Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Kürschners »Deutscher Reichstag« ist wieder da. Ein schmuckes, weißes Bändchen mit breiten, roten Streifen und dem schwarzen Reichsadler auf dem Umschlag. Mit seinem reichen biographischen Material und seiner üppigen Bebilderung stellt er einen zuverlässigen Führer dar, einen Baedecker durch die bis dato unerforschten Partien der Physiognomie des deutschen Parlamentarismus. Denn alles zusammen, Bilder und Lebensläufe, alles das addiert und aus der Summe die Quadratwurzel gezogen, das ergibt das Antlitz des Reichstags. Die Rechnung ist verlockend, aber nur theoretisch denkbar; wir müssen uns ans Einzelne halten, um gelegentlich aufs Ganze zu schließen. So laßt uns also einen kurzen, aber lohnenden Rundgang machen und die Porträts jener Damen und Herren bewundern, die das deutsche Volk einig in allen seinen Stämmen bestimmt hat zur Wahrnehmung seiner Rechte und pfleglichen Abstufung seiner Pflichten.
Dieses Volk, in seinem gesunden Sinn für die Wirklichkeit und seinem geschärften Blick für die Politik des Erreichbaren, hat sich deshalb weder unnahbare Herrenmenschen ausgesucht, noch einseitige Intellektualisten, von des Gedankens Blässe angekränkelt, keine Phantasten und Raketenspritzer, Gott bewahre, sondern gesunden deftigen Durchschnitt, frohe Naturkinder, gereift in der Schule des Lebens, Menschen wie wir. Leute mit normalen Abdominalfunktionen, die Politik Politik und ein Kotelett ein Kotelett sein lassen. Leute also, die nach männlichem Streit sich nachher im Restaurant auf der überparteilichen Plattform der Speisekarte in Einigkeit und Recht und Freiheit zusammenfinden. Der Kellner setzt den Hobel an und hobelt alles glatt.
Die Listenwahl, so klagte man, entzieht den Abgeordneten der unmittelbaren Berührung mit seinen Wählern. Auch da füllt der Kürschner eine Lücke. Da hat man sie alle schwarz auf weiß. Die Berühmten, die stets im bengalischen Licht der großen Presse agieren, die Bescheidenen, die sich der stillen, aber notwendigen Arbeit in den Kommissionen widmen, und dann die anderen, die völlig unpersönlich Gewordenen, in der Atmosphäre des Parlaments Aufgegangenen, die zusammenfließen in der parenthetischen Bemerkung des Stenogramms: (Heiterkeit rechts) oder: (großer Lärm links). Das sind die Lach- und Poltergeisterchen des Plenarsaales, die Nickelmänner und Rautendeleins, Elementargeister, elbische Wesen, die sich nur beim Diätenempfang für Augenblicke materialisieren. Das ist überhaupt der kurze Moment, wo der Begriff deutsches Parlament körperlich wird:
Wolkenzug und Nebelflor
Erhellen sich von oben;
Luft im Laub und Wind im Rohr
Und alles ist zerstoben.
Nicht alle Köpfe kommen gleich gut heraus. Paul Levis kluges Geiergesicht wirkt nur im Profil; en face zu harmlos. Breitscheid gibt ein geschmeicheltes Jugendbildnis, das nur bis zum Kragen geht, uns also die Tournüre entzieht. Schade. Restlos gelungen sind dagegen diejenigen Kommunisten, die sich nicht entschließen konnten, ihr Konterfei bürgerlicher Sensationslust preiszugeben. Sie haben wenigstens die Merksteine ihres Lebenslaufes deponiert, und auch das kann über die Maßen illustrativ sein. Von Ruth Fischer, schlechte Photographie!, erfährt man, daß aus Leipzig gebürtig. Es wäre nützlicher gewesen, sie hätte ein besseres Bild geschickt, dafür aber diese kompromittierende biographische Offenherzigkeit unterdrückt.
Ein Studienkapitel für sich bilden die ehemaligen Reichsminister. Mit früheren Ausgaben des Kürschner verglichen, haben sie sich vergeistigt. Hermann Müller blickt leidend-gedankenvoll durch große runde Brillengläser, als hätte ihm der Parteivorstand aufgetragen, eine Fortsetzung zum Untergang des Abendlandes zu schreiben; von Robert Schmidt wird ein Samtkragen sichtbar, der ein würdiges, pastorales Gepräge gibt; Gustav Bauer hat sich den Schnurrbart bis zur Unkenntlichkeit abstutzen lassen; der so gewonnene Platz wird durch ein mißtrauisches Lächeln nicht völlig ausgefüllt. Herr Sollmann dagegen ist zu kurze Zeit Minister gewesen, um an seinem Typus Veränderungen vorzunehmen. Er gibt an, seit 1903 führend in der deutschen Nüchternheitsbewegung zu sein. Er scheint, wenn man das gute Alkoholgeschäft der letzten Jahre betrachtet, nicht viele Leute zur Tugend verführt zu haben. Dafür aber ist seine Amtszeit in jeder Hinsicht ungewöhnlich trocken ausgefallen.
