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Walter Relling hatte mit seinem Kollegen Doktor Hellwig gesprochen und ihn über die Natur derjenigen Fälle unterrichtet, die ihm am meisten am Herzen lagen. Bereitwillig hatte der Berufsgenosse, dem er so oft schon ähnliche Dienste geleistet, sich mit der Übernahme der Vertretung einverstanden erklärt. Und so hätte er recht wohl ohne Gewissensvorwürfe für einige Tage seiner Praxis den Rücken wenden dürfen. Aber es war für ihn trotzdem nichts Verlockendes und Verheißungsvolles in der Aussicht auf diese Reise mit seiner schönen Verlobten. Hundertmal schon im Laufe des Tages hatte er seine Zusage bereut und hatte sich vergebens gefragt, wie er denn eigentlich dazu gelangt war, sie zu geben. Daß Hertas Ruf rettungslos kompromittiert war, wenn man hier in der Stadt von ihrem gemeinschaftlichen Ausfluge nach Paris erfuhr, stand unter seinen Bedenklichkeiten wohl in der ersten Reihe, aber es war trotzdem nicht das, was ihn am meisten peinigte. Er kannte sich selbst ja zur Genüge, um zu wissen, wie wenig Gefahr sie unter seinem Schutze lief. Und am Ende achtete er das Urteil der Welt doch nicht so hoch, daß er sich durch solche Rücksicht davon hätte zurückhalten lassen, etwas zu tun, das ihm um eines höheren Zweckes willen als notwendig erschienen wäre. Nur daß er diese Notwendigkeit nicht einzusehen, daß er diesen höheren Zweck nicht zu erkennen vermochte, bereitete ihm jetzt Unruhe und quälende Selbstvorwürfe. Was Herta ihm gesagt hatte, war gewiß nicht danach angetan gewesen, seine Zweifel zu beschwichtigen, und es beschämte ihn, daß er sich viel mehr durch ihre Liebkosungen hatte überzeugen lassen, als durch ihre Worte. Daran aber, das einmal gegebene Versprechen wieder zurückzunehmen, dachte er keinen Augenblick. Ein gegebenes Wort war ihm unverbrüchlich. Und so traf er denn, nachdem das Wichtigste, die Vertretung bei den Patienten, erledigt war, auch seine übrigen Vorbereitungen für die Reise.
Fräulein Emilie Herder hatte ihm einige Handreichungen beim Packen seines Koffers getan, ohne eine indiskrete Frage nach dem Ziel seiner Reise oder der Dauer seiner Abwesenheit zu stellen. Sie war heute überhaupt noch bescheidener und schüchterner als sonst; aber es wollte Relling erscheinen, als ob sie ihn zuweilen mit einem unangenehm lauernden Blick von der Seite ansähe. Und sie war ihm niemals widerwärtiger gewesen, als gerade an diesem Abend. Sobald er ihrer Dienste entraten konnte, schickte er sie denn auch mit dem Bemerken, daß er ihrer nicht mehr bedürfe, auf ihr Zimmer.
Es war ziemlich spät geworden, aber er hatte die Gewohnheit, bis tief in die Nacht hinein zu arbeiten, und er verspürte gerade heute durchaus kein Bedürfnis zu schlafen. An seinem Schreibtisch sitzend, vertiefte er sich in das Studium eines neu erschienenen wissenschaftlichen Werkes, und es mochte nicht mehr weit von Mitternacht sein, als ihn das Anschlagen der Nachtglocke aus seiner Lektüre aufstörte. Da er vermuten mußte, daß die Haushälterin und das Dienstmädchen sich bereits zur Ruhe begeben hatten, stand er auf, um dem Einlaßbegehrenden, der ihn ja ohne Zweifel zu einer ärztlichen Hilfeleistung rufen wollte, selbst zu öffnen.
Es war eine mondlose Nacht, aber die Dunkelheit war doch nicht so dicht, daß ihn die Umrisse der hohen, weiblichen Gestalt, die er da vor sich auf der untersten Treppenstufe sah, nicht auf den ersten Blick sehr bekannt angemutet hätten. Die Züge des von dem Hute völlig beschatteten Antlitzes konnte er nicht wahrnehmen, aber er fragte trotzdem sogleich mit dem Ausdruck höchster Überraschung:
»Elisabeth, bist du's? Ist eines von den Kindern krank geworden?«
Sie machte eine verneinende Kopfbewegung und trat dann, als er ihr den Eingang freigegeben, mit einigen raschen Schritten in das Haus.
