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Doktor Walter Rellinq hatte keine Veranlassung, sich über seine neue Haushälterin zu beklagen, und doch war er mit dem Tausch nichts weniger als zufrieden.
Erst seit jener Stunde, da Elisabeth sein Haus verlassen hatte, war er inne geworden, was ihre Gegenwart für dies Haus bedeutet hatte. Ihr geräuschloses Walten, ihre wortlose, aber immer bereite Fürsorge fehlten ihm überall, und es war ihm, als seien die niedrigen, altmodischen Zimmer leerer und dunkler geworden, seitdem er ihr ruhig ernstes Antlitz nicht mehr in ihnen erblickte. Es fehlte ihm ja unter dem häuslichen Regiment ihrer Nachfolgerin eigentlich an nichts. Und es war sogar erstaunlich, mit welchem Geschick sich das stille, unschöne Mädchen in seine Obliegenheiten hineinfand. Aber es war etwas in ihrem Gesicht, in ihrem Blick und in der beinahe schleichenden Art ihres Ganges, das Relling unangenehm berührte. Eine derbauftretende, grobknochige Magd wäre ihm trotz seiner Abneigung gegen alles Gemeine immer noch lieber gewesen als die allzu behutsame und geräuschlose Nichte des Herrn Bendemann. Trotzdem war er entschlossen, den gegenwärtigen Zustand zu ertragen, und er hatte Elisabeth, als er gestern mit ihr zusammengetroffen war, nichts von seinem Unbehagen merken lassen. Allerdings war ihre Begegnung nur eine sehr kurze und flüchtige gewesen. Und sie hatte überdies in Gegenwart anderer stattgefunden. Denn Elisabeth hatte ihre neue Tätigkeit bereits aufgenommen. In den drei kleinen Zimmern, die ihr die Kommerzienrätin Binder für diesen Zweck zur Verfügung gestellt, hatte sie mit bewunderungswürdiger Ausnutzung der geringfügigen Mittel, die ihr zur Verfügung standen, das neue Kinderasyl oder wenigstens die Anfänge desselben eingerichtet. Unter den Schützlingen, die von dem wohltätigen Unternehmen zunächst Nutzen haben sollten, befand sich auch das kranke Töchterchen des Lithographen Wöhlert, das ihr von der Mutter sehr bereitwillig überlassen worden war. Und um nach diesem Kinde zu sehen, dessen Augenlicht noch immer stark bedroht schien, hatte sich Relling gestern zu ihr begeben. Es war über ihre persönlichen Angelegenheiten dabei nur wenig zwischen ihnen gesprochen worden. Aber der junge Arzt hatte mit stiller Bewunderung wahrgenommen, wie gütig und liebenswürdig seine sonst so ernste und zurückhaltende Kusine hier im Verkehr mit ihren kleinen Pfleglingen war, die bereits mit abgöttischer Liebe an ihr zu hängen schienen. Das war wieder dasselbe sanfte und freundliche Gesicht gewesen, das er früher so oft am Krankenlager seiner Mutter gesehen, und es schien ihm fast unbegreiflich, daß es während der ganzen langen Zeit ihres späteren Zusammenlebens niemals diesen Ausdruck getragen haben sollte.
»Vielleicht habe ich nur nicht Aufmerksamkeit genug für sie gehabt«, dachte er. »Es ist doch seltsam, daß man die Vorzüge derer, die uns nahestehen, immer erst dann richtig beurteilen und würdigen lernt, wenn man sie verloren hat.«
Von den Bewohnern der Villa Carla war zwischen ihnen nicht mehr die Rede gewesen. Elisabeth glaubte sich offenbar nicht länger berechtigt, sich irgendwie um seine Angelegenheiten zu kümmern, und ihn hielt dieselbe ängstliche Scheu, die ihn am Abend nach seiner Verlobung aus dem Hause getrieben, noch immer ab, in ihrem Beisein Hertas Namen zu nennen. Eine kleine Unordnung, die er an diesem Morgen unter seinen Papieren und Zeitungen bemerkt, hatte ihn veranlaßt, sich in seinen Gedanken wieder recht lebhaft mit Elisabeth zu beschäftigen. Er war übler Laune, und die Aussicht auf Hertas angekündigten Besuch vermochte sie nicht zu verbessern. Er begriff nicht, weshalb sie ihn hier unten in der Stadt aufsuchen wollte, obwohl sie doch wußte, daß er noch im Laufe des Vormittags in die Villa hinaufgekommen wäre. Ja, er bedauerte fast, daß er ihrer Botin vorhin durch seine Haushälterin die zustimmende Antwort hatte zukommen lassen; denn er mußte fürchten, daß er an diesem Vormittag nun mit seinen Krankenbesuchen nicht rechtzeitig fertig werden würde.