Aber, weil wir nun gerade bei der Nüchternheitsbewegung sind, was ist das für ein rundlicher alter Herr mit leicht gerötetem Antlitz? Das ist der Abgeordnete Simon-Franken, führend bei der letzten großen Prügelei mit der Rechten. Gott segne dich, du stämmiger Greis! Sein spezieller Gegner, Laverrenz, blickt noch immer scheeläugig in die fremdstämmig verunzierte deutsche Landschaft. Er sieht noch immer aus wie Diedrich Heßling, Heinrich Manns »Untertan«. Die Kommunistin Frau Reitler, die dem Völkischen Dr. Roth jüngst zurief: »Von mir kannste ooch 'n paar in de Fresse haben«, ist mit Recht in Köln gewählt. Eine stramme Person, in der Tat. Ihre Genossen Katz und Scholem sehen so aus, wie man sich die Autoren von »Pottasch und Perlmutter« vorstellt. Ein Völkischer gibt an, städtischer Schwimmeister in Zwickau gewesen zu sein. Ja, die sächsischen Wassersnöte sind längst sprichwörtlich. Ein anderer Völkischer hört auf den alten uckermärkischen Bauernnamen Chwatal. Herr Kunze behauptet, seit 1919 Politiker zu sein. Er ist zu bescheiden. Wir glauben, seine stärkste politische Leistung fällt noch in die Kriegszeit, damals, als er die Stellung in Gardelegen mit Energie und Umsicht behauptete. Die bayerische Volksparteilerin Frau Lang-Brumann stellt fest, Lehrerin zu sein und Thusnelda zu heißen. Man glaubt es.
Ein Sozialdemokrat heißt Schnabrich. Welcher Sternheim schreibt das Lustspiel zu diesem Namen? Der freundliche bebrillte Herr paßt nicht dazu. Von Reventlow und Schliephake gibt es ein gemeinsames Bild in der »Berliner Illustrierten«; getrennt wirken sie nicht. Aber zusammen sehen sie aus wie Laatsch und Bommel. Ein Nationalsozialist, in Bayern gewählt, verfehlt nicht, sämtliche Daten seiner militärischen Laufbahn zu registrieren. Man erfährt, daß er an diversen abend- und morgenländischen Fronten das Seilbahnwesen organisiert hat und im Besitz deutscher, bayerischer, österreichischer und bulgarischer Kriegsorden ist. Er hat die Offiziersmütze schief aufs Ohr gesetzt und schaut verwegen drein. Möglich, daß ihm die Mütze auch beim Organisieren von Seilbahnen so verrutscht ist, aber das Bild ist köstlich. Die ganze Poesie der A.O.K.-Kasinos liegt darüber. Es strömt ein Aroma aus von kalter Ente, Prärieauster und Meyerstechen. O, Kürschner, welch ein Dichter bist du!
Findet man diese Skizzen von Politikerköpfen zu leicht hingewischt, zu wenig detailliert?
Hoch die Bagatelle!
Unsere Ausschnitte aus der Schönheitsgalerie des Reichstags im vorigen Heft haben unter unseren Lesern freudiges Erstaunen hervorgerufen, und da uns eine Fülle von Wünschen nach mehr zugegangen ist, haben wir uns entschlossen, geleitet durch Kürschners unübertrefflichen »Deutschen Reichstag«, noch eine Nachlese zu geben. Selbst ein flüchtiger Rundgang bietet ja so viele Anregungen, und manches, was in der deutschen Politik bisher selbst Eingeweihten sich verborgen hielt, das tritt plötzlich klar zutage.
Gewinnbringend ist auch ein Studium des einleitenden Textes. Kürschner ist ja nicht nur ein fleißiger Bildersammler und gewisser Biograph, sondern auch ein konsequenter Statistiker. Das bestätigt schon die Rubrik »Religionsverhältnisse der Abgeordneten«. Da erfährt man genau, wieviel Herren katholisch und evangelisch sind; ein Kommunist ist als Freidenker geeicht; ein Sozialist bezeichnet sich als Atheist. »Jüdischer Abstammung sind«, so heißt es weiter, »soweit sich dies feststellen ließ, 15 Abgeordnete.«
Wie hast du das festgestellt, lieber Statistiker?
Unsern Parlamentariern macht die Bangigkeit der Wahl zwischen Sinnenglück und Seelenfrieden längst kein Kopfzerbrechen mehr; sie haben sich für das kleinere Übel entschieden und sind gut dabei gefahren. So fährt bei ihrer Musterung auch der Folklorist besser als der verwöhnte Ästhet. Trotzdem fehlen nicht die kleinen lyrischen Winkel. Da ist das Bild des bayerischen Abgeordneten Gerauer, zum Beispiel. Das ist mehr als eine dürre Gelegenheitsphotographie, das ist, nehmt alles nur in allem, ein Volkslied; rustikale Primitivität, bescheiden angeganghofert, von leiser Verträumtheit überschattet. Der Abgeordnete Seydewitz dagegen, Sozialdemokrat, verkörpert schon rein äußerlich das Tempo der neuen Zeit. Er trägt Schillerkragen, trägt also den Hals frei, ist überhaupt ein freier Mann und wird sich niemals in eine Fürstengruft singen, sondern dermaleinst vom Verein der Freidenker für Feuerbestattung übernommen werden. Den Rhythmus unserer Zeit hat auch, rataplan! rataplan!, der Demokrat Professor Bergsträsser, der, laut Beurkundung des Berliner Tageblattes, aus einer alten badischen Theologenfamilie stammt. Der moderne Gelehrte verzichtet auf die hergebrachten Embleme des Professorentums. Bergsträsser, Historiker und Oberarchivrat, hat sich deshalb mit beachtenswerter Gewandtheit auf den Typ des Bankdirektors umgestellt.
