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»Vater kommt nicht«, sagte Catherine zu Channay im Vestibül des Mario Club Restaurant, »und ich habe meine Stelle verloren.«
»Schlechte Nachrichten auf der ganzen Linie«, bemerkte dieser, während er sich über Catherines Hand beugte. »Ihres Vaters Abwesenheit kann ich unter den gegebenen Umständen kaum bedauern, aber Ihre Stelle – grämen Sie sich darüber?«
»Ich bin gefaßt«, sagte sie gelassen. »Ich bin nämlich zu der Überzeugung gekommen, daß die Natur mich als träge, tatenlose Frau geschaffen hat. Ich besitze wohl Ehrgeiz, aber ich weiß nicht, worauf er zielt –«
Er führte sie ins Restaurant zu einem Eckplatz mit drei Gedecken. Eins wurde abgeräumt. Sie saßen auf weichen Kissen nun Seite an Seite. »Habe ich recht verstanden, daß die ›Daily Line‹ es über sich gebracht hat, auf Ihre Dienste zu verzichten?«
Sie nickte.
»Wenn mich was zu Tode langweilt, ist's Arbeit!« gestand sie ihm. »Elende Plackerei. Gestern abend wurde ich als Berichterstatter zu einem großen Empfang bei einem Neureichen geschickt. Alles sehr öde und alltäglich, mit Ausnahme des neuen ›Edelmanns‹. Er war weder öde noch, wie ich hoffte, alltäglich. Er nahm mich in seine Bibliothek, um meinen Bericht abzuschreiben, und schlug mir dann vor, den Abend mit einem Tanz abzuschließen – na, ich kann nur sagen, ein Don Juan . . . Die meisten Männer machen einem das Entschlüpfen nicht allzu schwer,« fuhr sie sinnend fort, »aber der hatte Erfahrung. Ich ging also zur ›Daily Line‹ zurück und zerriß meinen Bericht in tausend Fetzen, und nun bin ich hier und kann frei arbeiten.«
»Sie möchten wohl keinen Posten als Privatsekretärin?« wagte Channay zu fragen.
»Nicht bei Ihnen«, erwiderte sie schlagfertig. »Ihre Lebensauffassung ist mir zu blutdürstig. Bis zu einem gewissen Grade liebe ich Abenteuer, aber ich habe jetzt genug von Mord und Totschlag erlebt. Danke. Bei Vater, das ist etwas anderes. Sein letzter Erfolg ist ihm ganz zu Kopf gestiegen. Ich bin der festen Überzeugung, daß er wieder zur Polizei zurückginge, wenn sich ein Posten für ihn fände. Sein Schneider muß ihm jetzt in sämtliche Hosen Hintertaschen machen.«
»Weshalb ist er heute nicht gekommen?« fragte er.
»Zwischen uns besteht, ganz offen gesagt, eine kleine Verstimmung«, gestand sie ihm. »Er wollte nämlich eine seiner neuen Halsbinden nehmen: Purpur und Grün mit einem ganz dünnen roten Streifchen. Er hatte sie gekauft, weil in ihr die Farben eines aufgelösten Ruderklubs enthalten waren, dem er einst angehört hatte. Kurz und gut, ich litt es nicht. Wir wollten gerade aufbrechen, als das Telephon klingelte. Er wurde von dem riesig fesselnden Gespräch so in Anspruch genommen, daß er mich einstweilen vorausgehen ließ und sagte, er würde Sie später treffen.«
»Also der erste Vorteil, den ich durch Ihres Vaters Vorliebe für grellfarbige Halsbinden habe. Jetzt erzählen Sie mir aber von Ihrer Laufbahn. Werden Sie sie aufgeben?«
»Sicherlich«, antwortete sie. »Ich sagte doch mal, daß ich mein Geld verdienen wollte. Damals hatte ich mich falsch eingeschätzt. Ich versuchte mich für die Frauenbewegung zu interessieren, ohne auch nur ein bißchen ehrgeizig zu sein. Die Natur hat mich zum Drohnendasein bestimmt. Mein ganzes Leben ist künstlich. Der Schein der Dinge zieht mich an, nicht die Dinge selber. Solange mein Vater meine Rechnungen bezahlen und ich mich nett kleiden kann, ich die Möglichkeit habe, jährlich drei Monate an der See zu verbringen und die neuesten Theaterstücke zu sehen, bin ich vollkommen zufrieden. Nicht wahr, das ist ein schlimmes Bekenntnis, aber ich bin halt doch eine ganz alltägliche Frau!«
»Das muß ich eigentlich bestreiten«, erklärte er.
