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Es hat sich in diesen letzten Monaten in Deutschland etwas geändert. Es sind Leute sichtbar geworden, die die Republik verteidigen wollen. Sie haben eine Organisation geschaffen, die heute schon das ganze Land umfaßt. Hörsings Gründung, das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, hat überraschend schnell Epoche gemacht. Eine nützliche und notwendige Gründung. Der Staat vermag sich nicht zu schützen, blamiert sich in Kompromissen mit der Reaktion. Es war Pflicht der Bürger einzugreifen. Etwas spät kam die Erkenntnis zwar, aber immerhin ...
Das Reichsbanner hat den Camelots der Rechtsparteien die Straße streitig gemacht und die Farben der Republik öffentlich gezeigt, den Deutschen Tagen Republikanische Tage entgegengestellt. Das ist für unsere Verhältnisse allerhand. Aber das Reichsbanner zeigt auch die bedenkliche Tendenz, es dabei bewenden zu lassen. Und hier hat die Kritik einzusetzen. Wer aus der Geschichte von fünf Jahren gelernt hat, weiß es, daß nicht die Völkischen, die Monarchisten die eigentliche Gefahr bilden, sondern die Inhaltlosigkeit und Ideenlosigkeit des Begriffes deutsche Republik, und daß es niemandem gelingen will, diesen Begriff lebendig zu machen. Schutz der Republik ist gut. Besser, darüber ins Reine zu kommen, was an dieser Republik schützenswert und was nicht zu halten ist. Diese Frage umgeht das Reichsbanner, richtiger noch: es hat wahrscheinlich noch gar nicht erkannt, daß eine solche Frage überhaupt besteht.
Unsere Republik ist noch kein Gegenstand des Massenbewußtseins, sondern eine Verfassungsurkunde und ein Amtsbetrieb. Wenn das Volk die Republik sehen will, führt man ihm die Wilhelmstraße vor. Und wundert sich, wenn es ziemlich begossen nach Hause geht. Nichts ist da, was die Herzen schneller schlagen ließe. Um diesen Staat ohne Idee und mit ewig schlechtem Gewissen gruppieren sich ein paar sogenannte Verfassungsparteien, gleichfalls ohne Idee und mit nicht besserem Gewissen, nicht geführt, sondern verwaltet. Verwaltet von einer Bureaukratenkaste, die verantwortlich ist für die innen- und außenpolitische Misere der letzten Jahre und die alles frische Leben mit kalter Hand erstickt. Wenn das Reichsbanner nicht aus sich heraus die Idee findet, die mitreißende Idee, und der Jugend nicht endlich die Tore aufstößt, dann wird es nicht zu einer Avantgarde der Republik, sondern zu einer Knüppelgarde der Bonzokratien, und deren Privileg wird in erster Linie geschützt und nicht die Republik.
Das Reichsbanner verfügt über ein Bundesorgan. Dieses Organ ist beschämend sehenswert. Da ist neben Aufsätzen längst abgestempelter, zum Teil überfälliger Persönlichkeiten ein Verzeichnis von Artikeln der Magdeburger Einkaufszentrale, von der Einheitswindjacke angefangen bis zu »Plakate, Eichenlaubrand, mit Adler, Text: ›Frei Heil‹, ›Hoch die Republik‹, ›Herzlich willkommen‹«. Eine Rubrik führt den Titel: »Granatsplitter«, eine andere: »In der Kantine«. Das ist, liebe Kameraden, wie er leibt und lebt der Stil der mit Recht gelästerten alten Armeezeitungen. Kommt ihr wirklich nicht über eine so klägliche Kopie hinaus? Habt ihr denn eine so unbezwingliche Sehnsucht nach Eichenlaub und Adlern, und muß man sich in der Republik wie in der Kantine fühlen?
Es droht ein großer Aufwand kleinlich vertan zu werden. Die unverkalkten Elemente der Linksparteien brauchten ein Betätigungsfeld. Ihre Aktivität war in der Tat nahe daran, sich an den Gittern des Parteikerkers zu vergreifen. Also mußte abgebogen, mußte ein bißchen Camouflage getrieben werden. So gab man ihnen ein eigenes Revier aber grenzte es fürsorglich ab. Und machte aus einer Sache, die eine Sache des Geistes hätte sein müssen, eine Mützen- und Uniformangelegenheit, eine unverfälschte Kriegervereinsangelegenheit mithin. So leitete man die Parteirebellion in erlaubte Kanäle ab, und anstatt den neuen republikanischen Typ zu bilden, lackierte man den alten Unteroffizierstyp mit neuen Farben. Und aus einer breiten, hoffnungsvollen Bewegung ist eine Mode geworden, keine Gesinnung, eine Mode, diesmal zur Abwechslung: Schutz der Republik!, launenhaft, flexibel wie alle Moden.
Und der Effekt? Reichsbanner zelebriert Verfassungsfeiern, Reichsbanner macht Stechschritt, Reichsbanner drapiert Potsdam schwarzrotgold, Reichsbanner prügelt sich mit Kommunisten, und Fechenbach sitzt im Zuchthaus. Das ist der Humor davon. Wenn aber das Reichsbanner so viele entschlossene Kerle hätte wie der Kapitän Ehrhardt unter seinen Leuten, so säße Fechenbach heute nicht mehr im Zuchthaus. Französische Demokraten entrissen den spanischen Weltbruder, den sie nicht einmal von Angesicht kannten, den Klauen des Diktators. Der Gedanke an ein irgendwo in der Welt begangenes Unrecht ließ sie nicht schlafen. Die deutschen Demokraten und Sozialisten sind solider organisiert. Es ist gar nicht wahr, daß sie so knochenschwach sind wie man immer glaubt, sie haben nur ein so furchtbar dickes Fell. Außerdem sind sie gesetzes- und verfassungstreu. Jemanden aus dem Gefängnis holen, das hieße doch illegal vorgehen! Gott bewahre! Reichsbanner marschiert. Und Fechenbach sitzt im Zuchthaus.
Derweilen aber werden weiter Einheitswindjacken vertrieben und Militärbrotbeutel und Satinschärpen, einfache Ausführung, do. bessere Ausführung, gefüttert, do. Seidenmoiré, mit Goldfransen (siehe Bundesorgan). Frei Heil! Wer auf den ewigen Korporal im Deutschen spekuliert hat, der hat noch niemals falsch spekuliert. Auch der Stahlhelm, auch die Bismarckbünde vertreiben Kokarden und Brotbeutel.