»Ich wußte, daß du noch auf sein würdest«, sagte sie in einem Ton, der ihm im Gegensatz zu ihrem sonstigen gelassenen und bestimmten Wesen merkwürdig gepreßt und unsicher vorkam. »Und nur deshalb habe ich mich unterstanden, zu so später Stunde hierher zu kommen. Ich möchte dich sprechen, Walter, möchte dir eine Mitteilung machen, für die es morgen vielleicht zu spät gewesen wäre.«
Er öffnete ihr die Tür seines Arbeitszimmers und bat sie, sich zu setzen. Aber Elisabeth leistete seiner Einladung nicht Folge, sondern blieb in der Nähe der Tür stehen, ohne ihren Hut abzunehmen und ohne den Umhang abzulegen, der ihre Schultern verhüllte.
»Vielleicht wirst du das, was ich dir sagen will, für eine unberufene Einmischung in deine Angelegenheiten halten«, sagte sie, seiner Frage zuvorkommend. »Ich habe auch lange geschwankt, ob ich es tun solle. Aber ich hielt es doch schließlich für meine Pflicht. Welche Bedeutung du meiner Mitteilung beilegen willst, steht ja bei dir.«
»Das ist eine Vorrede, die mich sehr neugierig machen könnte«, erwiderte er mit einem Versuch zu scherzen, obwohl er von vornherein nicht im ungewissen darüber gewesen war, daß es sich um etwas sehr Ernstes und Außergewöhnliches handeln müsse, wenn Elisabeth sich zu einem solchen Schritt entschloß. »Was in aller Welt hat sich denn zugetragen?«
»Ich hatte mich schon zum Schlafen niedergelegt,« fuhr das junge Mädchen hastig fort, »als ich durch Frau Wöhlert herausgeklingelt wurde. Die Frau befand sich in großer Aufregung und war ganz in Tränen aufgelöst. Ihr Gewissen lasse ihr keine Ruhe mehr, sagte sie, und da sie sonst keinen Menschen habe, dem sie sich anvertrauen könne, sei sie zu mir gekommen. Es sei ihre feste Überzeugung, daß ihr Mann im Begriff stände, etwas sehr Schlechtes, vielleicht etwas Verbrecherisches zu begehen, und da sie selbst keine Möglichkeit habe, ihn daran zu hindern, habe sie ihre letzte Hoffnung auf mich gesetzt. Denn wenn er auch ihrer Zuneigung seit langem schon nicht mehr würdig sei, so habe sie doch um der unglücklichen Kinder willen den Wunsch, ihn vor dem Verderben zu bewahren. Natürlich sagte ich der Frau zu, daß ich tun würde, was in meinen Kräften stände, und veranlaßte sie, mir alles zu erzählen, was sie auf solche Befürchtungen gebracht hätte. Wie sie nun berichtete, war im Laufe des heutigen Tages das Fräulein von Lindow zu ihnen gekommen, angeblich, um sich nach dem Befinden ihrer Kinder zu erkundigen, in Wahrheit aber nur, um mit ihrem Mann zu sprechen. Sie hatte aus dem Benehmen der jungen Dame bald erraten, daß es sich um etwas sehr Wichtiges handeln müsse, und da sie den regen Verkehr ihres Mannes mit der Villa Carla schon seit langem mit lebhaftem Mißtrauen beobachtete, war sie, als sie unter irgendeinem Vorwande von Wöhlert fortgeschickt wurde, wohl zum Schein aus dem Hause gegangen, aber sogleich wieder zurückgekehrt, um von einer neben dem Wohnzimmer gelegenen Kammer aus das Gespräch der beiden zu belauschen. Es war ihr, ihrer Erklärung nach, nur zum Teil gelungen, da das Fräulein von Lindow sehr leise sprach und da sie nur hier und da eine unvorsichtig laute Äußerung ihres Mannes aufzufangen vermochte. Aber auch das Wenige, was sie gehört hatte, war danach angetan gewesen, sie mit Schrecken und Besorgnis zu erfüllen. Sie verstand soviel, daß Wöhlert in dieser Nacht oben in der Villa etwas vollbringen solle, wovon kein Mensch erfahren dürfe. Es mußte nach den Bemerkungen, die er machte, etwas höchst Gefährliches sein, und eine Zeitlang hatte es den Anschein, als ob er sich der Ausführung weigern wolle, weil ihm die in Aussicht gestellte Belohnung eine zu geringe sei. Aber sie mußten zuletzt doch handelseinig geworden sein, da sie ihn sagen hörte: ›Sie können mir glauben, daß Sie keinen anderen finden würden, der das für Sie täte. Denn es ist eine verflucht unheimliche Geschichte, und wenn es herauskäme, könnte es uns beide in des Teufels Küche bringen.