»Bitte, nein, doch wir wollen jetzt von etwas anderem reden.«
»Dann erzählen Sie mir noch von gestern abend.«
»Da ist nichts weiter zu erzählen. So ein Handgemenge mit einem Manne hat für mich stets etwas Unwürdiges. Es heißt, daß Lord Heatherton in der politischen Welt als einer der hartnäckigsten Kämpfer für die jüngere Generation gilt. Seine Prinzipien beweist er aber sicher nur an den unbedeutenden Äußerlichkeiten des Lebens.«
»Heatherton!« rief Channay plötzlich aus.
»Wie konnte ich Ihnen nur den Namen verraten! Wenn Sie Vater wären, müßte ich jetzt befürchten, daß Sie sich jetzt sofort mit einem achtundzwanzigkalibrigen Gewehr nach dem Grosvenor Square aufmachten.«
»Weshalb auch nicht?«
»Weil Sie dazu nicht das Recht hätten«, erwiderte sie kühl. »Zudem sind Sie auch viel zu vernünftig . . . Erklären Sie mir mal, was für Menschen gewöhnlich hier verkehren. Der Platz hat entschieden seine eigene Atmosphäre.«
»Filmschauspielerinnen, Filmmagnaten, Theateragenten, Schriftsteller, Schauspieler und eine ganze Anzahl junger Damen, die aus deren Bekanntschaft Vorteil zu ziehen versuchen. Und dann kommen noch ein paar wirklich angesehene Leute hierher, eigentlich mehr wegen der gelegentlichen Abwechslung, und ferner noch ein paar nicht ganz einwandfreie Vertreter des Adels. Also ein Ort, dessen gelegentlicher Besuch ganz unterhaltend ist, während er einen auf die Dauer anödet.«
»Was wollen Sie denn heute hier?« fragte sie.
»Ich befinde mich gesellschaftlich in einer eigenartigen Lage«, antwortete er. »In den exklusiven Kreisen nämlich ist es keine Empfehlung, wenn man die Gastfreundschaft Seiner Majestät für zwei oder drei Jahre genossen hat. Bei Claridge sehe ich zum Beispiel eine Dame, die mir vom Nebentisch empörte Blicke zuwirft, während ein Vater im Ritz seine Tochter zu einem entfernteren Ort geleitet.«
»Sie reden ja hellen Unsinn«, rief sie entrüstet aus.
Channay schwieg eine Weile, nahm aber das Gespräch wieder auf.
»Ich möchte gerne wissen, wie es mir gehen würde, wenn ich später einmal zu heiraten wünschte. Ich besitze Geld – gestohlenes allerdings –, aber ehrlich gestohlenes, und habe durch den Besuch von Gymnasium und Universität vorschriftsmäßig dem gesellschaftlichen Fetisch geopfert.«
»Wie sollt ich davon etwas verstehen?« fragte sie unverblümt. »Mein Vater war ein Schutzmann und meine Mutter die Tochter eines Kleinkaufmanns.«
»Aber anständig,« sagte Channay leise, »hoch anständig.«
»Ich würde gar keine Zeit verlieren, darüber nachzudenken. Sie sind in meinen Augen der vollendete Typ eines kultivierten Abenteurers. Selbst wenn Sie möchten, liegt es Ihnen nicht, sich häuslich niederzulassen, und in Ihrem Verhältnis zu Frauen sind Sie ein so unmöglicher Mensch, wie ich noch nie einen gefunden habe. Sie bemühen sich nicht einmal, ihnen gegenüber höflich zu sein. Das habe ich zur Genüge ausgekostet, bis es Ihnen einfiel, daß ich ja gar nicht rechnete.«
Channay trank gedankenvoll seinen Wein, während sie weiter aß, mit sich beschäftigt.