Treu am Alten hingegen hängt sein Parteigenosse Professor Goetz. Er erinnert im Halbprofil ein wenig an Hoffmann von Fallersleben, den Dichter des oft erprobten demokratischen Sturmliedes: »Ein Männlein steht im Walde ganz still und stumm.« Bewußt altertümlich hält sich auch Theodor Fritsch, der Hammer-Fritsch, der Entlarver Jehovas. Der Schnurrbart sträubt sich kampflustig, die weit geöffneten Augen sind wachsam nach oben gerichtet, als fürchte er, der entthronte Wüstengott könnte dennoch durch eine Hintertür ins germanische Götterkasino einschleichen.
Einer dagegen enttäuscht. Empfinde ich wenigstens. Das ist Herr Reinhold Wulle. Das ist nicht der massige teutsche Gemeindewulle, so man nach seinen Reden und Schriften erwartet, sondern ein sorgfältig gescheitelter Herr von wässeriger Korrektheit, um einige Nuancen zu bläßlich. Aber vielleicht machen das die vielen Blutsproben.
Den Damen sei im Gegensatz zu allen Bräuchen kein besonderes Wort mehr gewidmet. Das deutsche Volk hat sie gewählt, es mag mit ihnen fertig werden.
»Was den beiden Reichstagen von 1920 und 1924 gemeinsam ist, ist das Überwiegen der Berufspolitiker. Als solche muß man die in den politischen und gewerblichen Organisationen beschäftigten ›Funktionäre‹ ansehen ... Ihre Zahl betrug 106 bzw. beträgt jetzt 85.« Soweit Kürschner.
Es sind also zwanzig Funktionäre weniger geworden. Trotzdem funktioniert dieser Reichstag kaum besser. Aber das gehört nicht mehr zum Thema.
Beim Zeus! Es ist bitter. Heilige Eide hatte ich geschworen, nach überanstrengendem, aber hoffentlich nicht erfolglosem Studium Kürschners »Deutschen Reichstag« für einige Legislaturperioden zu meiden. Es hilft nichts, George Kobbe, dem Poeten des Zeichenstiftes, haben es die Damen des Reichstages angetan. Ich muß den Schierlingsbecher bis zur Neige leeren.
Was also unsere weiblichen Deputierten betrifft, so hat das deutsche Volk in weitblickender Klarheit mehr auf einen gesunden und nüchternen Verstand gesehen, als auf vergängliche körperliche Vorzüge. Es wäre in der Tat schlimm, wenn unser parlamentarisches Leben, das ohnehin so viel Zündstoff enthält, auch noch um amoureuse Konflikte bereichert werden sollte. Das ist nun Gott sei Dank ausgeschlossen. Ruhig läßt die Eheliebste des Abgeordneten Weinhold Bulle den Gatten ins Plenum ziehen. Er kann selbst in den dunkelsten Kommissionszimmern ohne Aufsicht bleiben. Denn er ist unverwundbar, wie mit Drachenfett geschmiert. Und sollte irgendwo doch eine Achillesferse geblieben sein, kein Verständiger wird davon Gebrauch machen. Eros wird im Reichstag in der Garderobe abgegeben.
So feiert der deutsche Sinn für Sachlichkeit wieder einmal einen schönen Triumph. Vieles hat man uns nachgemacht, unsere Organisation, unsern Militarismus, unser mangelndes Talent für auswärtige Politik. Unsere Reichsbotinnen sind bestimmt nicht zu imitieren. Sie sind nur in Deutschland möglich.
Das Tage-Buch, 26. Juli 1924
Die Republik feiert. Feiert Kriegsausbruch und Verfassung. An der Art, wie sie es macht, sehen wir, daß sich seit 1918 doch einiges geändert hat.
Unter Wilhelm II. war eine öffentliche Feier großes militärisches Gepränge. Der kaiserliche Puppenspieler hatte Sinn für Buntheit, aber nicht für Bewegung. Alles war farbenfroh, aber rhythmisch, unfrei, eckig, Dressur. Sogar der schlichte Zuschauer, der bei Paraden Volk markierte, sah aus wie von Eberlein oder Knackfuß frisiert.
Die ebertinische Ära hat nicht Wilhelms Talent für blühendes Kolorit, aber sie hat das Bewegungsproblem auf ihre Weise gelöst. Sie verzichtet völlig auf Massenregie und läßt alles hübsch durcheinanderlaufen. Reichskunstwart Dr. Jarres estimiert nicht die Farben Schwarz-Rot-Gold. Er ist mehr für Schwarz-Weiß(Rot)-Kunst. Aber er kann Leute auf die Beine bringen, Hunderttausende. Vom Stahlhelm bis zum sozialdemokratischen Reichsbanner. Und Papa Ebert freut sich, auf freiem Grund mit freiem Volk zu weilen.
