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Für zwei Abende vor ihrer Abreise nach Amerika hatte sie Peter Sachse, der Sommerdirektor des Charlottenburger Opernhauses, noch verpflichtet. Sie wurde, mit ihrem Partner Wladimirow, nach Gebühr enthusiastisch gefeiert.
Tamara Karsavina – die Melodie ihres Namens ist auch die Melodie ihrer Kunst. Sie wurzelt ja so ganz in der großen Tradition der alten italienischen Tanzkunst, die seltsamerweise ihre letzte Blüte im fernen Rußland erlebte.
Die Karsavina in ihrem Ballettröckchen ist also »unmodern«. Sie hat nichts an sich von jenen sehr ernsthaften Damen, die in streng stilisierten Gewändern entweder Weltanschauung oder Mystik oder Dreigliederung des sozialen Organismus »tanzen«. Sie hält sich lieber an Mozart oder Lanner oder Chopin und sieht so entzückend aus, wie jene herrlichen Künstlerinnen des 18. Jahrhunderts, wie sie Watteau, Boucher und Lancret für ewige Zeiten im Bilde festgehalten haben.
Kritische Auseinandersetzung mit der Karsavina? Mit einem blühenden Rosenstrauß in der Hand erschien sie lächelnd vor dem Vorhang.
Wir schließen uns dem Spender vollinhaltlich an.
Berliner Volks-Zeitung. 12. Juli 1923
Herr Adler, der Sommerdirektor der Kammerspiele, beschert uns eine Operette (Text: Hans Pflanzer, Musik: Willi Knauer), die sich etwas anspruchsvoll »musikalische Komödie« nennt und diesen Titel insofern zu verdienen sucht, als sich gelegentlich die Spuren einer Handlung wahrnehmen lassen. Eine Art »Cyprienne«-Motiv wird durchweg ganz amüsant durch etliche pikante Situationen und Tanzduette getrieben, bis am Schluß der Hans sein Gretchen hat. Die Musik mutet sympathisch an und strebt über den gewohnten Trott hinaus. Unter Ludwig Jubelskys Regie wurde flott gespielt io und getanzt, während der Komponist das kleine Orchester sicher leitete. Rosl Albach zeichnete sich als gutgelaunte, anmutige Soubrette aus, während Karl Muth in der Liebhaberrolle gute Figur machte.
Berliner Volks-Zeitung, 15. Juli 1923
Die sozialdemokratische Interpellation über den Fuchs-Prozeß, die im bayerischen Landtag eingebracht worden ist, deren Besprechung aber durch die reaktionäre Mehrheit verhindert wurde, hat immerhin den einen Erfolg gehabt, daß der Minister des Innern, Herr Dr. Schweyer, ein erneutes Bekenntnis zur Konterrevolution und zum Monarchismus blauweißer Couleur abgelegt hat, das durchaus geeignet ist, auch dem letzten Gutgläubigen etwa noch vorhandene Restillusionen über den politischen Charakter des Herrn Ministers zu rauben. Herr Dr. Schweyer betonte mit besonderer Emphase, daß er dem Hause Wittelsbach noch heute Dank und Ehrfurcht zolle. Durch einen Zwischenruf provoziert, meinte er, daß die Revolution von 1918 ein Hochverrat war, der nicht nur ein moralisches, sondern auch ein strafrechtliches Verbrechen gewesen sei, dessen Verfolgung bisher lediglich deshalb unterblieben sei, weil die Machtmittel gefehlt hätten.
Soll man sich angesichts dieser Leistung in polemische Unkosten stürzen? Man hat innerlich ja längst vor den bayerischen Matadoren jeglicher Observanz kapituliert. Es handelt sich hier nicht mehr um Versuche zu überzeugen, um Aufrollung von Gründen und Gegen gründen. Es handelt sich darum, zu warnen, zu verhindern, was noch zu verhindern ist. Die bayerische Frage ist für das Reich eine Machtfrage. Um die Verbreitung dieser Erkenntnis geht es.
Wenn Minister Schweyer seine freundlichen Gefühle dem Hause Wittelsbach gegenüber unterstreicht, so muß ihm bedeutet werden, daß das eine Privatangelegenheit ist, mit der die Öffentlichkeit nicht behelligt werden darf. Als nach dem Tode des letzten Habsburgers der damalige Bundeskanzler Schober einer Seelenmesse für den Verstorbenen beiwohnte und gegen ihn deswegen ein Angriff erhoben wurde, erklärte er, daß dies ein Akt der Pietät gewesen sei gegenüber dem Andenken eines Mannes, dem er einst nahegestanden habe. Das war eine ruhige und würdige Erklärung, die weitere Angriffe ausschloß. Kein vernünftiger Mensch wird etwas dagegen einwenden, wenn Herr Dr. Schweyer den Wittelsbachern die menschliche Treue wahrt, unerträglich wird es aber, wenn ein immerhin republikanischer Minister in einer öffentlichen Erklärung diese durchaus verständliche menschliche Treue in eine verfassungsmäßige Treue umzubiegen versucht. Denn das ist doch der Sinn der weiteren Ausführungen über den »Hochverrat« der Novemberrevolution.
Auch dem Herrn bayerischen Minister des Innern dürfte es bekannt sein, daß wir seit dem 11. August 1919 in völlig verfassungsmäßigen Zuständen leben, daß weiter das Reichsgericht wiederholt Stellung genommen hat zu dieser Frage und den Anwurf des Hochverrates mit einer Handbewegung fortgewischt hat. Das alles braucht natürlich der Herr Minister nicht zu wissen. Oder vielmehr, er kann sich ungestraft darüber hinwegsetzen, denn es gibt keine Instanz, die ihn zur Ordnung ruft. Das Reich bewahrt eine staunenswerte Ruhe.
Wie lange soll dieser Skandal noch andauern, daß Hitlers freches Schlagwort von den »Novemberverbrechern«, die Phrase eines elenden Straßendemagogen, von dem Minister, der für die Ordnung im Lande zu sorgen hat, mit breitem Behagen aufgenommen wird? Es hätte längst in Herrn Schweyers Macht gestanden, mit dem Nationalsozialistenrummel aufzuräumen, er hätte in bestimmten Zeiten die Möglichkeit gehabt, das rechtsradikale Dorado polizeilich zu versiegeln, – er hat es ebenso wenig getan, wie er einen Finger krumm gemacht hat, den französischen Agenten Richert dingfest zu machen. Denn Herr Schweyer ist der Exponent jenes »trockenen« Separatismus, der beamtete Häuptling der wittelsbachischen Reaktion, die ihr Ziel mit sozusagen legalen Mitteln verfolgt, wenigstens ohne Putsch, ohne plumpe Gewaltanwendung. Dafür aber wird langsam und zähe die Barriere zwischen Bayern und dem Reich erhöht und verstärkt, wird die Administration in allen Stücken vom Reiche unabhängig gemacht, wird jeder Verwaltungsbagatelle der eigene bayerische Anstrich verliehen.
