Die Partei wird in nächster Zukunft vielleicht magerer, aber gestraffter in die Arena treten. Die Bürgerblockfreunde, die Dominicus, Gerland, Keinath, Schiffer bedeuteten schon längst eine arge Belastung, und da nunmehr auch Herr v. Siemens sich entschlossen hat, seine politischen Talente einer »Liberalen Vereinigung« zukommen zu lassen, so möchte man der Demokratischen Partei aufrichtig gratulieren. Es war ein in der deutschen Politik leider selten gewordener Augenblick, als das Nein der Herren Koch und Erkelenz die stickige Atmosphäre des parlamentarischen Kuhhandels plötzlich durchschnitt. Gern verzeiht man der Partei nach dieser guten männlichen Handlung eine Reihe begangener Sünden.

Aber gerade weil die Demokratische Partei in einem schicksalsvollen Moment einmal nicht versagt hat, deshalb erwartet man auch in Zukunft mehr von ihr. Sie muß eine Sprache finden, so klar und eindeutig wie es ihre Tat war. Der Aufruf des Parteivorstandes und manche Reden der Führer aber erwecken fast den Eindruck, als wollte man cachieren, daß man mutig war. Noch immer spukt die quallige Redensart von der »Politik der Mitte« herum, noch fehlt das klare Bekenntnis: wir sind eine Linkspartei! Noch immer wird versichert, die Absage an die Deutschnationalen gelte ja nicht für ewige Zeiten. Welche überflüssige Beteuerung! Was kümmert uns, was einmal aus den Deutschnationalen wird, welches Läuterungsverfahren ihnen noch bevorsteht? Einstweilen fühlen sich die Herrschaften in ihrem Fegefeuer noch ganz kannibalisch wohl, und sie haben, wie der Sieg ihrer Radikalen beweist, die Temperatur noch um einige Grade erhöht. Nein, wir haben mit den Deutschnationalen zu rechnen, wie sie sind, nicht mit irgendwelchen Wunschbildern und Zukunftsträumereien. Wollen die Demokraten ihren Sezessionisten die Waffen aus der Hand schlagen, indem sie den Nachweis zu führen versuchen, daß sie eigentlich auch gar nichts anderes wollen? Das wäre ein alter Trick, aber wirkungslos jetzt, wo fertige Gruppierungen nicht mehr durch Tricks in ihrer Bedeutung verschleiert werden können. Die Demokraten haben entschieden. Ihre Entscheidung ist das Tatsächliche, nicht die nachträgliche Motivierung. Sie haben den Stresemännern das Zustandekommen der großen bürgerlichen Olla podrida verdorben. Kein veilchenblauer Sehnsuchtsblick eines Geßler nach rechts kann darüber hinwegtäuschen, daß sie zwangsläufig zur Linkspartei geworden sind. Wie aus der Pistole geschossen hätte unmittelbar nach Reichstagsauflösung das Linkskartell dastehen müssen. Die Demokratische Partei ist das eigentliche Angriffsobjekt dieses Wahlkampfes, weit mehr diesmal als die Sozialdemokratie. Sie müßte auch die Trägerin des Kartellgedankens sein.

 

Am kompliziertesten liegt das Problem vielleicht bei den Kommunisten. Die erscheinen diesmal mit allen Merkmalen innerlicher Erschöpfung, noch dazu lädiert durch das harte Zufassen der Staatsgewalt. Zahlreiche ihrer populärsten Agitatoren sind verhaftet, andere haben sich in sicherer Erwartung der Verhaftung bereits vor der Reichstagsauflösung ins Ausland begeben. Ein unerhörter Druck lastet auf der Partei, verhindert Kraftentfaltung. Die Sozialdemokratie erwartet Zuwachs aus diesen plötzlich führerlos gewordenen Arbeitermassen. Aber gerade dieser absonderliche Zustand darf uns nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Kommunisten, wie die Völkischen, die geborene Krisenpartei, auch ohne diese amtliche Behinderung auf dem Wege sind, deren Schicksal zu teilen. Die putschistische Richtung hat sich den Hals wund geschrien. Die Arbeiterschaft ist verstimmt, enttäuscht. Die Obstruktionsspielerei zieht nicht mehr. Die Parole des Kampfes gegen alle hat die Schlagkraft verloren. Ohne die Verfolgungssucht der Staatsanwälte würde die Schwäche und Direktionslosigkeit der Partei wahrscheinlich viel stärker zum Ausdruck kommen. Der Körper ist krank, auch ohne die Blessuren durch den Polizeiknüppel.

Bedeutet die Zersetzung der Kommunistischen Partei, daß in absehbarer Zeit die große, die geeinte deutsche Arbeiterpartei entsteht? Für diesen Wahlkampf gilt nur, daß der Extremismus sich totgelaufen hat.

 

Im vergangenen Frühjahr spielten in das Ringen der Parteien ideale Forderungen mit hinein. Die Unzufriedenheit mit den deutschen Abarten des Parlamentarismus war allgemein. Man klagte die »Bonzenwirtschaft«, die Herrschaft der Anciennitäten an, verantwortlich zu sein für die Schwäche der Republik, für das ewige Versagen des parlamentarischen Apparates. Man sprach von den Rechten der Jungen, forderte Abdankung eines in Routine erstarrten Führertums. Über allen Parteien stand plötzlich ein Fragezeichen.

In diesen Herbstwochen werden solche Stimmen kaum mehr laut. Es geht um lauter harte, reale Dinge. Nicht um Monarchie oder Republik, sondern für und gegen die soziale Reaktion, deren faßlichster Ausdruck der Bürgerblock ist. Es geht darum, wer zahlen soll.

Vier Parteien in der Krise. Verfall und Werden nebeneinander. Und wird nicht doch in diesem Streit der politischen und wirtschaftlichen Parolen eine Generation sich zerreiben, um einer neuen Platz zu machen? Sollte das am Ende doch der Sinn aller dieser Wirrnisse sein?

Das Tage-Buch, 1. November 1924

484.

Neue Männer!

Noch hat der Wahlkampf nicht in voller Schärfe begonnen. Noch berät man in den Parteikanzleien die Listen. Eine große Personalerneuerung wird es nicht geben und wird auch scheinbar gar nicht verlangt. Aus den einzelnen Wahlkreisen kommen Meldungen von der Wiederkehr der alten Kandidaten, und gelegentlich hört man auch, daß ein Mann über Bord gegangen ist, wie z.B. Herr Schiffer, der sonst so kundige Pilot, der sich jedoch nach kurzem Verlorensein im Weltmeer der Fraktionslosigkeit bereits wieder auf das Guanoriff einer »Liberalen Vereinigung« gerettet hat. Es ist nicht das Persönliche, das in diesem Wahlkampf interessiert. Prinzipien stehen einander gegenüber, Parteien mit ihren politischen und wirtschaftlichen Programmen. Kein ragender Kopf, nicht einmal ein für Minuten fesselndes Profil. Die gefährliche Indolenz der Parteien in allem, was Personenauslese betrifft, wird begünstigt durch das gegenwärtige Wahlsystem, das in hohem Maße geeignet ist, die brüchige Präponderanz der Parteivorstände zu konservieren.