Etwas problematisch wirkt bei solchen Gelegenheiten immer das Erscheinen der Reichswehr. Man weiß es nie recht: macht sie nun mit oder gegen? Unbewegte Gesichter, von Stahltöpfen überschattet. Schreitet Herr Geßler die Front ab, so spielt eine unsichtbare Kapelle: »Zu Mantua in Banden.«
Die Paladine aus der Wilhelmstraße, hufeisenförmig um die Herren Minister geschart. Sie zeichnen sich im Gegensatz zur Wehrmacht durch völlige Problemlosigkeit aus. Sie sind immer guter Laune, sie lächeln und tauschen witzige Bemerkungen aus. Sie wissen, daß die Staatsform das Vergängliche ist, und der tüchtige Beamte das Bleibende. Dieser Wissenschaft verdanken sie die Serenität ihres Lächelns. Sie stehen mit sämtlichen Füßen unerschütterlich auf dem Boden der Tatsachen. Und so'n bißchen, bißchen nebenbei.
Warum wird heuer so emsig gefeiert? Weil wir das Geld dazu haben. In London und Paris hat man den 3. August ziemlich klanglos vorüber gehen lassen. Ohne Ansprachen und Schnedderengdeng. Wahrscheinlich sieht man dort jetzt endlich ein, daß eigentlich Ludendorff den Krieg gewonnen hat und schämt sich in Stille ob der späten Einsicht.
Mitten in die allgemeine Festesfreude platzte der amerikanische Besuch herein, dessen Bedeutsamkeit für die politische und wirtschaftliche Zukunft des Reiches kaum zu bestreiten ist. Der konnte sich also von der deutschen Bedürftigkeit gleich an Ort und Stelle überzeugen. Mit List und Umsicht lud man ihn auf der äußersten Kante des Bahnhofes Friedrichstraße aus, da, wo der Bahnsteig zwanglos den Charakter eines Bauplatzes annimmt. Das legt ein schönes Zeugnis ab für unsern ungebrochenen Wiederaufbauwillen. Über den Salonwagen des Gastes legte sich melancholisch die auf Halbmast gerichtete Fahne. Herr Hughes mag sich nicht schlecht gewundert haben, daß seine Ankunft Anlaß zu einer so sichtbaren Trauerkundgebung gab.
Von diesem Unglücksfall abgesehen, ist der frohe Tag harmonisch verlaufen. Herr Ebert wird jetzt anfangen Mahnmale zu bauen zur Erinnerung an die Niederlage seines erlauchten Vorgängers, so wie dieser die Siege seiner Väter in Erz und Marmelstein verewigte. Auf die Sieges-Allee die Schlappen-Allee. Ein freundlicher Ausblick! Im übrigen sei dem Herrn Reichspräsidenten konzediert, daß er als Festredner die günstigste Wirkung hatte, die ein solcher überhaupt haben kann: – nämlich gar keine. Und was etwa doch noch an monarchistischem Groll zurückgeblieben war, das wurde von der munter plätschernden seelischen Wasserspülung, verabfolgt von den beiden Archimandriten der Reichswehr, restlos fortgeschwemmt.
So feiert unsere Republik sich populär. Sie hat nicht die mächtige theatralische Verve ihrer französischen Halbschwester, sie appelliert auch nicht an den citoyen, sondern an den bourgeois. Niemals wird sie ein leichtfertiges Frauenzimmer als Göttin der Vernunft zur Adoration herausstellen. Sie hat es überhaupt nicht groß mit der Vernunft. Von der Begrenztheit des menschlichen Verstandes durchdrungen, bleibt sie im engen Rahmen ihrer Erkenntnismöglichkeiten. Bescheiden und genügsam wie Palma Kunkel zeigt sie sich nicht gern öffentlich: »Schon daß hier ihr Name lautbar ward, widerspricht vollkommen ihrer Art.« Mit jedem Publikwerden überzeugt sie mehr Leute von ihrer kompletten Ungefährlichkeit (falls ihr sonstiges Tun noch irgend welche Zweifel gelassen haben sollte). So sichert sie sich vielleicht nicht ihre Existenz, wohl aber einen sanften Abgang. Wilhelm der Nächste wird niemanden zu füsilieren brauchen. Ja, eines schönen Tages wird man für sie selbst eine Erinnerungsfeier abhalten, und die beiden Regimentspopen werden in linden Worten ihren tugendhaften Wandel und ihren vorbildlichen Tod preisen. Es wird ein Mohrenspaß werden. Fürwahr, wenn ich nicht Lucius Schierling wäre, ich möchte Feldpropst bei der Reichswehr sein.
Ein Unglück kommt selten allein. Zu der bösen Wendung auf der Londoner Konferenz kommt nun noch in der deutschen Presse eine ausgedehnte Diskussion darüber, wie das von der Reichsregierung geplante Ehrenmal aussehen soll.
An und für sich könnte das Problem durchaus einfach sein. Man kann sich nämlich ganz gut irgendwo mitten in belebtester Großstadt, wo täglich Hunderttausende vorübergehen müssen, einen schlichten, kunstlosen Stein vorstellen, mit der Inschrift: Nie wieder Krieg! Aber so will man es eben nicht. Man will, wie es im Aufruf der Reichsregierung im penetrantesten Amtsstil heißt, der »Trauer um das Vergangene« Ausdruck geben, zugleich aber die »Lebenskraft und den Freiheitswillen« des deutschen Volkes versinnbildlichen. Man will sich eben nicht dem Vorwurf aussetzen, »wehleidig« zu sein, man will nicht die freundlichen Zeitgenossen vor den Kopf stoßen, die im Krieg noch heute eine ewige, von Gott zur besonderen Freude der Schwerindustrie ersonnene Institution sehen.