Die Methode Ludendorff–Hitler bedeutet die Überflutung des Reiches von Bayern aus. Die Methode Schweyer, die der Bayerischen Volkspartei, Absperrung Bayerns vom Reiche. Der Kampf zwischen den beiden Richtungen darf uns nicht darüber hinwegtäuschen, daß es in diesem Falle kein kleineres Übel gibt. Wird das eine im Kern getroffen, so fliegt auch das andere auf. Wir müssen uns das Vorurteil abgewöhnen, daß das System der Herren v. Knilling und Schweyer sozusagen ein Mindestmaß von Ordnung bietet. Die behördliche Duldung, das ewige Zurückzucken, das gelegentliche halbe Zugreifen, das hat die illegalen Organisationen aller Art groß werden lassen und jene gefährliche Atmosphäre der Konspirationen geschaffen, die seit langem weit mehr ist als eine nur bayerische Gefahr. Herr Schweyer mag noch so heftig gegen Poincarés Reichsvernichtungspläne wettern, die französischen Intriganten würden sich nicht so weit vorgewagt haben, wenn ihnen das äußere und innere Bild der bayerischen Politik nicht immer von neuem die Möglichkeit vorgegaukelt hätte, daß dank Bayerns Quertreibereien die deutsche Einheit in den letzten Zügen liege. Der Fuchs-Prozeß hat da tolle Dinge ans Tageslicht gebracht. Aber die Sprache der Herrn bayerischen Minister läßt nicht darauf schließen, daß sie daraus gelernt haben. Gäbe es eine Reichsautorität, so müßte sie jetzt der Schweyerei das Paroli bieten. Das ist Pflicht, nicht nur des Reiches wegen, sondern auch der Reichstreuen in Bayern wegen, die mit einem Gefühl hoffnungsloser Isolierung gegen jene Mächte kämpfen, die, jede mit ihren Mitteln, so intensiv an der Demolierung des Deutschen Reiches arbeiten – gegen Ludendorff–Hitler und gegen die bayerische Regierung.
Berliner Volks-Zeitung, 19. Juli 1923
Auch das Leben schreibt seine Schundromane. Nicht nur kleine Zeilenschinder, die aus den Anekdoten um einen Cartouche oder Lips Tullian Seriengeschichten spinnen, auch das allgewaltige Schicksal selbst erlaubt sich manchmal den kleinen Scherz, etwas Kitsch zu fabrizieren. Was sich da in Leipzig in diesen Tagen in Rede und Gegenrede entrollte, war das eigentlich noch Wirklichkeit oder vielmehr nicht ein Ausflug in die Region des Bänkelliedes von dem großen Räuber, der an einem Wasserfalle wohnt und neben mancherlei Beschäftigung noch immer Zeit findet, zärtlichen Neigungen zu frönen?
Er liebte sie bei Tag und bei der Nacht,
Und hatte so viel Menschen umgebracht ...
So etwa heißt es wohl.
Aber es handelt sich leider um keine irregelaufene Jahrmarktspoesie, sondern um ein Stück deutsche Wirklichkeit. Um jene Wirklichkeit, der Herr Kapitän Ehrhardt seit Jahr und Tag Gesicht und Gestalt verleiht. Der Oberreichsanwalt hat sich diesen Helden vorgeknöpft, der auf sozial und sittlich entwurzelte Jünglinge einen so seltsamen Einfluß ausgeübt hat, und der nach dem Zeugnis der Zeitung des hysterischen Narren Maurenbrecher gerade heute in die erste Reihe der nationalpolitischen Front gehört. Der Oberreichsanwalt hat also den Vaterlandsretter durchleuchtet. Übrig blieb ein skrupelloser Abenteurer von mäßiger Phantasie, mäßigen Verstandesgaben, kräftigen Ellenbogen und Kniekehlen und einem Gewissen aus Sauleder. Das Ganze gehüllt in eine nicht gerade schimmernde Ära etwas alltäglichen Zuhältertums. Durch die Kennzeichnung des Oberreichsanwalts, der nicht nur nach seiner Stellung, auch nach Charakter und Begabung der vornehmste Jurist des Deutschen Reiches ist, müßte der Chef der Organisation C. für ewige Zeiten erledigt sein, wenn nicht ... Ja, wenn die deutsche Spießerschaft nicht wäre. Die hat für jeden, der »unbedingt national« ist, den großen Ablaßbrief. Ein mildes Tribunal, das seinen Lieblingen jede Lumperei nachsieht, das alles verzeiht, weil es gar nichts durchschaut.
Die Rückwirkung der Causa Ehrhardt auf die ständigen und zeitweiligen Anbeter des Hakenkreuzes und mehr noch auf die dumme, dumpfe Masse der Mitläufer darf also nicht optimistisch eingeschätzt werden. Das enthebt uns aber nicht der Pflicht, an alle Parteien, Vereine und Konventikel, die mit Ehrhardt versippt sind oder über ihr Verhältnis zu ihm nicht gern Farbe bekennen, die Frage zu stellen: Wie steht ihr jetzt zu ihm? Insbesondere die Offiziersbünde, die so eilfertig »Ehrengerichte« abgehalten haben über »Novemberverbrecher«, die ständig hetzen gegen jene Militärs des alten Regimes, die ehrliche Anhänger der demokratischen Republik geworden sind, die Herren vom Nationalverband deutscher Offiziere, die Matadore des Point d'honneur, sie werden höflichst gebeten um ihre Meinung über einen Offizier, der eine Dame zu einem Meineid veranlaßt und seine eigene werte Person seitwärts in die rettenden bayerischen Büsche trägt.
Die Haltung der Völkischen um Wulle und Graefe ist durchaus klar. Sie gehen mit ihrem Helden durch dick und dünn. Komplizierter wird das Problem schon bei der Deutschnationalen Partei. Die steht zu Ehrhardt wie zu den völkischen Sezessionisten überhaupt etwa so wie seinerzeit die Zentrale der K.P.D. zu Max Hölz. Das heißt: man schätzt ihn, aber am meisten dann, wenn er nicht allzu sichtbar wird und – wenn er schweigt.
