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420.

Von Glücksrittern

Es gibt einen amerikanischen Spekulantenroman, in dessen Mittelpunkt ein Genie von einem Jobber steht, der ein an und für sich völlig schwindelhaftes Unternehmen so sehr durch die Skala der Möglichkeiten hetzt, daß es am Ende wieder ehrlich wird. Als man das so um 1915 herum zum erstenmal las, wunderte man sich nicht wenig. Seitdem sind Konjunkturen gekommen, gegangen und wiedergekommen, und eine jede brachte ihre Profiteure mit sich. Heute erscheint der verwegene Trick jenes Amerikaners als ein wohlgelungener kleiner Spaß, der längst keine Sensation mehr macht. Wir sind an stärkeren Tobak gewöhnt. Eine neue Art von Glücksrittern ist der Zeit entwachsen und plündert in gigantischen Ausmaßen. Der kleine Kommissionär, der in der Kneipe Geschäfte macht, die mit dem Strafgesetzbuch nicht recht übereinstimmen, der Graf von Habenichts, der, mit seinem abgeschabten Wappenschild equipiert, heiratslustige Witwen fleddert, der größenwahnsinnige Handlungsgehilfe, der mit falschem Adelstitel eine Woche im Paradiese lebt, bis ihn die Nemesis ereilt, alle diese Typen, die einst den lokalen Teil der Zeitungen bevölkerten und dem Leser ein Gruseln einjagten, ob der Zeiten Verderbnis, sie alle sind fast legendäre Gestalten geworden. Natürlich existieren sie noch immer, aber man macht nicht mehr viel Aufhebens davon. Die Strafkammer sorgt schnell und geräuschlos für Expedition; der Reporter notiert im Vorübergehen Namen, Delikt und Strafmaß, und der Fall ist erledigt.

Denn es ist ein neues Riesengeschlecht von Beutelschneidern entstanden, das sich, neben dem kleinen Kroppzeug, das einstmals im Halbdunkel neppte, ausnimmt, wie ein Brontosaurus neben Sumpfeidechsen. Das sind jene vom Blut des Wedekindschen Marquis von Keith. Die haben Energie, Courage, Ellenbogen, Intelligenz. Die verkriechen sich nicht, die brauchen volles Tageslicht, um zu prosperieren, und wenn nicht genug Statisten da sind, rufen sie mit Wilhelm II: »Mehr Volk!« Die patronisieren ganze Industrien, gründen und ruinieren abwechselnd Banken, geben kleinen Staaten das nötige Geld, um ihren jugendlichen Kulturwillen durch Anschaffung von Tanks und Giftgasen zu dokumentieren, machen Großmächte sich zinspflichtig, kaufen Zeitungen und Theater, monopolisieren die hauptstädtischen Kanalisationen, verlegen das Strombett des Euphrat, machen die Wüste Sahara urbar, devastieren an einem Vormittag ein Dutzend Valuten – – und stampfen doch alles aus dem Nichts. Wer weiß es, woher sie kommen? Sie sind da, sie sind überall da. Sie frühstücken mit Lloyd George, werden nachmittags von einer Filmdiva von internationaler Berühmtheit auf dem Rennplatz für das »Daily Graphic« photographiert, und sind am selben Abend schon beim Empfang im Elysée. In wenigen Jahren fegen sie über den ganzen Erdball, haben sämtliche Metropolen gebrandschatzt, und sind wieder ins Namenlose untergetaucht. Nichts kündet mehr von ihrem Wirken, als ein paar düstere Notizen über fruchtlose Bemühungen einer Untersuchungskommission. Höchstens, daß noch einer der Geprellten oder ahnungslos Mitschuldigen Blausäure nimmt. Aber zum Skandal kommt es selten. Die sonst so redselige Fama schweigt. Sie weiß warum.

In Wien hat man neulich den früheren russischen Staatsrat Rubinstein eingebuchtet, der einst in Petersburg als Präsident eines großen Bankunternehmens residierte, die intime Freundschaft weltberühmter Staatsmänner genoß und das Regierungsblatt, die »Nowoje Wremja«, aushielt. Nach der Revolution beglückte er zunächst Finnland mit einem kolossalen Rubelschwindel, trat dann in Paris und London als Finanzminister einer russischen konterrevolutionären »Regierung« auf und gründete schließlich Banken, so wie einer, der es nicht lassen kann. In Budapest, in Prag, in Berlin, in Wien. (Die in Berlin befand sich in der Friedrichstraße.) Zwischendurch machte er auch einen Abstecher nach Persien, um diesem zerrütteten Lande auf die Beine zu helfen. Zu seinem Verhängnis kolludierte er in Wien mit einem Finanztechniker gleichen Schlages. Das war unbedacht. Denn der Starke ist stets am mächtigsten allein. Der Geschäftsfreund fiel auf die Nase und zog unseren Rubinstein mit.

Der wird natürlich wieder aufstehen. Wird Wien verlassen und vielleicht in Moskau auftreten, um den Sowjetleuten zu zeigen, was eine Harke ist. Wird vielleicht auch in München eine neue vaterländische Bewegung stabilisieren, und niemand wird ahnen, daß der Nährvater Rubinstein heißt. Oder wird vielleicht dem Sultan von Samarkand devotest ein neues Projekt zur besseren rationellen Bewirtschaftung seines Harems vorlegen und von dem hocherfreuten Großherrn mit Diamanten und Perlen beschenkt werden. Der Chancen sind ja so viele.

Was für ein Stümper ist doch daneben der vielbestaunte Doktor Mabuse! Der drückt sich mit Gipsnase und Gummibauch herum, scharrt in Spielsälen Papiermark zusammen, und träumt davon, sich von dem Ertrag von tausend handgreiflich polizeiwidrigen Manipulationen, die jeder Schutzmann jeden Augenblick illusorisch machen kann, einstmals in der gut beheizten Gegend am Äquator sein eigenes Königreich zu errichten. Nein, verehrter Herr Doktor, Königreiche macht man nicht selbst, man kauft sie. Die sind ja so unendlich wohlfeil geworden. Und mit Krone und Zepter spielen nicht mehr die Monarchen, sondern die paar Leute, die für den Glanz der Dynastie und für das Wohlgedeihen der Republiken die erforderlichen Moneten vorschießen. Europa liegt unterm Hammer. Das Erbe von drei Generationen liegt zum Verschleiß da. Wer am frechsten unterbietet, nimmt den ganzen Trödel untern Arm und zieht davon.

Wieder einmal ist nach Shakespeares Worten die Welt die Auster, die von dem Mutigen geöffnet sein will. Aber man macht das nicht mehr mit dem Schwert, sondern mit der Kouponschere.

Berliner Volks-Zeitung, 8. Mai 1923

421.

Rüpelkomödie im Landtag

Schlau: Ei gewiß, das woll'n wir sehn. Es ist doch nicht eine Komödie, so 'ne Weihnachtsposse, so 'ne Luftspringerei?

Page: Nein, guter Herr, es ist ein feinerer Stoff ... So eine Art Historie.

Shakespeare, »Der Widerspenstigen Zähmung«

Der preußische Landtag ist in den letzten Tagen die Szene einer unflätigen Stegreifposse gewesen, wie sie der ärgste Feind des Parlamentarismus nicht kompromittierlicher ertifteln könnte. Es begann damit, daß der wohlbekannte Abgeordnete Katz die sozialdemokratische Fraktion mit »schmieriges Gesindel« apostrophierte, was die also Verunglimpften veranlaßte, den beredten Mund des Volkstribunen von Hannover mit Fausthieben zu schließen. Herr Katz wurde dann für eine Reihe von Sitzungen ausgeschlossen, erschien dessen ungeachtet, als wäre nichts geschehen, und wurde daraufhin polizeilich eliminiert. Seine Freunde legten Einspruch ein; es erhoben sich neue Krawalle, die damit endeten, daß in der Folge die gesamte kommunistische Fraktion von Beamten der Abteilung 1a aus dem Saal befördert wurde und gegen vier Abgeordnete ein Strafverfahren wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt und öffentlicher Beleidigung eingeleitet worden ist. So widerwärtig diese Vorgänge sind und so sehr sie geeignet erscheinen, durchaus nach dem Wunsch ihrer Urheber, den Parlamentarismus zu persiflieren, so wenig soll uns das davon abbringen, eine sachliche Stellungnahme dazu zu versuchen.