Und dabei war sie noch nicht einmal pünktlich, wie ihm ein Blick auf seine Uhr bewies. Es war eine Viertelstunde über die Zeit, zu der sie sich angemeldet hatte, und er beschloß, nicht länger mehr als zehn Minuten auf sie zu warten. Als die Zeiger ihm auch den Ablauf dieser Frist anzeigten, ohne daß Herta erschienen wäre, griff er denn auch wirklich nach seinem Hute und trat in die neben seinem Sprechzimmer gelegene Wohnstube.
Es berührte ihn unangenehm, daß er Fräulein Emilie Herder, die er um diese Zeit in der Küche vermutet hatte, am Fenster stehen und angelegentlich auf die Straße hinausblicken sah. Er wollte schweigend an ihr vorüber zur Tür hinausgehen. Aber als er eben die Hand auf den Drücker legte, wandte sie sich nach ihm um.
»Es kommt eben eine Dame in das Haus, Herr Doktor! Vielleicht hat sie den Wunsch, Sie zu sprechen.«
Nun mußte er sich freilich wohl entschließen, zu bleiben; denn er wäre ja unfehlbar draußen auf der Diele mit Herta zusammengetroffen, und sie würde ihm gezürnt haben, wenn er versucht hätte, sich der gewünschten Unterredung durch die Berufung auf seine ärztliche Pflicht zu entziehen.
Er kehrte also in sein Sprechzimmer zurück, und wenige Minuten später trat Herta ein. Sie drückte die Tür hinter sich ins Schloß und flog dann auf ihn zu, um mit beiden Armen seinen Hals zu umschlingen und ihn leidenschaftlich zu küssen.
Nun konnte er ihr natürlich keine Vorwürfe mehr machen. Aber sie mußte doch empfinden, daß er ihre Liebkosungen, mit denen sie bisher so sparsam gewesen war, nicht allzu stürmisch erwiderte. Er machte sich vielmehr mit sanfter Gewalt aus ihrer Umarmung los und führte sie zu dem altmodischen Sofa, in dessen harte Polster sie sich niederließ, während er ein paar Schritte von ihr entfernt mit über der Brust verschränkten Armen an seinem Schreibtisch stehen blieb.
»Was hat sich zugetragen, daß du glaubtest, mich hier aufsuchen zu müssen?« fragte er. »Und vor allem: wie geht es deinem Vater?«
»Ich glaube: besser. Er hat viel geschlafen, und die Tante meint, daß er frischer und kräftiger sei als in den letzten Tagen.«
Sie hatte die dreiste Lüge mit unbefangenster Miene ausgesprochen. Aber es entging ihr nicht, mit wie ungläubigem Gesicht Walter Relling sie aufnahm.
»Das ist ja sehr erfreulich,« sagte er, »aber ich kann nicht verhehlen, daß es mich einigermaßen überrascht. Nun, ich werde mich ja nachher mit eigenen Augen davon überzeugen.«
»Um dich zu bitten, dies nicht zu tun, kam ich hierher«, unterbrach ihn Herta rasch. »Es wäre mir lieb, wenn man dich heute nicht zu mir gehen sähe.«
»Aber weshalb nicht?« forschte er erstaunt. »Ich denke, man würde heute in meinem Besuch nichts Auffälligeres finden als an irgendeinem der vorhergegangenen Tage.«
»Du kannst überzeugt sein, daß ich ganz besondere und dringende Gründe für meine Bitte habe. Und es ist nicht zu fürchten, daß mein Vater dadurch einen Schaden haben könnte. Sollte sein Befinden sich wieder verschlimmern, so wird es ja noch immer Zeit sein, dich zu benachrichtigen.«
»Also wieder ein Geheimnis!« grollte er stirnrunzelnd. »Weißt du auch, liebe Herta, daß ich dieser ewigen Geheimnisse nun bald überdrüssig bin?«
»Du wirst nicht lange mehr Veranlassung haben, dich darüber zu beklagen«, versicherte sie mit ihrem süßesten Lächeln. »Ich verspreche dir, daß dies das letzte sein soll. Denn schon die nächsten Tage werden dir Aufklärung bringen über alles, was ich dir bis jetzt verschweigen mußte.«