»Erfahrungen machen nüchtern. Außerdem nähere ich mich jetzt einem Lebensalter – –«
»Sie werden achtunddreißig«, unterbrach sie ihn. »Ich weiß alles. Vater steht im vierundfünfzigsten, und ich weiß mindestens drei Frauen, die ihn gern in ihre Netze locken möchten. Das ist die einzige Sache, die mich wirklich beunruhigt.«
»Sie können doch selbst heiraten«, schlug er vor.
»Höchst unwahrscheinlich,« erwiderte sie, »wenn man bedenkt, daß mir alle Eigenschaften und Fähigkeiten fehlen, außer einer meinem Stande durchaus nicht angemessenen Neigung zu der verfeinerten Seite des Lebens . . . Aber da kommt ja der Held meines Abenteuers von gestern abend«, fügte sie mit leiser Stimme hinzu. »Eigentlich sieht er ganz hübsch aus. Ich habe mich vielleicht doch etwas dumm benommen . . .«
Ein blonder Herr, mittelgroß und angenehm aussehend, schritt durch den Saal und nickte zuweilen einigen seiner Freunde zu. Catherine schien er nicht zu erkennen, blieb aber plötzlich stehen, als er Channay erblickte. Es mußte auffallen, daß ein Mann, dessen Lebensart nie angezweifelt worden war, eine gewisse befremdende Befangenheit zeigte. Dann kam er an Channays Tisch. Sie begrüßten sich, ohne sich die Hände zu schütteln.
»Nun, Gilbert,« rief er aus und seine Stimme klang einschmeichelnd, »willst du mir nicht ›Guten Tag‹ sagen?«
»Mit Vergnügen«, sagte Channay mit spöttischem Lächeln. »Ein Mann in meiner Lage ist sich über die Haltung seiner früheren Gefährten nie ganz klar.«
»Sei kein Narr«, erwiderte Heatherton vertraulich. »Wir müssen uns mal aussprechen. Wann kannst du mich besuchen? Wir haben doch noch etwas abzumachen.«
»Ganz recht,« gab Channay zu, »noch etwas abzumachen. Bis jetzt, Browning – wenn ich nicht irre, jetzt Lord Heatherton –, habe ich noch niemand besucht. Vielleicht darf ich dich bei mir erwarten, Milan Court 98. Ich bin morgens meist zwischen zehn und elf Uhr zu Hause.«
»Paßt es dir morgen vormittag?« schlug Heatherton vor.
»Paßt blendend. Übrigens möchte ich dich meiner Freundin, Miß Fogg, vorstellen. Lord Heatherton – Miß Fogg.«
Zum zweitenmal befand sich der Weltmann in einer unerquicklichen Lage. Er faßte sich jedoch schnell.
»Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen, Miß Fogg«, sagte er mit einer leichten Verbeugung, ohne das leiseste Zeichen des Wiedererkennens.
Dann verabschiedete sich Heatherton, um einige Freunde in einem anderen Saal zu treffen. Catherine sah ihm lächelnd nach.
»Benehmen, im großen ganzen, tadellos«, sagte sie. »Jetzt möchte ich aber von Ihnen hören, was Sie von ihm wissen.«
Channay holte sein Notizbuch hervor, entnahm ihm ein vergilbtes Stück Papier, auf dem eine Reihe von Namen standen.