So wird also eines Tages sicherlich in Berlin oder anderswo ein großformatiges Greuel und Scheuel aufgepflanzt werden, ein Kompromiß zwischen wilhelminischer Überladenheit und expressionistischer Experimentierwut, eine Kreuzung von Begas und Konstruktivismus. Es wird eine geräuschvolle Einweihungsfeier geben, und dann werden die Leute die Achseln zucken, und dann wird sich niemand mehr dafür interessieren. Und damit werden die Toten genug geehrt sein. So wird es sein.
Einstweilen aber geht noch die Diskussion darüber, was man nun eigentlich machen soll. Und es kommen in der Tat seltsame Vorschläge ans Licht. Wobei nicht verschwiegen werden soll, daß sehr viele Stimmen laut werden, die betonen, daß es nützlicher sei, die Kriegskrüppel anständig zu versorgen, als Denkmäler zu bauen. Was immerhin als ein Sieg gesunden Menschenverstandes und reinlichen Pflichtbewußtseins über den typischen neudeutschen Drang zum Dekorativen, zum Fassadenkult betrachtet werden kann.
Damit aber die Vernunft nicht in den Himmel wächst, treiben es die Anderen desto munterer. Aus der »B.Z.« erfährt man, daß ein Berliner Baurat vorhat, »die Natur selbst als größte Baumeisterin« in den Gedankenkreis für das Denkmal einzubeziehen. Und zwar hat er als Objekt die – Loreley am Rhein ausgesucht. Die soll ein mindestens 60 Meter hohes Symbol des Krieges tragen, »in monumentaler Darstellung«, beispielsweise aus dem Felsen gehauen das Relief eines Stahlhelmes. Sollte diese wahrhaft baurätliche Idee ausgeführt werden, dann wird der Mann im kleinen Schiffe sich künftighin von den Wellen verschlingen lassen, ohne noch einen Blick nach oben geworfen zu haben, und jeder Einsichtige wird das verstehen, und die Loreley selbst, glaube ich, wird sich zum letzten Mal auf dem altgewohnten Platz gekämmt haben. –
Welcher deutsche Gau soll nun das Denkmal tragen? Verdächtig viele Damen und Herren haben sich bereits für Bayern entschieden. Die frühere Abgeordnete Frau von Oheimb plädiert warm für Goslar. Weil es landschaftlich bevorzugt ist, weil es ein alter Kulturplatz ist, weil dort vor tausend Jahren die Sachsenkaiser residierten. Ich fürchte, es bleibt uns nichts erspart. Zu dem Geist von Weimar, von Potsdam, von München wird sich nun der Geist von Goslar gesellen. Es wird wieder blutige Köpfe geben in diesem Kampf der Lokalgenien gegeneinander und untereinander. Wie gemütlich, wie freundlich würde es in Deutschland sein, wenn wir einmal für ein paar Jährchen gar keinen Geist hätten. Dann würden die Geister ganz von selber zur Ruhe kommen.
Montag Morgen. 18. August 1924
Im vergangenen Winter gabs in den Lokalredaktionen unserer hauptstädtischen Organe ein großes Rumoren. Die Carbidlampe des »Lokalanzeiger« hatte in einen Sündenpfuhl hineingeleuchtet, und bald wußten es alle: in einer Berliner Gemeindeschule wird unter Regie eines Junglehrers nacktgetanzt; der Rektor toleriert es mit wollüstig quellenden Augen, und auch der sozialistische Stadtschulrat hat sein Vergnügen daran. Über alle politischen und konfessionellen Schranken hinweg stiegen vereint inbrünstige Gebete empor, der liebe Gott möge alsbald das Moabiter Gemeinde-Gomorrha seinen geflügelten Kammerjägern zur Ausschwefelung übergeben. Es soll nicht verschwiegen werden, daß, von einer Ausnahme abgesehen, die demokratischen Blätter am nachdrücklichsten gebetet haben.
Wie sich die himmlische Instanz endlich entschieden hat, ist dunkel geblieben. Bekannt wurde nur, daß die weltlichen Behörden den jungen Mann von seinem Amt suspendierten. Er ging aufrecht und mit Protest als ein Vertreter des Fortschritts gegenüber der großen Koalition der Nachteulen und Astlochgucker, und unsere Sympathien sind bei ihm, obgleich er seitdem ein dickes Buch zu seiner Rechtfertigung veröffentlicht hat. (Körperbildung – Nacktkultur. Von Adolf Koch. Verlag Ernst Oldenburg, Leipzig.)
Es ist ein typisches deutsches Malheur, daß so viele Menschen befähigt sind, umfangreiche Wälzer zu schreiben und so wenige nur ein ganz kurzes, ganz anspruchsloses Pamphlet, von dem aber jedes Wort ein paar Striemen hinterläßt. Man bedauert das umsomehr, wenn man den Verfasser im guten Recht weiß und nun sieht, wie er seine Position durch Weitschweifigkeit und Übertreibung schwächt und wie die Wahrheit aufhört, Wahrheit zu sein, einfach, weil sie Theorie wird.
Der Junglehrer sagt also nicht: es ist besser, vernünftiger, gesünder, daß Kinder Tanzen und Turnen unbekleidet lernen, sondern: es ist rückständig und minderwertig, solches im bekleideten Zustand zu treiben. Und er chartert ein halbes Dutzend Kapazitäten, die diese Auffassung mit einigen Tragkörben voll ästhetischer und philosophischer Argumentation schwerfällig belegen. Damit wird eine verdienstliche Sache auf eine Ebene projiziert, wo nicht mehr Helligkeit gegen Finsternis steht, sondern Dogma gegen Dogma, Zelot gegen Zelot.