Vor der Öffentlichkeit liefern die beiden Gruppen der Rechten zwar heftige Kämpfe, aber in Wahrheit gehören sie zusammen wie Castor und Pollux oder Pottasch und Perlmutter. Im großen ganzen regelt sich doch der Verkehr da nach den berühmten Heine-Versen:
Blamier mich nicht, mein schönes Kind,
und grüß' mich nicht Unter den Linden;
wenn wir nachher zu Hause sind,
wird sich schon alles finden.
Auch viele seiner Gegner haben in Ehrhardt einen Kondottiere großen Formats gesehen, einen faszinierenden Landfahrer von unbeugsamem Willen, einen dämonischen Verführer junger Menschen, die sich aus der Enge des Alltags heraussehnen.
Auch dieses Bild ist nun endgültig demoliert. Wenn etwas gegen den Mann spricht, so dies, daß man unter seiner Anhängerschaft bisher keinen ehrlichen Fanatiker, keinen verschwärmten Romantiker wahrgenommen hat. Wo wir seine Leute gesehen haben, stellten sie sich entweder dar als dumme Jungen, günstigstenfalls!, oder als kleine Krampfbrüder, die für Geld zu allem zu haben sind. Welch klägliches Bild boten die Rathenau-Mörder, ganz zu schweigen von den anderen, die im Harden- und Scheidemann-Prozeß als Angeklagte figurierten.
Ein großer Frevler hätte andere Kerle an sich gefesselt. Wie der Herr, so's Gescherr!
Der Fall Ehrhardt, das ist der traurige Epilog des alten preußischen Militarismus.
Aus irregulären Banden, die von Raub und Plünderung lebten, fügte das Königtum das stärkste und durchdisziplinierteste Heer Europas. Das Königtum ist dahin, zerbrochen an einer Weltkatastrophe ist der antiquierte Militärfeudalismus. Aus den Resten des alten Heeres rotten sich Banden zusammen, die, der neuen Ordnung trotzend, marodierend durchs Land ziehen, der Zeit entsprechend, nicht mehr unter ehrlicher Räuberfahne, sondern nationalpolitisch maskiert. Ihr Sinn und Wesen ist nicht Aufschwung, wie viele meinen, sondern letzte Zersetzung. Wenn ihr Treiben etwas beweist, so den Ablauf einer Zeit.
Der preußische Militarismus, einst berühmt und gefürchtet, ist an seinen Ausgangspunkt zurückgekehrt.
Der Kreis ist geschlossen.
Berliner Volks-Zeitung, 25. Juli 1923
Die Geschichte jeder Berühmtheit ist eine Sammlung von Mißverständnissen. Otto v. Bismarck teilt mit vielen anderen Großen das Schicksal, schon bei Lebenszeiten mehr als allegorische Figur denn als lebendiger Mensch mit allen notwendigen Einschränkungen betrachtet worden zu sein. »Ich bin kein ausgeklügeltes Buch, ich bin ein Mensch mit seinem Widerspruch«, dieses Wort, das über Conrad Ferdinand Meyers Hutten-Epos steht, auch Bismarck konnte es für sich in Anspruch nehmen. Als Versuch, den Legendenkranz zu zerpflücken, mit dem eine schnell fertige Historik den Einsiedler im Sachsenwald umzirkte.
Nicht leitet uns heute, 25 Jahre nach seinem Ableben, der Wunsch, den »echten Bismarck« wiederzuentdecken. Jeder Mensch hat in sich eine geheimnisvolle Kammer, für die nie ein anderer den Schlüssel finden wird. Bismarck hat in seinen »Gedanken und Erinnerungen«, namentlich im Schlußteil, mehr seine Widersprüche gegeben als sein volles Ich. So wird es sich also nicht darum handeln, Bismarcks ursprüngliches Bild wiederherzustellen, als vielmehr die vorhandenen Bilder auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu prüfen.
Da ist erstens der Nationalheros, der eiserne Kanzler, der Schmied des Reiches, der Gigant, der immer über einem Zwergengeschlecht thront, der Mann des »Wir Deutsche fürchten Gott und sonst nichts!« Da ist zweitens das von durchaus berechtigtem Zorn retuschierte Porträt der Sozialisten: der Heros verschwindet in dieser Version; zurück bleibt ein zielbewußter, kaltherziger Verfolger oppositioneller Strömungen, ein launischer Despot, ein Möchtegern-Übermensch, ein rankünereicher Außenpolitiker ohne Gewissen, – der Fälscher der Emser Depesche. Und das dritte Bild, besonders im Ausland gern reproduziert: der Verderber der deutschen Seele, der Totengräber des Geistes von Weimar, der Bannerträger einer neuen pangermanistischen Ära, der Vorkämpfer jenes Geistes überheblicher Machtgier, der die ganze Welt gegen Deutschland in Waffen rief. In allen diesen Bildern ist ein Stückchen Wahrheit enthalten, aber das Problem in seiner Kompliziertheit erschöpfen sie nicht. Bismarck ist ebensowenig wie etwa der große Napoleon auf eine Formel zu bringen.
Er war nicht der Held in Eichenlaub und Schwertern, wie er in Öldruck in den Klubzimmern patriotischer Liedertafeln zu hängen pflegt. Er war nicht der Blut- und Eisenmensch der pro- und anti- bismarckischen Legende. Er war überhaupt nicht Imperialist. Er war nicht einmal großdeutsch. Wäre er der Imperialist gewesen, den seine Lobhudler und Hasser aus ihm gemacht haben, so hätte er sich sicherlich nicht bei der Liquidierung des deutschen Problems für die kleindeutsche Lösung entschieden. Er hat mit dem besiegten Österreich gegen den Widerstand des Königs und der siegreichen Generale einen vorbildlichen Frieden geschlossen, er wollte dem besiegten Frankreich einen heftigen territorialen Aderlaß ersparen, er hatte einen Soupçon gegen Flotte und Kolonien, überhaupt gegen alles, was nach deutscher Weltpolitik roch.
Er hätte die Alldeutschen, die ihn später zu ihrem Gott machten, mit einem Fußtritt zum Tempel hinausgefegt.