Die Obstruktion als parlamentarisches Kampfmittel ist sicherlich so alt wie der Parlamentarismus selbst. Ihr Sinn ist der, daß eine Minderheitsgruppe, mit Zähigkeit hart an der Grenze des geschäftsordnungsmäßig Zulässigen operierend, eine Beschlußfassung des Plenums zu verhindern, und wenn das nicht gelingt, immer von neuem aufzuhalten versucht. Versagen die im Rahmen der Geschäftsordnung sich bewegenden Methoden, so werden außerparlamentarische Mittel angewandt, um die Nerven der Mehrheit zu erschöpfen. Dann wird das Forum mit Bewußtsein auf das Niveau einer Kinderstube oder einer Kirchweih herabgedrückt. Diese verschiedenen Arten der Obstruktion sind wohlbekannt. In Deutschland haftet noch die Erinnerung an die berühmte, jetzt zwanzig Jahre zurückliegende Reichstagssitzung, in der die Sozialdemokratie die Verabschiedung des Zolltarifs inhibieren wollte, und der Abgeordnete Antrick mit einer Rede von 8 ½ Stunden es dennoch nicht fertig brachte, die Majorität mürbe zu machen. Eine gröbere Spezies war in den alten österreichischen und ungarischen Kammern beheimatet, wo allerdings die unselige Nationalitätenmischung von vornherein eine gereizte Atmosphäre schuf. Wenn dort die Dauerredner mit erschlafften Stimmbändern hinausgetragen wurden, trat man mit Kinderklappern, Blechinstrumenten und Feuerwerkskörpern ins Gewehr. Tintenfässer, Stuhlbeine und Pultdeckel flogen wie Schnupftabak im Raume umher, gelegentlich krachte ein Revolverschuß und kampfbegierige Fäuste lechzten danach, dem gegnerischen Nasenbein ihr Insiegel aufzudrücken.

Es ist bezeichnend, daß Volksvertretungen von alten und gefesteten Überlieferungen stets am freiesten von solchen Zwischenfällen blieben. Da regte man sich nicht weiter auf; frostiges Achselzucken wies die Radaumacher in die Schranken der Sitte zurück. Nur wo ein dünnblütiger Parlamentarismus sein Dasein einer Scheinkonstitution verdankte und der Absolutismus stets bereit stand, mit einem kurzen Auflösungsdekret den Boden der Tatsachen wieder einmal zu verändern, gedieh jene Überempfindlichkeit, die am liebsten bei jedem harmlosen Intermezzo die Exekutive von dem Präsidenten des Hauses auf den sprichwörtlich gewordenen Leutnant mit den zehn Mann übertragen hätte. So war es in der russischen Duma, wo der junge feurige Oppositionsredner Kerenski von zaristischen Gardisten aus dem Saal gestoßen wurde. So war es in dem preußischen Dreiklassenparlament, wo man gegen die reichlich harmlosen rhetorischen Excesse einer Handvoll Sozialisten ebenfalls die Polizei auf die Beine brachte. (Unter denen, die damals zwangsweise an die Luft gesetzt wurden, befand sich bekanntlich der heutige Landtagspräsident Leinert. Tempora mutantur!) Man kann nicht sagen, daß sich diese beiden Körperschaften deswegen hoher Achtung erfreuten. Man erblickte in der Mundtotmachung der Abgeordneten allgemein eine Regung bösen Gewissens.

Die Obstruktion in ihren mehr oder weniger ästhetischen Abarten ist also ein durch den Brauch gleichsam legalisiertes Kampfmittel. Das vergewaltigte Recht hat mindestens ebenso oft danach gegriffen, wie offenbare Willkür oder bösartige Disziplinlosigkeit. Deshalb müssen Präsidium und Mehrheit eines Parlamentes, wo sie solchen Versuchen zu begegnen haben, ein hohes Maß von Takt und politischer Klugheit walten lassen. Jedenfalls erscheint es uns vernünftiger, wenn das Haus selbst die Wahrung seiner Würde und Autorität in Anspruch nimmt, als daß die Organe des Staates zum Sukkurs herbeigerufen werden. Damit verzichtet das Parlament auf dasjenige Vorrecht, das es von allen anderen Körperschaften unterscheidet: auf seine Autonomie. Ganz davon abgesehen, daß auf diesem Wege gefährliche Präzedenzfälle geschaffen werden können. Denn Mehrheiten sind nicht ewig. Wer heute Subjekt der Macht ist, kann morgen schon ihr Objekt sein.

Zudem hat die Obstruktion, wie aller Parlamentarismus überhaupt, doppelten Sinn. Der Mann auf der Rednertribüne spricht ja nicht nur zu dem häufig schlummernden, öfter noch halbleeren Parkett des Sitzungssaales vor sich, sondern zu der großen unsichtbaren Menge außerhalb, zu den Wählermassen. Deshalb bezwecken die Obstruierenden nicht allein, Beschlußfassungen illusorisch zu machen, gewöhnlich erreichen sie nur Verzögerungen, sie beabsichtigen vielmehr die Öffentlichkeit aufzurütteln, auch dem Interesselosesten ad oculos zu demonstrieren, daß etwas geschieht, was alle angeht. Wenn natürlich nach dem Patent Katz gearbeitet wird, so läßt sich mit einiger Sicherheit annehmen, daß zwar ein hoher Grad von Aufmerksamkeit erreicht wird, daß aber die Wirkung eine andere sein dürfte, als sie sich die Skandalstrategen träumen lassen.

Damit ist aber auch für Präsidium und Mehrheitsparteien die Richtschnur gegeben. Zeigt man den Provokateuren die kalte Schulter, so werden sie nach einigem Murren und Zetern sich schließlich einfügen. Tut man ihnen dagegen den Gefallen, wie es jetzt im Landtag geschah, erst mit gleicher Münze zu zahlen und dann die Polizei zu holen, so bleibt die sehr wohltätige Isolierung der kommunistischen Fraktion aus und das Odium der Lächerlichkeit haftet an dem ganzen Hause. Wenn der Abgeordnete X. die unbezwingliche Lust verspürt, sich plötzlich als Tierstimmenimitator zu produzieren und seine Plattfußeinlage als Bumerang zu benutzen oder wenn die Abgeordnete Fräulein Y., durch einen groben Zuruf gereizt, danach trachtet, dem Kollegen Z. die Korsettstange ins strahlende Auge zu bohren, so sollte das letzte Wort in derartigen Affären den Witzblättern gehören und nicht den Gerichten. Denn die Politik hat ohnehin ihren eigenen Knigge.

Berliner Volks-Zeitung, 9. Mai 1923

422.

Weltreaktion Ihr Unsinn und ihr Sinn

Am Himmelfahrtstage wurde in Toulouse Joseph Caillaux von einigen aufgeregten Mitbürgern tätlich angegriffen und schwer mißhandelt. Das war am gleichen Tage, da in Lausanne der russische Delegierte einem terroristischen Attentat zum Opfer fiel.

Caillaux' Angreifer zählen zu den »Camelots du roi«, dieser oft widerwärtig zur Erscheinung gekommenen Kampftruppe der französischen Reaktion. Der Mörder Worowskys ist ein russifizierter Schweizer oder ein helvetisierter Russe, ganz klar ist das im Augenblick noch nicht festgestellt und auch für die politische Bewertung der Tat ziemlich belanglos. Worauf es ankommt, ist, daß die Kugeln dem Vertreter eines sozialistischen Staates galten.