Und doch geht es in diesen Wochen nicht nur um Sieg oder Niederlage der einzelnen Parteien. Eis geht auch darum, daß endlich einmal Männer nicht wiederkommen, die verfilzt sind mit allen Defaiten der deutschen Politik seit 25 Jahren. Sie mögen, wenn man schon auf ihre Namen nicht verzichten zu können glaubt, als Nummer 30 der Reichsliste figurieren, aber ihre Placierung an aussichtsreicher Stelle, das bedeutet Verdrängung jüngerer Kraft, bedeutet Entrechtung der Dreißigjährigen zugunsten der Sechzigjährigen, bedeutet ein Attentat auf die Gegenwart und Verrammelung der Zukunft. Es gibt Gesichter in der deutschen Politik, die nicht länger zu ertragen sind; es ist, als hätten sie den bösen Blick, als brächten sie Unglück ins Haus. Der Reichstag vom 4. Mai ist nicht nur an einer unmöglichen Parteigruppierung zugrunde gegangen. Daß keine Fraktion frisches Blut einzusetzen hatte, daß keine junge, helle Stimme den Chorus dieser zähen, eigensinnigen Greise übertönen konnte, das gab gerade den verschiedenen trüben Episoden dieser letzten Krise das Stigma einer hektischen Senilität.

Wo das Eisen nicht hilft, hilft das Feuer. Wenn die Parteien selbst sich einer notwendigen Entwicklung verschließen, greift das Schicksal mit harter Hand ein und merzt das aus, was leben will, ohne es zu können. Was sich in diesen Tagen z.B. um Ludendorff abgespielt hat, das müßte wie ein Symbol wirken. Hier ist in aller Stille, ohne besondere Anteilnahme der Öffentlichkeit eine Glorie in Dunst aufgegangen. Wenn einer, so ist Herr Ludendorff der Abgewirtschaftetste der Abgewirtschafteten, der Versager der Versager, der Großkönig aller Bredouillen. Vor einem halben Jahr noch jubelumrauschter Ehrengast der Deutschen Tage, dessen vaterländische Ejakulationen wie Offenbarungen einer höheren Welt angestaunt wurden, Triumphator mit einer Geste, die die Lebensdauer der Republik zu bestimmen schien, heute – ein alternder Querulant mit verwüsteter Reputation, dessen Nachbarschaft man meidet, weil das Geläut der Narrenschelle um ihn allzu deutlich wird. Die Völkischen, die am 4. Mai als eine siegesgewisse Truppe in die Arena stürmten, kommen diesmal kopflos, ein ungeordneter Haufen, von Richtungskämpfen und kleinem Futterkrippenzwist zermürbt, bestimmt, am 7. Dezember ekrasiert zu werden.

Der General Ludendorff, von dem die bayerische Generalität wie mit einer Regung von Degout abrückt, ist der Prototyp alles dessen, was uns von Niederlage zu Niederlage geführt. Er ist der Mann des frivolen Optimismus, des halben Gelingens und des pünktlich einsetzenden Malheurs, eines Malheurs, zu groß und zu häufig, um nicht schließlich über die ganze Persönlichkeit ein Fragezeichen zu setzen. Er hätte beinahe den Krieg gewonnen, er hätte beinahe den Kapp-Putsch gewonnen, er hätte beinahe den Hitler-Putsch gewonnen, wenn nicht, ja wenn eben nicht immer dieses fatale »Wenn nicht ...« gewesen wäre. So aber endete die Sache immer wie auf dem Odeonsplatz. Andere bluteten, der große Mann lag platt auf dem Bauch, während die Kugeln pfiffen.

Aber Ludendorff, obgleich die Krönung einer Gattung, ist nur einer von vielen. Seine Wesenszüge trägt eine ganze Generation von Politikern. Nicht so grausam ausgeprägt, sichtbar jedoch in der Struktur. Optimistisch, hasardierend, rechthaberisch, verantwortungsscheu, und immer, immer unschuldig an Fehlschlägen, so sieht die Führergeneration aus, die Deutschland Krieg und Frieden hat verlieren lassen und dennoch nicht zum Weichen zu bringen ist, weil wir alle zu schnell vergessen. Weil wir Deutschen in der Politik so entsetzlich wirklichkeitsfern sind, weil wir über Programmbuchstaben büffeln, anstatt in Gesichtern zu lesen. Weil wir uns liebevoll in alles Abgestorbene und Vergangene versenken, nur nicht in die Vergangenheit unserer Führer.

Welche Partei wird am 7. Dezember die größten Chancen haben? Diejenige, die am wenigsten Ludendorffe, das heißt, am meisten neue Physiognomien präsentiert. Das Volk ist nicht so politikmüde, wie man häufig wähnt, aber es ist seiner Politiker in hohem Maße überdrüssig.

Das müßte gerade die Demokratische Partei am allerersten erkennen. Sie ist die bedrohteste von allen. Sie hat richtig und mutig gehandelt, als sie mit ihrer letzten Weigerung, den Bürgerblock mitzumachen, das faule parlamentarische Geschäft verdarb und mit ihrem Nein den traurigen Pakt Stresemann-Hergt in Fetzen riß. Die Partei hat ohne Zweifel würdig gehandelt, aber sie muß sich an die Linie halten, die sich aus ihrem Handeln ergibt. Es hat keinen Sinn, daß sie schon wieder zu lavieren versucht und mit vieldeutiger Gebärde die Zukunft offen läßt. Kein diplomatisches Ausweichen kann da helfen, sie hat den Haß der ganzen Bürgerblockgarde gegen sich, und wenn heute schon das offizielle Korrespondenzorgan der Deutschen Volkspartei die Unverschämtheit sich herausnimmt, einen Ehrenmann wie Erkelenz des Landesverrats zu bezichtigen, so läßt sich nach dieser ersten Schmutzprobe an den Fingern abzählen, was demnächst noch gefällig sein wird. Die Partei aber kann eine solche Campagne nur wagen, wenn sie Männer vorschickt, die unverbraucht wirken und deren Name nicht belastet ist mit so und so vielen Niederlagen oder intellektuellen Blamagen. Nicht mit Abgekämpften und durch eigene Schuld Blessierten läßt sich eine solche Gefahr bestehen.