»Es wäre dringend zu wünschen. Denn ich sage dir ganz offen, daß ich den gegenwärtigen Zustand als einen höchst unwürdigen empfinde. Wie kann ich an deine Liebe glauben, wenn ich immer aufs neue sehen muß, daß ich dein Vertrauen nicht besitze!«
»Und wenn ich dir nun gerade in dieser Stunde den höchsten Beweis des Vertrauens geben wollte, den ein Mädchen einem Manne überhaupt zu gewähren vermag? Würdest du mich auch dann noch mit so häßlichen Vorwürfen quälen?«
»Und worin sollte dieser Vertrauensbeweis bestehen?«
»Darin, daß ich mich ganz unter deinen Schutz stelle – daß ich dich bitte, mich auf einer Reise zu begleiten, die unaufschiebbar geworden ist, und die ich doch nicht ohne männlichen Schutz unternehmen kann. Ich brauche dir nicht erst zu sagen, daß ich damit alles in deine Hand lege, was einem alleinstehenden jungen Mädchen wertvoll und kostbar ist.«
Sie hatte mit höchster Spannung in seinen Zügen geforscht; aber der Ausdruck seines Gesichts gab ihr vorläufig keine Veranlassung, mit der Wirkung ihrer Worte zufrieden zu sein. Die Falten waren nicht von seiner Stirn verschwunden, und er blickte sehr ernst und nachdenklich vor sich hin.
»Und in welcher Eigenschaft sollte ich dich begleiten?«
»In der Eigenschaft des einzigen Freundes, den ich auf Erden besitze, – in der Eigenschaft meines künftigen Gatten.«
»Das heißt, du würdest mir erlauben, unser Verlöbnis vorher öffentlich bekanntzumachen?«
Aber sie schüttelte den Kopf.
»Das ist unmöglich, und es bliebe dir dazu auch kaum Zeit genug. Wenn du es aus Furcht vor dem Gerede der Leute tun willst, so brauchen wir ja niemand etwas davon zu sagen. Und ich denke, daß du keinen Grund hast, in dieser Hinsicht ängstlicher zu sein als ich selbst.«
»Eine solche Pflicht könnte das Gefühl meiner Verantwortlichkeit mir doch vielleicht auferlegen. Aber du sagst, daß mir keine Zeit bleiben würde. Müßte diese Reise denn schon so bald angetreten werden?«
»Ja. Spätestens morgen mittag.«
»Und wohin soll sie gehen?«
Diesmal war es Relling, der sie durch eine entschieden verneinende Geste ermutigte.
»Es ist etwas Unausführbares, was du da von mir erwartest. Ich habe gerade in diesem Augenblick eine Anzahl schwerer Fälle in Behandlung, und ich kann meine Patienten doch nicht so ohne weiteres im Stich lassen.«
»Es wird sich nur um eine Abwesenheit von wenig Tagen handeln, und während dieser kurzen Zeit kann doch recht wohl der Medizinalrat oder Doktor Hellwig deine Vertretung übernehmen.«
»Ich würde mich nur sehr schwer dazu entschließen. Und dann – – hast du gar nicht daran gedacht, was während dieser Zeit aus deinem Vater werden soll?«
Herta war auf diese Frage natürlich vorbereitet gewesen, und sie verriet darum nicht die mindeste Verlegenheit, als sie erwiderte:
»Du hast während der letzten Tage ja auch nichts mehr für ihn tun können. Und vielleicht genügt es, wenn du die erforderlichen Anweisungen hinterläßt.«
»Ich fürchte, liebe Herta, daß das nicht genügen würde. Denn ich kann nicht recht an die Besserung glauben, die du wahrgenommen zu haben meinst. Ich bin vielmehr noch immer der Ansicht, daß wir auf das Schlimmste gefaßt sein müssen.«
»Nun, dann muß eben auch bei ihm einer deiner Kollegen an deine Stelle treten.«
Überrascht sah er sie an.