Der angebliche Gewaltmensch war ein harter Realist, Diplomat eher als Draufgänger. Er verstand es, den Kürassierstiefel zu tragen und aufzutrumpfen, aber den Diplomatenfrack hat in neuerer Zeit kaum einer mit mehr Anstand getragen als er, den man so gern mit einer knorrigen alten Eiche vergleicht. Im zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts geboren, gestorben kurz vor dessen Toresschluß, so bildet er eine wuchtige Schranke der alten Zeit gegen die moderne. Geistig gehört Bismarck ganz der bedeutendsten Zeit der Reaktion an. Er war der Erbe und der letzte Repräsentant der Traditionen Talleyrands und Metternichs. Es ist seine persönliche Tragik, daß er so alt wurde, um noch mit einer Epoche zu kollidieren, die nichts mehr an sich hatte von achtzehntem Jahrhundert und Romantik, den beiden Grundpfosten seiner geistigen und seelischen Bildung, daß er schließlich zusammenstoßen mußte mit kapitalistischer Expansion, industrieller Entwicklung und unerhörten sozialen Problemen, mit Dingen also, mit denen sein im Vormärzlichen verwurzeltes Ingenium nichts mehr anzufangen wußte. Und es ist Deutschlands Tragik und Schuld, daß diese Epoche keine Menschen gebar, an denen dieses grandiose Überbleibsel einer gestorbenen Welt zerschellt wäre. Daß ihn schließlich Wilhelm II., von keiner Ahnung der Bedeutung des Mannes berührt, wie ein durch ewiges Moralisieren lästig gewordenes Faktotum abschob, das ist eine Tragikomödie für sich und mutet fast an wie eine absurde Revanche des Schicksals für all die Erbarmungslosigkeit, mit der er zeitlebens seinen Gegnern – oder die er dafür hielt – begegnete.
Man wirft ihm vor, er habe die Seele seines Volkes verdorben. Er habe den Teufel der Kleinstaaterei und der inneren Zwiespältigkeit durch den Beelzebub der ungehemmten Machtgier ausgetrieben. Nie hätte Bismarck dem Geiste des deutschen Volkes gefährlich werden können, wenn dieses seinem Willen einen eigenen entgegengestellt hätte. Aber das Bürgertum lebte in wirtschaftlicher Prosperität, war politisch träge geworden, hatte Angst vor der roten Revolution und war überglücklich, daß einer für alle handelte. Macht war das große Schlagwort geworden. Nur vergaß man, daß Bismarck der Skeptiker, der Illusionslose, stets nach dem Wesen der Macht strebte und niemals nach dem Schein. Der entartete Sproß des alten Liberalismus aber klebte an Äußerlichkeiten. So ging es munter bergab von einem Helden zum anderen. Von Bismarck zu Wilhelm, von Wilhelm zu Ludendorff, und wer der Nächste sein wird, mag Gott wissen.
Vieles von Bismarcks Werk ist der Entwicklung zum Opfer gefallen. Alles, was sich der Zeit entgegenstemmte, ist verweht. Geblieben ist nur das Reich. Es hat Krieg und Revolution überlebt; Schöpfung eines orthodoxen Legitimisten, war es dennoch fest genug gefügt, um nicht mit den Dynastien dahinzuschwinden. Das spricht für die Qualität der Bismarckschen Arbeit. Sie ist mehr als eine Form.
Wenn wir doch einen Bismarck wieder hätten! So hören wir es ständig, bald als Stoßseufzer, bald als Herausforderung. Ach, das wäre der politischen, der staatsbürgerlichen Indolenz des braven Durchschnittsdeutschen gerade recht. Nein, wir anderen, die wir uns nicht Hirn und Willen haben wegoperieren lassen, bedanken uns dafür. Wir wimmern nicht nach dem Einen, der bereit ist, die Riesenlast einer Nation auf die Schultern zu nehmen, wir wollen nicht den Oberbeichtvater, den Großpönitentiar, der sich das Beichtgeheimnis eines ganzen Volkes ins Ohr flüstern läßt und nach vielem Bitten und Flehen schließlich Absolution erteilt. Wir wollen Bürgerrecht besitzen und Bürgerpflicht unterworfen sein, als Glieder einer Gemeinschaft mit gemeinsamer Verantwortung nach der alten Losung handeln:
Alle für einen und einer für alle!
Nicht Bismarck-Feiern mit Phrasenmusik, die Kriegervereinsbäuche begeistert wackeln und die verfilztesten Vollbärte wonnig rauschen läßt. Nichts davon! Bismarck war weder ein Exaltierter noch ein Petrefakt. Bismarck war ein arbeitender Mensch. Wer ihm für sein Werk danken will, der möge tätig mitwirken an dessen Fortführung. Die Einheit, die Geschlossenheit des Reiches zu bewahren und zu vollenden, die Ungeister des Partikularismus zu verscheuchen, das ist das Vermächtnis Bismarcks an die deutsche Republik.
Berliner Volks-Zeitung, 31. Juli 1923
Die englischen Minister sind in die Ferien gegangen, um sich auf ihren freundlichen Landsitzen von den Strapazen der letzten Wochen zu erholen. Verstand wie Gefühl werden gleichermaßen diesem Entschluß zustimmen, denn niemals war die englische Politik erholungsbedürftiger als jetzt.
Auch das englische Publikum freut sich darüber, nachdem es in letzter Zeit etwas zu reichlich Politik geschlürft hat. Ferien im Regierungshause bedeuten zugleich Vertagung der Politik. Das heißt: alle die Angelegenheiten, die seit Wochen und Monaten die Zeitungen füllten und den Stoff abgaben für kurz- und langweilige Parlamentsreden, existieren nun für einige Zeit nicht mehr.
Eine Ferienreise kann sich bekanntlich immer nur leisten, der wohl begütert ist. Großbritannien kann sich in den Extrazug setzen und ins Blaue hineinfahren; das armselige Deutschland steht auf dem Perron und blickt etwas entgeistert dem in der Ferne entschwindenden Zug nach. Denn wir sind leider nicht in der Lage, unsere Probleme zu vertagen. Wir sind heute gründlicher verlassen als am ersten Tage der Ruhrbesetzung. Denn damals hatten wir noch die Hoffnung.
Die deutsche Politik hat sich wieder einmal mit einer fast bewunderungswürdigen Konsequenz verrechnet. Die letzte englische Regierungserklärung bedeutet einen dicken schwarzen Schlußstrich unter einer von vornherein wackeligen Bilanz.
Vergebens fragen heute liebenswürdige Naivlinge: kann England einen solchen Affront schlucken, daß Poincaré in seinen Antworten die wesentlichsten englischen Anregungen gar nicht einmal erwähnt? Kann das britische Weltreich es mit seinem alteingewurzelten Prestigebegriff vereinbaren, daß es sich von den Herrschaften am Quai d'Orsay einfach an der Nase herumführen läßt? So lauten die Fragen besorgter Englandfreunde. Wir sollten heute eigentlich andere Schmerzen haben als solche um das englische Prestige.