Zwischen Schwarzweißrot und Schwarzrotgold soll eine Welt liegen. Wirklich, wirklich?!
Variationen über ein deutsches Thema.
Das Tage-Buch, 13. September 1924
Clou des Septemberprogramms sind Capitän Winstons dressierte Seelöwen, wunderbare Tiere, klug, liebenswürdig, graziös. Man schaut, und der Wert der Menschheit wird erschüttert. Doch auch sonst manches Sehenswerte: der Jongleur Salemo, die chinesische Gauklertruppe See-Hee, der Virtuose Reka, der sämtliche Instrumente beherrscht, die erfunden wurden, seit David die Harfe schlug. Den Abschluß macht eine Kollektion englischer Tanz-Girls. Sie scheinen lediglich engagiert zu sein, um den Ruhm der Seelöwen noch heller erstrahlen zu lassen.
Montag Morgen, 15. September 1924
Das moderne Frankreich bleibt das gute Exempel aller um ihr Selbst ringenden Demokratien. Auch die dritte Republik hat politische und moralische Niederungen erlebt. Was sie so prägnant beispielhaft macht, das ist ihr vitaler Wille zur Regeneration, der auch in den Jahren der Korruption und reaktionären Übermacht nicht totzukriegen war. Lucien Bergeret, unter der alten Ulme am Wall meditierend, versponnen in Träumereien über sein geliebtes klassisches Bildungsideal, das ihm ein Freiheitsideal bedeutet und nicht dürres Philologentum, – Lucien Bergeret, eingekapselt in der muffigen Enge des Provinzkaffs, in tausend persönlichen Widerwärtigkeiten sich herumquälend und dennoch tapfer bereit, einen sehr unpopulären Aufruf zur »Affäre« zu unterzeichnen, das ist die liebenswürdige, rührend schnurrige Symbolfigur der französischen Linken, das ist die bescheidene Fleischwerdung der Ursache, warum das alte Frankreich immer jung geblieben.
Verteidigung der republikanischen Institutionen, Erweiterung der bürgerlichen Freiheiten, unbedingtes Bekenntnis zum sozialen Fortschritt. Aus diesen drei Elementen ward immer ein cartel de gauche, Bürgerliche und Sozialisten einend.
Bei uns gibt es Parteien, die im Parlament links sitzen, aber es gibt keine Linke. Es gibt keine republikanische Solidarität. Wohl weiß man um ein paar Persönlichkeiten, die als Träger einer solchen zu betrachten wären: Wirth, Schücking, Schoenaich, Loebe. Aber um sie herum stößt man überall auf die bewährten Fraktionszelebritäten mit der Zinkeinlage im Hosenboden. Die verabscheuen die Linke und kultivieren den verschwommenen, maskierenden Begriff der »Politik der Mitte«, einen Begriff, den noch niemand ganz klar präzisiert hat, bei dem sich aber jeder etwas Verwaschenes, etwas Molluskenhaftes, mit einem Wort: etwas Nationalliberales denken kann.
Die Rechte und ihre Hilfsvölker in den angrenzenden Flügeln der »Mitte« arbeiten für den Bürgerblock. Setzen die sogenannten Verfassungsparteien dieser Konzentration aller reaktionären Kräfte wenigstens den Gedanken einer republikanischen Sammlung entgegen? O, nein. So jakobinisch hat man sich nicht. Herr Hilferding z.B. macht wieder Laune für die Große Koalition, also für die Allianz mit den Feueranbetern des »Volkskaisertums«. Denkt dieser leidgewohnte Politiker nicht mehr an seinen herrlichen Gleitflug vor gerade einem Jahre, aus den Wolkenhöhen des Reichsfinanzministeriums auf unsere liebe, aber harte Erde? Nicht zu bezweifeln, daß Herrn Hilferdings gediegene Konstruktion noch mehr Schicksalsschläge dieser Art überdauert. Aber was geht uns schließlich Herr Hilferding an.
Es ist keine billige pessimistische Attitüde sondern eine recht zwangsläufige Erkenntnis, wenn man es einmal offen sagt: es gibt keine Republik in Deutschland! Man spricht häufig von der Republik ohne Republikaner. Es liegt leider umgekehrt: die Republikaner sind ohne Republik. Und es gibt keine Republik, weil es keine Linke gibt. Weil das große Moorgelände der »Mitte« alles aufsaugt. Weil man viel lieber »ausbalanciert« als kämpft.
Republikaner sein, das ist also wirklich keine politische Angelegenheit mehr, sondern Privatplaisir. Der Dienst an der Republik führt bei uns alle typischen Merkmale einer unglücklichen Liebe. Ärger noch. Auch die verstiegenste Leidenschaft muß einen Gegenstand haben. Der geduldige Liebhaber, der sich im Laufe von fünf Jahren bis zu den Fingerspitzen vorentwickelt hat, kann sich immer noch an der frohen Hoffnung auf allmähliche Territorialerweiterung berauschen. Aber die Dame muß wenigstens da sein.
Wir deutschen Republikaner lieben unglücklicherweise etwas, was gar nicht da ist. Wir betreiben so eine Art politischer Masturbation.
Dem armen Don Quichotte präsentierte man nach seinen Irrfahrten an Stelle seiner heißbegehrten Dulcinea eine mißduftende Kuhmagd. Uns bietet man nicht einmal ein solches Surrogat, sondern nur den Mißduft.
Man kann für eine Idee sehr viel Kummer ertragen. Man kann sich dafür sogar fünf Jahre lang das Gehirn malträtieren lassen. Aber die Nase ...?
Nein.
Das Tage-Buch, 20. September 1924
Im Genius des Katers erwacht die Sehnsucht nach den stimulierenden Genüssen. Wer hätte nicht schon gern einmal in solcher Verfassung sein Hirn mit Heringslauge ausgespült? Widerwärtig wird, was süßlich und breiig, Stirner-Zitate sprudeln selbsttätig, die kratzigsten Angostura schmecken flau und die papriziertesten Frauen nach Flammeri. So präpariert führt dich der Weg mitten in die Friedrichstadt, dahin, wo Schaljapin die Marseillaise singt, ein Sänger für Männer, eine Piece für Männer. (Die Weiber lieben die Marseillaise nicht. Es ist etwas Konkurrenzneid dabei.)
