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12. Kapitel

Es war zehn Tage später, an einem schönen, sonnig klaren Sommervormittag. Die Fenster des Boudoirs, das man am Tage des Unfalls zum Krankenzimmer für Randolf Stounton umgewandelt hatte, waren weit geöffnet, und aus dem Garten, dessen grüne Laubmassen wie ein smaragdner Schleier fast die ganze Fensteröffnung füllten, drangen würzige Düfte in das Gemach.

In einem bequemen Lehnstuhl, fürsorglich mit Kissen gestützt, ruhte der junge Engländer, der schon seit mehreren Tagen für einige Stunden das Bett verlassen durfte. Seine Genesung hatte in der Tat erstaunlich schnelle Fortschritte gemacht und in ihrem Verlaufe selbst Walter Rellings kühnste Erwartungen übertroffen. Die inneren Verletzungen, an die sich anfangs die schlimmsten Befürchtungen geknüpft hatten, waren nahezu vollständig geheilt, und von einer Gefahr für das Leben des Patienten konnte schon seit einer Woche nicht mehr die Rede sein. Nur die bleiche Gesichtsfarbe des jungen Mannes und der leichte Verband, der seine Stirn umgab, legten Zeugnis ab für die Leiden, die er mit wahrhaft heroischer Standhaftigkeit getragen hatte.

Er war nicht allein im Zimmer. Auf einem niedrigen Fauteuil am Fenster saß Miß Ruth, deren blondes Haar weniger fahl und verwaschen aussah in der Beleuchtung, die durch das von dem Grün der Laubmassen gedämpfte Sonnenlicht geschaffen wurde. Sie mochte dem Patienten vorgelesen haben, denn das aufgeschlagene Heft einer Zeitschrift ruhte noch auf ihrem Schoß. Jetzt war schon seit mehr als einer Viertelstunde kein Wort mehr zwischen ihnen gesprochen worden. Und Ruth mochte wohl der Meinung sein, daß Randolf Stounton eingeschlummert sei, denn seine Augen waren geschlossen und auf seinen schönen Zügen lag ein eigentümlich verträumter Ausdruck.

Von Zeit zu Zeit sah sie zu ihm hinüber mit einem raschen, fast zaghaften Blick, als fürchte sie, sich dabei von ihm ertappen zu lassen. Aber es war jedesmal ein wundersames Aufleuchten der Zärtlichkeit auf dem Grunde ihrer hellen Augen, die in anderen Momenten so nichtssagend und charakterlos erschienen. Nun machte der Genesende eine leichte, fast unwillkürliche Bewegung, und im nächsten Augenblick war das junge Mädchen an seiner Seite.

»Hast du mich gerufen, Randolf? Kann ich dir mit irgend etwas dienen?«

Er öffnete die Augen, und nachdem er mit einem raschen Blick über ihre zierliche Gestalt hingestreift war, wandte er wie unter einem unwiderstehlichen Zwang das Gesicht von ihr hinweg.

»Nein,« erwiderte er mit einem merklichen Anflug von Ungeduld. »Ich habe dich nicht gerufen, Ruth, und ich habe durchaus keinen Wunsch.«

In der Besorgnis um sein Wohl mochte sie seinem Gebaren eine falsche Deutung gegeben haben, denn sie legte schüchtern ihre kleine weiche Hand auf die seine und indem sie sich ein wenig über ihn herabneigte, fragte sie:

»Du fühlst dich doch nicht schlechter? Die Untersuchung hat dir doch nicht aufs neue Schmerzen bereitet?«

»Nicht im mindesten,« gab er zurück.

Und sie fühlte, wie es in seiner Hand zuckte, als ob er sie der sanften Berührung der ihrigen entziehen wollte.

»Ich befinde mich vollkommen wohl, aber diese ewigen Fragen machen mich nervös.«

Sie trat von seinem Stuhl zurück. Es war nichts von Gekränktheit in ihrem Gesicht, aber ein dunkles Rot hatte sich für die Dauer einer Sekunde über ihre Wangen gebreitet.