Und wenn jetzt verlautet, daß in der Demokratischen Partei Stimmung gemacht wird, als Berliner Spitzkandidaten für Reichstag und Landtag Herrn Fischbeck bzw. Herrn Merten aufzustellen, so reibt man sich entgeistert die Stirn. Welcher schadenfrohe Dämon konnte das der Partei einblasen? Der Name des Herrn Merten allein genügt, um Zehntausende von Linksdemokraten der Sozialdemokratie zuzutreiben oder überhaupt von der Wahlurne fernzuhalten. Dieser reaktionäre Schulmann, des Stadtschulrats Paulsen gehässiger Feind, ist der Manager des Berliner Kommunalfreisinns, der miserabelsten Sorte von Liberalismus, die auf Gottes Erdboden gedeiht. Seine Nominierung wäre eine Beleidigung jedes demokratischen Gefühls. Herr Fischbeck hat dagegen einige republikanische Meriten, aber kann und darf er deswegen der Träger des demokratischen Gedankens sein, gerade in diesem Wahlgang sein und an dieser Stelle? Ein kluger Opportunist und geriebener Taktiker, eine politische Intelligenz gemessen mit den Anforderungen von vorgestern, eine Celebrität von 1910, ein letzter Repräsentant einer Generation, die vor 20 Jahren bereits Friedrich Naumann abgelöst hat. Mit Kopsch und Wiemer zusammen hat Herr Fischbeck einst den alten Freisinn in den Bülowblock geführt. Soll es ein Charakteristikum des demokratischen Kampfes gegen den Bürgerblock sein, daß man in Berlin ausgerechnet den Täufer des Bülowblocks an die Fahnenstange nagelt? So wird es aufgefaßt werden. Will aber die Partei ihre Berliner Chance wirklich voll ausnutzen, so muß [sie] sich rechtzeitig entschließen, eine Persönlichkeit wie Herrn von Deimling vorzuschicken, der innerparteilich geliebt und gehaßt wird und stärker als irgendein tüchtiger Routinier den Gedanken der Republikanischen Union, der kommenden deutschen Linken verkörpern würde.

Gelingt es den Linkselementen unter den Demokraten, ihre Stimme bei der Personenauslese gebührend zur Geltung zu bringen, so braucht der Partei vor dem Ausgang der Wahl nicht bange zu sein. So sehr diesmal auch alles Programmatische und Prinzipielle im Vordergrund steht, die Zukunft wird letzten Endes doch der haben, der dem Volke nicht seelenlose Rechenmaschinen bringt oder brave Diener an der Parteiapparatur oder ehrwürdige Invaliden, weniger im Gefecht zerbeult als vielmehr in der parlamentarischen Etappe verrottet, sondern Menschen von eigenem Wuchs, – Männer, Männer, Männer!

Montag Morgen, 3. November 1924

485.

Das Kind auf der Tribüne

Hoch aufgeschossen, knochig, ein Marie-Antoinetten-Gesicht mit Brille; beim Sprechen das Gebiß mehr als ästhetisch bloßlegend. So bringen die Zeitungen das Bild von Miß Marion Taylor, der Tochter des Kandidaten der Labour Party für Southwark. Sie hielt Wahlreden für ihren Papa, zählt sechzehn Lenze und ist noch Schülerin. Ihre rhetorischen Triumphe sollen groß gewesen sein.

Eine sechzehnjährige Agitatorin. Ich sehe ihr Bild und weiß nicht recht, wie sie begeistern kann. Zu diesem langen, hageren Gesicht gehört ein scharfer, mitleidloser Diskant, und durch diese Gläser gesehen ein paar Augen, nicht jugendlich-enthusiastisch, nicht mädchenhaft verschwärmt, sondern unheimlich überlegen, kühl, prinzipiell, doktrinär; ich glaube, jedes ihrer Worte trägt eine Brille.

So ist Miß Taylor, das politische Wunderkind, und man kommt deshalb nicht in Versuchung, sich auszumalen, wie Papa und Mama Taylor aussehen.

Wenn ich Wähler von Southwark wäre, der Herr Kandidat hätte mich durch das Medium seiner Tochter nicht überreden können. Das Kind als Verkünderin politischer Heilsbotschaften, das Kind für oder gegen Schutzzoll, das Kind, die Arbeitslosenfrage lösend, das Kind den Nachweis führend, daß sie von der anderen Partei ausnahmslos Halunken, oh, möge diese Schülerin niemals Schule machen. Es genügt, wenn in der Politik die Erwachsenen sich wie Kinder benehmen, wohin soll es führen, wenn die Kinder sich wie die Erwachsenen aufführen.

Ich entsinne mich einer Wahlversammlung, in der der Herr Kandidat, hingerissen vom Applaus, den Faden verlor und in schönster Selbstvergessenheit aus sich herauskam, das heißt, einen wahren Katarakt an Sottisen verströmte.

Aber oben auf dem Podium stand seine Tochter, ein kleines fünfzehnjähriges Ding, mit frischen, roten Wangen, die Augen leuchteten, und sie klatschte sich die Hände wund. Und als Papachen sich endlich außer Atem geredet hatte, da stürmte sie auf ihn zu, reichte ihm ein Glas Wasser, um seine Kehle für neue Strapazen zu rüsten.

Selten habe ich von einem Redner solchen Unsinn gehört, aber niemals auch hat mich einer mehr überzeugt als dieser.

Montag Morgen, 3. November 1924

486.

Die Heimkehr der Armee Zum Waffenstillstandstage

Wenn die Behauptung auf Wahrheit beruht, daß unsere Armee durch einen von der Heimat erdachten und exekutierten Judasstreich ihrer Waffe beraubt wurde, so läßt sich das mit einer einzigen Tatsache widerlegen: an der Art, wie der Rückzug durchgeführt wurde. Denn ein Millionenheer, dem der Verrat in den Rücken fällt, kann sich nicht geschlossen erhalten, sondern muß der Auflösung in kleine und kleinste, auf eigene Faust handelnde Gruppen verfallen. Deshalb ist von hoher Bedeutung die Frage, in welcher Weise sich der Rückzug vollzog. Niemand, der daran teilgenommen oder auch nur in den deutschen Grenzstädten den Durchmarsch der Truppen erlebt hat, wird die Behauptung wagen dürfen, daß so eine dissolute, durch politische Machinationen waffenlos und wurzellos gewordene Armee zurückkehren konnte. Wir haben heute zu diesen Ereignissen Abstand gewonnen, wir können ein abschließendes Urteil wagen; es muß ausgesprochen werden: der Rückzug aus dem Westen in langen, strapaziösen Eilmärschen und bei ungünstiger Witterung war eine der glänzendsten Taten des deutschen Heeres.

Schreiber dieser Zeilen, der 6. Armee zugehörig, war um den 5. November von Tournai über Rousse nach Brüssel gekommen. Hier herrschte vollkommene Deroute. Die Stadt war von Truppen überfüllt. Die Unterbringung war mehr als primitiv. Es wußte ja niemand, auf wie lange Quartier genommen werden sollte. Es wußte überhaupt kein Mensch, was die nächsten Tage bringen würden. Gerüchte kursierten über Putschabsichten der Belgier, besonders Aufgeregte machten sich auf ein Neuaufleben des Heckenkrieges von 1914 gefaßt. Die spärlich einlaufenden Nachrichten aus der Heimat über die beginnende politische Umwälzung ergaben ein nur verwirrendes Bild. Als endlich die Meldung von der Abdankung des Kaisers kam, schuf das eine vorübergehende Erleichterung. Man hatte das Gefühl, daß durch die Liquidation des alten Systems ein Bürgerkrieg vermieden worden sei, ebenso daß der Abschluß des Waffenstillstandes dadurch erleichtert werde.