Der Drehsessel ladet zum Platznehmen ein. Ein fernes Schwirren und Zirpen verkündet das Orchester. Und dann erscheint auch er schon, dieser Große, der dem letzten Nicolaus knieend mit der Zarenhymne gehuldigt, der mit Primadonnenlaunen die Sowjets lachend in die Enge getrieben, der das hungernde Petrograd sattgesungen hat; der letzte Russe von der ausladenden, breitbrüstig rebellischen Rasse, die von den grausamen Iwanen und Petern geköpft und gerädert und von den galanten Katharinen nachts ins Himmelbett geholt wurde. Er neigt flüchtig das Haupt, er sieht unwirsch aus, die Mundwinkel vibrieren, die Hände ballen sich nervös. Murmelt er einen Gruß oder zischt er: »Canaillen?!« Er hat dem roten Tod Tanzbeine gemacht, und nun soll er die Berliner unterhalten. Es ist ein wenig hart.
Er beginnt. Sein Französisch ist rauh und unscharf. Breit und bedächtig setzt er an. Schwer wie ein Volkslied seiner Bauernheimat fließt die erregendste Melodie der Welt dahin. Keine gespreizten Agitatorenfinger flitzen in der Luft herum, es fehlt das Tschinellengerassel des R, das freche, zischende Gassenhauer-J. Aber dann steigert er. »L'e – ten – dard sang – lant est le – vé ...« Das ist echt französisch, also Brausen und Säuseln in einem, Orkan in Tanzschritten, Menuett mit Kanonenbegleitung. Dein Auge wird heiß, es zuckt etwas in den Fußspitzen, so wie es in jedem guten Deutschen zuckt, wenn er die Marseillaise hört, so wie in jedem guten Deutschen ein heimlicher Franzose steckt, so wie jeder schlechte Franzose ein tüchtiges Quantum Boche mit sich herumschleppt.
Er setzt zum zweitenmal ein. Und nun verdüstert sich sein Antlitz und seine Stimme nimmt einen wehen Klang an.
Amour sacré de la patrie,
conduis, soutiens nos bras vengeurs ...
Das ist nicht mehr tänzelnder Sturm, es ist eine mächtig dahinströmende Totenklage, um alle, die des Vaterlandes willen gestorben. Nein, er denkt nicht an La France. Das Vaterland, um das dieser herrlich dunkle Ton brünstig wirbt, das ist Mütterchen Rußland, und sein Groll gilt allen denen, die es jemals gekränkt, gilt dem westlichen Imperator, der die Hymne von Marseille durch die Tore des Kreml getragen.
Libertée, Liberté, chérie,
combats avec tes défenseurs ...
Ja, das ist sie, die Liberté der großen Revolution, die in sein siebenfach verschlossenes Land eingebrochen, die babylonische Hure für die Einen, die namenlose Göttin für die Anderen, die die Jugend frech aufreizend auf die Barrikaden getrieben und doch schwesterlich den Sterbenden die Stirn geküßt hat. Der Sänger versteht sie nicht, nein, er versteht sie nicht, dennoch, er salutiert vor ihr. Er salutiert vor Frankreichs ursprünglichstem Klang. Aber aus seiner Kehle rauscht, gewaltig wie Prophetenleid, die Sehnsucht nach den unermeßlichen Ebenen Rußlands. Schellenklirrend fliegt Tschitschikows Troika durch das Land der Toten Seelen, und diese Glöckchen werden noch klingen, wenn keine Zaren und keine Sowjets Mütterchen Rußland mehr quälen. Dann wird die Heimaterde erlöst und die fremde, rätselhafte Verführerin verschwunden sein.
... und plötzlich ist alles still und der Sänger nicht mehr da. Der Drehschemel knarrt, eine mürrische Wand gafft dich an. War das alles Traum oder Phantasterei? Richtig, du hattest dir gegen einen bescheidenen Obolus das Recht erworben, ein paar Hörmuscheln an die Ohren zu drücken, und ein verborgener Herr hat daraufhin Schaljapin in Bewegung gesetzt. Du wolltest ja einen bitteren Nachgeschmack bekämpfen und gehst mit einem, der noch viel bitterer.
Denn draußen, drei Schritte weiter, senkt sich eine perfide blasse Dämmerung nieder, mehr entlarvend als verhüllend. Von, weiß Gott, woher, geistert ein böser absinthgrüner Schimmer, läßt für Sekunden ein paar bemalte Gesichter in allen Farben der Verwesung schillern. Der friderizianische Strich ...
Das Tage-Buch, 27. September 1924
Zu den ausgeprägtesten Merkmalen der deutschen Isolierung von heute gehört die Tatsache, daß so wenige unserer Kompatrioten wissen, was der Pazifismus ist und daß er bei den demokratischen Nationen der Welt zu einer Großmacht emporgewachsen ist. Ohne diese Ahnungslosigkeit wäre manche der in den letzten Wochen von Regierungsstelle ausgesprochenen Sottisen über den Völkerbund undenkbar gewesen. Es handelt sich hierbei nicht um eine betrübliche seelische Folge der Kriegs- und Nachkriegsblockade, sondern im wesentlichen um die Verdickung eines Zustandes von vorgestern. An das Friedensproblem zu rühren galt seit Sedan als schlapp, weibisch und antinational. Das war vielleicht wo anders nicht viel besser. Nur gab man sich doch etwas mehr Mühe, den bewußten oder instinktiven Chauvinismus etwas intelligenter zu begründen. Man argumentierte nicht so billig wie an den deutschen Stammtischen. Maurice Barrès war sicherlich ein Revanchard von reinstem Wasser. Dennoch, wagt einer auch nur im Traume eine Parallele mit Artur Dinter?
Es ist deshalb zu begrüßen, daß der in diesen Tagen in Berlin stattfindende Weltfriedenskongreß eine Reihe von ausländischen Gästen bringt, deren Bedeutung, deren Ernst und deren gutes patriotisches Wollen nicht bezweifelt werden kann. Tausendmal haben die Zeitungen ihre Namen mit Achtung genannt. Der brave Bürger faßt sich an den Kopf: »Herrgott, das sind also auch Pazifisten! Das sind ja ganz vernünftige Leute!« Und für Minuten schaukelt eine Weltanschauung.
Könnte aus einer solchen momentanen Erschütterung nicht ein kleines Damaskus gedeihen?
Leider wird das verhindert werden.
Durch ... durch die Pazifisten selbst.