Es preßt sich ein breiter schwarzer Gürtel enger und enger um die alten und neuen Demokratien Europas. Es liegt allerorten ein dumpfes Mißbehagen in der Luft, unsichtbar, ungreifbar und dennoch da. Die Formeln des historisch gewordenen demokratischen Parlamentarismus attrahieren nicht mehr recht; die Parlamente weisen mehr oder minder Zeichen von Altersschwäche auf, die nicht an bestimmte Personen gebunden, sondern irgendwie dem System als solchem immanent sind. Und die Hoffnung von 1919, die Idee der Sowjets? Noch wehen zwar auf dem Kreml Rotrußlands Fahnen, noch muß der Bolschewik in der ganzen Welt als Kinderschreck herhalten. Aber der Leninismus liegt auf dem Krankenbett, siech und der Sprache beraubt wie sein Meister. Durch Hintertüren und verbotene Eingänge kehren die Sendboten des mit vieler Mühe ausgerotteten kapitalistischen Industrialismus wieder zurück.

Die alten Quellen sind versiegt, die neuen hat ein gewaltiger Steinschlag verschüttet. Wohin soll die Menschheit hoffend und glaubend ihre Blicke richten?

Kein Land gibt es, das nicht unter den wirtschaftlichen Erscheinungen der Nachkriegszeit litte. Durch den Friedensvertrag sind alte Reiche ökonomisch und territorial depossediert worden. Sie bilden in ihrem kläglichen Zerfall eine immer tätige Keimzelle von Fäulnis und Unruhen. Dagegen sind junge Staaten entstanden, die in territorialer Überfütterung sich kindlich-kraftmeierisch gebärden; ihre Machtansprüche sind groß, ihr Fundus an Gut und Arbeitskraft ist gering. Ihr jugendfrisches Freiheitsgefühl lebt sich im wesentlichen in Versuchen aus, andere zu unterdrücken. Sie sind stärker im Erobern, denn im Produzieren, jedenfalls kein stabiles Element im Gefüge Europas.

Die Völker fühlen sich als Spielbälle von Kräften, die sie nicht verstehen. Sie fürchten die kommunistische Drohung, sie erschauern unter dem gigantischen Anschwellen des Großkapitalismus. Der Standard der allgemeinen Lebenshaltung sinkt immer tiefer unter das von altersher gewohnte Niveau. Die Heilkundigen der Politik, welcher Schule sie auch angehören mögen, genießen kein Vertrauen mehr. Es ist eine stehende Erfahrung: wo der Arzt in Mißkredit gekommen ist, schleicht der Scharlatan ins Haus. Und die moderne politische Scharlatanerie kristallisiert sich in dem vielfarbigen, vieldeutigen Begriff: Fascismus.

Was ist der Fascismus? Zunächst ein Ausverkauf kleinbürgerlicher Ideologien und Illusionen von vorgestern. Gedankenspäne, die längst vom Wirbel der Zeit in alle vier Winde zerstreut schienen und die sich heute von neuem zu einer gefährlichen Masse zusammengefunden haben. Der Fascismus ist die machtgewordene Furcht des von kapitalistischen und sozialistischen Extremen in seiner Existenz bedrohten und durch die Schieberepochen seit 1914 materiell und moralisch geschwächten Bürgertums.

Diese Stimmung ist eine internationale. In Italien, wo die Gefahr am geringsten war, die Kommunisten sich aber am großmäuligsten gebärdeten, hat sie zuerst zum Siege geführt. Sie hat ihren Niederschlag gefunden im ungarischen Horthy-Regime, sie durchdringt mählich das verelendete Österreich, nationalistisch, antisemitisch und monarchistisch aufgemacht, wiegelt sie in Deutschland die Opfer der sozialen Umschichtung gegen die Republik als Statthalterin der »goldenen Internationale« zu einem grobdrähtigen Aktivismus der geballten Faust auf. Sie hat als militaristisch-imperialistische Wahnvorstellung Frankreich okkupiert und hat selbst die kleine friedliche Schweiz in eine krankhafte Sozialistenangst hineingehetzt, die bereits seit längerem die Grundlage dieser ehrwürdigsten und urtümlichsten aller Demokratien unterhöhlt.

Wo die Männer versagen, da ruft man nach dem Mann. Der Fascismus, der überall anders, überall in neuer nationaler Vermummung auftritt, weist in allen Ländern diesen einen gemeinsamen Wesenszug auf: die Sehnsucht nach dem Diktator. Die erschlafften Völker suchen nach einem Hirn, das für sie denkt, nach einem Rücken, der für sie trägt.

Soweit die Bestandsaufnahme. Etwas anders aber sieht es aus, wenn man fragt: Cui bono? Denn soziale Revolutionen und Evolutionen lassen sich nicht einfach ungeschehen machen. Die Zeit läßt sich nicht wie in der genialen Phantasie des Henry George Wells beliebig vor- und zurückstellen. Man kann Probleme nicht dadurch lösen, daß man sie ignoriert. Daran scheitert auch die fascistische Weltreaktion. Sie trägt ihren Richter in sich in ihrer Kritiklosigkeit, in ihrer ungebundenen Hoffnung auf » den« Mann.

Herr Mussolini, der neue Rienzi, hat bisher zwar mit pompösen Schaugeprängen die Augen seines Volkes zufriedengestellt, aber nicht den Magen. Er hat die schüchternen Sozialisten geduckt, aber nichts gegen den Kapitalismus unternommen. An dem Tage, wo er es versuchen wollte, würde er wie seine antiken Vorbilder vom tarpejischen Felsen gestürzt werden. Das ist die ironische Folie des Fascismus, daß er bei aller Deklamation gegen den Großkapitalismus gegen diesen nicht nur völlig ohnmächtig ist, sondern sogar als dessen Kreatur wirkt. Er macht ihm erst recht die Bahn frei. Das fascistische Wirtschaftsprogramm erweist sich vor den rauhen Tatsachen als Seifenblase. Das Schwarzhemd, das Hakenkreuz und alle die anderen Insignien der alt-neuen Ideologie, wem nützen sie? Niemandem als dem werdenden Industriefeudalismus, der an die Stelle der zermürbten Staatsautorität tritt, die »Diktatoren« gelassen beiseite schiebt und die enttäuschten, führerlos gewordenen Massen endgültig unter sein Joch bringt. Der Fascismus kämpft für das, was er Ordnung nennt, mit den Waffen der Anarchie. An diesem Widerspruch in sich muß er zugrunde gehen.

Sein Sinn wird offenbar in den kolossalen sozialen Umformungen unserer Tage. Sein Unsinn in der Wahl seiner Mittel und seinem Mangel an realen Zielen.

Aus der Katastrophe der Weltreaktion wird die neue Weltdemokratie erstehen.

Dafür wollen wir leben.

Berliner Volks-Zeitung, 13. Mai 1923

423.

Von Müller bis Roßbach

Innere Politik unter Cuno

Am 24. November 1922 stellte sich das Kabinett Cuno dem Reichstag vor. Unter den neuen Herren auf der Ministerestrade befand sich ein sicherer Müller aus Bonn, der sich seine politischen Sporen im rheinischen Separatismus erworben hatte. Einen Tag später war der in eine prononziert nationale Regierung verwehte Dorten-Jünger verschwunden. Aber man fragte erstaunt, wie ein solches Intermezzo auch nur für eine Sekunde hatte möglich werden können. Die Antwort lautete damals: Ja, meine Herrschaften, schließlich ist der Reichskanzler ein Neuling im Parteigetriebe; seine Personalkenntnis ist eben noch gering – aber es wird schon werden!