Man soll sich hüten, aus einem Riesenschwung oder einer Kniebeuge eine Gesinnung oder einen kultischen Akt zu machen. Ob ich das nackt, oder halb- oder ganz angezogen tue, ist eine Frage praktischer Erwägungen und nicht der Weltanschauung. Am Reck oder Barren empfinde ich mit Freude das Straffwerden meiner Muskeln und die wachsende Gelenkigkeit meiner Glieder, aber antike Reminiscenzen belästigen mich dabei nicht, und der berühmte »Rhythmus« ist mir schon völlig egal. Unsere »Lebensreformer« aber haben immer den unseligen Rhythmus vor Augen und fühlen sich als Griechen, wenn sie nur die Beinkleider abgestreift haben. (Wenn übrigens das Korsett, einst ein unwegdenkbares Inventarstück weiblicher Bekleidung, heute verschwunden ist, so ist das nicht ein Effekt reformerischer Philippiken, das hat die Mode in einer Saison fertig gebracht.)
Die Nacktheit ist nicht unser normaler Zustand und erst recht nicht der ästhetisch wohlgefälligste. Wir sind keine Hellenen. Es ist ein Unfug, die gesteigerte Idealität griechischer Statuen als Maß aller Körperdinge zu nehmen. Wir leben nicht bukolisch, sondern als gehetzte, berufsbebürdete Wesen mit Katarrhen und Krampfadern. Wir sollen das Manko unseres Leibes tapfer bekämpfen, das ist der Sinn gymnastischer Übungen, aber dieses Manko eignet sich nicht zum Schauobjekt. Der Gott, der Wolle wachsen ließ, wird schon gewußt haben warum. An jedem Badestrand erfährt man es neu, daß es nicht nur eine Nackt-Kultur gibt, sondern auch eine Nackt-Unkultur.
So oft hört man es von braven Fortschrittspädagogen, aber harmlosen Menschen, die Halbwüchsigen müßten sich rechtzeitig an den Anblick des Nackten gewöhnen, um späterhin gegen alle Versuchungen des Fleisches desto besser gefeit zu sein. Tja. Die Nacktheit als Mittel zur methodischen Abstumpfung der Sinne. Das ist doch ein bißchen degoutant. Wie stumpfsinnig, wie reizlos wäre die Erotik ohne Überraschungen! Traurig wäre es um eine Jugend bestellt, der man diese entzückendste aller Sensationen rauben wollte.
Die alte Prüderie ging in Flanell und giftete sich über einen tiefen Busenausschnitt. Die neue Prüderie trägt nur einen Lendenschurz, wird aber grün und gelb vor Wut über einen koketten Seidenstrumpf. Prophete rechts, Prophete links. Dazwischen, bedenklich lüstern, dennoch wohltätig regulierend, die Erkenntnis der unsterblichen faunischen Bestie:
Das Auge fordert seinen Zoll.
Was hat man an den nackten Heiden?
Ich liebe mir was auszukleiden,
Wenn man doch einmal lieben soll.
Das Tage-Buch, 23. August 1924
Die Lenin-Literatur wächst ins Unermeßliche. Und trotzdem ist der Mann schon Legende geworden, um den, fern von allem Politischen, über das sich streiten läßt, schon bei Lebzeiten der Glanz des Heroischen war. So ist auch Trotzkis Buch, dem großen Gegenstand gemäß, ehrfürchtig. Es ist nicht Historie, nicht einmal ausgeprägt Tendenz. Trotzki sammelt eine Reihe von Episoden und Einzelzügen, manches unfertig trägt Notizbuchcharakter, aber das Verbindende ist immer Wladimir Iljitsch. Der Verfasser tritt zurück, er will nicht im Porträt eines Anderen sein eigenes malen. Er hat keine Autoreneitelkeit. Nur einmal, in der bösartigen und ungerechten Polemik gegen Wells regt sich ganz unvermittelt der alte Pamphletist. Da vergißt der Staatsmann plötzlich in ergötzlicher Weise seinen neuen Rang, und aus dem Mann des Schicksals wird im Nu der einstige Literat, der sich über das prätentiöse Auftreten eines Zunftkollegen ärgert. Aber wo er von seinem Helden erzählt, da trübt nichts das Bild. Wladimir Iljitsch vor und in großen Entschlüssen, Wladimir Iljitsch hoffend und bangend, scherzend und trauernd, das ist sein Thema. Einerlei, ob dieses Material einmal den kongenialen Biographen finden wird, hier scheint eines der großen Dokumente der Menschengeschichte vorzuliegen.
Das Tage-Buch, 23. August 1924
Eigentlich wollte ich diesen Sommer verreisen. Projekte türmten sich phantastisch. Paris, der Riesenklamauk von Wembley. Und eine Nacht unter dem bösen, grellen Mond von Sevilla.
Dann kam die große Saisonkrankheit, die auch solideren Vorhaben als den meinen verderblich wurde. Schließlich blieb nichts übrig als eine Einladung in die Gegend von Teltow. Die kam von einem guten Freund. Der lebt da auf seiner Klitsche wie ein kleiner König und schießt sich jeden Morgen sein Frühstück selbst. Neulich hat er dem Gemeindediener, der ihm in die Zusammenstellung seiner Speisekarte dreinreden wollte, eine Schrotladung ins Dickfleisch geschickt, ohne daß sich juristische Weiterungen ergeben hätten.
