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Neunundzwanzigstes Kapitel.
Onkel Sams Bericht

Der Extrazug aus Southampton mit Passagieren des Dampfers »Atlantic« war soeben im Waterloo-Bahnhof eingelaufen. Kleine Gruppen sonnenverbrannter Männer, umringt von Bergen von Gepäckstücken und Deckstühlen, begrüßten auf dem Bahnsteig alte Freunde; Autodroschken wurden herbeigerufen. Alle Gesellschaftsklassen waren vertreten – vom erfolgreichen Diamantensucher, der ungestüm eine Dame in Schwarz ans Herz drückte, bis zum sportliebenden Lord, der von der Löwenjagd kam. Nach fünf Minuten etwa löste sich der Wirrwarr, und die Flut der Ankömmlinge verebbte.

Unter den letzten Fahrgästen verließ ein grauhaariger Greis, mit einer schwarzen Tasche und einem Päckchen in der Hand, unsicheren Schrittes den Bahnhof. Ihm dicht auf dem Fuße folgte Hiram Da Souza, der sonderbarerweise bereits bei Ankunft des Zuges zugegen gewesen war und größtes Interesse für den schäbig gekleideten alten Reisenden zu hegen schien. Der Portugiese war elegant gekleidet, in Cutaway und Zylinder, eine Blume im Knopfloch, eine Brillantnadel im schwarzseidenen Schlips – und doch war ihm nicht sehr behaglich zumute. Von der unscheinbaren Gestalt des vor ihm Hergehenden hing sein Schicksal ab. Auf dem Bahnsteig hatte er gehört, wie sich der Alte nach dem Wege zum Gebäude der Bekwando-Gesellschaft erkundigte. Wenn er es erreichte – welchen Wert würden dann wohl am andern Tage die Bekwando-Aktien noch haben?

Auf der Brücke sah Da Souza, wie der Greis einen Schutzmann anhielt, und als er an den beiden vorüberstrich, vernahm er die gleiche Frage.

Der Beamte schüttelte den Kopf und wies gen Osten. »Genau kann ich's Ihnen nicht sagen. Es liegt aber in der City. Am besten ist's, Sie fahren mit einem Autobus bis zur Bank von England – und dann erkundigen Sie sich nochmal!«

Der alte Mann nickte dankbar und schritt weiter. Da Souza hielt seine Zeit jetzt für gekommen. Mit freundlichem Lächeln sprach er ihn an. »Verzeihung, Sie erkundigten sich nach dem Gebäude der Bekwando-Gesellschaft?«

Der andere sah auf. »Wenn Sie mir die genaue Richtung zeigen könnten, wäre ich Ihnen sehr verbunden.«

»Gern«, nickte Da Souza, während er neben ihm herging. »Ich habe den gleichen Weg. Hoffentlich aber«, setzte er mit einem besorgten Blick hinzu, »sind Sie kein Aktionär der Gesellschaft?«

Der Alte ließ seine Ledertasche fallen, und seine Lippen bewegten sich lautlos. Da Souza hob die Tasche auf und wünschte inbrünstig, jetzt nur ja keinem Geschäftsfreund aus der City zu begegnen.

»Aktionär bin ich nun gerade nicht«, gestand Monty unsicher. »Aber ich bin an dem Unternehmen interessiert. Ich bin oder müßte wenigstens Teilhaber sein. Die Gesellschaft ist reich, nicht wahr?«

Da Souza nahm die Tasche in die andere Hand und ergriff den Arm seines Gefährten. »Sie haben sicherlich in den letzten Tagen keine Zeitungen gelesen?«

»Nein, ich komme heute erst aus Afrika zurück.«

»Dann tut es mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, daß es sehr schlecht um die Gesellschaft steht. Sie befindet sich zurzeit in Liquidation. Man sagt, die Direktoren sollen verhaftet werden. Die ganze Sache scheint aufgelegter Humbug gewesen zu sein.«