‹ Gleich darauf wäre Fräulein von Lindow gegangen. Ihr Mann aber hätte sich während des ganzen Tages in großer Aufregung befunden und hätte noch mehr getrunken als sonst, offenbar in der Absicht, sich Mut zu seinem Unternehmen zu machen. Sie würde ja versucht haben, ihn von demselben abzuhalten, aber sie hatte nicht den Mut dazu, da sie zur Genüge wußte, welcher Brutalitäten gegen sie er im berauschten Zustande fähig war. Wenn er erfahren hätte, daß sie gehorcht habe, würde er sie gewiß halbtot geschlagen haben, ohne sich doch in seinen Vorsätzen hindern zu lassen. So hatte sie sich damit begnügen müssen, ihn zu beobachten, und es hatte ihre Angst bis aufs äußerste gesteigert, als sie sehen mußte, daß er einen Revolver, den er schon seit längerer Zeit besaß, mit sechs Patronen lud und zu sich steckte, ehe er gegen elf Uhr abends seine Wohnung verließ. Nun war ihr auch der letzte Zweifel geschwunden, daß es sich um etwas sehr Gefährliches und Verhängnisvolles handeln müsse, und nachdem sie noch eine Weile mit sich gekämpft hatte, war sie zu mir herübergelaufen, um ihrem angstgepreßten Herzen gegen mich Luft zu machen. Das ist eigentlich alles, was ich dir mitzuteilen habe, Walter. Da du das Fräulein von Lindow besser kennst als ich, wirst du ja auch vielleicht eher beurteilen können, welche Bedeutung den Wahrnehmungen der bedauernswerten Frau beizulegen ist.«
Relling hatte sie angehört, ohne eine Frage in ihre Erzählung zu werfen. In einer Regung der Scham, über deren Ursache er sich eigentlich selbst nicht Rechenschaft zu geben vermochte, suchte er ihr die Unruhe zu verbergen, in die ihr Bericht ihn versetzt hatte.
»Wie sollte ich das beurteilen können!« sagte er, »aber ich möchte allerdings vermuten, daß die Frau falsch gehört oder eine harmlose Äußerung mißdeutet hat. Denn, daß Fräulein von Lindow irgend jemand zu einer verbrecherischen Handlung anstiften könnte, ist doch wohl ganz und gar undenkbar.«
»Ich beschuldige sie dessen nicht, Walter, sondern ich wiederhole nur, was man mir erzählt hat. Wenn du der Meinung bist, daß man den Dingen ihren Lauf lassen und nichts unternehmen soll, so werde ich mich selbstverständlich damit begnügen. Ich habe der Frau keinen Hehl daraus gemacht, daß ich dir die Entscheidung überlassen werde.«
»Und warum gerade mir?« fragte er. »Wäre es nicht vielleicht zweckmäßiger gewesen, ihr zu raten, daß sie selbst in die Villa Carla hinaufgehen und sich über das Beginnen ihres Mannes unterrichten möge?«
»Ich sagte dir doch, in welcher beständigen Todesangst vor den Roheiten dieses Wöhlert sie sich befindet. Sie ist überzeugt, daß er imstande wäre, sie in der Wut zu töten. Und es ist nur zu billigen, wenn sie darauf bedacht ist, ihren armen Kindern die Mutter zu erhalten.«
Darauf wußte Relling nichts zu erwidern, und er begann, ganz im Nachdenken versunken, im Zimmer auf und nieder zu gehen. Endlich blieb er vor Elisabeth stehen und sagte:
»Jedenfalls danke ich dir, daß du gekommen bist. Ich bin sicher, daß es sich nur um Hirngespinste und um leeres Gerede handelt, aber ich werde mich trotzdem mit eigenen Augen davon überzeugen.«
Er schien zu erwarten, daß sie sich auf diese Erklärung hin wieder verabschieden werde. Aber er sah, daß sie zauderte, als ob sie noch etwas auf dem Herzen hätte.