Aber auch die Gäste werden sich nicht wenig wundern. Und mit Fug. Denn sie werden zum erstenmal mit dem Gros unseres pazifistischen Heerbanns Tuchfühlung nehmen. Sie werden zum erstenmal sehen, was eigentlich hinter den Führern steht. Man darf nicht vergessen: jahrelang hat der Gedankenaustausch mit London, Paris, Genf usw. in den Händen von einzelnen über dem Mittelmaß stehenden Persönlichkeiten von politischer Erfahrung und diplomatischer Qualität gelegen. Dadurch ist über Bedeutung und Material des deutschen Pazifismus ein gelinder Irrtum entstanden. Man urteilte nach den Repräsentanten. Und man verurteilte doppelt hart das unbelehrbare deutsche Volk, das sich gegenüber allem, was pazifistisch war, so spröde verhielt. Vielleicht werden gerade jetzt die kosmopolitisch denkenden Bürger der Siegerstaaten Gelegenheit finden, hinter die Kulissen zu schauen. Und da werden sie sehen, wie mit den von ihnen hoch bewerteten Führern im eigenen Hause umgesprungen wird. Männer von Distinktion und Niveau haben es in keinem Distrikt der deutschen Politik besonders leicht. Aber was ausgerechnet im pazifistischen Lager an Verunglimpfung, Verdächtigung und Ketzerrichterei geleistet wird, das ist selbst für deutsche Verhältnisse maßlos. Ludwig Quidde hat vor ein paar Monaten in einem sehr launigen Artikel von der königlich bayerischen Behandlung erzählt, die ihm in Stadelheim widerfahren war. In diesem tapferen und liebenswürdigen alten Herrn knistert nicht ein Fünkchen Rachsucht. Er würde sonst einen zweiten Artikel schreiben über die Erlebnisse in seiner eigenen Organisation. Der Oberaufseher in diesem pazifistischen Stadelheim ist Herr Kurt Hiller.
Alljährlich im Herbst findet ein deutscher Pazifistenkongreß statt. Diese Veranstaltung dient vornehmlich der körperlichen Ertüchtigung der Teilnehmer. Es ist halt schwierig, ein ganzes Jahr hindurch ununterbrochen Friedensmensch zu sein. Schließlich müssen doch wenigstens einmal jährlich die bellikosen Staubecken entleert werden. Einmal im Jahr muß auch der prinzipienfesteste Antimilitarist die leider Gottes immer fortwuchernde militaristische Darmfauna fortspülen. So kommt es, daß diese Kongresse ausgeprägt den turbulierenden Instinkten dienen. Sie sind ein ungeheures Blutbad, eine massenweise Absäbelung von Führer köpfen. Ein Sperrfeuer von Anklagen, Bezichtigungen, Mißtrauensvoten. Der in Paris geschätzte Herr v. Gerlach wird in Berlin als Verräter behandelt, als schwachköpfiger Opportunist, wird demoliert. Herr Hiller schwingt den tintentriefenden Tomahawk; er ruft zum heiligen Krieg gegen die Zweifler an seiner Autorität, ein Pobjedonozeff der Friedensbewegung. Er sagt Menschheit und meint Stuhlbein.
... und wenn man sich genug ertüchtigt hat, geht man wieder nach Hause und ist ein ganzes Jahr friedlich. Die Rachegeister legen sich vollgesogen zur Ruhe. Der Philosoph der Langweiligkeit versinkt im gewohnten Tran.
Der Pazifismus Herriots und Macdonalds ist politisch, das heißt, real fundiert, beweglich und deshalb auch bewegend. Er arbeitet mit den Mitteln der Politik. Der deutsche Pazifismus war immer illusionär, verschwärmt, gesinnungsbesessen, argwöhnisch gegenüber den Mitteln der Politik, argwöhnisch gegen die Führer, die sich dieser Mittel bedienten. Er war Weltanschauung, Religion, Dogmatik, ohne daß sich etwas davon jemals in Energie umgesetzt hätte. Deshalb mochte es ihm zwar gelegentlich gelingen, ein paar Parolen populär zu machen, Versammlungserfolge zu erzielen, organisatorisch hat er niemals die Massen erfaßt. Das Volk blieb immer beiseite. Der organisierte Pazifismus blieb immer eine sehr rechtgläubige Sekte, ohne federnde Kraft, eine etwas esoterische Angelegenheit, an der die Politik vorüberging, wie sie die Politik ignorierte.
Es ist wahrscheinlich das Schicksal der Bewegung gewesen, daß ihr Ausgangspunkt war der larmoyante Roman einer sehr feinfühligen und sehr weltfremden Frau. Das übergewöhnliche und reine Wollen der Suttner in allen Ehren, aber sie fand für die Idee keine stärkere Ausdrucksform als die Wehleidigkeit. Sie kämpfte mit Weihwasser gegen Kanonen, sie adorierte mit rührender Kindlichkeit Verträge und Institutionen, – eine Priesterin des Gemütes, die den Königen und Staatsmännern ins Gewissen redete und die halbe Aufgabe als gelöst ansah, wenn sie freundlicher Zustimmung begegnete. Und wer konnte dieser milden, gütigen Dame anders begegnen? Wie so viele Frauen, die aus reiner Weiberseele für die Verwirklichung eines Gedankens kämpfen, der männliche Spannkraft und ungetrübten Tatsachenblick erfordert, glitt sie ins Chimärische, glaubte bekehrt zu haben, wo sie ein paar Krokodilstränen entlockt hatte, blieb sie im Äußerlichen haften, anstatt bis zum Sinn vorzustoßen, und streifte sie in der Art sich zu geben, da ihr die prägnante Form mangelte, schließlich den Kitsch. So war um die »Friedensbertha« allmählich ein sanftes Aroma von Lächerlichkeit, und dieses Aroma ist der deutschen Friedensbewegung unglücklicherweise geblieben bis zum heutigen Tag. Und es hat nach außen hin so stark gewirkt, daß auch die tüchtigsten und bedeutendsten Männer es nicht haben beseitigen können. Der Pazifismus trug für die Menge stets das Cachet des Exklusiven, ärger noch, des Unmännlichen.
Dabei ist die Methode des sanften Girrens um die Gunst der Großen längst vorüber. Die Sentimentalität von einst ist robustem Deklamatorentum gewichen, die freundliche Predigt der Suttner den haßerfüllten Expektorationen wilder Männer. Dazu sind gestoßen Fanatiker und Sektierer aller Art, Projektenmacher mit dem Kardinalrezept für alle Weltübel, Allerweltsreformer, die das Fleisch verabscheuen, infolgedessen auch Muskelkraft und alles Masculine überhaupt; sie zeugen ihre Kinder, wenn es schon mal nicht anders geht, dann wenigstens mit ausgesprochener Unlust, und möchten die ganze Menschheit am liebsten auf Kohlrabi-Diät festlegen. Die Politiker sind zwischen Querulanten und wunderlichen Heiligen in der Minderzahl. Sie haben das Ihrige getan, aber es ist ihnen bisher nicht gelungen, die Bewegung als solche an den Realitäten zu orientieren.