Gewiß hat sich die englische Politik während des vergangenen halben Jahres weder durch besonderes Zielbewußtsein im ganzen ausgezeichnet, noch durch taktische Agilität im einzelnen. Aber wir dürfen nicht vergessen, daß Englands Ziele sich keineswegs mit denen Deutschlands decken. Wir ringen als Staat wie als Volk um das nackte Leben, aber England, obgleich von manchen wirtschaftlichen Widerwärtigkeiten heimgesucht, steht doch als politischer und sozialer Organismus so da, daß es sich erlauben kann zu spielen, wo wir mit letztem Atemzuge kämpfen müssen. Unsere Frist ist knapp bemessen, England kann nach einem großzügigen Operationsplan auf lange Sicht sparsam mit seinen Zügen und Gegenzügen umgehen. Und wer sich in solcher Situation befindet, der hat es nicht nötig, mit dem Eisenhandschuh auf den Tisch zu schlagen. Der kann schon ohne sonderliche Erschütterungen einige Niederlagen einstecken.
Aus dieser Grundeinstellung Englands ergibt sich die zurzeit tatsächliche Überlegenheit der taktischen Methoden Frankreichs. Poincaré weiß, daß es dem Alliierten mehr darum zu tun ist, die einheitliche Aktion der Entente wiederherzustellen als für die Gerechtigkeit eine Lanze zu brechen. Mit Recht konstatiert die Pariser Presse, daß in den an die französische Regierung gerichteten Schriftstücken zwar vielerlei Kritisches enthalten sei, daß es aber an einem wirklichen festen Plan fehle, und mit billigem Triumph kann Poincaré auf seine eigenen zahlreichen Vorschläge verweisen. Die englische Politik in der Ruhrfrage ist ohne Zweifel schwach. Aber eben nur, weil es nicht in ihrer Absicht liegt, wesentlichere Kräfte einzusetzen. Sie droht, aber schlägt nicht zu.
Mit schmerzlichem Erstaunen hat man es in Deutschland zur Kenntnis genommen, daß England in seinem Antwortentwurf sich dazu bereit erklärt hat, der deutschen Regierung die Aufgabe des passiven Widerstandes anzuraten. Man erinnert an frühere Reden Curzons, in denen dieser – ganz vorsichtig ausgedrückt – Deutschland zum mindesten nicht entmutigt hat. Aber man übersah bei der durchaus sympathischen Formulierung Curzons immer nur das eine, daß für Englands Außenpolitik das Gefühlsargument niemals ausschlaggebend ist. Lord Curzon hat deutlich zu verstehen gegeben, daß ihm der Sinn für die dramatische Bewegtheit des grandiosen Kampfes zwischen bunter Soldateska und schlichten Bürgern durchaus nicht abgeht, aber als verantwortlicher Leiter der Außenpolitik kommt für ihn weder Sentiment noch Ressentiment in Frage, sondern lediglich das Interesse des Landes. Und wenn er in diesem Sinne die Aufrechterhaltung der französischen Allianz für richtiger hält, als eine energische Intervention zugunsten Deutschlands, so täusche man sich nicht: er wird sein persönliches Empfinden auf dem Altar der Allianz niederlegen. Und man täusche sich weiterhin nicht: trotz Keynes, oder Morel, oder Garvin, der ausschlaggebende Teil der öffentlichen Meinung steht ihm zur Seite. Lord Birkenhead, einer von denjenigen, die am kräftigsten ihrem Unmut über Frankreich Luft machen, hat in seiner Oberhausrede gefordert, als Demonstration gegen Poincarés Extratouren die englischen Truppen vom Rhein fortzunehmen und Frankreich seine schwarze deutsche Suppe allein auslöffeln zu lassen. Das ist nun der Aufgeregteste unter den Franzosengegnern. Welch eine schauderhafte Konsequenz liegt für uns in diesem »Demonstrationsakt!«
Der englische Traum ist zerronnen. Was nun?
Versäumte Monate sind nicht wieder gutzumachen. Aber vielleicht läßt sich, mit, wenn auch spät erwachter Tatkraft, wenigstens das Letzte vermeiden. Unsere Außenpolitik hat wie fasziniert nach England gestarrt und darüber die Möglichkeit einer direkten Verständigung mit Frankreich nicht einmal in Betracht gezogen. Wir brauchen nicht aufzuzählen, was gefühlsmäßig sich einer solchen Politik entgegenstemmt. Mehr als sechs Monate Ruhrkampf sind nicht einfach fortzuradieren, gewiß nicht. Es läßt sich weiter darauf verweisen, daß Frankreich bisher stets die unbedingte Kapitulation gefordert hat. Das ist ohne Zweifel richtig. Aber ebenso richtig bleibt, daß die Probe aufs Exempel bisher noch nicht wirklich gemacht worden ist. Stets hat die deutsche Politik den Fehler begangen, sich gleichsam als Protektionskind der englischen Politik zu präsentieren. Und Frankreich, das hat sich deutlich genug gezeigt, will nicht durch das Medium England Deutschlands Stimme vernehmen. Die Bevölkerung des Ruhrgebietes ist nicht gewillt, ihren Widerstand ohne Garantien aufzugeben, darüber herrscht Klarheit. Aber Klarheit herrscht auch darüber, daß sie jeden Schritt unterstützen wird, der geeignet ist, einen ehrenvollen Frieden herbeizuführen und das grauenvolle Chaos beendet. Das ist oft genug betont worden.
Voraussetzung zu einem glücklichen Gelingen ist allerdings, daß Deutschland sich wieder in verhandlungsfähigen Zustand bringt. Mit Fug wird allgemein über die mangelnde Aktivität unserer Außenpolitik geklagt, aber die Gerechtigkeit gebietet uns auch anzuerkennen, daß ein innerlich zerrütteter Organismus, ein desolater Wirtschaftskörper wie Deutschland, überhaupt nicht das betreiben kann, was man äußere Politik nennt. Was kann der Außenminister tun, wenn hemmungslos Spekulation und großindustrieller Imperialismus das Feld beherrschen und Finanz- und Wirtschaftsminister mit verschränkten Armen zusehen, wie aus den Staatsfinanzen Kleinholz gemacht wird?