»War es vielleicht noch nicht alles, was du mir da erzählt hast, Elisabeth?« fragte er. »Ich bitte dich dringend, mir nichts zu verschweigen.«
»Du wirst mich für töricht halten, Walter,« sagte sie beklommen, »aber wenn du die Absicht hast, dich jetzt in der Nacht in die Villa Carla hinaufzubegeben, so möchte ich dich bitten, jedenfalls nicht allein zu gehen.«
»Und warum sollte ich es nicht tun? Glaubst du, daß mir etwas widerfahren könnte? Soll ich mich vielleicht vor zwei Frauen fürchten?«
»Ich weiß nicht –« erwiderte sie zögernd. »Es sind natürlich nicht die beiden Damen, an die ich denke, wenn ich dich vor einer Gefahr warnen möchte. Aber dieser Wöhlert ist ein so verzweifelter Mensch, dem man auch das Schlimmste zutrauen kann, und seitdem du ihm heftige Vorwürfe wegen der schlechten Behandlung seiner Angehörigen gemacht hast, hegt er ohnedies einen Groll gegen dich.«
Walter Relling zuckte geringschätzig die Achseln.
»Und wenn es so wäre – was kümmert mich das! Er würde sich wohl hüten, auch nur einen Finger gegen mich zu erheben.«
»Ein Betrunkener ist zu allem fähig, Walter! Und wenn die Vermutungen der Frau Wöhlert zutreffen – wenn es wirklich etwas Strafwürdiges wäre, das man dort beabsichtigt, so könnte dein unvermutetes Dazwischentreten ihn recht wohl bis zum Äußersten reizen.«
Er war überrascht von dem Ausdruck der Angst in ihren Worten. Daß sie so sehr um seine Sicherheit bangte, setzte ihn in Erstaunen. Er hatte bisher nicht geglaubt, daß ihre persönliche Anteilnahme für ihn eine sehr tiefgehende sei. Was sie für ihn getan hatte, war seiner Meinung nach ihrem stark ausgeprägten Pflichtgefühl entsprungen. Eine wärmere Regung war ihm seit dem Tode seiner Mutter kaum jemals in ihrem Benehmen entgegengetreten. Und manchmal war er versucht gewesen zu glauben, daß sie vielmehr etwas wie Abneigung gegen ihn empfinde. Das aber, was er jetzt in ihrem Gesicht las und im Klang ihrer Stimme hörte, ließ sich gewiß nicht als solche Abneigung deuten. Und wenn er sich auch sagte, daß sie dieselbe Besorgnis wohl für jeden an den Tag legen würde, den sie in Gefahr glaubte, so war doch eine Stimme in seinem Herzen, die ihm zuflüstern wollte: Nein, es ist noch etwas anderes, was sich da kundtut, etwas von jener Herzensangst, die man nur um einen sehr teuren Menschen empfindet. So wie in diesem Augenblick hatte sie ausgesehen damals, als er ihr am Bette seiner todkranken Mutter gesagt hatte, daß die Katastrophe unmittelbar bevorstände. Er hatte sie in jenem Augenblick wirklich liebgehabt um dieses rührend traurigen Ausdrucks willen. Denn er hatte ihn nur als das untrügliche Kennzeichen einer tiefen und innigen Zuneigung für die Sterbende deuten können. Sollte es eine Täuschung gewesen sein? Oder sollte er dem schmerzlichen Beben ihrer Lippen, dem angstvollen Blick ihrer in Tränen schwimmenden Augen auch jetzt dieselbe Deutung geben? Er war nicht unbefangen und nicht eitel genug, eine Antwort auf diese Fragen zu finden. Aber auch in ihm regte sich etwas Warmes und Herzliches, das ihn veranlaßte, auf sie zuzutreten und ihre Hand zu ergreifen.
»Ich danke dir für deine Sorge, liebe Elisabeth! Aber du darfst mir glauben, daß sie überflüssig ist. Mir tut niemand etwas zuleide.«
»Du wolltest also wirklich allein hinaufgehen – auch wenn ich dich inständig bäte, jemand mitzunehmen?«
»Aber wen sollte ich denn mitnehmen, Elisabeth – die Polizei etwa?«
»Warum nicht? Wenn doch ein so dringender Verdacht vorliegt, daß es sich um etwas Strafbares handelt?«
Ihre Antwort hatte merkwürdig erkältend auf ihn gewirkt, denn plötzlich glaubte er die wahre Ursache ihrer Warnung zu erraten. Es war die Abneigung gegen Herta von Lindow, der engherzige Groll gegen das schöne, vornehme Weib, was ihre heutige Handlungsweise bestimmte. Weil sie jener einen empfindlichen Schlag zufügen, sie vielleicht rettungslos kompromittieren wollte, darum wollte sie ihn sogar veranlassen, ihr zu nächtlicher Stunde die Polizei ins Haus zu bringen. Und dieser Verdacht machte ihn plötzlich wieder rauh und abweisend.