Und da gerade liegt das Entscheidende: der Pazifismus muß politisch werden und nur politisch. Die notwendigste Idee unserer Zeit darf nicht zum Steckenpferd kleiner Prinzipienjockeys werden. Der Weg zum Volk muß gefunden werden, damit das deutsche Volk endlich wieder den Weg zu den Völkern findet. Ein Beweis auch für die Schwerfälligkeit, für den Mangel an Aktualitätsgefühl bei den Einberufern des Kongresses, die überladene, grausam theoretisch befrachtete Tagesordnung. Pan-Europa, Schulreform, wesentliches und unwesentliches bunt durcheinander.
Ich verkenne bei aller kritischen Einstellung nicht, was dennoch von pazifistischer Seite bisher geleistet wurde. Der stellenweise Durchbruch der deutschen Selbstzernierung in den letzten Jahren, er bleibt das Verdienst von Persönlichkeiten wie Quidde, Gerlach, Kessler. Kein vernünftiger Mensch zweifelt daran, daß Deutschlands Anschluß an die demokratische Welt nur erfolgen kann im Zeichen des Pazifismus. Das aber heißt auch, den Geist dieser Bewegung fähig zu machen zu dieser Aufgabe.
Das alles mag für einen Gruß an eine Sache, die man liebt, etwas kratzbürstig klingen. Ich habe als Pazifist zu Pazifisten gesprochen, getrieben von dem Wunsch, beizutragen zur endgültigen Freimachung der Kräfte, die diese wirklich erhabene Sache zu ihrem Siege braucht. Und diese Kräfte sind heute noch gehemmt durch schädliches und lächerliches Beiwerk und durch die Überbleibsel einer Vergangenheit, gestorben an dem Tage, da der große Krieg begann.
Das Tage-Buch, 4. Oktober 1924
Über den Bayrischen Platz pfeift ein böser, scharfer Wind, Regen fällt in dünnen, stechenden Spitzen. Jetzt beginnt die Zeit, wo du die Hände fröstelnd in den Taschen vergräbst und die Tiere beneidest, die tief unten im warmen Erdreich die dämmerigen Tage verschlummern. Schmutziges Laub wirbelt um die Füße, und das Dunkel rückt näher wie eine Nacht, die niemals enden will. Im Bassin, wo sonst die Kinder spielten und die Köter strampelten, treibt ein verlassenes Schiffchen, mit nassen Segeln, hoffnungslos zur Seite geneigt; bald wird es kieloben schwimmen wie ein gescheiterter Lebenskahn, wie eine arme kleine Seele, die sich zu weit hinausgewagt.
»Amer, amer ...!« Warum verfolgt mich dieses verdammte Wörtchen schon seit Stunden? Ich werde es nicht los. Es klebt auf meinen Lippen wie etwas Harziges mit Gallegeschmack. Ja, gestern Nacht führte ich im Traum eine perfekte französische Konversation – man träumt manchmal polyglott, ohne zureichenden Grund – aber nun ist alles längst vergessen, bis auf das eine dumme Wort: amer ...
Freund L. kommt knickebeinig und mit hängendem Unterkiefer über den Platz. Er, der Mundfertigste von allen, sieht mich trübe an und schiebt weiter, ohne was zu sagen. Zuletzt traf ich ihn vor drei Wochen. Damals war noch schöner, blühender Sommertag, und auch L.'s Beredsamkeit, Cicero plus Stresemann, blühte noch sommerlich, und er pumpte mich um 20 Mark an. Das sind nun erst drei Wochen her, und frisch und gesund ging er mit seiner Beute von dannen. Und nun ist er auch schon verheiratet. Gott ist gerecht.
Rhythmisch unfrei infolge mangelnden Körpertrainings und ungeeigneter Kleidung tanzt eine entenfüßige ältere Dame auf dem Fahrdamm herum, ungewiß, wo zu verschwinden, unter der Trambahn oder unter den Autos. Sie scheint schon für den Westring optiert zu haben, aber nein, oh, fehlende Entschlußfreudigkeit, deutsches Nationalübel, sie wirbelt im letzten Augenblick mit einer verwegenen Schleife halblinks zurück. Wie lange soll das so weitergehen? Sie ist noch immer nicht mit sich ins Reine gekommen; ja, wer die Wahl hat ... Da löst ein resoluter Radfahrer im Nu den Gewissenskonflikt. Großes Geschrei. Zwei Grüne rücken mit gebietender Geste an. Die Matrone wird wieder in eine Haltung gebracht, die ihrem Alter angemessen und gefragt, wie sie heiße und wo ...? und ob ...? und warum ...? Der Radfahrer entgeht dem Getümmel als unnotierter Wert.
Ein baumlanger korpulenter Herr (aus dem Laboratorium George Grosz) verabschiedet sich von einer kleinen freundlichen Dame (Typus Watteau). Sie blickt selig und dankbar zu ihm auf. Gewiß, sie liebt ihn. Er sieht grau und angegriffen aus und macht einen unsagbar mürrischen Mund. Sie hat ihn zu einer Ausschweifung verleitet, die ihm heute nicht liegt, er neigt überhaupt mehr zu Bacchus, ohne indessen bacchantisch veranlagt zu sein. Er drückt ihr hastig die Hand, klopft ihr auf die Schulter, mehr expeditiv als zärtlich. Ab zu Mampe. Sie sieht ihm mit verschwimmenden Augen nach. Oben auf der Litfaßsäule sitzt ein ganz kleiner Cupido und weint.
Inzwischen ist es völlig dunkel geworden. Der dünne, prickelnde Regen dringt durch die Kleider. Der Wind fegt die letzten dürren Blätter durch den Straßenschmutz. Das Schiffchen im Bassin treibt jetzt kieloben, wie eine gescheiterte Liebesbarke, Wrack geworden, ohne die goldene Küste der Verheißung erreicht zu haben. Wo mögen die armen Passagiere ruhen?
Amer, amer ...