»Hier haben wir ihn,« sagte er, »George F. Browning. Zu jener Zeit war sein Titel George F. Browning, Bart. (Baronet!) Er wurde im gleichen Jahre in den Grafenstand erhoben, als ich gesellschaftsunfähig wurde. Ich las es in einer Sonntagszeitung – meinem Leib- und Magenblatt!«
Catherine überfiel ein Gefühl des Unbehagens:
»So ist also auch er einer Ihrer Feinde. Was werden Sie nun mit ihm tun?«
»Sein Fall ist ein bißchen verwickelt. Browning ist zweifellos in der Welt vorwärts gekommen, aber ein Gentleman wird er doch nie. Dennoch hat er es jetzt zum Lord gebracht und soll allgemein beliebt sein. Ich teile die allgemeine Achtung vor dem Adel. Vielleicht sollte ich ihm doch vergeben.«
»Ich hab's gern, wenn Sie Unsinn reden. Es nimmt der Unterhaltung alle Steifheit. Jetzt sagen Sie mir aber, was werden Sie mit ihm anstellen?«
»Das ist die Frage. Wenn es nach mir ginge, möchte ich ihn in eine derartige Tragödie stürzen, daß er die letzten Stunden vor seinem Tode mit einer Brandyflasche und einem Revolver verbringen müßte. Mein Plan muß morgen früh zehn Uhr dreißig gefaßt sein. Ich habe also keine Zeit zu verlieren.«
»Sie werden schon auf das Richtige kommen«, versicherte sie.
*
Lord Heatherton war bei seinem Besuche bei Channay offensichtlich bemüht, ihre Beziehungen zueinander auf eine freundschaftliche Grundlage zu stellen. Er zündete sich eine Riesenzigarre an und machte es sich in einem Lehnstuhl bequem.
»Nett von dir, Gilbert, mir zu gratulieren,« begann er nach Channays Begrüßung, »aber unter uns, es ist verdammt schwer, die Mittel mit dem Titel immer im Gleichgewicht zu halten. Da ist die Gattin . . . na, du weißt ja, wie verschwenderisch Myra immer war. Früher hatte ich ganz gute Einnahmen, indem ich meinen Namen zu Citygründungen gab. Heute kann ich dies nicht mehr tun, außer es handelt sich um etwas außergewöhnlich Gutes, und dann kann man dekorative Namen entbehren. So stehen die Sachen heute. Was ich also brauche, ist Geld, Geld und wieder Geld.«
»So!« sagte Channay leise.
»Ich habe doch da noch einen Anspruch auf eine Anzahl von Nyasa-Minen-Aktien. Isham habe ich natürlich gesprochen, und durch ihn von deiner Haltung in der Angelegenheit erfahren. Du scheinst uns gewissermaßen für dein Mißgeschick verantwortlich zu machen, und bist daher nicht geneigt, zu teilen. Ich kann dir nicht ganz Unrecht geben, obgleich in einer Sache doch schließlich die Ehre . . .«
»Lassen wir doch die aus dem Spiel . . .« unterbrach ihn Channay kurz.
»Gut. Also will ich mich anders ausdrücken. Du bist jung, reich, hast genug zum Leben und willst doch sicher nicht außerhalb unserer Kreise leben. Prahlereien liegen mir fern, aber niemand könnte mehr für dich tun und sich redlicher bemühen, dich wieder in gewohnte Bahnen zu bringen, als ich. Was meine Aktien betrifft, so möchte ich dir eine freundschaftliche Übereinkunft vorschlagen: Ich will alles daran setzen, dich wieder in die – mir widerstrebt die Phrase – na, was man also ›Gesellschaft‹ nennt, zu bringen, wo du hingehörst. Und das feiern wir mit zwei Esten, eins in meinem Klub und eines bei mir zu Hause. Myra war dir doch immer ein guter Kamerad und wird sicher gleich mitmachen. Wie ich dies alles so direkt sage, ist ja nicht ansprechend, aber du weißt selbst, Channay, daß ich durch mein unverblümtes Sprechen das wurde, was ich bin. Bist du einverstanden?«
»Du hast wohl Geld sehr nötig«, bemerkte Channay trocken.
»Habe ich auch«, erwiderte Heatherton freimütig. »Doch das ist jetzt gleichgültig; mich würde auch nicht weiter schmerzen, wenn ich ein paar der Freunde nicht herumkriegen könnte. Aber mancher möchte gerne dein Freund sein, Channay, wenn du damit einverstanden wärest.«
Channay schwieg. Er dachte an das kleine Dokument in seinem Notizbuch und überlegte sich Heathertons Vorschlag.