»Vergib«, sagte sie leise. »Ich werde dir damit nicht wieder lästig fallen.«

Nun mochte er doch fühlen, daß er sie durch sein unfreundliches Benehmen verletzt haben mußte. Denn während sie langsam zu ihrem Platz am Fenster zurückkehrte, versuchte er, sein Unrecht wieder gutzumachen.

»Ich bin dir ja sehr dankbar für deine Teilnahme, liebe Ruth, und ich wollte dir gewiß nicht wehe tun. Aber es mag wohl sein, daß diese langweilige Untersuchung mich ein wenig aufgeregt hat. Du mußt nicht zu streng mit mir ins Gericht gehen, wenn ich mitunter ein unangenehmer und launenhafter Gesellschafter bin.«

Sie schüttelte den Kopf, und als sie ihm jetzt ihr Gesicht zuwandte, war ein unbeschreiblich gütiges Lächeln auf ihren Lippen.

»Ich würde dir gewiß nicht zürnen, Randolf, wenn du es wärst. Aber du hast mir bis jetzt wahrhaftig keine Veranlassung gegeben, mich über dich zu beklagen.«

Ein schwerer Atemzug, der wie ein schmerzliches Aufseufzen klang, hob Randolf Stountons Brust. Vielleicht war ihm in seiner augenblicklichen Stimmung nichts drückender und unerträglicher, als diese unerschöpfliche Güte und himmlische Geduld. Er preßte die gefalteten Hände fest ineinander, und seine Lippen schlossen sich so energisch zusammen, als müsse er einem verhängnisvollen Wort, das sich ihm mit unwiderstehlichem Zwang auf die Zunge drängen wollte, gewaltsam den Ausweg verschließen. Wieder gab es ein langes Schweigen. Dann wurde an die Tür geklopft, und Lisette steckte ihren hübschen Kopf herein.

»Es ist ein Bote da von Lady Tarkington«, meldete sie mit gedämpfter Stimme. »Das gnädige Fräulein möchten doch auf eine halbe Stunde ins Hotel hinunterkommen.«

Wenn Ruth ihren Verlobten in diesem Moment aufmerksam beobachtet hätte, so würde es ihr kaum entgangen sein, daß es wie ein Ausdruck der Erleichterung über sein Gesicht glitt. Aber sie hatte es wohl nicht bemerkt. Denn, indem sie sich anschickte, der Aufforderung ihrer Tante Folge zu leisten, sagte sie ihm mit einer Freundlichkeit, die nichts Erkünsteltes hatte, Lebewohl.

Als sie schon beinahe an der Tür war, rief er ihr nach:

»Willst du mir nicht zum Abschied die Hand reichen, liebe Ruth? Oder bist du mir vielleicht doch im Grunde deines Herzens noch ein wenig böse?«

Sie ging rasch auf ihn zu und erfaßte wie in einer Aufwallung heißer Zärtlichkeit seine beiden noch immer fest ineinander geschlossenen Hände:

»Ich werde dir niemals böse sein, Randolf – nie – niemals! Du magst mit mir verfahren, wie du willst. Du weißt ja, daß ich dir gehöre mit allem, was an mir und in mir ist.«

Ehe er es hatte verhindern oder auch nur voraussehen können, hatte sie sich niedergebeugt und ihre Lippen auf seine Rechte gedrückt. Verwirrt und betroffen machte er seine Hände frei.

»Nicht doch, Ruth – was tust du! Du beschämst mich. Ich bin so viel Liebe und Güte ja gar nicht wert.«

Und auch sie schien es jetzt zu bereuen, daß sie sich von ihrem Empfinden so weit hatte hinreißen lassen. Wieder schlugen unter ihrer feinen, durchsichtigen Haut verräterische Flammen empor, und sie verließ, ohne weiter ein Wort zu sprechen, eiligen Fußes das Gemach.

Nur eine kleine Weile blieb er allein.

Vom Fenster ihres Zimmers aus hatte Herta das Fortgehen der jungen Engländerin beobachtet, und wenige Minuten später trat sie in Randolf Stountons Zimmer.

Sie trug den weißen, faltigen, spitzenbesetzten Schlafrock, der ihren königlichen Wuchs so viel besser zur Geltung brachte, als irgendeines ihrer Pariser Kleider. Und sie war wieder von berückender Schönheit.