Ich lehnte dankend ab.
So bin ich nicht einmal nach Teltow gekommen. Und das ist gut so. Denn die Reise wäre zu anstrengend geworden, hätte zu strapaziöse Anforderungen an die Imagination gestellt, um das zu ersetzen, was die Realität versagt.
Es gibt Reisen, die lediglich die Bewegung als Selbstzweck haben, das Gefühl nicht zu kleben, unterwegs zu sein. Und es gibt Reisen aus irgend einer halbbewußten Passion, aus Sehnsucht nach einer fremden Stadt, nach einem Bild, nach einem unbekannten Aroma. Diese Art zu reisen ist gefährlich. Man sieht und hört, und bleibt indifferent, bis schließlich ein kleiner, dummer Zufall rettungslos entillusioniert. Wem hat nicht schon einmal nach drei Tagen die Schweiz, pardon, kilometerlang zum Halse herausgehangen? Wer ist nicht schon mit dem Schreckensruf »Nie wieder Neapel!« in den Zug geflüchtet und dachte dabei wonneschauernd an die Heimat, Groß-Salze bei Magdeburg?! Nein, der Weg des passionierten Reisenden führt kopfüber in die Enttäuschung.
Jahrelang trug ich als grüner Junge eine spleenige Schwärmerei für jenes bizarr dunkle Brügge in mir, so wie es Georges Rodenbach beschworen hat. Totes Brügge, ich träumte von ihm immer als von einem mächtigen gotischen Steinsarkophag von melancholischer Kostbarkeit, darinnen gebettet eine schöne wachsbleiche Frau, das Antlitz umrahmt von schweren goldroten Flechten. Als ich endlich, oh Bruges-la-morte. dort landete, da schrieb man unglücklicherweise gerade 1916. Zu beiden Seiten des Bahnhofs grüßte eine großzügige Abortanlage militärischer Provenienz, deren Wohltaten indessen auch der minderbemittelten Zivilbevölkerung zugute kamen. In der Stadt selbst Marinestäbe, Etappeninspektion, Entlausungsanstalt, hygienisch zuverlässige Bordelle. Grau und griesgrämig guckte altes Gemäuer auf eine recht durchschnittliche Etappenschweinerei.
Die blasse Frau mit den goldroten Haaren habe ich nicht gefunden. Wahrscheinlich hatte man sie längst nach Kowno befördert.
Eine Kleinigkeit, ein störendes Etwas demoliert den Sinn einer langen Reise. Wehe, wenn man nur durch sein eigenes Ich sehen muß. Dieses Augenglas ist oft trübe. Du brauchst das Medium eines Andern, einer Andern. Erst dein Gefühl für die zweite Person gibt dem Himmel seine Farbe, den Bergen ihre Majestät, beseelt die langweilige Kulissenschönheit der Natur, gibt dem Menschenwerk zur Form den Inhalt.
Ja, es gibt Stunden, wo Pirna paradiesisch erscheint und das herrlichste Fleckchen Toskana sächsisch.
Ich habe meinen Ausweg aus dem Dilemma gefunden. Wenn man schon auf alle Fälle, ob in Teltow oder Sevilla, seine Vorstellungskraft bis auf die letzten Reserven erschöpfen muß, dann lohnt sich nicht einmal die Partie nach Teltow. Es gibt einen Platz in unserm turbulenten Berlin, der ungemein sympathisch sicher umfriedete Enge mit Ausblick in unendliche Weiten vereint. Das ist der Wartesaal Erster Klasse im Potsdamer Bahnhof.
Ein nicht großer Raum mit wenigen weißlich gedeckten Tischen und verschlissenen roten Polstermöbeln aus der Zeit der Entenpest. Wenige Besucher nur, der eiserne Bestand jedes Wartesaales: die Dame mit dem Handkoffer, die immer auf die Uhr sieht und niemals abfährt, und dann der tabetische ältere Herr, der gelegentlich ans Büfett geht, – die Mamsell langt automatisch nach der Zigarrenkiste, aber er will nur eine Briefmarke. Soweit das Inventar.
Aber draußen in der Halle, da schnauben und keuchen die Lokomotiven, da kreischen die Räder, da tuten die Sirenen den Choral der namenlosen Ausdehnungen. Durch die matten Fensterscheiben siehst du eilfertige Schatten huschen. Geschrei, Abschiedsrufe, unendliches Brausen. Schließe die Augen, und zwischen Gestampf und Gelärm glätten sich die seelischen Landschaften (so sagt man, richtiger: schreibt man), die bewegten Höhenzüge, die Gipfel und Klüfte deiner Gedanken sinken, dein Gemütsleben plattet sich freundlich ab zu einer unermeßlichen Fläche. Das ist wohltuend, ist herrlich. Das ist mehr als der Traum mit seinen ins Wache hineinspielenden Beunruhigungen. Das ist jener alles egalisierende Stumpfsinn, der höchst wahrscheinlich identisch ist mit kompletter Seligkeit.
... nachher auf der Straße empfängt dich das bewährte Tempo von Berlin, und es kommt dir weniger schrecklich vor.