Am 14. Mai 1923 gab der Reichsinnenminister die Erklärung ab, daß der Reichskanzler vor einiger Zeit den Bandenführer Roßbach empfangen habe, der ihm bis dahin nicht einmal dem Namen nach bekannt gewesen sei; auch über die Organisation der Deutschvölkischen Freiheitspartei habe der Reichskanzler erst näheres anläßlich der Verhandlung vor dem Staatsgerichtshof erfahren.

Im Laufe etlicher Monate hat sich also die Personalkenntnis des verantwortlichen Leiters der deutschen Politik nicht übermäßig erweitert.

Im November konnte man noch sagen, der Reichskanzler sei ein hervorragender Wirtschaftsmann, wenig vertraut mit der trüben Chronik politischer Querelen.

Im Mai kann man von dieser peinlich wohlwollenden Einschränkung keinen Gebrauch mehr machen. Man kann nicht immer von neuem die Litanei von dem politischen Greenhorn herunterleiern oder damit trösten, daß die Regierung außenpolitisch zu stark engagiert sei, um die innerpolitischen Fragen gebührend zu behandeln.

Man kann also nicht immer sagen: »Es wird höflichst gebeten, nach dem Herrn am Klavier nicht mit Messern zu werfen, er tut sein Bestes.«

Denn eine Regierung kann nicht dauernd von mildernden Umständen leben.

 

Die Regierung Cuno hat außenpolitisch das Erbe Bethmanns ins Nichts zerrinnen lassen, wirtschaftspolitisch die Spekulantenoffensive gegen die Mark nicht hemmen können, innenpolitisch der Reaktion in unerhörter Weise Oberwasser verschafft.

Die Republikanisierung der Verwaltung, unter Köster, wenn auch kaum mit großem Elan, begonnen, ist zum Stillstand gekommen. Bayern zählt kaum noch nominell zum Reiche. Der Kampf gegen den Rechtsradikalismus wird von Preußen und den Bundesstaaten mit Linksmehrheit geführt.

Es wäre verfehlt, den Reichsinnenminister deswegen zur Zielscheibe zu machen. Herr Oeser steht in der Regierung als republikanischer Vorposten. Er steht isoliert. Wer sollte sich außer ihm für die Republik interessieren? Herr Cuno, der den Namen Roßbach noch nicht gehört hat, Herr Dr. Becker, der Garant der rechten Volksparteiler? Nein, Herr Oeser steht auf verlorenem Posten.

 

Kürzlich fanden im Rechtsausschusse des Reichstages Verhandlungen statt wegen des Nationalfeiertages. Dabei wurde natürlich von Seiten der Linksparteien, gemäß dem Regierungsentwurf (!), das Verlangen ausgesprochen, daß an diesem Tage die öffentlichen Gebäude zu flaggen hätten. Es kam zu einer etwas merkwürdigen Debatte, über die damals die »Republikanische Presse« berichtet hat. Wir müssen heute darauf zurückgreifen.

Das Innenministerium vertrat der Staatssekretär v. Welser, der sich angesichts des Wunsches der Verfassungsparteien wie der heilige Laurentius auf dem Roste krümmte. Er verwies auf die hohen Kosten, die durch die Anschaffung von neuen Fahnen entständen. Man kennt ja Weise und Text: Die Linke ließ sich nicht abschrecken. Die demokratische Abgeordnete Frau Lüders meinte, man könnte die Fahnen ja färben, worauf der Herr Staatssekretär erklärte, daß die Chemikalien zu teuer seien. An und für sich sei die Verwaltung unpolitisch und deshalb läge auch kein Zwang vor, die Verwaltungsgebäude zu flaggen. Auch taugten die Chemikalien heute nichts mehr und es bestünde also die Gefahr, daß die Fahnen bald die Farbe verlören. Das veranlaßte die Abgeordnete Frau Lüders zu dem schlagfertigen Zwischenruf: »Auf Sie färbt auch die schlechteste schwarzrotgoldene Fahne nicht ab!«

 

Nochmals: eine Regierung kann nicht dauernd von mildernden Umständen leben. Der Regierung Cuno ist innenpolitisch viel konzediert worden. Aber es gibt auch hier eine Grenze.

Wir fragen: Ist es zum Beispiel wahr, daß der Staatssekretär v. Welser erst kürzlich dem Johanniterorden beigetreten ist, dieser ausgeprägt monarchistischen Institution?

Sollte das der Fall sein, so ist dieser Herr nicht einmal für das gegenwärtige Kabinett ertragbar, dessen republikanischer Farbenauftrag doch wahrhaftig dünn genug ist.

Berliner Volks-Zeitung. 16. Mai 1923

424.

Die grüne Bastion

Wer seinen Shakespeare noch im Kopf hat, weiß, daß der böse Macbeth, der Hexenprophezeiung vertrauend, ihm könne niemand etwas anhaben, ehe nicht der Birnamwald gegen Dunfinau ziehe, sich vor dem Ansturm seiner Feinde gelassen in seinem Raubnest einschloß.

Man wird ein wenig daran erinnert durch die Rede, die ein radikaler Deputierter vor einigen Tagen in der französischen Kammer hielt. Margaine, also ist der Name dieser parlamentarischen Astrallampe, machte nämlich den Vorschlag, die französische Ostgrenze durch eine dichte Waldzone zu sichern, da, wie der Krieg bewiesen habe, nicht Flüsse, sondern Wälder einen feindlichen Vormarsch am sichersten aufzuhalten geeignet seien.

Wenn das ein Verzicht auf die Rheingrenze sein soll, gut, wir nehmen gern davon Notiz. Aber Herr Margaine, der die Lehren des Krieges so trefflich beherzigt, scheint weder etwas von Ferngeschützen noch von Gasmunition zu wissen. Aus einer andern Kriegserfahrung ergibt sich auch, daß ausgedehnte Wälder in der Kampfzone mit bemerkenswerter Geschwindigkeit in eine Siegfriedstellung oder so etwas ähnliches umgewandelt werden können.

Bemerkenswert bleibt also nur, daß die Natur in Zukunft endgültig strategischen Zwecken unterworfen werden soll. Wenn Goethe sagt:

Gottes ist der Orient,
Gottes ist der Okzident!
Nord- und südliches Gelände
ruht im Frieden seiner Hände,

so ist der Generalstäbler darin völlig anderer Meinung. Dem bedeutet die blühende Weißdornhecke lediglich den richtigen Platz für eine Maschinengewehrstellung, und die ehrwürdige alte Ulme ein Versteck für einen Beobachter. Aber auch das soll Vergangenheit werden, denn künftighin soll nicht allein das benutzt werden, was Gott hat wachsen lassen, nein, die Vegetation selbst hat sich den strategischen Bedürfnissen anzupassen. Die Schöpfung soll kommandiert und reglementiert werden.

Ein Trost nur: wo der Militarismus hinkommt, wächst kein Gras, geschweige denn ein Urwald.

Berliner Volks-Zeitung, 25. Mai 1923

425.

Barlach »Der tote Tag«

Neues Volkstheater

Die Theaterdichtung ist also doch noch nicht tot. Der gestrige Abend war eine Wiederkehr des Dramas. Da wiederholte sich der alte Vorgang, daß jedesmal, wenn das Theater siech und erschöpft daniederliegt, plötzlich ein Außenseiter kommt, ein tapferer Kerl, der von ästhetischen Gesetzen nichts weiß, erst recht nichts vom Gezänk der Richtungen und auf seine Weise ein Stück Menschenerlebnis schlecht und recht formt. Das mag unbehauen sein, technisch unzulänglich ... aber die Blutserneuerung des Theaters hat immer so angefangen. Ich weiß nicht, ob der große Bildhauer Ernst Barlach ein wirklicher dramatischer Schöpfer ist, aber aus diesem Werk weht wie aus den »Sedemunds« ein Hauch freier, urtümlicher Menschlichkeit.