»Wann brauchst du das Geld?« fragte er schließlich.
»Einhunderttausend Mark jetzt dringend«, antwortete Lord Heatherton erwartungsvoll. »Auf den Rest kann ich noch etwas warten.«
Gilbert Channay nahm sein Scheckbuch und schrieb einen Scheck aus »für die Order« Lord Heathertons.
»Hier sind einhunderttausend Mark à Conto; was die Übertragung der Aktien betrifft, so können wir uns später darüber unterhalten. Deine Einladung zu einem Herrenessen nehme ich an, während wir das Essen in deinem Hause noch etwas verschieben wollen. Ich habe mich noch nicht so recht an Damengesellschaft gewöhnt.«
Lord Heatherton, zufrieden mit sich selbst, faltete den Scheck mit einem Seufzer der Erleichterung zusammen: »Wie du willst, Gilbert, nur wird Myra sich schwer darein fügen. Den genauen Tag teile ich dir noch mit und werde dir auch eine Liste der Gäste senden. Es freut mich, alter Junge, daß wir uns wieder gefunden haben. Wenn ich etwas für dich tun kann, laß es mich nur gleich wissen.«
»Gern«, versprach Channay tonlos.
»Ich hole ein paar von den alten Brüdern zusammen«, fuhr Heatherton fort. »Setersfield kommt, das weiß ich bestimmt. Isham frage ich lieber nicht. Du hast ihn wohl länger nicht gesehen.«
»Nein, schon länger nicht«, gab Channay zu.
Heatherton schüttelte ernst seinen Kopf: »Mit dem ist bald Schluß. Er trinkt heftig, es geht überhaupt ganz bergab mit ihm. Ich dachte, ich seh nicht recht, als ich ihn neulich im Piccadilly traf. Und seine Frau, hohlwangig, bleich wie ein Geist. Man sieht sie jetzt nie mehr zusammen . . . Na, Channay, auf Wiedersehen! Ich schreibe dir in ein paar Tagen.«
Heatherton schritt durch die Hotelhalle, grüßend und gegrüßt, bestieg seinen Rolls Royce, der ihn nach dem Herrenhaus bringen sollte. Er war das Urbild eines genialen, scharfsinnigen und erfolgreichen Weltmannes. Seine Haltung drückte Selbstsicherheit und Selbstachtung aus. Seine Selbstzufriedenheit erreichte ihren Gipfel, als er dem Chauffeur durch das Sprachrohr eine kurze Weisung gab: »John, halten Sie bei der Bank.«
* * *
Die Gesellschaft, die Lord Heatherton vierzehn Tage später im Klub gab, schien ein großer Erfolg zu werden. Die Aufgabe war ihm nicht schwer gefallen, denn Channay war unter seinen Freunden sehr beliebt. Alle waren geneigt, sein Mißgeschick rein menschlich zu beurteilen, ausgenommen zwei oder drei Vertreter altmodischer Richtung. Die Anordnung der Tischplätze war zufriedenstellend gelöst. Nicht weniger als sechs Mitglieder des Präsidiums waren zugegen und würdige Vertreter der Sportwelt, der Mode, wie der Finanz. Lord Heatherton hatte dafür gesorgt, daß auf die näheren, mit dieser Veranstaltung verbundenen Umstände nicht weiter eingegangen wurde. Jeder schüttelte Channay die Hände, als sei er nur von einer mehrmonatigen Reise zurückgekommen. Die dem Briten eigne Gabe, einem Mann, der vielleicht sein halbes Leben in Indien oder Afrika zugebracht hat, so zu begrüßen, als habe man ihn erst vor einigen Tagen in der Bond Street getroffen, konnte man in dieser kleinen Gesellschaft wiederfinden. Das Gespräch beschränkte sich lediglich auf gemeinsam verbrachte Stunden beim Cricket und auf Channays sportliche Leistungen als Champion. Wiewohl