Lächelnd trat sie auf Randolf zu.

»Ihre Braut hat Sie verlassen, Mr. Stounton, und ich wollte mich erkundigen, ob man Ihnen während ihrer Abwesenheit mit irgend etwas dienen kann.«

Strahlend vor Glück streckte er ihr seine Hand entgegen.

»Nein – aber ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind, ich danke Ihnen von ganzem Herzen. Ich kann es ja gar nicht aussprechen, wie sehr ich mich nach Ihnen gesehnt habe.«

Mit der unbefangensten Miene von der Welt hatte sie ihm ihre Hand gereicht. Und es klang durchaus nicht wie ein ernsthaft gemeinter Verweis, da sie erwiderte:

»So sollten Sie nicht sprechen. Denn wer Sie hörte, könnte es leicht mißverstehen. Ein Bräutigam sollte nach keiner anderen Gesellschaft Sehnsucht haben als nach der seiner Verlobten. – Übrigens statte ich Ihnen meinen Glückwunsch ab. Der Professor, den Ihre Frau Mutter hierher gerufen, war ja ganz entzückt über die Fortschritte Ihrer Genesung.«

»Oh, ich wollte, daß sein Entzücken ein geringeres gewesen wäre. Denn ich weiß ja recht wohl, was mir nun bevorsteht.«

»Etwas, das Sie fürchten müssen? – Und das wäre?«

»Er hat mich für reisefähig erklärt. Und es ist wohl selbstverständlich, daß ich Ihre Gastfreundschaft nun nicht länger in Anspruch nehmen darf.«

»Sie werden doch nicht daran denken, schon jetzt abzureisen? Dazu sind Sie doch wohl noch zu schwach. Weshalb wollen Sie nicht in aller Ruhe Ihre vollständige Genesung abwarten, ehe Sie mein Haus verlassen? Oder fehlt Ihnen irgend etwas an Ihrer Bequemlichkeit? Haben Sie sich über eine Vernachlässigung zu beklagen?«

»Oh, welche Frage, mein gnädiges Fräulein! Ich werde niemals gutmachen können, was Sie an mir getan. Es wäre ein Mißbrauch Ihrer Großmut, wenn ich noch länger bliebe. Und doch würde ich wahrscheinlich egoistisch genug sein, mich dieses Mißbrauchs schuldig zu machen, wenn es nur auf mich und auf meine Wünsche ankäme. Aber ich fürchte, daß meine Mutter – –«

Er zögerte zu vollenden. Herta aber kam ihm zu Hilfe, indem sie sehr ruhig sagte:

»Ihre Frau Mutter und Ihre Braut wünschen jedenfalls, Sie ganz für sich zu haben. Und ich kann dieses Verlangen nur begreiflich finden, nachdem die beschränkten Verhältnisse meines Hauses mir leider nicht gestatteten, auch den beiden Damen Gastfreundschaft anzubieten. Wenn der Arzt wirklich die Verantwortung dafür übernehmen will, daß Sie schon reisen können, darf ich mich auf solche Argumente hin wohl nicht länger widersetzen.«

Sie war an das Fenster getreten und hatte die Arme erhoben, um eine Flechte ihres Haares festzustecken, die sich zu lösen drohte. Die Linien ihres herrlichen Körpers boten in dieser Haltung einen wahrhaft bestrickenden Anblick, und Randolf Stounton vermochte nicht länger an sich zu halten.

»Aber ich kann ja nicht fort!« rief er aus. »Wohin ich auch gehen würde, mir ist, als ginge ich in die Dunkelheit und in den Tod. Denn ich lebe ja nur noch in den Augenblicken, wo ich Sie sehe.«

Sie drehte sich nach ihm um, und wenn auch das bezaubernde Lächeln von ihrem Gesicht verschwunden war, so drückten ihre Züge doch auch jetzt keine Entrüstung über die Kühnheit ihres Gastes aus.