Am Sonntag, den 10. November, wurden in den Abendstunden die Waffenstillstandsbedingungen bekannt. Sie bewirkten Entsetzen und Zorn. Alte Frontsoldaten, die eben noch in den Soldatenheimen die Internationale angestimmt hatten, riefen mit geballter Faust, daß man diese Bedingungen nicht schlucken dürfe. Man sei zwar geschlagen, aber nicht wehrlos. Lieber noch einen Gang als das! Man wies darauf hin, daß die Räumungsfrist von 14 Tagen zu knapp bemessen wäre. Das Transportwesen läge danieder, die Lazarette seien voll von Kranken und Verwundeten. Die Magazine würden von Gesindel geplündert, ein Heer von Deserteuren sei bereit, sich mit wallonischen Insurgenten zu vereinigen. Es war ein Hexensabbat von Meinungen und Gerüchten. Bis in die späte Nacht wurde auf den Straßen disputiert und gestritten. Mit einem nachsichtigen Lächeln, dessen Höflichkeit nicht ganz die Schadenfreude übertünchen konnte, schlichen sich die Bürger an den Gruppen der Soldaten vorbei. Und draußen in den Arbeitervierteln wurden in blauer Bluse und auf Holzschuhen Freudentänze aufgeführt, deren Ekstase den bei jedem Deutschen entwickelten Sinn für Wohlerzogenheit verletzten, und dazu etwas Unverständliches gegröhlt, was vielleicht die Brabançonne war, vielleicht auch die Carmagnole.

Der 10. November stellte allerdings den Höhepunkt der Spannung dar. Die Revolution war da, aber im großen ganzen herrschte doch der Eindruck vor, als wüßte man nicht recht, was man eigentlich damit anfangen sollte. Am nächsten Vormittag waren überall die Proklamationen des Soldatenrates zu lesen. Eine seltsame Beruhigung trat ein. Die wilden Projekte vom vergangenen Tage waren vergessen. Der Rückmarsch zu Fuß, der einer abgekämpften, zermürbten, unterernährten Masse von Menschen zugemutet wurde, war im Bewußtsein bereits zur Selbstverständlichkeit geworden. Die Aufrufe des Soldatenrates, die nach ihrem Inhalt etwa in Versprechungen und Warnungen zerfielen, hatten ein Gutes: man wußte wieder eine Führung in Aktion. Es entstand eine Sicherheit, die in den letzten Wochen abhanden gekommen war.

Es ist heute zur leidigen Gepflogenheit geworden, das Wort »Soldatenrat« niemals zu gebrauchen, ohne das Prädikat »versoffen«. Gewiß, später in der Heimat habe ich auch so manchen Soldatenrat gesehen, der einen recht üblen Typ repräsentierte. Aber es ist eine unverzeihliche Ungerechtigkeit, damit die Soldatenräte des Feldheeres zu vermengen. Denn diese bildeten durchweg eine natürliche Auslese alles dessen, was nach vier Erntejahren des Sensenmannes noch an Intelligenz, Tatkraft und Vitalität vorhanden war. Das muß festgestellt werden zur Verteidigung der Ehre von Männern, denen es vornehmlich zu verdanken ist, daß das, was schließlich den Rhein überschritt, tatsächlich die Westarmee war und nicht ein kümmerlicher Torso.

Man wirft den Soldatenräten vielfach vor, sie hätten die Offiziere infamiert und den Rest von Disziplin beseitigt. Das ist wieder unberechtigt. Denn einmal waren unter den Soldatenräten sehr viele Frontoffiziere, meistens jüngere, unternehmungslustige Männer, die das Vertrauen ihrer Leute genossen, zum anderen aber waren bestimmte höhere Chargen, namentlich die Stäbe, tatsächlich überflüssig geworden. Sie sahen das ein und traten ab. Neigung zu einer Bartholomäusnacht bestand nirgends. [Ich] selbst habe nur am 9. und 10. November grundlose Insultierungen von Offizieren miterlebt. Die Auftritte waren gewöhnlich herbeigeführt von angetrunkenen Krakehlern, die der Anblick eines Portepees zum Sieden brachte. Sie wurden fast immer durch die Intervention Vernünftiger an Tätlichkeiten gehindert. Die aufgespeicherte Wut gegen die Offiziere – deren Berechtigung oder Nichtberechtigung zu erörtern nicht meine Aufgabe ist – machte sich mehr in Worten als in Taten Luft. Jedenfalls wäre an eine Organisierung des Rückzugs unter alten Kommandoverhältnissen nicht zu denken gewesen. Seit Monaten hatte sich die Autorität in einer für militärische Begriffe unerhörten Weise gelockert. Vielleicht hat die politische Umwälzung in der Heimat sogar ableitend und entspannend gewirkt. Vielleicht wäre sonst an der Front aus einer Kette kleiner Meutereien die Militärrevolution entstanden. Man kann ohne Übertreibung sagen: in der zweiten Novemberhälfte war die Mannszucht eine bessere als etwa im August oder September. Der Soldat, der dem Arbeiter- oder Kleinbürgertum angehörte, sah in dem Offizier nicht nur den Mann, der den Krieg unter besseren Vorbedingungen und mannigfachen Erleichterungen mitmachte, sondern vor allem den Führer schlechthin. Der sogenannte schlichte Mann aus dem Volke hatte ein außerordentlich geschärftes Empfinden für die Kapitulation der Zivilgewalt vor der militärischen; der Offizier war längst auch zum Symbol des politischen Führers geworden. In dem Augenblick, wo die Oberste Heeresleitung zugeben mußte, daß der Krieg verloren sei, war der Offizier nicht nur seines Nimbus ledig, sondern, präziser gesagt: beiseite geschoben. Das wurde in Offizierskreisen vollkommen richtig empfunden, und die meisten zogen die Konsequenzen. Viele, namentlich die älteren Herren, waren erbittert über die Fahnenflucht der Dynastie, fühlten sich vom Obersten Kriegsherrn verlassen und verraten und rissen sich demonstrativ die Achselstücke ab. Diejenigen aber, die sich wirklich mit ihren Mannschaften verbunden fühlten, oder deren Begabung und Tatkraft ihnen ruhmloses Zurücktreten unmöglich machte, stellten sich zur Verfügung. Sie waren Führer auf Grund von Intelligenz und Kapabilität – auch ohne Patent und Privileg. Sie fanden sich mühelos mit denen ohne Charge. So entstand im Laufe von wenigen Tagen ein neues volkstümliches Führertum, das sogleich Vertrauen genoß und ein hohes Maß von Autorität. Während des ganzen Rückzuges sind die von den verschiedenen Zentralen den einzelnen Formationen gegebenen Anordnungen aufs gewissenhafteste befolgt worden. Die Landstraßen waren natürlich oft von den endlosen Karawanen verstopft, dennoch entwickelten sich keine größeren Reibungen. Die Mißverständnisse und Irrtümer, die in den letzten Kriegsmonaten bei der Unterbringung der Truppen oft unglaubliche Konfusion geschafft hatten, hörten fast ganz auf. Durch das natürliche und entschlossene Zusammenarbeiten der Fähigen ohne Unterschied des Ranges war über Nacht eine ganz neue Form von Organisation entstanden, eine Organisation, die nicht auf Strafandrohungen fußte. Und sie fand Verständnis. Im ganzen Kriege hat außer der Mobilmachung nichts so gut geklappt wie der Rückzug.