er sich eine außerordentliche Zurückhaltung auferlegte, machten sich bei ihm keinerlei Zeichen von Nervosität geltend. Nachdem der Champagner die Stimmung des Wohlseins und Wohlwollens erhöht hatte, dachte fast jeder der Anwesenden darüber nach, wie Sie den Gast des Abends ihrem Kreise zurückgewinnen könnten. Und als Lord Heatherton sich erhob, wurde ihm stürmisch applaudiert. Mochten Sie nicht immer die Ansichten dieses hervorragenden jungen Politikers teilen, so fühlten sie doch alle, daß er bei dieser Gelegenheit das Richtige getroffen hatte. Lord Heatherton war für einen Kameraden eingetreten, dem das Schicksal übel mitgespielt hatte. Noch nie war Heatherton den Herzen dieser Männer so nahe gestanden, als da er einige Worte über den Gast sprach, nachdem er den Toast auf S. M. ausgebracht hatte. Wie man erwarten durfte, war er weder weitschweifig noch trocken. Er sprach von dem tiefen Leid, das er und seine Genossen während der Zeit seines Mißgeschicks empfunden haben, weil sie ihm nicht helfen konnten. Channay habe eine große Verantwortung auf sich genommen, welche die späteren Ereignisse vollkommen gerechtfertigt hätten, wenn auch das Gesetz sie nur von seinem harten und unbeugsamen Standpunkt aus betrachtet hätte. Das sei jedoch nun eine Sache der Vergangenheit. Gilbert sei jetzt wieder zurückgekehrt, nachdem er für seine Indiskretion schwer gebüßt habe – er selbst stehe nicht an zu erklären, daß er Channays Vergehen nicht für mehr als Indiskretion halten könne. Es läge also nun bei Ihnen, ihn willkommen zu heißen und ihm in ihrem Leben und in ihrer Gedankenwelt die Stellung anzuweisen, die einem guten Kameraden gebühre. So plauderte Lord Heatherton noch eine ganze Weile, sehr beredt, sehr taktvoll, in vollendeten und schön gerundeten Sätzen, die ihm den Ruf eines der hervorragenden Tischredner eingetragen hatten. Nachdem er auf den Gast einen Toast ausgebracht und sich wieder gesetzt hatte, brach ein lärmender Jubel los, der sich verdoppelte, als Channay sich von seinem Platz erhob. Channays Ruhe und Zurückhaltung in dieser Versammlung von Männern, die in dem Verlangen, sich etwas gehen zu lasten, in der Geselligkeit eine Möglichkeit dazu fanden, würde zu einer anderen Zeit von übler Vorbedeutung erschienen sein. Jedenfalls war es ein Augenblick, den keiner von Ihnen wieder vergessen sollte. Das Eßzimmer des Klubs war mit allem ausgestattet, was künstlerischer Geschmack und Geld zu leisten vermochten. Die Diener hatten sich zurückgezogen, und die Stille, welche auf den lärmenden Beifall folgte, wirkte doppelt spannend. Jeder der Anwesenden wendete sich interessiert Channay zu. Sie erwarteten Worte dankbarer Anerkennung, hauptsächlich für Lord Heatherton, der vor seinem Portwein saß, leicht angerötet, aber zufrieden; ferner eine, vielleicht mit etwas Humor gewürzte, Bemerkung über seine Abwesenheit, vielleicht auch einige Hinweise auf künftige Pläne; und ein paar Worte an ältere, anwesende Freunde. Nichts von alledem. Channays erster Satz, jeder Gemütsbewegung oder selbst eines Gefühls bar, gab den Auftakt zu dem, was nun kommen sollte. Ein jeder fühlte, daß sich etwas Ungewöhnliches ereignen würde, und so war es auch.