Monty stützte sich halb betäubt auf seines Begleiters Arm. Sie waren jetzt im Strand, und Da Souza öffnete die Tür eines Restaurants und zog seinen Gefährten hinein. Als Monty wieder zu sich kam, saß er in einem bequemen Sessel, und vor ihm stand ein halbgeleertes Kognakglas. Er starrte wild um sich. Seine Lippen waren feucht, und alte, unbezähmbare Gier glühte in ihm. Was bedeutete das alles? Hatte er nun doch wieder sein Gelübde gebrochen? Hatte er nicht geschworen, keinen Tropfen mehr anzurühren, bis er sich seine Tochter und sein Vermögen erobert? Allmählich kam ihm das Erinnern. Für ihn gab es kein Vermögen – keine Tochter mehr. Sein Traum war zerronnen, die letzte Anstrengung seines Lebens vergebens gewesen. Mit zitternden Fingern ergriff er das Glas, führte es an die Lippen und trank ... Dann sank wieder Leere in sein Bewußtsein, und er sah nichts mehr als das Gesicht eines Satans, das spöttisch und boshaft durch den Nebel blinzelte. Da Souza stützte ihn und brachte ihn behutsam in eine Droschke.

Eine Stunde später nahm der Portugiese, mit einem Lächeln der Zufriedenheit um den Mund und einer frischangesteckten Zigarre, die Briefe auf, die am Abend für ihn gekommen. Hastig riß er ein Schreiben mit afrikanischer Marke auf. Es lautete:

»Lieber Hiram!

Es wäre wirklich ein Glück, wenn Du den halbnärrischen Kauz verhindern könntest, Dir in London zu schaden. Manchmal, bester Bruder, würde ich es für ratsamer halten, Du zögest mich mehr ins Vertrauen. Du bist ein gescheiter Kopf, aber leider zu verschlossen. Wenn ich nicht über ein bißchen Grips verfügte, wie könnte ich Dich dann über die wichtigsten Ereignisse auf dem laufenden halten? Wie würde ich dann wissen, was Dich freut? Aber es sei! Du folgst immer nur Deinem eigenen Willen. Ich weiß es.

Nun jedoch das Neueste. Monty ist, wie ich Dir schon kabelte (die Rechnung für das Telegramm habe ich bereits abgeschickt), kurz nach Dir heimlich nach London gereist. Seit Trent unseren Boten und die Sache mit der Rumflasche entdeckte, bestand keine Möglichkeit mehr, dem alten Klappergestell Alkohol einzuflößen. Er mag daher wohl ziemlich sein Gedächtnis gekräftigt haben; auf jeden Fall ist er auf höchst geriebene Art durchgebrannt, so daß der Missionar zu spät dahinterkam. Aber er hat einen großen Fehler begangen, von dem Du Kenntnis erhalten mußt, da er Dir gute Dienste leisten wird.

Hiram! Er hat das Geld für die Überfahrt aus der Kasse des Missionars gestohlen! Den ganzen Tag hat er, unter einem Baum lauernd, auf die See gestarrt. Da kam ein Dampfer aus Kapstadt, und als er die Sirene hörte und die Hafenboote sah, schien er zu erwachen. Er irrte ruhelos hin und her, und als Frau Price ihn suchte, stierte er noch immer auf das Schiff. Sie wollte ihn aus der Sonne weglocken, denn es war sehr heiß; aber er schüttelte den Kopf. ›Sie ruft mich!‹ murmelte er verbiestert. Schließlich betrat er doch das Haus, und sie hörte ihn in dem Zimmer rumoren, in dem sich die Kasse befand. Darauf hat sie ihn aus dem Auge verloren. Aber andere sahen ihn eiligst nach dem Kai laufen, wo er ein Boot mietete und sich nach dem Dampfer bringen ließ. Man wollte ihn erst nicht mitnehmen, weil er noch kein Billett hatte, aber er ließ sich nicht abweisen. Schließlich erbarmte man sich seiner, da sich erwies, daß er die Überfahrt bezahlen konnte. Sobald ich es erfuhr, telegraphierte ich Dir. Aber welches Übel könnte er Dir jetzt zufügen, da er in Deiner Macht ist? Er ist ein Dieb! Du kannst jetzt mit ihm tun, was Du willst!