Die Aufgabe der für die Rückführung verantwortlichen Körperschaften war eine ungeheuerliche. Die Lazarette waren überfüllt, die allgemeine gesundheitliche Verfassung eine sehr schlechte; die Grippe trat epidemisch auf. Von feindlicher Seite war alles getan worden, um den Rückzug zu erschweren. An vielen Stellen wurde bis zum Abschluß des Waffenstillstandes eine rigorose Kampftätigkeit unterhalten, in letzter Stunde noch wurden die Bahnhöfe von Knotenpunkten aufs ausgiebigste mit Bomben belegt. Dennoch waren nach Ablauf der Frist die in Betracht kommenden Gebiete restlos geräumt. Die Leistung auf deutscher Seite, von Führern und Geführten, war eine bewunderungswürdige. Man hört jetzt zuweilen den banalen Einwand: »Kein Wunder, es ging ja nach Hause!« Gewiß war die Aussicht, in wenigen Wochen in der Heimatstadt zu sein, ein gewaltiger Antrieb, aber das Phänomen eines geordneten Rückmarsches nach vier Jahren Krieg und Zusammenbruch aller Siegeshoffnungen ist mit einem flachen Scherz in keiner Weise erklärt. Entscheidend ist nicht, daß es zustande kam, sondern wie es zustande kam. Der Obrigkeitsstaat hätte das nicht mehr bewirken können. Hinzukommen mußte das Gefühl der Freiheit, die Vorstellung, es freiwillig zu tun.

Und so ging in strenger Gliederung dieser Gewaltmarsch vor sich, überschritten die langen Kolonnen die deutsche Grenze. Die phantastische Projektenmacherei der beiden kritischen Tage war längst vergessen. Es gab keinen Groll mehr um gewesene Dinge. Eine stille Kameradschaftlichkeit hielt das Gefüge zusammen. Politisiert wurde wenig; Parteiunterschiede traten kaum zutage. Gesinnungszensur wurde nicht ausgeübt. Wenn auf die sozialistische Republik gehocht wurde, was gelegentlich vorkam, so verschwanden vorher diejenigen, die damit nicht einverstanden waren; es handelte sich zumeist um junge Vizefeldwebel, deren Beförderung zu Wasser geworden war und die deswegen der Revolution grollten. Es nahm niemand an ihrer Ablehnung Anstoß. Auch die zum Teil sehr berechtigte Wut gegen gewisse Magazinbeamte machte sich nicht weiter Luft; übrigens waren sehr viele davon vom ersten Tage an wie vom Erdboden weggefegt. Ebenso wie gewisse Etappentyrannen, die unverfälschte altpreußische Schroffheit mit wahrhaft primadonnenhafter Launenhaftigkeit und Verwöhntheit in allem, was ihren Komfort anbetraf, in unerquicklichster Weise vereinten. Ein volkstümliches Strafgericht über solche Satrapennaturen wäre wohl verständlich gewesen. Außer der Angst widerfuhr den Herren nichts. Von Hindenburg wurde durchweg mit Hochachtung gesprochen. Man rechnete es ihm hoch an, daß er sich für das Volk entschieden hatte und nicht für den Kaiser; in Ludendorff dagegen erblickte man seinen bösen Geist. Aber auch Ludendorff war gleichgültig geworden. Zusammenstöße mit der einheimischen Bevölkerung kamen nicht vor; ebensowenig sind nennenswerte Diebstähle oder Plünderungen bekannt geworden. Geklagt wurde dagegen häufig über die Entwendung von Heeresgut. Festzustellen ist, daß es sich dabei durchweg um Bekleidungsstücke, Ledersachen oder Wolldecken handelte, um Lagerbestände, die wegen ihres Umfanges doch hätten zurückbleiben müssen. So zogen die deutschen Truppen in denkbar größter Selbstdisziplin aus Feindesland hinaus. Ich denke heute noch mit Vergnügen daran zurück, wie in Lüttich die ersten Exemplare des »Courier de la Meuse« eingetroffen waren, der seit Beginn der Invasion seinen Sitz nach dem holländischen Maastricht verlegt hatte. Da wurde unser Rückzug geschildert als die hemmungslose Flucht einer verwahrlosten Horde, die sengend und brennend durchs Land ziehe. Ein tiefgründiger Vergleich wurde angestellt mit Napoleons russischer Katastrophe und der ganzen Bande als gerechte Strafe für ihre Untaten irgendwo eine Beresina prophezeit. Die Lütticher lachten und die Unsrigen, das spricht für sie, lachten ebenfalls.

Während aber die Vorhuten deutschen Boden betraten, phantasierten tief im Lande Angstbürger von der Überflutung durch die »rote Armee«, während Spartacus-Blätter ihre Leser mit Geschichten vom Anmarsch der »weißen Garden« regalierten; die regierende Sozialdemokratie wieder behandelte mit mehr breiter als großer Geste die Armee als ihre Hausangelegenheit. Drei Lesarten. Keine zutreffend.

Royalisten gab es damals außer in den hohen Chargen kaum, abgesehen von einigen Kleinstaatlern, die ihren Landesvätern nachtrauerten. Auch wer prinzipieller Monarchist war, machte kein Hehl daraus, daß die kläglich vom Schauplatz abgetretenen Hohenzollern verspielt hätten. Liebknecht-Anhänger waren dünn gesät. Karl Liebknecht wurde wegen seiner mutigen Opposition gegen den Krieg hochgeehrt; seine besonderen politischen Theoreme waren ziemlich unbekannt. Man hörte immer wieder mit rührender Naivität die Versicherung: »Wir sind keine Bolschewisten, wir wollen nicht alles kaputt schlagen!« Es war keine Parteiarmee, die zurückkam. Wenn sie mit roten Fahnen marschierte, so bedeutete das kein Parteischibboleth. Es bedeutete Opposition gegen die alten Farben, mit denen man ins Unglück gegangen war. Es bedeutete Abkehr von der Zeit, die das rote Banner als außergesetzlich erklärt hatte. Es bedeutete, nicht zum wenigsten, den Ausdruck der Hoffnung. An Verrat oder »Dolchstoß« dachte niemand. Die Kieler Matrosenrevolte wurde nicht als ausgeklügelte Konspiration betrachtet, sondern als ein Ding, das einmal kommen mußte, zwangsläufig kommen mußte.