»Lord Heatherton, meine Herren,« begann er, »ich fühle heute abend mehr Scham als in den Tagen, da ich vor dem Untersuchungsrichter stand und auf Grund einer auf Betrug lautenden Anklage wegen einer nur technischen Ungenauigkeit ins Gefängnis geschickt wurde. Damals war ich wenigstens vor mir selbst ein ehrlicher Mann, insoweit ein Mensch es sein kann, der am großen finanziellen Wettkampf beteiligt ist. Heute abend bin ich aber ein Betrüger. Unter allen anderen Umständen würde es mich beglückt haben, so viele meiner alten Freunde wieder zu begrüßen. Aber im Bewußtsein meiner durchaus unehrlichen Lage war und ist mir dieses Erlebnis ein höchst peinvolles.«
Nach diesen einführenden Worten wurden schon die ersten Anzeichen der Unruhe auf den Gesichtern der Versammelten sichtbar. Die leichtbeschwingte Stimmung und gespannte Erwartung waren geschwunden und hatten einer unheilschwangeren Atmosphäre Platz gemacht. Mit wachsendem Unbehagen lauschten die Anwesenden Channays Worten. Mehr als alle anderen war sich Heatherton einer kommenden Katastrophe bewußt. Seine sorglose und bequeme Haltung hatte er verloren und er beugte sich mit aufgestützten Ellenbogen über den Tisch, während die Zigarette in seiner Hand unbeachtet verbrannte.
»Ich verdanke meine Anwesenheit hier«, fuhr Channay unbeirrt fort, »dem Ergebnis eines niederträchtigen Handels, an dem ich nur nominell beteiligt war. Wie Ihnen allen ja bekannt ist, sollte ich allein die ganze Verantwortung für den Versuch übernehmen, meinem Syndikat ein Vermögen zu schaffen, was ich auch heute noch gerechtfertigt finde. Nicht bekannt ist Ihnen aber die Tatsache, daß ich das Opfer einer skandalösen Verschwörung fast aller Mitglieder des Syndikats geworden bin. Der Anschlag war einfach genug. Sämtliche Mitglieder bis auf eines einigten sich, gegen mich auszusagen. Jeder von ihnen sollte meine Schuld bezeugen, wenn die Anforderung an ihn erginge, und während meiner vorübergehenden Einkerkerung, die sie leicht hätten finden können, sollte das Vermögen des Syndikats, sowie mein eigener Besitz daran unter ihnen verteilt werden. Meine Herren, glauben Sie nicht, daß ich Ihnen ein Märchen erzähle. Hier habe ich den niederträchtigsten Vertrag, der wohl je abgefaßt worden ist, mit den Unterschriften aller Syndikatsmitglieder, eine ausgenommen. Der eine Andersdenkende, der sich dem häßlichen Bündnis nicht angeschlossen hatte, war aber nicht unser Gastgeber von heute abend, Lord Heatherton. Eine Kopie des Originalvertrages steht Ihnen hiermit zur Einsichtnahme zur Verfügung.«
Channay ließ die Abschrift des Dokumentes, das er von Isham gekauft hatte, unter den Gästen zirkulieren. Es wurde von jedem einzelnen der Anwesenden aufmerksam geprüft, zuerst fast betäubt, schließlich den brutalen Zynismus ganz begreifend, der diesem Abkommen zugrunde lag. Nach und nach setzte aber ein allgemeines Gemurmel ein. Die Augen vieler richteten sich auf Lord Heatherton, der aber blieb stumm. Nach einigen Augenblicken fuhr Channay fort und erzählte den Anwesenden in kurzen Worten von seiner Zeit im Gefängnis und was für einen Handel Heatherton ihm vorgeschlagen hatte.
»Das also ist die Geschichte meines Mißgeschicks und meiner Anwesenheit hier. Ich lege keinen Wert auf die Erneuerung Ihrer durch Lord Heatherton inspirierten Freundschaft als Gegenleistung auf meinen Scheck von einhunderttausend Mark. Ich will einer solchen Grundlage nichts verdanken. Der Zweck meiner Anwesenheit besteht nicht darin, mir Ihre einstige Achtung zu erlisten, sondern den Mangel aller Moral, die verderbliche geistige Einstellung und das Scheinleben Ihres erfolgreichen, aber ehrlosen Freundes Lord Heatherton aufzudecken.«
Bevor die Anwesenden richtig begriffen, was eigentlich vorging, hatte Channay, welcher der Tür am nächsten saß, den Saal verlassen. Die kleine Gesellschaft war so bestürzt, daß es keinem einfiel, Channay zurückzuhalten. Schließlich erhoben sich einige, Gruppen bildeten sich, die den Fall besprachen. Heatherton, die ausgebrannte Zigarette in der Hand, das Gesicht aschfarben, versuchte sich ihnen anzuschließen.