»Das ist nicht die Sprache, die Sie gegen mich führen dürfen, Mr. Stounton! Denken Sie daran, was Ihre Braut sagen würde, wenn sie es vernähme.«

»Oh, meine Braut! Wie grausam sind Sie, daß Sie ihrer fortwährend erwähnen!«

»Aber das ist doch nur natürlich. Und ich meine, Sie sollten mir vielmehr Dank dafür wissen.«

»Dank?! – Fühlen Sie denn nicht – sagt Ihnen keine Stimme in Ihrem Herzen, wie elend ich bin? So armselig und so jämmerlich komme ich mir vor wie ein Verbrecher, da ich in meiner Hilflosigkeit den Mut nicht aufbringen kann, diese unglückseligen Fesseln zu zerbrechen.«

»Ich darf Sie nicht länger anhören«, unterbrach ihn Herta, indem sie langsam der Tür zuschritt. »Das sind keine Geständnisse, die Sie einem anderen weiblichen Wesen machen dürfen. Ich würde die Pflichten der Gastfreundschaft verletzen, wenn ich es Ihnen erlaubte.«

Sie schien wirklich entschlossen, zu gehen. Aber als er flehend seine Hände nach ihr ausstreckte, trug das Mitleid mit seiner Verzweiflung offenbar doch den Sieg davon über die zarten Regungen des Gewissens.

»Bleiben Sie,« bat er, »ich beschwöre Sie, hören Sie mich an.«

Und sie blieb wirklich stehen, wenn auch scheinbar mit innerem Widerstreben.

»Sie müssen erfahren, wie diese Verlobung zustande gekommen ist, um zu begreifen, daß es eigentlich kein Verrat ist, den ich an meiner Base begehe. Man hatte uns von Kindheit an füreinander bestimmt. Sie ist ja nur wenige Jahre jünger als ich, und wir waren fast immer zusammen. Mit ihrem sanften, stillen Wesen übte sie von jeher eine unumschränkte Herrschaft über mich aus. Und ich liebte sie um ihrer Herzensgüte willen, wie ich sie darum noch heute liebe. Davon, daß es nicht die wahre, große Liebe sei, hatte ich ja keine Ahnung. Ich nahm für wirkliche Zuneigung, was eigentlich nur den Namen der Freundschaft verdiente. Noch jetzt, wenn ich sie hier vor mir sehe, fühle ich mich innig zu ihr hingezogen, und ich werde es gewiß als eine Lücke in meinem Leben empfinden, wenn sie daraus entschwindet. Denn sie ist sicherlich die treueste Freundin und der beste Kamerad, den ein Mann sich wünschen kann. Aber sie ist das Weib nicht, dem ich mich ganz zu eigen geben könnte. Ich würde sie und mich unglücklich machen, wenn ich daran dächte, den Irrtum dieses Verlöbnisses zu einem unwiderruflichen werden zu lassen.«

»Und doch wird Ihnen nichts anderes übrigbleiben. Was, um Gottes willen, wollen Sie denn tun?«

»Was ich tun werde, hängt allein von Ihnen ab, Fräulein Herta!«

»Von mir? O nein, eine solche Verantwortung dürfen Sie mir nicht aufbürden; denn ich werde sie nimmermehr auf mich nehmen. Was ich für Ihre Pflicht halte, habe ich Ihnen bereits gesagt.«

»Ja. Aber ich hoffe, daß es nicht Ihre wirkliche Meinung gewesen ist und Ihr letztes Wort. Denn noch haben Sie mich ja nicht zu Ende gehört. Sie wissen nicht, wie es in meinem Herzen aussieht.«

»Und ich habe kein Recht darauf, es zu erfahren. Mir ist, als beginge ich eine unverzeihliche Sünde, indem ich hier stehe und Sie anhöre.«