Dieser »Tote Tag« ist die Tragödie der egoistischen Mutterliebe, jener verweichlichenden Liebe, die den Sohn von der Welt abschließt, für ein eigenes Sein unfähig macht und im entscheidenden Augenblick, in herzlose Grausamkeit umschlagend, mit brutaler Faust seine Träume zerstört. Bei Barlach entwickelt sich das alles fern von jedem Realismus in einer phantastischen Sphäre, in der der Mensch mit Traumgestalten ringt und die grauen, verwitterten Wände zu reden beginnen. Aber diese Abkehr vom Realismus bedeutet nicht Verzicht auf die Natur. Die lebt und atmet, und das panische Element spricht aus den skurrilen Trollfiguren der Hausgeister und gewinnt Gestalt in dem mystischen Sonnenroß Herzhorn, um das Mutter und Sohn kämpfen.

Unter Paul Günthers Regie war eine im einzelnen nicht ausbalancierte, im ganzen ungemein stimmungsvolle Vorstellung zustande gekommen, die den grüblerischen und halluzinatorischen Stimmungscharakter des Werkes sicher erfaßt hatte. Vielleicht wäre es angebracht, nicht mit solcher Verve einzusetzen und gelegentlich das Tempo zu beschleunigen, namentlich aber die nächtliche Szene mit der Erscheinung des Alb nicht so breit auszuspinnen. Denn das Grauen wirkt nur gering dosiert, allzu reichliche Rationen erzeugen nur zu leicht das Gegenteil.

Agnes Straub, der nur zu oft Aufgaben zuteil werden, die ihr nicht liegen, brachte für die Rolle der Mutter diesmal eine erschütternde Konzentration mit. So blieben ihre wildesten Ausbrüche gebändigt, und es zerflatterte nicht ein Wort. Es spricht für Carl Ludwig Achaz' junge Kraft, daß er sich neben dieser Partnerin behauptete. Außer ihnen: Aribert Wäscher, ein milder Apostel der Entsagung, Armin Schweitzer, ein struppiger, stülpsnasiger Hausgeist, Leonhard Steckel, ein Alb von bannender Schwere. Und Fränze Roloff, die den unsichtbaren Gnom sprach mit einer Stimme, in der eine Legion Teufel kicherte. Mit Recht holte der stürmische Schlußbeifall diesen kleinen schwarzen Dämon aus seinem Kulissenversteck hervor.

Berliner Volks-Zeitung. 25. Mai 1923

426.

Der Ritt über den Bodensee

Herr Poincaré hat in der letzten Kammerdebatte den Satz geprägt, der Finanzkredit eines Landes hänge von seinem moralischen Kredit ab. Als Deutscher kommt man selten genug in die Lage, dem französischen Ministerpräsidenten einmal zuzustimmen. Wenn es hier mit ganz besonderem Nachdruck geschieht, so deshalb, weil in dieser prägnanten Äußerung die tiefste Ursache des deutschen Elends von heute schonungslos aufgezeigt wird. Es ist gelegentlich sehr nützlich, beim Gegner in die Schule zu gehen. Und gerade der gehässigste und bissigste Gegner erweist sich häufig als vorzüglicher Pädagoge.

Deutschlands moralischer Kredit in der Welt? Eine fundamentale Frage, auf die draußen stets mit Achselzucken geantwortet wird, in günstigstem Falle mit bedauerndem Lächeln. Diesem ist Deutschland zu kapitalistisch und nationalistisch, jenem zu »rot«. Die einen nehmen Ärgernis an den reaktionären Strömungen, den anderen treibt der Gedanke an die hervorragende Position der Sozialisten das Schlottern in die Gebeine. Wahrheit ist, daß einzelne politische und soziale Schichten Deutschlands bei den ihnen politisch und sozial entsprechenden Schichten des Auslandes Sympathie genießen, daß aber das politische Gebilde Deutschland, der Staat Deutschland, in einer Isolierung sein Dasein fristet, als befände er sich nicht mitten in Europa, sondern auf Robinsons Eiland.

Alle Schätzung und Hochachtung, die der deutsche Staat nicht genießt, wird dagegen der deutschen Wirtschaft, insbesondere der Schwerindustrie, in reichem Maße zuteil. Die deutsche Schwerindustrie bedeutet für die Welt eine Großmacht, sie wird als das eigentliche Deutschland angesehen, als das verhandlungsfähige Deutschland, als das Deutschland, mit dem man Geschäfte machen kann. Das erklärt auch, weshalb die Ruhrokkupation bei den Neutralen so geringe Bewegung losgelöst hat. Wir sehen darin die Mißhandlung eines wehrlosen Volkes durch einen eisenstarrenden Militarismus. Die unparteiischen Beobachter aber erblicken darin den Kampf einer Großmacht gegen die andere. Und sie sind sich durchaus nicht einig, welche von den beiden eigentlich die wichtigere Kampfpotenz darstellt: die französische Regierung mit ihrem kolossalen kriegerischen Aufgebot oder die deutschen Kohlen- und Eisenherren, die sich vor der drohenden Gewalt in ein kaltes Nein verkapseln. Man sieht also in dem Ruhrkampf vornehmlich nicht brutale Niederbüttelung eines Schwachen durch einen Starken, sondern das Ringen zweier Ungeheuer, verschiedenartig in äußerer Beschaffenheit und Waffenausrüstung, gleich dennoch im Machtwillen.

In dem Handicap zwischen Staat und Wirtschaft ist der Staat keuchend auf der Strecke geblieben. Er hat das Rennen längst aufgegeben und belustigt sich seitdem mit dem harmlosen Gesellschaftsspiel der Notenpresse. Die Wirtschaft hat es nicht nötig, sich wie der kleine Moritz die Visitenkarten mit Stempeltypen selbst zu drucken. Durch ihre in allen Stücken konsequente Politik ist die Mark zum Zahlungsmittel der armen Schlucker geworden. Was für ein Vertrauen aber kann eine Währung genießen, die von den industriellen und kaufmännischen Machtfaktoren des eigenen Landes, von den Faktoren also, auf die es ankommt, kaum mehr als ein übelgelungener Spaß bewertet wird?

Inzwischen zerfetzt die Teuerungswelle die letzten längst erschütterten Dämme, und die Spekulation kurbelt dazu die Windmaschine an. Die sechsstellige Zahl hat die tiefe mystische Bedeutung von einst verloren. Der Markmillionär führt mit platzendem Portefeuille im Kaffeehaus und an der Ladenkasse klägliche Krösusparodien auf. Wir befinden uns mitten in österreichischen Zuständen, das Schreckgespenst der Verösterreichung, das oft genug mitten am hellen Tage im deutschen Hause herumspukte, hat sich nun endgültig bei uns niedergelassen. Wir bezahlen diese Einbürgerung mit unserm Brot und bekommen dafür Papier.

Die Verelendung schreitet fort. Die großen, wohlorganisierten Arbeitnehmerverbände, die eine nicht zu übersehende Autorität bedeuten, sind noch halbwegs in der Lage, durch eine energische Lohnpolitik die depravierenden Folgen des Markverfalls zu kompensieren. Aber die anderen, die zahllosen Einzelexistenzen ohne ökonomischen Rückhalt? Sie »stellen sich um«, oder wenn ihnen Mittel und Anpassungsfähigkeit abgehen, geraten sie erbarmungslos zwischen die Mühlsteine. Eine ungeheure Erbitterung schwelt allerorten. Die Opfer der Konjunktur sinken ins Namenlose, aber sind nichtsdestoweniger da. Sie sind eine furchtbare Warnung.