Das Tage-Buch, 4. Oktober 1924
Im Haag hat in vergangener Woche eine öffentliche Diskussion über die Abrüstung stattgefunden zwischen einem pazifistischen Demokraten und dem früheren Oberbefehlshaber der holländischen Armee. Der General hat nicht gut abgeschnitten, hat im wesentlichen Generalsargumentationen ausgespielt, also ... Aber wir wollen nicht über holländische Generale splitterrichtern. Sie sind uns räumlich fern und eben auch nur Generale. Aber ein Ruhmeskranz für sich gebührt doch diesem Herrn Snyders, der sich einem ganz gewöhnlichen pazifistischen Gelehrten zur öffentlichen Auseinandersetzung stellte, der mit ihm auf offenem Markte stritt, ganz so, als wäre das ein Mensch. Man denke sich bei uns etwa ein Rededuell zwischen Herrn von Seeckt und Quidde oder Gerlach. Herr von Seeckt zieht es einstweilen vor, den Verkehr mit genannten Herren durch Herrn Ebermayer besorgen zu lassen.
So freundlich sich also in einer Hinsicht der holländische General von seinen deutschen Kollegen abhebt, in einem hat er in dieselbe Kerbe gehauen. Er ist ungemein zufrieden mit den sich immer erweiternden Möglichkeiten des chemischen Krieges. Er sieht darin eine Humanisierung. Je härter, desto kürzer, desto besser. Wir kennen das Lied. Auch der gute, alte Hindenburg hat es häufig genug Interviewern vorgesungen. Es muß ohne Zweifel angenehmer sein, erstickt als durchlöchert zu werden.
Auch in Deutschland hat der technische Krieg seine Bewunderer. Alte Generale, die in ihrer Kadettenzeit noch mit Steinschloßpistolen hantiert haben, predigen begeistert die frohe Botschaft des Bromazeton oder Chlorpikrin. Wir sind doch modern. Wir machen spielend den Übergang von der schimmernden zur stinkenden Wehr. Und wenn die französische Revanche von 1914 noch in roten Hosen vor Mülhausen erschien, die deutsche Revanche von 19?? wird im schlichten Kittel des Kammerjägers aufs Blachfeld treten und als Standarte das Plakat einer Insektenpulver-Fabrik führen.
In einer Philippika gegen Deimling schrieb vor ein paar Monaten in der »Kreuzzeitung« ein tapferer alter Heerführer die beherzigenswerte Mahnung: Nur keine Aufregung von wegen Gas! Zugleich mit den Angriffswaffen schafft die Technik auch Abwehrmittel. Wenn die Giftgase erst so hübsch populär geworden sind, dann wird auch die Gasmaske so allgemein geworden sein wie heute der Regenschirm.
Das ist Gehirnschwund, wenn auch mit mildernden Umständen. Diese martialischen Greise treiben die Eisenfresserei, richtiger Gasschluckerei, in einer Weise, die einen Schimmer versöhnender Komik auf die traurige Profession wirft. Die französische Revanche war eine üble Petroleumhexe, eine rothaarige, hysterische Metze mit frech entblößten Brüsten. Die deutsche Revanche ist eine hochgeschlossene, spinöse Stiftsdame, der der Regenschirm besser steht als die Tricolore. Sie mag sich noch so sehr ereifern, mit dem Regenschirm erhitzt man keine Männer.
Nachts um die zwölfte Stunde verläßt der Tambour sein Grab. Aber er denkt nicht daran zu trommeln, beileibe nicht. Ein Blick auf die Rachegöttin, und er kriecht mit scheppernden Knochen in den Hades zurück.
Das Tage-Buch, 11. Oktober 1924
Herr Gömbös, rechtsradikales Mitglied der Nationalversammlung von Budapest, ist von Profession Held. Wohl verständlich, daß er deshalb gern Menschen gleich kernigen Schlages um sich versammelt. In seinem freundlichen Landhaus bei Nagy-Teteny siedelten sich mit der Zeit homerische Figuren verschiedenster Nationalität an, deren Heroismus im eigenen Vaterland nicht die gebührende Anerkennung gefunden hat und denen Herr Gömbös nach besten Kräften das harte Brot der Verbannung mit Schmalz bestreicht. In dieser Heldenplantage sind bekanntlich auch die Herren Schulz und Tillessen gelandet, zwei liebenswürdige junge Tyrannentöter, die es vorzüglich verstanden, tapfer zu sein, ohne die eigene wertvolle Haut überflüssig zu exponieren.
Kürzlich hat sich nun der eine der beiden Herren mit der anmutigen Schwester des Heldenvaters Gömbös verlobt. Wer von den beiden, ob Herr Schulz oder Herr Tillessen, läßt sich dank Verdunkelung des Tatbestandes durch die ungarische Polizei nicht genau feststellen. Was auch gleichgültig ist. Denn die beiden Herren sind durch gemeinsame Leistung so sehr zu einem Begriff zusammengeflossen, daß der Einzelne die Physiognomie verliert. Der Eine hat laut Steckbrief der Deutschen Republik einen Knick am linken Ohr. Das ist der einzige Unterschied. Ob das allerdings als Merkmal genügt, wenn Fräulein Gömbös einmal im Dunkeln, einer Identitätsverwirrung unterliegend, im Augenblick nicht weiß, ob Tillessen oder Schulz ... jedenfalls, hoffen wir auf den Knick.
Jetzt fragst du: Was geht dich, bester Lucius, Fräulein Gömbös an, und ihr Verlobter, und ihr Heldentenor von Bruder? Ach, so bescheiden diese Novität in den Blättern aufgemacht war, alles, was die nationale Presse liest, wird hell aufjauchzen, wird eine Weltanschauung beglaubigt sehen. Stahlhelm, Wehrwolf, Bismarck-Bund, Männlein und Weiblein, wird ein Stückchen erträumte Butzenscheiben-Romantik realisiert und bestätigt finden, daß zwar Zivilisationen kommen und schwinden, aber wie in den Tagen Hektors und Siegfrieds das Feine dem Rauhen zuerstrebt und die Schöne dem Starken selig zerschmettert an den behaarten Brustkorb sinkt.