»Nein, ein Werk der Barmherzigkeit ist es, das Sie damit verrichten. Und Sie dürfen mir die holde Illusion nicht zerstören, die mich in Ihnen vom ersten Augenblick an einen Engel der Barmherzigkeit sehen ließ. Ich weiß nicht, ob es nur ein wundersamer Traum oder ob es Wirklichkeit gewesen ist, aber in den Phantasien der ersten Tage, da mir das Unterscheidungsvermögen für Wahrheit und Einbildung abhanden gekommen war, schwebte über all den wirren Bildern, die sich in meinem Gehirn jagten, Ihr Antlitz, Herta, und Ihre himmlische Gestalt. Ich hörte den Klang Ihrer Stimme, wie Sie zu mir sprachen, daß ich nicht sterben würde, und es war eine so süße Musik in dieser Stimme, daß ich keinen anderen Wunsch hatte als den, sie immer und immer zu hören. Als ich dann zum erstenmal zum Bewußtsein erwachte und das gleichgültige, nichtssagende Gesicht der Krankenpflegerin neben meinem Bette sah, da hielt ich mich überzeugt, daß die Erscheinung der holden Trösterin eben nur ein Erzeugnis meiner kranken Phantasie gewesen sei. Und ich empfand dabei einen Schmerz, der tiefer und peinlicher war als alle Schmerzen, die meine Verletzungen mir bereiteten. Es war mir, als hätte ich etwas Köstliches, Unersetzliches verloren. Und ich kann Ihnen das glückselige Entzücken nicht beschreiben, das wie ein Glutstrom über mich kam, als ich Sie dann zum erstenmal über die Schwelle meines Zimmers treten sah. Von dem Augenblick an wußte ich, was irdisches Glück sei. Von dem Augenblick an hatte ich das Ziel und den Inhalt meines Lebens gefunden. Denn ich habe gar nicht versucht, dagegen zu kämpfen, obwohl ich ja wußte, was zwischen uns stand. Es war so allgewaltig, so übermächtig, daß mir jeder Versuch eines Widerstandes als eine Torheit erschienen wäre. Ich dachte wohl an Ruth, aber ihr Bild tauchte nur wie ein bleicher Schatten in meiner Vorstellung auf, und es zerfloß, noch ehe ich mir hatte ausmalen können, wie sich unsere erste körperliche Begegnung gestalten würde. Ich lebte nur in der Wonne des Augenblicks, nur in der Seligkeit der Hoffnung auf Ihr Erscheinen und in dem unermeßlichen Glück Ihrer Gegenwart. Vielleicht wäre es am besten für mich gewesen, wenn ich in jenen Tagen gestorben wäre, wie ich es ja anfänglich sicher glaubte.«

Herta hatte, während er sein leidenschaftliches Geständnis machte, ihre linke Hand über die Augen gelegt, so daß er kaum erkennen konnte, was in ihrem Antlitz vorging. Bei seinen letzten Worten aber erhob sie wie in heftiger Abwehr ihren rechten Arm.

»Sprechen Sie nicht so, – ich mag nicht an dies Schreckliche erinnert werden, vor dem ich tagelang gezittert habe – Sie sollen sich nicht damit versündigen.«

»Sie haben um mein Leben gezittert, Herta?« frohlockte er. »O dann, dann sind Sie mir ja auch ein wenig gut.«

»Nichts mehr davon – ich beschwöre Sie, halten Sie ein! Warum nur mußten Sie mir das alles sagen?«

»Habe ich Sie damit verletzt, Herta, haben Sie meine Kühnheit als eine Beleidigung empfunden?«

Sie schüttelte den Kopf, ohne indessen die Hand vom Gesicht herabsinken zu lassen.

»Und warum, da es doch nun einmal unabänderlich ist, warum sollte ich es Ihnen nicht sagen?«

»Weil Sie das Schlummernde nicht hätten wecken dürfen. Weil mir erst jetzt die ganze Größe meines Verschuldens zum Bewußtsein gekommen ist.«

»Ihres Verschuldens, Herta? Oh, was hätten Sie getan? Wenn Sie mich ein wenig liebhaben, so ist ja alles gut. Und wir werden unermeßlich glücklich sein.«

»Nein, täuschen Sie sich nicht. Was Sie sich da vorstellen, ist unmöglich. Sie sind ja nicht frei.«

»Aber ich werde frei sein – noch heute, wenn Sie mir die Erlaubnis dazu geben. Noch ist die Kette ja nicht unzerreißbar, die mich bindet.«

Da ließ sie die Hand fallen und sah ihm mit großen, traurigen Augen ins Gesicht.