»Ist es dir mit einemmal so gleichgültig geworden, noch einen weiteren Mitwisser deines oder seines Geheimnisses zu haben? Aber dieses Geheimnis hätte ja freilich auch ohnedies nun nicht länger mehr gewahrt werden können.«
»Das denke ich auch. Und eben deshalb muß ich diese Reise unternehmen. Nur so kann ich mich in den Besitz gewisser Dokumente bringen, welche die Unschuld meines Vaters erweisen sollen. Ich muß diese Dokumente vorlegen können in demselben Augenblick, wo seine Anwesenheit in meinem Hause bekannt wird. Begreifst du nun, Walter, warum die Fahrt nach Paris unaufschiebbar geworden ist?«
Er begriff es noch nicht, und es verletzte sein Empfinden, daß sie auf ihrem Vorhaben beharren konnte, obgleich er ihr doch wahrlich deutlich genug zu verstehen gegeben hatte, daß sie bei der Rückkehr ihren Vater nicht mehr unter den Lebenden finden würde. Mit der rücksichtslosen Aufrichtigkeit, die einen Grundzug seines Wesens ausmachte, sagte er ihr das gerade ins Gesicht. Aber sie zeigte sich weder betroffen noch verwirrt.
»Er wird nicht sterben, ehe wir wieder da sind«, erklärte sie. »Und selbst wenn der Himmel es so beschlossen haben sollte, dürfte ich nicht anders handeln. Unter den kindlichen Pflichten, die ich gegen ihn zu erfüllen habe, darf mir keine heiliger sein, als die Pflicht, seinen ehrlichen Namen wiederherzustellen. Nicht eine Stunde lang soll man sagen dürfen, daß man einen aus der anständigen Gesellschaft Ausgestoßenen in meinem Hause gefunden habe. Frei und offen will ich mich vor aller Welt zu ihm bekennen dürfen. Und du könntest mich niemals geliebt haben, Walter, wenn du nicht imstande wärst, mir das nachzufühlen. Willst du mir deinen Beistand verweigern, so reise ich allein. Aber ich bin leider nur ein Weib, und ich fürchte, daß es mir ohne männlichen Schutz und Beistand nicht gelingen wird, mein Ziel zu erreichen. Was dann geschehen mag, weiß Gott allein. Das eine nur ist gewiß, daß ich nicht unverrichteterdinge hierher zurückkehren könnte. Hundertmal eher würde ich sterben.«
»Aber begreifst du denn nicht, Herta, daß dies alles unlösbare Rätsel für mich sind? Wieviel mutest du meiner Vertrauensseligkeit zu, wenn du von mir verlangst, daß ich hier alles stehen und liegen lassen und dir blindlings folgen soll, ohne ein Ziel und ohne Zweck, über die du mir nur unverständliche Andeutungen machst?«
»Wenn du mich liebtest, würdest du diese Zumutung nicht ungeheuerlich finden. Aber ich sehe wohl, daß ich mich in der Größe deiner Zuneigung getäuscht habe, als ich sie an der meinigen maß.«
Sie stand auf und schien willens zu gehen. Walter Relling aber hielt sie zurück. Es war etwas in dem Ton ihrer letzten Worte gewesen, das ihm die Empfindung weckte, ihr unrecht getan und sie gekränkt zu haben. Wieder, wie immer, wenn der unwiderstehliche Zauber ihrer Persönlichkeit auf ihn wirkte, wurde er irre an sich selbst und an der inneren Berechtigung der Entschlüsse, zu denen er während seines Alleinseins in harten Kämpfen gekommen war. Er gab noch nicht nach, denn der Gedanke an diese seltsame fluchtartige Reise wollte ihm in der Tat ganz ungeheuerlich und unausführbar erscheinen. Aber sie erkannte mit ihrem sicheren, weiblichen Instinkt doch sogleich, daß er schwankend geworden war, und damit hatte sie auch schon die Gewißheit ihres Sieges gewonnen. Sie gab sich nicht einmal die Mühe, seine Einwendungen und Bedenklichkeiten durch überzeugende Gründe und Aufklärungen zu zerstreuen, sondern sie bediente sich nur noch jener Waffen, deren Wirksamkeit sie nun schon so oft hatte erproben können. Ihre schönen, in Tränen schwimmenden Augen waren es, die für sie sprechen mußten. Und sein letztes unsicheres Widerstreben ging unter in dem Sturm von Zärtlichkeit, der ihn zugleich berauschte und betäubte, als sie sich plötzlich noch einmal an seinen Hals warf und ihre heißen, durstigen Lippen auf die seinen preßte.
Ihre Unterredung hatte noch kaum länger als eine Viertelstunde gewährt, als seine Niederlage entschieden war. Er hatte eingewilligt, sie nach Paris zu begleiten, ohne daß sie ihm über den Zweck dieser Reise mehr gesagt hatte, denn zuvor. Und er war auch damit einverstanden, daß er vor diesem Zeitpunkte die Villa Carla nicht mehr betreten solle.