Erst in den zur Sammlung bestimmten Räumen rechts des Rheins begann die wilde Auflösung. Auf deutschem Boden wuchs das Heimweh übermächtig; aus den verschiedensten Gegenden kamen Alarmnachrichten; zum Überfluß spukte noch das Gerücht, daß infolge Verkehrsschwierigkeiten der Abtransport sich um vier bis fünf Wochen verzögern würde. Da sprang jeder auf den ersten besten Eisenbahnzug, um nur fortzukommen. Es herrschte damals bei den Berliner Radikalen ein Zwiespalt, ob dieser Auflösungsprozeß zu befürworten sei, oder ob man die einzelnen Kaders zusammenhalten und daraus eine revolutionäre Streitmacht bilden sollte. Wer die Entwicklung miterlebt hat, weiß, daß es ein Zank um Kaisers Bart war. Der Gedanke der levée en masse, einerlei, ob im »nationalen« oder »revolutionären« Sinne, kam um mindestens ein Jahr zu spät. Der äußerste Grad der Leistungsfähigkeit war längst überschritten. Der Rückzug stellte die letzte große Kraftanspannung dar. Frei von Kadavergehorsam und Drill und Schikane und allem, was das alte System so verhaßt gemacht hat, mit volkstümlichen Führern an der Spitze, in selbstauferlegter Mannszucht, so ging der letzte Marsch der alten Armee vor sich. Die Armee von Fehrbellin, von Leuthen, von Waterloo und Gravelotte, sie bewies in jenen traurigen, entbehrungsreichen Herbsttagen von 1918 ein letztes Mal, wozu sie aus eigenem fähig war. Sie war nicht mehr Instrument, sondern lebender Organismus. Es ist ein tragikomischer Aphorismus der Weltgeschichte, daß der Geist der Demokratie, den das preußische System stets wie ein tödliches Gift vom Heere ferngehalten hat, diese letzte große Tat erst möglich machte.

Wer die alte Armee jemals bewundert hat, der sollte sie nicht um ihrer Sterbestunde willen schmähen.

Die Republik, 8. November 1924

487.

Der General der Niederlagen

Kürzlich wurde irgendwo von einem General aus dem chinesischen Bürgerkrieg erzählt, der nach seiner Niederlage nach Japan geflüchtet war und dort natürlich sofort interviewt werden sollte. Er aber antwortete ganz schlicht: »Ich bin geschlagen – was ist da weiter zu sagen?«

Ein deutsches Blatt, das diese Geschichte erzählte, nannte das »Weisheit des Ostens«. Mit Verlaub, das ist zu anspruchsvoll, das war einmal, und vor noch nicht langer Zeit, allgemeiner Brauch. Wer die blutige Partie verloren, zog sich schweigend zurück, zufrieden, daß man ihm die Epauletten beließ.

Der General Ludendorff hat mit dieser Tradition gebrochen. Der Mann, der so gern die altpreußische Tradition im Munde führt, hat gegen diese und überhaupt jede Offizierstradition mit einer Hartnäckigkeit verstoßen, für die man vergebens nach Vorbildern sucht. Ein hochmütiger, selbstgerechter Condottiere, der das Vaterland zerstört, das seiner Anmaßung den Tribut verweigert.

Tradition? Kurt Riezler hat vor ein paar Jahren in einem sehr aufschlußreichen Artikel nachgewiesen, daß Ludendorff selbst ein unerhörter Traditionen-Zerstörer gewesen war. Die November-Revolution, so etwa folgerte Riezler, hat nur vollendet, was Ludendorff begonnen. Seit dem Beginn seines Regimes in der O.H.L. war die Absetzung des obersten Kriegsherrn tatsächlich durchgeführt. Ludendorff, monokelbewehrt, krähte den Imperator wie eine kleine Ordonnanz an. Der Kaiser staunte, aber wagte nicht zu mucksen. Er dachte nicht mehr daran, »alles alleine zu machen«. Der Paladin hatte ihn zum Statisten, zum prunkvollen Deckblatt seiner eigenen Kabinettspolitik gemacht. Nur folgerichtig, daß der Sturz Ludendorffs den Sturz des Monarchen zur Folge hatte. Ein Bismarck hat verzichtet, die Hohenzollern in sein Debacle zu ziehen, es war ihr Schicksal, daß sie schließlich an Ludendorffs Wagen gekoppelt in den Abgrund sausen mußten.

Dieser General ist ein Virtuose der Niederlage. Er versteht es, die peinliche Situation in allen Nuancen auszukosten, bis auf die Selbstanklage, die Selbstbezichtigung, die Reue. Würde er gelegentlich im Büßergewande erscheinen: »Brüder, ich habe gesündigt! Ich allein bin schuld!« das Theater wäre unübertrefflich. Aber bis zum Sublimen stößt die Komödianterie nicht vor. Dennoch vollendet ist er in den Tönen des Hasses, der sich mühsam Luft machenden, nach Worten ringenden Erbitterung, dem erstaunten Aufblicken, wieder einmal verraten zu sein. Denn er ist immer der Verratene, immer, immer. Von den Herren der Kapp-Regierung, von Kahr, Lossow, Rupprecht, von den Juden, von der Kirche, – vom ganzen deutschen Volk. Man wundert sich nur, daß ein so Vielerfahrener den Verrat nicht gleich von vorneherein in die Kalkulation zieht.

Das ist sein Manko. Die Niederlage wäre dann wahrscheinlich weniger hart, aber das Auskosten der Niederlagen dann sicherlich auch weniger gründlich, weniger pathetisch und weniger bequem. Die Parzival-Geste wäre verpfuscht. Das Charakterbild problematischer, aber weniger amüsant.

Welche tollen Auf- und Abstiege! Schlachtenlenker, Tyrann eines Monarchen und einer hilflosen Zivilregierung, nationaler Kultgegenstand. 1917 Brest-Litowsk; er diktiert einen Gewaltfrieden. 1918 – Flüchtling, Herr Lindström, mit blauer Brille und Fußsack unterm Kinn. Dann Memoirenverfasser, knarrendes, aber wirkungsvolles »J'accuse!«, Held neuer Legenden, Haupt und Abgott rebellierender Offiziere – Kapp-Putsch. Ludendorff geht zufällig am Brandenburger Tor spazieren. In der Emeute, in seinem Geiste, mit seiner Autorität gemacht, wandelt er wie ein kaum beteiligter Flaneur. Die Gewerkschaften streiken die Lüttwitz-Truppen wieder zum Brandenburger Tor hinaus. Er stolpert wieder vor dem letzten Sprung. Ein zweites Mal ist Ludendorff erledigt. Es bringt kein Glück, wenn er etwas anfaßt, konstatiert damals die »Frankfurter Zeitung«.