Vor vielen, vielen Jahren, als ich noch ein ganz kleiner Junge war, las ich einmal in einem Schundroman, wie der große Räuberhauptmann die wollüstige und grausame Gräfin, mit der er ein Hühnchen zu rupfen hat, trotz ihrer Bitten von sich schleudert und seiner Bande das schreckliche Signal gibt: »Macht mit ihr, was ihr wollt!« Mir klapperten damals die Gebeine vor Entsetzen. Seitdem bin ich älter und erfahrener geworden. Wahrscheinlich hat sich die Dame niemals wohler gefühlt als in diesem Augenblick. Wenn auch Fräulein Gömbös nicht gleich einer ganzen Bande in die Hände gefallen ist, sie fungiert immerhin als Prämie für einen präzis exekutierten Abschuß, so wie es beim Schützenfest einen versilberten Rührlöffel gibt oder eine Käseglocke. Und sie wünscht sich auch keine andere Bestimmung. Sie blickt bewundernd zu ihrem germanischen Helden auf, magyarisch und doch traulich, ein Gretchen mit Paprika-Injektion, und wenn sie so hübsch miteinander plauschen, dann wird sie leuchtenden Auges fragen, wie es denn eigentlich gewesen. Er wird dann erzählen und Bruder Hicketier zur besseren Illustrierung aus der Trödelkammer einen alten Perückenkopf holen. Danach wird Schulz (oder Tillessen) ein bißchen mit dem Revolver schießen und Fräulein Gömbös wonnebebend lispeln: »Huch nein, nicht immer ins Auge!« So idyllisch wird die Brautzeit sein.
Eines schönen Tages werden sie heiraten und sich pflichtgemäß vermehren. In wenigen Jahren wird eine muntere Schar kleiner Erzberger-Mörder im Garten wimmeln und Onkel Gömbös' neuesten Heldentransport mit seinen kindlichen Spielen ergötzen. Kein Schatten wird auf das Glück fallen. Denn es ist nicht wahr, daß die Toten wiederkommen. Die Furien sind Fabelgebilde, wie die Schrecken vor der eigenen Tat. Das Blutgesetz gilt nur für die imaginäre Welt der Tragödienschreiber. Oh, Ödipus, Orest, Macbeth, Raskolnikow, wenn man einen ungarischen Paß hat und ein deutsch-national imprägniertes Gewissen, dann pfeift man auf das ganze dumme Schattenreich, dann hat der älteste aller Flüche seine unheimliche Magie verloren. Dann wird man rund und nett Familienvater, freut sich der Erinnerung und drückt sein herziges Weib an die gut trainierte Brust. Blutgeruch, Blutschuld ... Mord?! Unsinn. Wer den Biceps hat, führt die Braut heim.
Als Verlobte empfehlen sich:
Fräulein Gömbös etc.
Das Tage-Buch, 18. Oktober 1924
Jackie wollte die Berliner Kinder kennen lernen. S. Adam mietete behufs dessen ein paar pompöse Hotelräume. Jackie ist Jackie und Adam ein Prophet.
Vor dem Adlon eine Menschenwoge, Polizei, die tapfer, aber resultatlos kämpft. Eine Musterkollektion kleiner Jackies, deutschestes Copywrong, strebt dem Eingang zu. Der eine kommt dem Original ziemlich nahe. Ich fliege gespitzten Bleistiftes auf ihn zu. Aber nein, er hört auf den Namen Rolf.
In den Festsälen ist um vier Uhr kein Platz mehr zu bekommen. An den Wänden Sternenbanner und Schwarz-rot-gold nebeneinander. Deutsch-amerikanische Verbrüderung, Zeppelinrausch, Anleihestimmung. Die Kinder schreien durcheinander. Kommt Jackie nun oder nicht? Nein, so gibt ein Herold kund, Jackie kommt nicht, ehe nicht alles hübsch Platz genommen hat; Jackie ist so sehr in Anspruch genommen ... Jackie kann sich nicht in dies Getümmel stürzen, ohne Schaden zu nehmen.
Damn and confound! Der Mann hat recht. Wollte Jackie jetzt seinen Rundgang beginnen, es würde nicht viel von ihm übrigbleiben. Man würde ihn vor Begeisterung zerreißen und die Knöchelchen als Andenken mit nach Hause nehmen. Zu welcher Schreckenstat sind die Berliner nicht fähig, wenn sie sich freuen.
Fünf Uhr! Noch immer kein Jackie. Die Kindlein starren hoffnungslos vor sich hin. Die Mütter, reifer und gefaßter, bekämpfen die Enttäuschung mit Schokolade und waten bis an die Ellenbogen in Schlagsahne.
Da endlich, im Hintergrund, sorgfältig eskortiert, ein wohlbekanntes Gesicht, ein Gesicht, das der ganzen Welt gehört. Jackie in Lebensgröße, Charlie Chaplins Spießgeselle, der kleine Bettelmusikant, grüßend und nickend. Die Cour beginnt.
Soll man kritische Kanonen auffahren? Soll man es wiederholen, daß mit diesem schmächtigen Würmchen ein Humbug ohnegleichen getrieben wird?
Die Welt will ihr Spielzeug haben. Und, by Jove, es sind schon kleinere Leute gefeiert worden.
Montag Morgen, 20. Oktober 1924
Berlin, im Oktober 1924.
Sehr geehrter Herr Schützinger!
Ihr Artikel »Republikanischer Aktivismus« in Heft 28 des »Drachen« nötigt mich zu einer Erwiderung. Nicht, weil Sie, wie sehr oft in den letzten Monaten, darin die Republikanische Partei angreifen, nicht, weil sie mich nebst einigen politischen Freunden namentlich erwähnen. Das ist es nicht. Aber wir haben einmal in der selben politischen Linie gestanden und fühlten dann zunehmende Entfernung. Es ist der Zweck dieses Briefes festzustellen, ob diese Entfernung eine beträchtliche ist und wohin sie führt. Wenn wir auch heute zu keiner Verständigung gelangen sollten, vielleicht werden wir doch einen künftigen Treffpunkt ahnen. Das ist mein aufrichtiger Wunsch.
Ihr Ziel, wenn ich Ihren Artikel richtig aufgefaßt habe, scheint sich mit dem unserigen zu decken. Auch Sie wollen den deutschen Republikanismus lebendiger und artkräftiger machen. Aber Sie konfrontieren die beiden Methoden, und in einem für uns wenig freundlichen Sinne. Unsere Methode, wie sie sich wenigstens in Ihnen malt, vornehmlich die »Bonzenwirtschaft« und »Führerverkalkung« zu bekämpfen, mag grundverkehrt sein und auf Abwege führen. Möglich. Ihre Methode, der Jugend zu ihrem Recht zu verhelfen durch Konservierung von »verdienten Partei-Veteranen«, Aktivismus zu treiben durch Respektierung auch der überfällig gewordenen Anciennitäten, diese Ihre Methode scheint mir außerordentlich geeignet zu sein, eine neue Kollektion von Funktionärs-Mediokritäten zu züchten, aber sie scheint mir völlig unzweckmäßig zu sein, Republikaner zu erziehen, die sich für die Idee »die eigene Hand freudig abhacken lassen«. Ihre Methode, verzeihen Sie, ist so bonzenfromm, so unfruchtbar und eben, daß sie nicht einmal auf Abwege führt. Sie ist in ihrer Konsequenz eine Lobpreisung des bestehenden Zustandes; sie begründet in einer, wie ich zugebe, neuartigen und gediegenen Weise die Theorie vom beschränkten Untertanenverstand des ganz gewöhnlichen Parteimitgliedes. Ich empfinde als Quintessenz Ihrer Ausführungen: die beste Opposition ist, wenn man kuscht. Aber, bei allen katholischen Heiligen, seit wann nennt man das Aktivismus?