Herta hatte vorerst nichts mehr von ihm zu fürchten, und ihr tollkühner Plan, ihn mit sich zu nehmen auf die Flucht, die sie in Paris mit Randolf Stounton vereinigen sollte – ein Plan, wie er nur unter dem Druck der verzweifeltsten Umstände im Kopfe eines phantastisch angelegten Weibes hatte reifen können – erschien ihr [das] Gelingen bereits sicher. Sie hatte damit ja keinen anderen Zweck verfolgt, als den, eine vorzeitige Entdeckung durch Relling zu verhindern, und wenn sie ein anderes Mittel gefunden hätte, ihn auf einige Tage von hier zu entfernen, so würde sie ihm gewiß den Vorzug gegeben haben vor dieser verwegenen und bei Rellings Charaktereigenschaften vielleicht nicht ungefährlichen Idee. Aber sie hatte trotz allen Nachdenkens keinen besseren Weg ausfindig machen können, und der verheißungsvolle Anfang war nur danach angetan, ihre Hoffnung zu ermutigen.
Als sie das alte Haus verließ, kehrte sie nicht sogleich in die Villa Carla zurück, sondern schlug den Weg nach dem sogenannten Bohnenviertel ein, einer armseligen und verrufenen Gegend, die nur von der untersten Schicht der Bevölkerung bewohnt wurde. Hier lag, wie sie wußte, die Behausung des Lithographen Wöhlert. Und dieser Schützling ihres Vaters war es, dem ihr Besuch galt.
Sie fand ihn zu Hause, und es mußten wichtige Dinge sein, die sie mit ihm zu besprechen hatte; denn es verging fast eine Stunde, ehe sie aus dem niedrigen Torweg des schmutzigen, baufälligen Gebäudes wieder auf die Straße hinaustrat. Ihr Gesicht war lebhaft gerötet, und sie zog hastig den Schleier herab, als fürchte sie, daß die Vorübergehenden die Spuren der Erregung, in welche die Verhandlungen mit dem Lithographen sie versetzt hatten, auf ihrem Antlitz lesen könnten. Auf dem kürzesten Wege kehrte sie jetzt nach Hause zurück, um sich dort für eine lange Zeit in ihr Zimmer einzuschließen.
Walter Relling hatte unmittelbar, nachdem sie ihn verlassen, seine heute so ungebührlich verzögerten Krankenbesuche begonnen. Seine Patienten mochten ihn zerstreuter finden als sonst. Kaum jemals war er so hastig und ungeduldig gewesen. Er hatte beabsichtigt, auch in Elisabeths Kinderasyl vorzusprechen. Jetzt aber gab er diesen Gedanken auf. Um nichts in der Welt hätte er gerade heute ihre klaren, ruhigen Augen auf sich gerichtet sehen mögen.
Davon, daß Fräulein Emilie Herder zehn Minuten nach ihm fortgegangen war, ahnte er nichts. Und wenn er es gewußt hätte, würde er sich schwerlich den Kopf darüber zerbrochen haben. Aber es hätte ihn wahrscheinlich doch stutzig gemacht, wenn es zu seiner Kenntnis gelangt wäre, wohin sie sich begeben. Er hatte den redseligen Herrn Bendemann nicht wiedergesehen, und er mochte der Meinung sein, der wunderliche Herr habe die Stadt bereits verlassen. Daß er noch immer in einem der bescheideneren Hotels wohnte, und daß er dort beinahe täglich den Besuch seiner angeblichen Nichte empfing, konnte er ja auch unmöglich ahnen. Fräulein Emilie Herder war sonst gewöhnlich um die Abendzeit auf einen Augenblick zu ihm gehuscht. Daß sie ihn heute schon am hellen Tage aufsuchte, mußte seine besondere und triftige Ursache haben. Jedenfalls maß der Polizeiinspektor dem Inhalt der Mitteilungen, die sie ihm machte, eine nicht geringe Bedeutung bei; denn er sah sehr zufrieden aus, als er die Haushälterin bis zur Tür seines Zimmers begleitete, und indem er ihr dort noch einmal die Hand drückte, sagte er:
»Wenn wir Ihrer Aufmerksamkeit endlich den lange erwarteten Erfolg zu danken haben, mein Fräulein, so dürfen Sie sicher sein, daß es Ihnen an einer angemessenen Belohnung nicht fehlen wird.«