Die Staatsautorität neu zu beleben und mit allen Kräften wirtschaftliche Sanierung anzubahnen, das muß die vornehmste Aufgabe sein, um auf diesem Wege zu erreichen, daß Deutschland endlich wieder als ein Wesen betrachtet wird, mit dem man sich an den Verhandlungstisch setzen kann, ohne sich lächerlich zu machen. Augenblicklich sind wir leider nur ein potenziertes Albanien. Es ist hart, was hier ausgesprochen wird, aber es muß sein. Und es ist auch nur das, was sehr, sehr viele unter uns denken. Natürlich wird es heroischer Anstrengungen bedürfen, um auch nur die ersten Schritte in dieser Richtung zu tun. Nationalistisches Trara ist natürlich leichter. Aber wenn wir als Staat unsere Einheit behaupten und als Volk nicht in Fetzen zerrissen werden wollen, so kommen wir nur durch große Opfer zur Selbstbehauptung. Schrecken wir vor dieser letzten Konzentration aller geistigen und wirtschaftlichen Kräfte zurück, dann muß das Schicksal seinen Lauf nehmen, dann muß es Deutschland sich gefallen lassen, wenn ihm in seinem Todesröcheln von seinen Gegnern das böse, alte Wort zugerufen wird:
Auch Patroklus ist gestorben
und war mehr als du!
Aber wir wollen leben!
Berliner Volks-Zeitung, 5. August 1923
Das Kabinett des Wiederabbaus hat endgültig ausgelitten. Zurück bleibt ein Trümmerhaufen, zurück bleibt ein verwüstetes, von Flammen zerfressenes Haus. Aber die bisherigen Verwalter dieses Hauses sind nun fort. Das ist immerhin ein Fortschritt. Ja, sie sind fort. Gott sei Dank!
Es ist eine Eigentümlichkeit des deutschen Parlamentarismus, daß er niemals merkt, wenn der Acheron zu schäumen beginnt. Es dauert immer so lange, bis den Herrschaften der weiße Gischt um die Nase fegt und der Sturmwind die rosaroten Brillengläser fortweht. So ist es bisher immer gewesen.
Die parlamentarische Grundlage des Kabinetts Cuno war von vornherein die Faulheit und Verantwortungslosigkeit der großen Parteien. Die Sozialdemokraten hatten Furcht vor der großen Koalition, die Arbeitsgemeinschaft der Mitte wieder war glücklich, ein rein bürgerliches Kabinett zu haben, das dennoch kein abgestempeltes Parteikabinett war und an dessen Spitze ein unpolitischer Außenseiter stand, der keiner Partei zur Last fiel, falls das Experiment schief gehen sollte. Nun, das Experiment ist schief gegangen. Mindestens seit Anfang Februar waren sich alle Einsichtigen darüber klar, daß das Kabinett ohne Außenpolitik sei und sein wirtschaftspolitischer Kurs das Reich einer Katastrophe entgegenführe. Trotz alledem mußten Monate vergehen, bis die Kritik nicht mehr verstopften Ohren begegnete. Denn dank der neuen Burgfriedensorder wurde auch der sachlichste Kritiker als Störer der Einheitsfront verdächtigt, als Schädiger des passiven Widerstandes, und wer es offen aussprach, daß er die Wirtschaftspolitik des Herrn Becker oder die buddhistische Schweigsamkeit des Herrn v. Rosenberg für eine Gefahr halte, dem wurde zugerufen: Pst, nicht so laut, das Ausland könnte es hören!
Aber das Ausland hat nicht nur gehört, sondern auch gesehen. Und während in Deutschland im Halbdunkel des Burgfriedens sich immer noch Gläubige um den Kanzler des »nationalen Widerstandes« scharten und Besserwissende aus Furcht vor Denunziation verzagt den Mund hielten, hörte man im Auslande allgemach auf sich zu wundern über den »Leiter« der Reichspolitik, der von Politik überhaupt keine Ahnung hatte, der in allen psychologischen Dingen durch seine Unschuld fast entwaffnete, der jeder Personalkenntnis ermangelte und zu alledem nicht imstande war, eine Erklärung von ein paar Sätzen abzugeben, ohne das Manuskript unter der Nase. Niemals hat die Welt einen Ministerpräsidenten dieser Art gesehen. Mit Cuno verglichen nimmt sich Michaelis als weiser Staatsmann und Meister der politischen Strategie aus. Deutschland hat wieder einmal den Rekord geschlagen.
Wie jubelte man über dieses Kabinett der »Fachmänner« und »notablen Wirtschaftsleute«. Das deutsche Volk bezahlt die Blankovollmacht, die es im November ausstellte und seitdem nicht einmal revidiert hat, mit einer hoffnungslos festgelaufenen Außenpolitik, mit einer völlig demolierten Wirtschaft und mit einer innerpolitischen Situation, die sich vom Zustande des Bürgerkrieges nicht viel unterscheidet. So oft hat man das Gespenst des Bolschewismus an die Wand gemalt. Nun, die Bolschewisierung ist vollzogen. Nicht von den Herren Kommunisten, denen es zur letzten Tat stets an Mut und Intelligenz gebricht, wohl aber von der Industrie und der geschlossenen Phalanx des Spekulantentums. Es kommt ja auf den Endeffekt an und nicht wer es tut und zu welchem Ziel. Cuno bedeutet die »trockene« Bolschewisierung Deutschlands.
Es wäre müßig, in dieser Stunde abzuwägen, welches Maß von Vertrauen oder Mißtrauen Herrn Dr. Stresemann und seinen Mitarbeitern darzubringen ist. Niemand wirft die Frage auf. Jeder fühlt sich nur erleichtert, daß die Andern endgültig abgebaut haben. Denn schlimmer kann es kein Mensch machen.
So tappen wir im leergebrannten Reichsgebäude und suchen zwischen halbverkohlten Balken und unter Aschenhaufen, was eigentlich noch übrig geblieben ist. Die bewährten Fachmänner sind auf und davon, nachdem sie das Haus streng fachgerecht haben ausbrennen lassen. Es ist ein grauenhaftes Dasein zwischen diesen Trümmern eines trotz aller inneren und äußeren Hemmungen dennoch mutig fortgeführten Aufbaus. Die Lebensmittel gehen zu Ende, der Generalstreik schneidet Licht und Wasser ab, sogar die Notenpresse stockt. Und dennoch: wir sind erleichtert. Denn sie sind fort.
Gott sei Dank!
Berliner Volks-Zeitung, 14. August 1923
Man kann die französische Antwort an England in allen Details aufs schärfste kritisieren. Man kann sogar ihre Grundlinien als schief und auf falschen Voraussetzungen beruhend bezeichnen. Aber man kann nicht leugnen, daß sie den ersten Versuch Poincarés darstellt, aus der Isolierung herauszukommen, in die seine Politik ihn gebracht hat. In diesem Sinne bedeutet die Note fast so etwas wie Frankreichs Rückkehr nach Europa.