Seit der Mißerfolg der Markstabilisierung eklatant geworden ist, wahrt die Regierung strengstes Inkognito. Sie hat es scheinbar aufgegeben, sich für das deutsche Zahlungsmittel zu interessieren und läßt den Dingen ihren Lauf. Von ihrem Standpunkt aus vielleicht mit Recht. Denn es geht gar nicht darum, vermittelst einiger Sonderverordnungen für den Geldmarkt, die von den großen Dollarelefanten doch zertrampelt werden, ein paar obskure Devisenhyänen einzufangen. Es geht darum, die Wirtschaft wieder vernunftgemäß einzugliedern und dem Staat von neuem unterzuordnen.

Das ist also die Aufgabe, die Rathenau bei seinem blutigen Ende eben angefaßt hatte, an der Wirth gescheitert ist und zu deren Lösung den Herren Cuno, Becker und Hermes, auf die es hierbei hauptsächlich ankommt, ihrer ganzen Mentalität nach jede Voraussetzung fehlt. Herr Dr. Cuno, vor kurzem selbst noch aktiver Wirtschaftskapitän, Herr Dr. Becker, bis zu seiner Berufung schwerindustrieller Syndikus, Herr Dr. Hermes, Schwiegersohn eines industriellen Magnaten, sie alle sind ja schon rein stimmungsmäßig gar nicht in der Lage, das Problem so zu sehen, wie es der Majorität der deutschen Bürger und Arbeiter sich erschrecklich genug repräsentiert. Für sie ist es etwas durchaus Natürliches, daß die Großindustrie neben dem Staat gleichberechtigt steht. Danach haben der Kaufmann Cuno und der Syndikus Becker immer gestrebt. Daß aus der Gleichberechtigung eine Überordnung der Wirtschaft geworden ist, wird dem Reichskanzler Cuno und dem Finanzminister Becker keine besonderen Kopfschmerzen verursachen. Es bleibt deshalb ein Akt von tiefer symbolischer Wahrheit, daß die einzige Regierungshandlung des Farblosesten aller Reichskanzler, die so etwas wie individuelle Züge aufwies, jener Brief an die deutsche Nation war, in dem er Arm und Reich größere Mäßigkeit in Speise und Trank sowie fleißige Körperbewegung mit beredten Worten anempfahl. Damit wären wir also wieder bei der Weisheit des vor zwanzig Jahren berühmten Kohlrabiapostels gustaff nagel angelangt. Auch der Hochkapitalismus sans phrase kommt zu keinem anderen Schluß als der kleine barfüßige Wüstenprediger.

Einstweilen aber leben wir dahin, halb Kinderspiel, halb die letzten Kurse im Herzen. Im Westen, dort wo die Franzosen stehen, steigt die Not und flackert der Aufruhr. Oft schon seit 1914 hat das deutsche Volk jenem Manne geglichen, der bei Nacht und Nebel über die Eisdecke des Bodensees geritten war, ohne zu ahnen, in welcher Gefahr er sich befand. Wer weiß, ob es diesmal nicht unter unseren Füßen krachen wird.

Berliner Volks-Zeitung, 27. Mai 1923

427.

»Nie wieder Krieg!«

Der Rundlauf einer Parole

Am Sonntag den 29. Juli soll in Berlin im Lustgarten die diesjährige »Nie wieder Krieg«-Demonstration stattfinden, ebenso wie in zahlreichen größeren und kleineren Städten im Reich. Wenn mich der Herausgeber der »Friedens-Warte« ersucht, einiges über den bisherigen Verlauf der Bewegung zu schreiben, so komme ich dieser freundlichen Aufforderung gern nach, befinde mich jedoch in einiger Verlegenheit. Denn »Nie wieder Krieg!« ist niemals eine Organisation gewesen, vielleicht kaum das, was man so gemeinhin eine Bewegung nennt, sondern nur eine Parole, deren Lauf schwer genug zu kontrollieren ist.

Die Idee selbst ist geboren worden an einem Herbstabend des Jahres 1919. Wir waren damals zusammengekommen auf Einladung Karl Vetters, des politischen Redakteurs der »Berliner Volkszeitung«. Anwesend waren u.a. Dr. E. J. Gumbel, Prof. Nicolai, Hauptmann a.D. Willy Meyer, Dr. Kurt Tucholsky und einige andere Herren, deren ich mich nicht mehr erinnere. Zweck der Aussprache war das Projekt der Gründung eines Kriegsteilnehmer-Verbandes von ausgesprochen antimilitaristischer Tendenz. Während die Chancen eines solchen erwogen wurden, sagte Karl Vetter plötzlich, es gehöre zu den Aufgaben einer derartigen Organisation, jedes Jahr am Tage des Kriegsausbruches durch eine gewaltige Kundgebung die Bedeutung dieses schwarzen Tages immer wieder von neuem festzulegen, als Erinnerung an eine fälschlich »große Zeit« genannte Epoche und als Stück politischer Pädagogik für die heranwachsende Jugend überhaupt. Man müßte, meinte er, dafür eine packende, einprägsame Parole finden, wie etwa »Nie wieder Krieg!« Dieses Wort hatte über der Sonderausgabe der »Berliner Volkszeitung« vom 4. Juli 1919 gestanden. Die Autorschaft ist übrigens später noch von manchen Anderen beansprucht worden. Übrigens hat auch Maximilian Harden sein Erstgeburtsrecht angemeldet. Ich glaube nicht, daß das festzustellen wäre. Dergleichen liegt in der Luft.

Der »Friedensbund der Kriegsteilnehmer« ist damals gegründet worden und inzwischen wieder vergangen. Er hat in den Monaten vor und nach dem Kapp-Putsch, namentlich in Berlin, tüchtig gearbeitet. Daß er sich nicht dauernd hielt, lag im wesentlichen an den Kämpfen zwischen den drei sozialistischen Parteien, die die besten Kräfte der deutschen Linken absorbierten. Aus ihm hervorgegangen ist im Sommer 1920 der Aktionsausschuß »Nie wieder Krieg!«, eine sehr kleine Gruppe von aktiven Menschen aus den verschiedenen pazifistischen Organisationen. In der Hand dieses Komites hat, unter dem Vorsitz von Karl Vetter, die Veranstaltung der alljährlichen Demonstrationen gelegen. Und es ist zu sagen, daß seit 1920 jedes Jahr ein Wachsen zu beobachten war. In vielen deutschen Städten arbeiten Pazifisten kameradschaftlich zusammen mit Sozialisten und Gewerkschaftlern verschiedener Richtung. Besonders erfreulich ist, daß sich auch der große Kriegsbeschädigten-Verband und der Reichsbund ehemaliger Kriegsgefangener, politisch streng neutrale Verbände, mit großem Eifer angeschlossen haben; ebenso wie die Syndikalisten, die sich sonst so konsequent abseits halten.

Ohne Zweifel haben diese Kundgebungen eine nicht zu unterschätzende Bedeutung gehabt. Sie wurden in der ganzen Welt, überall wo man sehen und hören konnte und wollte, als Ausdruck des Friedenswillens des deutschen Volkes gewertet und haben manches Vorurteil über Deutschland beseitigt. Inwieweit das deutsche Beispiel im Ausland Nachfolge gefunden hat, läßt sich im einzelnen nicht ohne Schwierigkeiten feststellen. Es fehlte an Kommunikation; es war ja keine Zentralinstanz da, die Direktiven gab, es stand kein internationales Sekretariat dahinter, nur eine arbeitsfreudige Gruppe von Menschen, die ihre persönlichen Beziehungen ausnutzten, um anzuspornen und die Idee weiterzutreiben. In Frankreich hat sich zunächst der Kreis um Barbusse emsig bemüht, später hat die Liga zur Wahrung der Menschenrechte ihren großen Einfluß in die Wagschale geworfen. Für England hat im vorigen Jahre Herr Runham Brown die Organisierung übernommen; bemerkenswert ist auch, daß die dortige Völkerbundliga sich rege beteiligt. Zusammenfassend läßt sich ohne Übertreibung sagen, daß in den vergangenen beiden Jahren sich wohl kein einziges europäisches Land ausgeschlossen hat und auch Amerika sich in diesem Falle wenigstens nicht aus dem Konzert der Völker ausgeschlossen hat.