Du hast eine große Reise gemacht. Du warst überall und nirgendwo. Ohne Enttäuschungen, ohne Paßkontrolle und – billig. Fünf Glas Cognac genügen. Anfänger kommen mit weniger aus.
Das Tage-Buch, 30. August 1924
Sechzig Jahre sind es her, daß Ferdinand Lassalle in Genf als Opfer einer recht durchschnittlichen Weibergeschichte blutend auf dem Rasen blieb. Der unabhängigste und profundeste Kopf der deutschen Demokratie fiel, verstrickt in einen Ehrenhandel, fiel, als freiwilliger Sklave der feudalsten aller Traditionen. Damit ist am sinnfälligsten die Zwiespältigkeit des Mannes dargelegt, der einem jungen Klassenbewußtsein die Standarte gab und unter der vermoderten, wurmzerfressenen Fahne einer nur noch scheinlebendigen Herrenschicht seinen glanzvollen Weg beendete, wie irgend ein verschuldeter Offizier, der keinen andern Notausgang mehr gefunden hat. Die Tragödie Lassalle aber ist zur Tragödie der deutschen Arbeiterbewegung überhaupt geworden. Er starb, ohne Schule gemacht zu haben; er hinterließ nicht einmal Epigonen. Kein Sozialist im Buchstabensinne, kein Radikaler mit dem Nachgeschmack von Achtundvierzig, ein Volkstribun in des Wortes stärkster Bedeutung, ein unendlich beredter Advokat aller gefesselten Kreatur, ein Kreuzfahrer zum heiligen Grabe der Freiheit, so hat er die in den Anfängen zappelnden deutschen Arbeitervereine aus dem obskuren Versammlungszimmer hinter der Schenke in die mächtige Arena der Weltbegebenheiten geholt. Dann ging er. Und da standen sie nun plötzlich in unbarmherziger Tageshelle: kleine Kegelbrüder, zur Gladiatorenrolle verurteilt, unfähig zum ganz großen Spiel, das ihm immer das Selbstverständliche gewesen war. Er, erfüllt von Phantasiekraft, die dennoch niemals die kritische Verstandesschärfe überschattete, Draufgänger und Taktiker, Revolutionär und Reformer, Rebell und Regent in einem. Sein Nachlaß, die deutsche Sozialdemokratie, stets ohne Gefühl für Tempo; revolutionär trompetend, wenn mutiges Bekenntnis zur stillen Reform notwendig war, spießerlich kalkulierend, dagegen sanft flötenblasend, wenn eine hallende Parole wie Tubaton des Weltgerichts den ganzen reaktionären Hexensabbath zusammengeblasen hätte. In diesen sechzig Jahren hat der deutsche Sozialismus oft die Form gewechselt, gelegentlich auch den Inhalt etwas aufgebügelt, aber niemals hatte er ein Organ für die Untertöne der Zeit und immer hat er das Stichwort verpaßt. Vielleicht war das Lager, das ihm Lassalle bereitet hatte, um etliches zu bequem, zu wenig gesinnungshart, zu phäakenhaft, aber es war alles in allem weniger gefährlich als das Prokrustesbett des Marxismus. So ist er eine einmalige Erscheinung geblieben ohne Fortsetzung, und die Bahn, die uns geführt Lassalle, ist in Wahrheit niemals betreten worden. Einer hat ihm ähnlich gesehen. Das erste Quartal des Weltkrieges hat ihn verschlungen. Einer möchte ihm gern ähnlich sehen. Er redet gut und wirkt ganz amüsant in seiner Mischung von Blasiertheit und Geschäftigkeit, aber er ist zu lang, um ihn zu erreichen. Ob Lassalle selbst den katastrophalen Kontrast erkannt hat zwischen seinem Wollen und ... seinem Material? Sein Fatum hatte diesen Politiker par excellence mitten in das politikfremdeste Volk unter Gottes Sonne gestellt. Er hätte als nationaler Held hoch emporsteigen oder glorreich fallen können. Er zog es vor, als Held eines wappengeschmückten Unterrockes vor die Pistole eines schwindsüchtigen Abenteurers zu treten. Eine kleine Malice der Geschichte, der erste Vorkämpfer des modernen Industrie-Proletariats starb als der letzte Ritter des dekadenten Byronismus. Etwas sensationslustig, etwas überdrüssig, etwas indifferent, kopierte er Lenaus Don Juan:
Mein Todfeind ist in meine Hand gegeben,
Doch dies auch langweilt – wie das ganze Leben,
und warf sein Dasein wie einen Federball in die Luft.
Das Tage-Buch, 6. September 1924
Anzengrubers »G'wissenswurm« unter der neuen Direktion Hans Felix in einer sauberen, ansprechenden Aufführung. Das Stück selbst zeigt bedenkliche Alterszüge; die sentimentalen, die »schelmischen« Partien (Szenen der Horlacher-Lies), beginnen ungenießbar zu werden, während der Düsterer sich in alter Frische hält. Seltsam, wie die lautersten Gerichte aus der Gemütskunde in ein paar Jahrzehnten ranzig werden, während ein Fünkchen Höllenfeuer noch nach Jahrhunderten knistert. Karl Ettlinger machte aus dem Dorf-Tartüffe den zappeligen, gefräßigen Teufel des Mysterienspiels, der schließlich von dem Tugendhaften geprellt wird und beherrschte den Abend.
Montag Morgen, 8. September 1924