Trent ist seit gestern wieder in Attra und fährt mit dem nächsten Schiff nach England. Hiram, er ist ein großer Mann! Ich hasse ihn, denn er hat meinem Handel viel Schaden zugefügt, und er behandelt mich, als ob ich Staub unter seinen Füßen sei; aber nie hätte jemand vor ihm an der Küste das erreichen können, was er erreichte. Ohne militärische Hilfe hat er die Bekwandoleute im Kampf besiegt und läßt sie jetzt für sich arbeiten. Die ganze Gegend hier hat er in Aufregung gebracht. Ungefähr tausend Mann scharwerken an seiner Straße oder graben Schächte in die Bekwandogruben. Man hat bereits Gold zu Tage gefördert, und Trent eröffnet eine Niederlassung, um das ganze Mahagoniholz und Elfenbein der Gegend aufzukaufen. Er gibt riesige Summen aus, gönnt sich nie Ruhe, und was er anordnet, geschieht. Die Behörden fürchten ihn, aber sie werden mit jedem Tage höflicher. Der Regierungsvertreter, der ihn einst einen Abenteurer nannte und ihm für sein Scharmützel mit den Bekwandonegern Verhaftung androhte, zieht jetzt tief den Hut vor ihm; denn man weiß, daß er eine Macht in diesem Lande werden wird.

Hiram, mein Bruder, Du hast mir nicht Dein Vertrauen geschenkt, obwohl ich so offenherzig mit Dir spreche. Aber beherzige meinen Rat; denn Blut bleibt Blut, und ich will, daß Du viel Geld verdienst: Widersetze Dich Trent nicht, nimm seine Partei! Denn er ist der Stärkere. Ich weiß nicht, was Du mit Monty vorhast; aber ich sage Dir, Hiram: Scarlett Trent ist der Mann, an den Du Dich halten mußt. Er hat Erfolg, und er ist ein Genie. Er herrscht hier wie ein König. Halte Dich an ihn, Hiram – dann handelst Du klug!

Lebe wohl und sende mir das Geld für das Telegramm, wenn Du schreibst. Und vergiß nicht: Monty ist ein Dieb, und Trent ist der Mann, mit dem Du Dich gut stellen mußt. Das erinnert mich daran, daß Trent dem Missionar das entwendete Geld zurückerstattete; es scheint sogar, daß er es vorher für Montys Unterhalt hinterlegte. Aber das weiß Monty ja nicht; daher hast Du ihn in Deinen Händen.

Dieser Brief kommt von Deinem Bruder
Samuel.

P. S. Vergiß nicht den kleinen verauslagten Betrag!«

Da Souza faltete den Brief, und ein zufriedener Glanz übersonnte seine fahlen Züge. Dann stieg er das Treppchen nach dem kleinen Hinterzimmer empor und öffnete lautlos die Tür.

Bleich und mit blutunterlaufenen Augen wanderte Monty murmelnd auf und nieder. Beim Anblick des Portugiesen begann er: »Ich glaube, es wird am besten sein, wenn ich jetzt gehe. Ich danke Ihnen für Ihre freundliche Aufmerksamkeit.«

Da Souza sah ihn mit gutgespieltem Ernst an. »Einen Augenblick! Sagten Sie nicht, daß Sie aus Afrika kommen? Vielleicht von der Goldküste?«

Der Alte zögerte ängstlich.

»Nennen Sie sich vielleicht Monty?«

Der andere verfärbte sich. Er schwieg, doch Worte schienen überflüssig. Da Souza drückte ihn auf einen Stuhl. »Es tut mir sehr leid, aber die Polizei war hier.«

»Die Polizei!« stöhnte der Greis.

Da Souza nickte. Großmütigkeit zu heucheln, war ihm ungewohnt und bereitete ihm Mühe. »Erschrecken Sie nicht! Ihr Signalement ist bekannt. Man sucht Sie wegen Diebstahls. Sie sollen einem Missionar Geld entwendet haben. Aber wie dem nun auch sei: Ich werde Sie nicht den Behörden übergeben. Sie können sich hier unbesorgt ein paar Tage aufhalten.«

Monty brach in die Knie. »Werden Sie auch niemandem sagen, daß ich hier bin?« flehte er.

»Fürchten Sie nichts!«

Monty stand mühsam auf, in tiefster Niedergeschlagenheit. »Irene – jetzt werde ich Dich nie wiedersehen – nie, nie!«

Eine halbe Flasche Schnaps und ein unbenutztes Glas standen auf dem Tisch. In seinen Augen lohte es. Er füllte das Glas und führte es an die Lippen. Da Souza beobachtete ihn aufmerksam, ein gönnerhaftes Lächeln auf dem Halunkengesicht.


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