Der Abgewirtschaftete geht nach München. Unter Kahr wird dieses friedliche Bier-Idyll zum Mekka der Konterrevolution und Ludendorff Mittelpunkt und Aushängeschild der »Nationalen Bewegung«. Adolf Hitler trommelt den Schwertglauben in die weite Welt. Bayern wächst zum Arsenal der Reaktion aus, zur Citadelle, die das ganze übrige Deutschland beherrscht. Noch wissen nur wenige, daß zwei Strömungen konträr laufen, daß hinter verschlossenen Türen zwei Paniere erbittert kämpfen. Ludendorff ahnt wohl noch nicht, daß »Bayerns deutsche Mission« nicht mehr ist als ein Spezialgeschäft der Wittelsbacher und er Commis voyageur einer Firma, die bereit ist, ihm den Kragen umzudrehen, wenn er seine Provision einfordert. Schließlich geht ihm doch die Erkenntnis auf, aber er hofft auf den Norden, auf allgemeine Erhebung der vielen, vielen Filialverbände seiner süddeutschen Gründungen: »– Mut, du fährst den Cäsar und sein allmächtiges Glück!«

In der Nacht vom 8. zum 9. November 1923 zerplatzt die letzte Illusion. Rom und Wittelsbach, die geheimen Kräfte hinter den Kulissen, haben interveniert. An den Verbündeten von gestern legen Kahr und Lossow Hand an. Die ungeheure Spannung, die monatelang Deutschland in hysterische Zuckungen brachte, endet auf dem Odeonsplatz mit blutigem Gelächter. Der General des Weltkrieges, zum Spießgesellen übergeklappter Straßendemagogen geworden, in seinem Cut platt auf dem Bauch liegend, während die Kugeln pfeifen, dann ganz prosaisch arretiert, eine Spottfigur der ganzen Welt. Gibt es ein Land außer Deutschland, wo man sich von solchen Blessuren der Reputation erholt?

Und Ludendorff erholt sich. Dank der freundlich schonenden Staatsanwaltschaft, dank Hitlers frischem Naturburschenton vor Gericht, dank den unsympathischen Physiognomien Kahrs und Lossows. Man hat ein gewisses Mitgefühl mit dem so plump Begaunerten. Man lacht auch über die ahnungslose Offenherzigkeit, mit der er die Römische Kirche schimpfiert. Er weiß wieder mal nicht, was er anrichtet, sagt man. Er weiß es wirklich nicht.

Die völkische Welle trägt ihn mächtig empor. Die Epidemie der Deutschen Tage trägt ihn nach Norddeutschland, wo er fast zur mythischen Gestalt geworden. Der 4. Mai, der den Seinen dreißig Mandate bringt, macht einen Strich unter eine Serie von Defaiten. Aber der Putschgeneral wächst nicht zum politischen Führer. Mürrisch und immer beleidigt sitzt er im Parlament. Seine zusammengewürfelte Partei trägt den Wurmfraß in sich. Hitler fehlt. Ludendorff taugt nicht zum Arbiter; sein Name sinkt zum Kampfobjekt; der Befehlsgewohnte bleibt ohne Autorität.

Die bayerische Regierung saniert das Gelände um ihn. Er fühlt sich eingekreist, verlassen, verraten. Er wagt einen letzten desperaten Sprung: er attackiert Rupprecht selbst, er will den Kernstoß führen gegen die Sippen, die ihn erst mißbraucht und dann geächtet haben. Der Effekt ist bekannt. Die bayerische Generalität wendet sich mit kühlem Achselzucken ab; er wird still und ohne Aufregung hinauskomplimentiert wie ein kleiner Plebejer, der sich in eine aristokratische Gesellschaft verlaufen.

Das alles geht ohne Sensation vor sich. Die Öffentlichkeit interessiert sich nicht mehr für einen streitsüchtigen alten Herrn. Der Heros ist geborsten. Man hat andere Sorgen. Seine Völkischen werden am 7. Dezember zermahlen werden. Er wird diesmal noch in den Reichstag einziehen und dort ein gelegentlich belächeltes Mauerblümchen-Dasein führen, wie etwa der selige Ahlwardt in seinen letzten Jahren.

Das ist Erich Ludendorff, der General der Niederlagen. Und wenn sich plötzlich diese böse, verstockte Zunge lösen und er offen und natürlich ein Plaidoyer halten wollte für seine von ihm selbst und von andern oft mißbrauchte Menschlichkeit, es würde immer das Eine herauskommen: – er mußte scheitern, weil der Widerspruch größer war als der Mensch. Ein Mathematiker des Schlachtfeldes, ein Grundbuchbeamter des Todes, von dem kein wärmender Strahl ausgeht, der niemals im Scheine des Überlebensgroßen dasteht und stets Anbetung und Unterwerfung heischt und nicht Bewertung. Und wenn er das kleine Geschmeiß anklagt, das ihm den Platz in Walhall nicht gewähren will, dann ist um ihn für Augenblicke eine Luft wie um Shakespeares verbissenen, hartherzig überheblichen Patrizier Coriolan, von dem ein Tribun sagt:

Du sprichst vom Volk,
als wärest du ein Gott, der kommt zu strafen,
und nicht ein Mensch wie sie.

Das Tage-Buch, 8. November 1924

488.

Genosse Mitmensch

Neulich kam Genosse Mitmensch zu mir. Seine Kleidung zeugte von mäßiger Begüterung, aber sein Antlitz verriet deutlich Gemüts-Protuberanzen, auf Kosten des Verstandes gediehen. Er warf mir einen traurig verschleierten Kornblumenblick zu und erzählte seine Geschichte.

Er war in die Versammlung eines wohlbekannten Friedenspropheten gegangen, weil das Thema, »Den Menschen ein Wohlgefallen«, seiner sanften Art entsprach. Die Worte des Propheten hatten ihn erquickt, und als die Diskussion eröffnet wurde, beschloß er, vom Geiste getrieben, zum Volke zu reden.

Oben auf der Tribüne standen die Jünger des Propheten, bärtige Gestalten, in kaffeebraune Burnusse gehüllt, ihre Hosenlosigkeit nicht ohne Koketterie ausspielend. Als Genosse Mitmensch der Gemeinde der Heiligen sein Anliegen vorbrachte, trafen ihn lange, forschende Blicke. Dann, nach kurzer Beratung, bat man ihn, näherzutreten. Er tat es arglos, aber im nächsten Augenblick trat er nicht mehr, dafür trat man auf ihn. Ja, auf seiner Wirbelsäule ruhten plötzlich die wuchtigen Pedale der Erleuchteten. Um es kurz zu machen: er wurde furchtbar verdroschen, er hörte einmal das Wort »Spitzel« und fand sich nach kurzer, aber intensiver Behandlung draußen vor einer Hintertür wieder, seiner letzten Rentenmark ledig, die die Väter des Dritten Reiches als gute Prise an sich genommen hatten.

Genosse Mitmensch spürte wohl die Prügel. Aber sie waren ihm Chiffernsprache, und ihm fehlte der Schlüssel.

»Was soll ich nun tun?« fragte er.

»Zur Polizei gehen«, antwortete ich.