Ich will hier keine Apologie der Republikanischen Partei beginnen. Zurückweisen aber muß ich Ihre für mich absonderliche Auffassung, als hätte nun ausgerechnet diese kleinste Partei den Erisapfel in die Reihen der Republikaner geworfen, als könnte kein republikanischer Solidarismus gedeihen, weil diese Partei der 45 000 Stimmen partout im Wege steht. Wertester Herr Schützinger! Ich habe die Wiege der Partei geschaukelt und werde wahrscheinlich auch einmal einen Immortellenkranz an ihrem Katafalk niederlegen, ich habe ihr Auf und Ab, ihre Erschütterungen und Miseren, ihre Hoffnungen und Schlappen miterlebt, ihre Hoffnungen nicht ohne Wehmut, ihre Schlappen ohne Überraschung, aber nun muß ich doch sagen: Verehrtester, Sie überschätzen uns! Sie überschätzen auch unsern Hang, intriganten Unfug anzustiften. Wir sind nie so selbstbewußt klobig, so egozentrisch aufgetreten wie die großen alten Parteien. Wir wollten nicht »mit Leichtsinn und Unwirklichkeit« ein neues pompöses Parteischaustück mit Pferden, Affen, Känguruhs und Clowns in die Manege bringen, sondern Parolen ausgeben. Hätte die Partei lebhafter an die Futterinstinkte appelliert als an die Denkfähigkeit der Leute, sie hätte wahrscheinlich besser abgeschnitten. Ja, wir haben uns auf Ideen und Anregungen kapriziert, und einiges davon ist immerhin aufgegriffen worden. Der Schutz der Republik, man lachte darüber noch im Frühjahr wie über eine Utopie!, ist heute eine Selbstverständlichkeit für Millionen. Die Republikanische Partei ist klein geblieben, aber sie gab den geistigen Impetus für die Gründung des »Reichsbanners Schwarz-rot-gold«. Glauben Sie denn, daß ohne die Furcht vor »bürgerlicher« Konkurrenz die sozialdemokratische Führerschaft zu solchem Energieaufwand fähig gewesen wäre? Andere, Größere, Stärkere, haben einen Teil unseres Programms ausgeführt. Wir murren nicht darüber. Aber ein ebenso wichtiger Teil: die Erneuerung und Verjüngung des gesamten republikanischen Parteiwesens überhaupt, die Schaffung einer großen deutschen Linken, der ist noch immer ideale Forderung geblieben. Und weil es so ist und weil der Ruf danach nicht verstummen darf, deshalb bleiben wir, deshalb schließen wir nicht die Pforten unseres »unwirklichen und phantastischen Unternehmens«. Sollten auch diesmal wieder Andere, Größere, Stärkere ... nun wir sehnen den Tag herbei.
Im Übrigen ist uns gar nicht so sehr darum zu tun, zum Parlament »reif zu werden«. Wir sind mit Bewußtsein Avantgarde, verlorene Posten vielleicht. Sie lassen durchblicken, wir wären angespannt von der Sucht nach »abenteuerlichem Karrieremachen«. Bester Herr Schützinger, jetzt fällt es mir außerordentlich schwer, den gemütlichen Briefstil beizubehalten. Ehe man so etwas gegen alte Freunde öffentlich ausspricht, überlegt man es sich zehnmal. Es war einmal ein Republikaner Schützinger in München, ein sehr vereinsamter Mann, preisgegeben dem nationalistischen Janhagel, boykottiert halb und halb von der offiziellen Sozialdemokratie, der von einer gewissen linksdemokratischen Gruppe in Berlin dennoch auf den Schild gehoben, dessen Name von dieser Gruppe dennoch durch ganz Deutschland getragen wurde. Zu dieser Gruppe von damals gehörten die abenteuerlichen Karrieremacher von heute. Ein dummes, unerquickliches Kapitel, das ich mit Mißbehagen nur streife. Aber sind wir deshalb Phantasten und politische Industrieritter, weil Sie inzwischen Ihren Frieden gemacht haben mit Ihrer Parteibureaukratie? Was Sie so Ihren »Aktivismus« nennen, das ist ja letzten Endes nicht mehr als eine kunstvoll verklausulierte Kapitulation. Gewiß, Sie haben Ihr kritisches Urteil kaum aufgegeben, aber Sie haben es leider aufgegeben, davon öffentlichen Gebrauch zu machen. Der Polizeioberst Schützinger in Dresden, angesehener Sozialdemokrat und Wortführer im »Reichsbanner«, hat den verfolgten und verfehmten Hauptmann Schützinger in München vergessen, der, wenn man ihm nachts die Fenster einwarf, nie recht wußte, ob es seine Gegner vom Hakenkreuz gewesen waren, oder seine lieben Parteigenossen. Ich war auch mal Gemeiner, sagte der Unteroffizier eine Stunde nach seiner Beförderung.
Ich bezweifle nicht, daß Sie fest und ehrlich an Ihren »Aktivismus« und seine Brisanzkraft glauben. Möglich, daß wir von der Republikanischen Partei uns in Illusionen wiegen, daß wir den Zusammenhang mit der Welt der politischen Realitäten zeitweise verloren hatten. Möglich und wahrscheinlich. Aber ist Ihr »Aktivismus« etwa weniger Selbsttäuschung? Ihre Sozialdemokratie schläft einen gesunden, ehrenfesten Schlaf. Und Ihre Beschwörungsformeln, Herr Schützinger, nun doch endlich aufzuwachen und mobil zu werden, ich kann mir nicht helfen, pulvern auch nicht auf, sondern wirken erst recht wie Veronal. Wenn man an eine Zipfelmütze die Weimarer Kokarde näht, wird noch immer keine Sturmhaube daraus.
Ihr ergebener
Carl v. Ossietzky.
Der Drache, 21. Oktober 1924