In diesem Jahre wird zum erstenmal versucht, über die Landesgrenzen hinaus den Kundgebungen eine gewisse gemeinsame Struktur zu verleihen. In Deutschland treten zum erstenmal Sozialdemokratie und Gewerkschaften offiziell dem Aktionskomité bei. Das ist von einer kaum zu überschätzenden Bedeutung. In England arbeitet Herr Runham Brown, und die Labour Party wird ihre besten Männer als Redner stellen und ihre Massen mobilisieren. Die französische Liga zur Wahrung der Menschenrechte, die in der ungeheuren Spannung der letzten Monate durch ihr mutiges Auftreten zu einem wichtigen politischen Faktor geworden ist, wird die Gelegenheit wahrnehmen, um der Reaktion zu zeigen, daß es ein friedenswilliges Frankreich gibt. Übrigens ist noch zu erwähnen, daß sich neuerdings in der im kommunistischen Fahrwasser treibenden Kriegsteilnehmer-Bewegung eine Sezession bemerkbar macht, die darauf hinausläuft, in dieser Frage mit den Pazifisten der Liga zusammenzugehen.

Ich versuche zu resümieren: drei Jahre Arbeit für »Nie wieder Krieg!« haben bewiesen, daß breite Schichten der Bevölkerung, insbesondere der sozialistischen Arbeiterschaft sehr wohl für den Pazifismus zu erfassen sind, wenn auch nicht organisatorisch, so doch für die Idee. Kein nationales Banner, kein Sowjetstern kann verhindern, daß die Sehnsucht nach Frieden in den Massen spontan durchbricht, wenn durchaus undoktrinär und überparteilich ein ganz schlichter unmißverständlicher Satz an die tiefsten menschlichen Wünsche rührt, und ein von den Lavamassen vulkanischer Zeit fast verschüttetes Gut für Augenblicke ans helle Tageslicht hebt.

Die Friedenswarte, Juni 1923

428.

Der Weg nach dem Osten

Neuorientierung an Rußland?

Der demokratische Kultusminister von Baden, Professor Dr. Hellpach, gehört unbestreitbar zu den unabhängigen und mutigen Köpfen, die, frei von allem Konservativismus, der in der bürgerlichen Demokratie Deutschlands mit so bedenklicher Beharrlichkeit nistet, sich neuen Gedanken nicht verschließen. Deshalb scheint ein Irrtum Hellpachs in mancher Beziehung uns noch fruchtbarer zu sein als die billige Selbstverständlichkeit, mit der manch andere recht behalten, einfach, weil sie über Allgemeinheiten nicht hinwegkommen. Wir schicken das voraus, weil wir im folgenden gegen einen Gedanken Hellpachs Stellung nehmen müssen, den dieser jüngst in Karlsruhe in einem Vortrag entwickelt hat.

Hellpach trat darin mit Lebhaftigkeit ein für eine germano-slawische Kulturgemeinschaft. Wir stimmen ihm durchaus zu, wenn er betont, daß Deutschland niemals wieder zum Degen eines anderen wider Rußland werden dürfe, aber wir müssen widersprechen, wenn er ausführt, daß in Deutschland schon jetzt ein ähnlicher Entwicklungsvorgang wahrzunehmen sei, wie in Rußland, was in der Folge über alle westliche Demokratie hinausführen müsse. Schon heute sei Deutschland fast ein » verkappter Rätestaat«, und das müsse in legale Formen gebunden werden.

Hellpach übersieht dabei, daß in Rußland noch alles im Fließen begriffen ist. Wenn die augenblickliche Tendenz weiter um sich greift, dann bleibt die Bolschewisierung ein kurzes historisches Intermezzo, nicht dazu bestimmt, die Arbeiterklasse zu befreien, wohl aber, um dem westlichen Kapitalismus, der unter dem rückständigen alten System niemals so recht Fuß fassen konnte, mit vollen Segeln Einfahrt zu verschaffen. Selbst wenn Deutschland wollte, – inwieweit gibt ihm der große östliche Nachbar überhaupt Gelegenheit, sich an ihm zu orientieren? Es ist ziemlich schwer, seine Farbe der eines Chamäleons anzupassen.

Bis jetzt hat Deutschland bei seinen Annäherungsversuchen sehr schlechte Erfahrungen gemacht. Der Vertrag von Rapallo, eine wirtschaftliche Angelegenheit, wurde von der Sowjetdiplomatie in geschicktester Weise zu einer Demonstration gegen die Westmächte mißbraucht. Deutschland wurde von den Moskauern als Prellbock benutzt, auf Deutschland blieb das Odium haften, die Genueser Konferenz sabotiert zu haben. Der wirtschaftliche Erfolg des Rapallo-Vertrages ist ausgeblieben, aber die üblen politischen Folgen verspüren wir heute vielleicht am schmerzhaftesten. Das war das erste »Zusammenarbeiten« mit Neurußland. Deutschland war Objekt für Tschitscherin und Radek. Mehr nicht.

Gesetzt den Fall aber, in Moskau träte ein Regierungswechsel ein, der Schwerpunkt würde weiter nach rechts verschoben werden – sind solche Möglichkeiten denn so völlig ausgeschlossen? – so würden die Westmächte, würden England und Frankreich als Paten des neuen Kurses fungieren, und auch Amerika, das bolschewistenfeindliche, würde mit seinem Segen nicht geizen. Deutschland wäre isoliert.

Wenn Hellpach weiter meint, ein friedlicher Triumphzug werde die neue Orientierung kaum sein, so trifft er sich darin leider mit gewissen nationalistischen Fabulisten, die sich unter dem »Weg nach dem Osten« einen Laufgraben vorstellen, in dem Ehrhardts Stahlhelmleute mit Trotzkis Rotgardisten Verbrüderung feiern. Waffengemeinschaft und Kulturgemeinschaft aber brauchen durchaus nicht identisch zu sein.

Deutschland soll nicht zum Degen der alten kapitalistischen Mächte gegen Rußland werden. Das ist durchaus unsere Meinung. Aber Deutschland darf ebensowenig zum Landsknecht des neuen russischen Imperialismus gegen Polen oder Frankreich herabsinken. Das wäre nicht der Beginn einer germano-slawischen Kulturgemeinschaft, wohl aber das Ende aller europäischen Kultur überhaupt.

Berliner Volks-Zeitung, 19. Juni 1923

429.

Vor der Entscheidung

Wiederbeginn der interalliierten Aussprache – Frankreichs Verschleppungstaktik – Mündlich oder schriftlich? – Belgiens Rolle – Poincarés Isolierung

Erhöhte Gefechtstätigkeit an der diplomatischen Front! So könnte man in Kürze die neue Situation der interalliierten Auseinandersetzungen um die Reparationsfrage kennzeichnen. Die Pause von fast zwei Wochen, die durch die belgische Kabinettskrise entstanden war, ist beendet. Die Diplomaten haben nun dort anzufangen, wo sie vor vierzehn Tagen aufgehört haben – respektive zu untersuchen, ob das noch möglich ist.