»War ich«, sagte er, »hinausgeworfen. Man fragte mich, was ich dort eigentlich zu suchen hatte.«

»Genosse Mitmensch«, begann ich nachdenklich, »die Polizei hat Recht. Nehmen Sie meinen Rat: gehen Sie nie wieder unter die Pazifisten. Die haben den Frieden auf den Lippen, aber ihr Herz ist das des reißenden Wolfes. Man schwärmt ja immer für das, was man nicht ist. Hätten diese Menschen den Frieden in der Seele, sie brauchten nicht mit den Fäusten für den Frieden zu kämpfen. Freund Mitmensch, in Ihrem Malheur liegt Logik. Sie waren der einzige Friedfertige dazwischen und deshalb hat man Ihnen das Leder gegerbt. Ich kann Ihnen nichts weiter sagen, aber gehen Sie in Zukunft lieber zu den Militaristen. Meiden Sie alle, die den Menschen ein Wohlgefallen bringen wollen, gehen Sie lieber dorthin, wo man Hosen trägt und zu den Klängen des Fridericus den ewigen Krieg hochleben läßt. Die Leute meinen es gar nicht so schlimm; sie neigen zur Besinnlichkeit und zu ruhigem Biergenuß, aber sie schämen sich dieser kontemplativen Veranlagung und deshalb rotten sie sich in Massen zusammen und beraten unter bellikoser Orchesterbegleitung, wie man am besten die Menschheit dezimiert. Gehen Sie unter die Militaristen, die Leute brüllen laut und wild, aber sie sind in Wahrheit weich wie die Lämmer.«

Genosse Mitmensch sah mich kopfschüttelnd an:

»So soll ich also die Keile einstecken?«

»Ja«, meinte ich, »was man hat, das hat man.«

Und Genosse Mitmensch reichte mir sichtlich gestärkt die Hand.

Das Tage-Buch, 8. November 1924

489.

Wirtschaft oder Geschäft?

Jede Zeit hat ihr eigenes Vokabularium. Worte kommen über Nacht wie Meteore, glitzern und versprühen. Worte, bei denen sich jeder etwas anderes oder gar nichts denken kann, die aber gewichtig klingen und ihren Nimbus haben. Da ist z.B. »national«. Das hört sich so martialisch an, aber wer feinere Organe hat, hört ein Nebengeräusch fatalster Blechmusik und ein Geraschel von papierenem Eichenlaub. Nicht viel anders steht es mit »Kultur«. Und dann ist da noch der Wortgötze »Wirtschaft«, mit dem ein ganz besonderer Unfug getrieben wird. Ein Götze, mit einem so ausgedehnten Kult, daß das ganze Volk mehr oder weniger daran beteiligt ist, nur daß die Manager dieses Ritus, die ausgewählten Priester, dabei am fettesten werden. Denn die Wirtschaft ist nicht nur eine eifrige, sondern auch eine spendable Göttin.

Wenn man heute Wirtschaft sagt, macht man dazu ein tiefsinniges Gesicht, als handle es sich um eine verborgene Schicksalsmacht, deren Walten man deutlich spürt, obgleich man ihr Antlitz nie geschaut hat.

Du erzählst, wie am Achtstundentag herumgedoktert wird.

Ja, aber die Wirtschaft! entgegnet ein anderer, und macht dazu ein Gesicht, als verwalte er alle Mysterien von Eleusis.

Du sprichst deine Befürchtungen aus über Getreidezölle.

Ja, aber die Wirtschaft!

Du klagst über geringe Steuerbelastung der Zahlungsfähigen.

Ja, aber die Wirtschaft!

Die Wirtschaft, die Wirtschaft! Hier wird aus einer einfachen Sache etwas Kompliziertes, fast Okkultes gedreht, etwas klares wolkig gemacht, ein Sinn verschoben – also gemogelt.

Früher verstand man unter der Wirtschaft eines Volkes dessen Eingespanntsein in den Ablauf von Produktion und Konsumtion mit allen ihren Verzweigungen. In der Kriegszeit erst erhielt das Wort seine mystischen Nebenbedeutungen. Seitdem macht man dazu ein tiefsinniges Gesicht oder zwinkert man mit den Augen. Und seitdem man dazu entweder die Stirn in Falten zieht oder verschmitzt blinzelt, seitdem bedeutet es so viel wie Geschäft. Das ist das ganze Geheimnis.

Deutschland ist bekanntlich das Geburtsland der unverdünnten Ideale. Deutsch sein, heißt eine Sache um ihrer selbst willen tun. Die Engländer reden zwar auch idealistisch, haben aber dabei nur Zahlen im Kopf. Sie sagen Jesus und meinen Kattun. Sie haben dazu eigens den »Cant« erfunden, die moralische Formel fauler Dinge. So gleißnerisch sind die Engländer. Dennoch, dieses ausgesprochen kommerzielle Volk hat nichts, was sich mit unserem Worte »Wirtschaft« deckt, es kommt noch immer mit dem alten »busineß« aus. Und das ist eigentlich gar nicht so furchtbar heuchlerisch.

Ist es denn ein Verbrechen oder eine Schande, Profite einzuheimsen? Muß man diese Tatsache in ein mit kabbalistischen Zeichen besätes Prunkgewand hüllen? Der Engländer bekennt sich vorurteilslos zu seinem »busineß«. Der Deutsche in seiner ethischen Verkleisterung schiebt seinen Profit mit schlechtem Gewissen in die Tasche. Der Engländer macht aus seiner Geldkatze schlicht und nett eine Weltanschauung, der Deutsche fabriziert eine Weltanschauung, um abzulenken, daß auch bei ihm schließlich alles um die Geldkatze rotiert. Man macht es der Kultur wegen, der Wirtschaft wegen, des ganzen Volkes wegen, aber um Gottes willen nicht ums Verdienen.

Als Herr Minoux seiner Zeit vor der parlamentarischen Prüfungskommission stand, die die Demolierung der Mark zu untersuchen hatte, pries er den sechzehnstündigen Arbeitstag der Großindustriellen und meinte dazu mit beleidigter Miene, es würde besser bestellt sein um Deutschland, wenn alle desselbigengleichen täten. Oh, gewiß, fleißig waren die Herren! Und wenn man die Früchte dieses Fleißes mit Bezug auf die selige Papiermark abwägen wollte, man würde schnell zu dem Schluß kommen, daß es heute überhaupt kein Deutschland mehr geben würde, wenn damals noch mehr Leute so fleißig gewesen wären wie Herr Minoux und die andern Oberpriester der Wirtschaft, die, um den Tempel ihrer Gottheit zu retten, fast das ganze Volk hätten zu Grunde gehen lassen.

Alles in allem: kuscht nicht vor Worten! Eine Musterung unseres Phrasenschatzes tut not. Es wird viel feierlicher Mummenschanz getrieben, und wenn man die Masken mit Gewalt herunterreißt, es macht nichts, wenn einige Fetzen faulen Fleisches daran hängen bleiben.

Montag Morgen, 10. November 1924


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