»Wollen die Herren mir vielleicht ein paar Worte gestatten?« bat er.
Einer der Gäste wandte sich ihm zu: »Dürfte nur wenig Zweck haben, Heatherton, es sei, daß Sie Channays Darlegungen entkräften können, was ich aber bezweifeln möchte.«
»Hat nicht den geringsten Zweck«, echote ein anderer.
»Ich will mich mal nach Channay umsehen«, schlug ein dritter vor.
Einer nach dem anderen schlüpfte aus dem Saal. Heatherton schaute ihnen mit erloschenen Augen nach, begab sich zu seinem Platz zurück und sah sich zum erstenmal in seinem Leben einer stärkeren Macht gegenüber, gegen die selbst seine machiavellische Schlauheit nichts ausrichten konnte. Schließlich stand er auf und schritt langsam heimwärts. Er suchte nach Argumenten, um Channays Darlegungen Lügen zu strafen und sich auf irgendeine Weise die Gunst dieser zwanzig Männer zurückzugewinnen. Sein Sekretär erwartete ihn mit größter Ungeduld und ging ihm bei seinem Eintritt in das Arbeitszimmer freudig erregt entgegen:
»Ein Bote hat dieses Schreiben überbracht.«
Heatherton erbrach das Siegel und las. Er wußte bereits, was es enthielt: es war die Einladung, welche ihm vor einer Stunde noch die Krönung seiner ehrgeizigen Lebensziele bedeutet hätte. Den Brief in seinen zitternden Händen, sank er in dumpfer Verzweiflung in einen Sessel. Sein Sekretär beobachtete ihn überrascht. Er hatte sich die Wirkung dieser ersehnten Botschaft ganz anders vorgestellt. Um die Ursache dieser unerwarteten Wandlung zu finden, überprüfte er fieberhaft die Liste der Gäste.
»Ist irgend etwas nicht in Ordnung, Sir?« fragte er leise.
»Eine kleine Komplikation . . . Lassen Sie mich auf eine halbe Stunde allein, Angus.«
Eine halbe Stunde lang saß Heatherton und drehte den Brief zwischen seinen Fingern. Er dachte und überlegte, aber es waren fruchtlose Gedanken, die aus keiner Enge führten. Dann überbrachte ihm sein Sekretär einen zweiten Brief.
»Der kam soeben vom Herzog von Oackham aus dem Carlton Club. Der Bote sagte, eine Antwort sei nicht nötig.«
Heatherton riß die Hülle auf. Der Brief war nur kurz und offenbar eben erst geschrieben worden. Der Herzog war Vizepräsident des Diners und hatte ihn dort noch als »Mein lieber Heatherton« angeredet.
»Sehr geehrter Lord Heatherton!
Solange Sie nicht in der Lage sind, die Anschuldigungen restlos zu entkräften und den Zweck dieses Diners zu erklären, zu dem Sie uns heute abend eingeladen hatten, vertreten ich und auch die Endesunterfertigten die Ansicht, daß Sie die Einladung des Premierministers, die Sie heute abend erreicht haben dürfte, besser nicht annehmen.
Oackham.«
Heathertons Charakter zeigte jetzt Mut und Sauberkeit. Von den Besten verlassen, war ihm der Gedanke an ein Leben, dessen Moral befleckt war, an ein Ringen unter minderwertigen Menschen und ewig unter dem Druck einer unsauberen Vergangenheit unerträglich. Er zerriß den Brief des Herzogs, legte die schmeichelhafte Einladung auf seinen Schreibtisch, entnahm mit fester Hand dem Geheimfach einen Revolver, setzte sich in seinen Stuhl und schoß sich durch den Kopf.