»Und doch sage ich Ihnen noch einmal, Randolf, daß Sie sich täuschen. Nicht in Ihren Empfindungen vielleicht, aber sicherlich in Ihrer Kraft. Ich habe Sie im Verkehr mit Ihrer Mutter und mit Ihrer Braut lange genug beobachtet, um zu wissen, daß Sie der Mann nicht sind, um Ketten zu zerreißen, die Ihre nächsten Angehörigen Ihnen geschmiedet.«

Randolf Stountons bleiches Gesicht überzog sich mit purpurnem Rot. Gerade weil er selbst in den verschwiegenen Kämpfen dieser letzten Tage nur zu oft gezweifelt hatte, daß er Kraft genug haben würde, sich in dem Kampf um seine Liebe als Sieger zu behaupten, empfand er jetzt den Zweifel in Hertas Worten wie einen grausamen Stachel. Und was an Trotz und Energie in ihm war, lehnte sich leidenschaftlich auf gegen die Vorstellung, daß sie recht behalten könnte. Die Erregung hatte sein Aussehen plötzlich in einer Weise verändert, die Herta zu erschrecken schien. Denn während sie bis dahin noch immer fast durch die Hälfte des Zimmers getrennt gewesen waren, trat sie jetzt mit einigen raschen Schritten neben seinen Lehnstuhl und legte wie in einer unwillkürlichen Regung teilnehmender Angst ihre Hand auf die seine.

»Um Gottes willen, was ist Ihnen? Verzeihen Sie mir! Wie durfte ich vergessen, daß Sie noch der Schonung bedürftig sind!«

So viel heiße Zärtlichkeit zitterte in ihrer Stimme, daß hundert beredte Versicherungen nicht unzweideutiger für die Natur ihrer Gefühle hätten sprechen können. Und Randolf Stounton hatte mit trunkenem Entzücken das scheinbar unfreiwillig abgelegte Geständnis vernommen.

»Herta, meine süße Herta!« rief er, indem er seinen Arm um ihren Nacken legte, und ihren holdseligen Kopf zu dem seinen herabzog. Jetzt sträubte sie sich nicht mehr. Mit halb geschlossenen Augen drückte sie ihre Lippen auf seinen Mund, und die Küsse, die sie mit ihm tauschte, waren heißer und glühender als die, welche Walter Relling hatte von ihren Lippen trinken dürfen.

»Nun bist du mein«, war das erste, was Randolf nach Verlauf von Minuten sagte. »Und noch heute soll alles aus dem Wege geräumt werden, was sich jetzt noch zwischen uns stellt.«

Sie versuchte, ihn mit dem Hinweis auf seinen körperlichen Zustand von dem Vorhaben einer sofortigen Aussprache mit seiner Mutter abzubringen, aber es war ihr wohl nicht recht ernst mit diesen Bemühungen. Denn alles, was sie sagte, schien in Wahrheit viel eher dazu bestimmt, ihn durch den darin enthaltenen Zweifel an seiner Willenskraft zur Auflehnung zu reizen.

Dann kamen wieder Ausbrüche leidenschaftlicher Zärtlichkeit, die auch die letzten Bedenklichkeiten hinwegräumten, die sich in einem Winkel seines Herzens vielleicht doch noch gegen die Brutalität einer sofortigen Lösung geregt hatten. Und als nach Verlauf einer Zeit, für deren Dauer ihnen in ihrem Wonnetaumel jeder Maßstab der Schätzung abhanden gekommen war, im Vorzimmer der Klang einer Stimme vernehmlich wurde, die sie beide sofort als die Stimme der Lady Tarkington erkannten, war sein Entschluß längst ein unwiderruflicher geworden.

Sie waren beide ein wenig erschrocken zusammengefahren, und Herta war rasch von dem Lehnstuhl des Genesenden hinweg bis ans Fenster getreten. Aber wenn es auch ihrer Selbstbeherrschung gelang, eine täuschende Unbefangenheit zu erheucheln, so vermochte Randolf es ihr darin nicht gleich zu tun. Es konnte den scharfen Augen seiner Mutter unmöglich entgehen, daß er sich in einem Zustande heftiger Gemütsbewegung befand. Und ihr Blick ruhte denn auch unverwandt auf seinem Gesicht, während Herta sie mit artigen Worten begrüßte.


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