Es wäre heute zweckloses Beginnen, über Einzelheiten zu rechten oder eine besondere Härte herauszugreifen und sich daraufhin auf eine Pauschalablehnung des Ganzen festzulegen. Das wäre nicht Politik, sondern Desperadotum. Wir haben das Herz der deutschen Wirtschaft von einem lähmenden Druck zu befreien und deutsches Land von einer fremden Militärherrschaft zu erlösen. Darauf kommt es an. Nicht auf eine Prestigepolitik, die sich auf dem Papier heroischer ausnimmt als in der Wirklichkeit.
Kein vernünftiger Mensch wird verlangen, daß wir sogleich ein lautes, deutliches Ja aussprechen sollen. Aber mit dem bloßen Neinsagen ist es erst recht nicht getan. Und ebensowenig mit der superklugen Taktik der Ära Rosenberg, weder Ja noch Nein zu sagen, sondern zu schweigen und dem Foreign Office zu vertrauen und den Zusammenbruch der Entente zu erwarten.
Dieser verteufelt seltene Kalkül hat sich bisher nicht gerechtfertigt und wird sich auch in absehbarer Zeit nicht rechtfertigen. Nicht, weil die englischen Staatsmänner besondere Neigung verspüren, Poincarés Eskapaden freien Lauf zu lassen, sondern weil sie den Bruch der Entente nicht wollen. Weil sie den Kampf um den Kontinent, den sie seit Versailles mit Frankreich führen, im Rahmen der einmal bestehenden Mächtekoalition ausfechten wollen. Nicht außerhalb. Die Entente ist für alle Beteiligten nicht mehr ein Bündnis im alten Sinne, sondern eine Waffe gegen die anderen Mitglieder der Allianz. Wenn England den französischen Partner entschlüpfen läßt, ist sein Spiel bis auf weiteres verloren. Das erklärt die Stärke und Sicherheit der französischen Politik. Es erklärt auch, weshalb England sich zeitweilig mattsetzen ließ. Denn England kämpft nicht um Deutschlands Recht, sondern um die Bewahrung seiner eigenen Superiorität in Europa. Und nicht nur in Europa!
Die falsche Einschätzung der englischen Politik war der schwere Fehler der deutschen Ruhrstrategie. Daraus ergibt sich auch die falsche Einschätzung der Dauer dieses Kampfes, die zwangsläufig wieder eine völlig optimistische und nicht mit Realitäten rechnende wirtschaftliche und finanzielle Einstellung zur Folge hatte. Man wartete auf das Wunderbare. Man hoffte darauf, daß England eines Tages mit dem Mosesstab auf den erstarrten deutschen Staat schlagen und aus hartem Gestein neues Leben zaubern würde. Es war Täuschung. England ist noch niemals für eine andere Nation ein Lebensversicherungsinstitut gewesen.
Die französische Note geht formal an die britische Adresse, richtet sich aber in den Hauptpunkten weit lebhafter an Deutschland als an den Empfänger. Damit ist für die deutsche Politik von neuem die Gelegenheit zu erhöhter Aktivität gegeben. Wehe, wenn sie jetzt zag oder säumig sein oder einer allzu billigen Opposition nachgeben sollte.
Der Reichstag hat viele schlimme Tage gesehen. Der schlimmste aber war wohl jener, als der Reichskanzler Cuno, ohne einem homerischen Gelächter zu begegnen, erklären durfte, man könne sich mit Frankreich nicht an den Verhandlungstisch setzen, da man doch über die Löffel barbiert würde. Wer so mimosenhaft empfindet, der tut am besten, die keuschen Finger überhaupt von Politik zu lassen und in die Wüste zu gehen, um in eine Kamelhaardecke gehüllt, in gottgefällige Gedanken versunken dem Spiel der Zikaden zuzuschauen. Denn auch außerhalb der Politik ist das Leben voll von Tücken und geheimen Schlingen.
Deutschland braucht eine feste, männliche Führung in allen außenpolitischen Dingen. Wir lagern zwischen zwei gefährlichen Extremen: entweder Englands Preisfechter auf dem Kontinent zu werden oder von Frankreich als willenloses Objekt irgendwo in einer Unterabteilung der kleinen Entente eingegliedert zu werden als ein armseliger Tributärstaat. Wir aber wollen unsere Unabhängigkeit als Volk bewahren. Wir befürworten nur eine Verständigung, die unsere Lebensrechte respektiert. Und wir glauben, daß sie zu erreichen ist. Nicht mit hohl rasselndem nationalem Pathos, sondern mit energischer Arbeit an unserer inneren Wiederherstellung. Nicht die Diplomatie allein wird unser Geschick entscheiden, sondern die Intensität unserer Versuche, wieder fruchtbar zu arbeiten. Man hat es uns seit langem nicht mehr geglaubt.
Nochmals ist zu betonen: es handelt sich in diesem Augenblick nicht um großzügige Pauschalurteile über den Gesamtinhalt oder die einzelnen Posten der französischen Note, sondern darum, eine gemeinsame Aussprachebasis zu schaffen. Bedeutet Herrn Poincarés maßvollere Tonart lediglich eine Kriegslist, so wird sich das einer Staatskunst, die sich nicht selbst Scheuklappen umbindet, noch früh genug offenbar werden. Das deutsche Volk hat ein Recht, mißtrauisch zu sein, um nicht noch einmal einem den »vierzehn Punkten« gleichbedeutenden Blendwerk zum Opfer zu fallen. Aber das deutsche Volk hat auch ein Recht zu fordern, daß ihm ein zweites Mal ein Erwachen wie an jenem Oktobermorgen erspart bleibt, an dem die angeblich siegreichen Feldherren plötzlich um augenblicklichen Waffenstillstand flehen mußten. Deshalb heißt es diesmal vollkommen aufrichtig zu sein und alles auszunützen, was geeignet erscheint, aus dem Dilemma herauszuführen.
Die französische Note ist für Deutschland weder das Ende von Illusionen noch der Beginn von irgendwelchen neuen. Sie ist ganz einfach die Dokumentierung der Tatsache, daß Frankreich aus dem Turm herausstrebt, in dem es sich verschlossen. Daß seine Politik ihre Starrheit aufgibt und wieder biegsam wird ...
Das ist ein Wendepunkt.