Diese gesteigerte, auf Entscheidung hindrängende Tätigkeit liegt wenig im Interesse der Politik Poincarés. So schnell der französische Premierminister bei dem früheren Notenwechsel mit Deutschland und auch bei den Unterhandlungen mit den Verbündeten stets mit seinem Urteil bei der Hand war, diesmal vermeidet er sorgfältig, Farbe zu bekennen, und aus diesem Grunde mag ihm der innerpolitische Konflikt in Belgien, der aus anderen Gründen, die noch dargelegt werden, für Frankreich manche Unbequemlichkeiten mit sich führen kann, in manchen Stücken doch recht gelegen gekommen sein. Denn Poincaré, der noch immer mit der Waffenstreckung Deutschlands rechnet, möchte Zeit gewinnen. Jeden Tag, um den die Entscheidung hinausgeschoben wird, verbucht er als Gewinn, jeder so gewonnene Tag scheint ein nicht wiederbringlicher Verlust für das schwer erschöpfte Deutschland zu sein. Denn Poincaré will kein Deutschland, das, wenn auch nur mit letzter Kraft, imstande ist, einen Verhandlungspartner abzugeben, sondern ein besiegtes, ausgehungertes Deutschland, das zu schwach ist selbst zu einer Bitte, das sein Geschick demütig in des Siegers Hände legt.

Diese Taktik durchkreuzt nun Englands Mahnung, doch endlich zum Schluß zu kommen. England betrachtet das deutsche Angebot auch heute noch als diskutabel. Das hat noch die letzte Reuter-Note, in der unter anderem betont wird, daß England die Beantwortung des Fragebogens in einigen Tagen erwarte, klar zum Ausdruck gebracht. Wie weit und ob England überhaupt geneigt ist, seine schützende Hand über Deutschland zu halten, das soll hier unerörtert bleiben. Jedenfalls tut man gut, sich deswegen keinen überschwenglichen Hoffnungen hinzugeben. England kämpft gegen die Hegemonie Frankreichs in Europa, gegen die an Aspirationen und Illusionen überreiche Asienpolitik Frankreichs. Und Deutschland ist bei diesem entscheidenden Gang zweier Großmächte nur ein winziges Steinchen auf einem riesengroßen Spielfelde. Die englische Politik hält ihre Trümpfe geheim, aber in dem Schweigen Curzons liegt etwas unendlich Beredtes, und in den dürren, nichtssagenden Auskünften, mit denen der Premier seit Wochen den Sturm der Anfragen im Parlament abwehrt, regt sich für den, der zu hören versteht, ein Wille, der, wenn seine Stunde gekommen, zu keiner Maskerade mehr seine Zuflucht nehmen wird. England braucht Klarheit, offenes Aussprechen dessen, was ist der Fragebogen, dieses nüchternste aller Aufklärungsmittel, ist ja förmlich ein Symbol dieser Politik, die durch die Schale der Redensarten zum Tatsachenkern vorstößt. Poincarés Strategie des Erschöpfungskrieges aber verlangt nach dem Zwielicht des Ungewissen, nach der Atmosphäre der Entschlußlosigkeiten und Hinauszögerungen. Sie befindet sich in dem Stadium der unverbindlichen Unterhaltungen und Vorbesprechungen, wo alles der mündlichen Augenblicksprägung vorbehalten bleibt und nichts schwarz auf weiß gegeben wird, in ihrem Lebenselement. Deshalb ist trotz der offiziösen Ankündigung, daß am Montag bereits die belgisch-französische Antwort in London in die letzte Form gebracht wird, mit neuen Aufschüben zu rechnen. Und übrigens vermeldet der Offiziosus auch, es sei wenig wahrscheinlich, daß diese Antwort schriftlich erfolgen würde.

Tatsächlich bedeuteten die letzten Wochen einen Kampf der beiden großen Alliierten um die Seelen Italiens und Belgiens. Mussolini, dessen Außenpolitik, seiner Innenpolitik entsprechend, einen selbstherrlichen Charakter erstrebt, dürfte sich kaum in das Schlepptau eines der beiden begeben. Aber Belgien, das kleine, wirtschaftlich und politisch nicht auf Rosen gebettete Land, ist schon ein geeigneteres Kampfobjekt. Theunis ist wiedergekommen, aber, so fragt die Pariser Presse besorgt, ist es der gleiche, der wiederkommt? Hat Theunis nicht bei den langen Verhandlungen mit den Parteien etwa Konzessionen machen müssen, die seiner Politik von nun an ein völlig verändertes Cachet verleihen? Theunis stimmte früher mit Poincaré in allen Stücken überein, aber schon der Außenminister Jaspar hielt die englische Methode für praktikabler und suchte dort Anlehnung. Die Parteien selbst sind von dem Ruhrabenteuer wenig erbaut, mit vollem Herzen sind nur die Liberalen dabei. Die maßgebenden Wirtschaftskreise in Antwerpen fühlen keine überragende Sympathie für ein Unternehmen, das jenes Industriegebiet, mit dem sie sich sonst in ständiger Kommunikation befinden, völlig brachlegt und die Kohlenzüge die Richtung nach Frankreich nehmen läßt. Die belgischen Kaufleute empfinden die Situation als unerträglich; was hat man schließlich in Antwerpen davon, wenn der Prestigetic der Herren vom nationalen Block im Ruhrrevier Orgien feiert? Dazu kommt die Wirkung des Papstbriefes auf die katholische Bevölkerung und auf die klerikale Partei. Wenn irgendwo, so hat in diesem Lande die römische Kurie ihren alten Einfluß bewahrt. Ob danach Theunis nochmals auf die alte Linie gebracht werden kann, erscheint einigermaßen zweifelhaft. Jedenfalls hat sich Englands Position Belgien gegenüber wesentlich gefestigt. Die päpstliche Note hat Frankreichs moralische Isolierung vollendet, Aufgabe der englischen Politik ist es nunmehr, dieses moralische Plus auf seiner Seite ins Politische umzusetzen. Gelingt es, das Brüsseler Kabinett zur Umkehr zu bewegen, so vollendet das die neue Kräfteverteilung, und Frankreich steht nur auf sich selbst.

Niemand weiß das besser als Poincaré. Er wird nochmals alle Minen springen lassen, um Belgien von neuem an seine Politik zu binden. Und versucht vor allen Dingen im Lande selbst den Durchhaltewillen zu mobilisieren. Seit der großen innerpolitischen Debatte schwand die Einheitsfront dahin; die Radikalen haben sich losgelöst und machen gemeinsam mit den Sozialisten der Regierung das Leben sauer. Aber noch lebt der Nationalblock, und wenn ihm die Nachwahlen auch schwere Wunden zufügen, wie jüngst im Departement Seine et Oise, er hat noch immer die Mehrheit in der Kammer, er beherrscht die große Presse. So kann trotz unterhöhlten Bodens Poincaré noch immer mit der Geste des Siegers auftreten und das dürftige Greisenkomitee des in seiner Majorität radikalen Senats seinem Willen unterwerfen. Dort werden die Rodomontaden, die selbst die nachsichtige Kammer zum Gähnen reizen, an den Mann gebracht. Und während St. Aulaire Instruktionen zur Beschwichtigung Curzons erhält, dröhnt es dort wie in den ersten Tagen der Okkupation von Phrasen etwa der Art: »Die Vorschläge Deutschlands sind nicht ernst zu nehmen, sie verdienen keine Antwort«. Kuhhandel in London, Säbelgerassel in Paris. Die Not der Zeit zwingt Herrn Poincaré, den Unentwegten, zur Vielseitigkeit. Aber die blutige Komödie währt zu lange. Während die Akteurs auf der Szene sich spreizen und hinter den Kulissen Ränke schmieden, geht das, was wir vom Begriff Europa noch aus dem Kriege gerettet haben, in Dunst auf. Wenn es der französischen Politik gelingen sollte, die von ihr mit allen Mitteln verlängerte Wartezeit auch weiterhin zu strecken, sind katastrophale Entwicklungen kaum zu vermeiden. Nur daß das Register des Poincarismus ein Loch hat: – Deutschland wird nicht das alleinige Opfer sein.

Berliner Volks-Zeitung, 1. Juli 1923


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