»Davon kann nicht die Rede sein, denn abgesehen davon, daß mir jede Berechtigung dazu fehlt, würde ich mich damit einer Nichtswürdigkeit gegen zwei schutzlose Frauen schuldig machen. Und etwas Derartiges mutest du mir doch wohl nicht zu.«
»So nimm mich mit, Walter,« bat sie, »ich kann es nicht geschehen lassen, daß du dich in diese Gefahr begibst. Wie sollte ich jemals mein Gewissen beruhigen können, wenn dir etwas zustieße?«
»Aber ich wiederhole dir, daß deine Angst höchst unnötig ist. Und wenn sie es nicht wäre, so würde ich doch wahrscheinlich auf jeden anderen Gedanken eher verfallen, als auf den, dich zu meinem Schutze mitzunehmen. Auch darfst du nicht vergessen, daß mir eigentlich jede Legitimation fehlt, um diese Stunde in der Villa zu erscheinen. Und ich werde mich ja wahrscheinlich begnügen müssen, durch eine einfache Anfrage festzustellen, daß alles in Ordnung sei. Nicht weil ich fürchte, daß Fräulein von Lindow an irgendeiner strafbaren Handlung beteiligt sein könnte, sondern lediglich, weil deine Mitteilungen mir die Befürchtung erweckt haben, daß sie vielleicht selbst des Schutzes bedürftig sei, entschließe ich mich zu diesem abenteuerlichen, nächtlichen Besuch.«
Elisabeth wußte, daß es ein vergebliches Beginnen sein würde, ihn jetzt noch durch Überredung oder Bitten anderen Sinnes machen zu wollen. Und sie verzichtete deshalb auf jeden derartigen Versuch. Schweigend wandte sie sich zum Gehen. Und auch Walter Relling wußte ihr nichts mehr zu sagen. Das warme, fast zärtliche Empfinden, das ihr Benehmen anfänglich in ihm wachgerufen, war durch die vermeintliche Erkenntnis, daß nur eifersüchtige Gehässigkeit die Triebfeder ihres Handelns sei, völlig erstickt worden. Und erst als sie bereits auf der Schwelle stand, erinnerte er sich daran, daß er ihr doch gewisse Rücksichten der Ritterlichkeit schuldig sei.
»Wenn du dich noch einen Augenblick gedulden willst, Elisabeth,« sagte er, »so werde ich dich nach Hause begleiten, ehe ich zur Villa hinaufgehe. Du kannst doch den Weg zu dieser Stunde nicht gut allein machen.«
Aber sie lehnte kurz ab.
»Warum sollte ich ihn nicht ebensogut allein zurückgehen, wie ich ihn gekommen bin? So groß ist die Unsicherheit in unserer Stadt nicht. Und ich bin noch niemals auf der Straße belästigt worden.«
»Nun, wie du willst, ich will dir meine Gesellschaft nicht aufdrängen. Aber ich hoffe, dir morgen früh mitteilen zu können, wie grundlos alle deine Besorgnisse waren.«
»Ich will es hoffen«, erwiderte sie, um dann nach einem letzten kurzen Zaudern hinzuzufügen: »Gute Nacht also, Walter!«
»Gute Nacht!« gab er zurück, indem er neben ihr hinausging, um ihr die Haustür zu öffnen. So lange blieb er auf der untersten Stufe stehen, bis sie um die nächste Straßenecke gebogen war, dann ging er ins Haus zurück, um seinen Hut zu holen. Einen Augenblick blieb er vor seinem Schreibtisch stehen, unschlüssig, ob er die Schublade aufziehen sollte, in der er einen seit Jahren nicht mehr angerührten Revolver verwahrte. Aber er schalt sich selbst wegen der Feigheit, die ihm in diesem Gedanken zu liegen schien. Und ohne eine andere Waffe, als seinen leichten Spazierstock, verließ er das Haus. Nicht nach der Richtung hin, in welcher Elisabeth sich entfernt hatte, sondern nach der entgegengesetzten Seite führte ihn sein Weg. Er ging nicht allzu schnell, denn ein Chaos von unerfreulichen Gedanken ließ ihn beinahe den Zweck seines nächtlichen Spazierganges vergessen. Auch seiner Umgebung schenkte er nicht die geringste Aufmerksamkeit. Und so hatte er, als er endlich oben am Herdweg angelangt war, nichts davon wahrgenommen, daß ihm eine hochgewachsene, dunkle Mädchengestalt in kurzer Entfernung auf dem ganzen Weg gefolgt war, und daß sie sich ganz in seiner Nähe im Schatten eines Mauerpfeilers verbarg, als er die Stufen zur Eingangstür der Villa emporstieg.