Berliner Volks-Zeitung, 23. August 1923
Nun leuchtet die lange erwartete »Flamme« also doch noch in Berlin. Die Premiere im Ufa-Palast brachte einen Erfolg ersten Ranges. Ernst Lubitsch, dem Europamüden, werden in Hollywood, im fernen Kalifornien, nicht wenig die Ohren geklungen haben.
Hans Müllers rührseliges Dirnenstück hat zum Glück nur ein Motiv hergegeben und nicht die Grundlage. Kräly, der Bearbeiter, hat das Opuskulum klug und sorgfältig gefiltert. So schieden die Gewolltheiten und Brutalitäten des Kulissenreißers aus, und zurück blieb ein erotisches Spiel mit sehr viel, veredelter!, Sentimentalität.
Der Bearbeiter hat das Drama in das Paris von 1860 verlegt und damit zugleich eine sehr wohltuende Distanz geschaffen. Kreischende Aktualität wird ersetzt durch den zarten Geigenton einer wehmütigen Romantik. Aus der gleichgültigen Kokottenfigur Hans Müllers wird eine jener graziösen Grisetten aus den Bezirken Murgers und Gavarnis, etwas Musette, etwas Kameliendame, und der Rest – ein wirklicher Mensch.
Die andere Chance des Zeit- und Milieuwechsels lag in der Möglichkeit, eine heute vergessene, ungemein malerische Tracht in allen dekorativen Möglichkeiten auszunutzen. Krinolinen, hohe spitze Zylinder, lange schwarze Bratenröcke mit bunten Aufschlägen. Und welche Herrlichkeiten hat der Regisseur hier geschaffen! Wie apart sind diese Ausschnitte aus engen, aber farbigen Kreisen, diese Mädchenstuben und Junggesellenheime und Künstlerlokale. Immer Intimität, kein Massenaufgebot von Statisten; wo die lärmende, geschäftige Großstadt in das zarte Spiel hineinragt, da verschwimmen die Konturen, und hinter blauen Nebeln mag der Zuschauer die Welt ahnen. Niemals hat Lubitsch sich enger mit dem andern Regiemeister, mit Max Reinhardt, berührt.
Eine weitere Leistung großen Stils war es, wie der Regisseur die Solisten zusammenhielt, wie aus den verschiedensten Temperamenten und Talenten ein einheitliches Bild gefügt wurde. Im Mittelpunkt Pola Negri, ganz menschlich, ohne falsche Dämonie, in dieser Schlichtheit so wirkungsvoll wie nie zuvor. Dann Hermann Thimig, ein armer, getäuschter Junge, Alfred Abels spitzes Filougesicht und Frieda Richard als alte Kuppelhexe. Erwähnt seien noch Hilde Wörner, Jenny Marbe und Jakob Tiedtke.
Berliner Volks-Zeitung, 13. September 1923
Wie wir gestern mitteilten, hat das Organ der Deutschen Volkspartei an die Deutschnationalen und ihre völkischen Anhängsel ein paar Fragen gerichtet, wie man sich eigentlich Fortführung und weitere Finanzierung des Ruhrkampfes denke, und welche Machtmittel denn zur Verfügung ständen, wenn man den Kampf machtpolitisch austragen wolle. Die vier Fragen waren streng konkret gefaßt und erforderten nicht nur aus politischen, sondern fast aus Anstandsgründen eine ebensolche Beantwortung. Die »nationale« Presse fühlt sich natürlich an so selbstverständliche Prinzipien nicht gebunden, und reagiert mit Kinkerlitzchen. Den Vogel schießt, wie das nicht anders sein kann, die » Deutsche Zeitung« ab: »Nach einer Erfahrung, die durch Jahrtausende der Kriegsgeschichte bestätigt ist, ernährt der Krieg sich selbst. Man muß ihn nur erst angefangen haben. Ganz allgemein aber sei gesagt, daß es auf der ganzen Welt keinen Menschen gibt, der so töricht wäre, in breitester Öffentlichkeit auseinanderzusetzen, wie er einen Kampf führen will und woher er die erforderlichen Mittel nimmt, sintemalen nämlich dann der Feind Bescheid weiß und seine Gegenmaßnahmen rechtzeitig treffen kann.«
Das ist Wahnsinn, Wahnsinn, aber auch ohne jede Methode. Mit albernen Phrasen werden Hoffnungen geweckt, werden mit einer Unverantwortlichkeit ohnegleichen die Kaders derer mobilisiert, die nicht alle werden. Der Krieg soll » sich selbst ernähren«. Ein genialer und weitsichtiger Wirtschaftsplan! Nur schade, daß diesmal der Krieg ausschließlich auf deutschem Boden geführt werden würde.
Oder haben die Strategen der »Deutschen Zeitung« schon einen Plan, um den Kriegsschauplatz nach Timbuktu zu verlegen?
Die »Deutsche Zeitung«, heute die Domäne des Herrn Maurenbrecher, wurde im Kriege von Herrn Wulle redigiert. Von den Taten beider Herren verlautete nichts in den Heeresberichten. Denn sie waren reklamiert. Auch Herr Graf Reventlow, von der gleichen Fakultät, hat zwischen 1914 bis 1918 kein Pulver gerochen, ausgenommen Mottenpulver, und Herr Paul Baecker, der in der »Deutschen Tageszeitung« abermals die » nationale Opposition« als Allheilmittel preist, hat den Dienst zur Stärkung der Heimatfront der schmutzigen Schützengrabenarbeit vorgezogen. Wenn es in der »Deutschen Zeitung« heißt, es wäre diesmal nicht wie 1918, das Heer der »Kampfbereiten und zum Handeln Entschlossenen« sei diesmal zu Hause und halte Augen und Ohren offen, so muß demgegenüber berichtigend bemerkt werden, daß diese »Kampfbereiten« auch damals zu Hause gewesen sind und das Ihrige getan haben, um der militärischen Niederlage auch noch die politische hinzuzufügen.
So war es damals. Die Einheitsfront der Reklamierten stand fest. Und sie ist auch heute wieder bereit, die zottige Männerbrust in Sicherheit zu bringen und die eigene Reputation an dem Heldentod der anderen aufzufrischen. Es ist kein erfreuliches Thema, das hier ( notgedrungen!) zur Sprache gebracht wird. Aber im Interesse politischer und menschlicher Reinlichkeit ist es dringend erforderlich, auf gewisse Unterschiede zwischen Theorie und Praxis im »nationalen« Lager hinzuweisen.
Berliner Volks-Zeitung, 21. September 1923