E. Phillips Oppenheim
Channay rechnet ab
E. Phillips Oppenheim

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Drittes Kapitel.
Lord Ishams Spiel

Auf dem breiten Teil einer Landzunge stand Gilbert Channays Haus, das er zum vorübergehenden Aufenthalt gemietet hatte. In einen grauen Fischersweater gekleidet, mit dazu passenden Knickerbockers und einem Paar Wasserstiefeln hatte er sich zum äußersten Ende der Landspitze begeben, um sich der stärkenden Salzbrise auszusetzen. Die fahle Blässe seiner jahrelangen Gefangenschaft war fast ganz einer frischen Farbe gewichen, die Seewind und Sonnenschein verleihen. Er trug eine Flinte unter dem Arm. Konnte er doch am Tage in den Marschen einer verlaufenen Schnepfe oder im Dämmer auf den Wellenbrechern stets einem Zug von Wildenten begegnen. Ihm zur Seite stand, nicht so recht in den Rahmen dieser verlassenen Gegend passend, Parsons, sein makelloser Diener, der sich der ländlichen Umgebung anzupassen suchte, indem er seinen schwarzen Anzug mit einem aus blauem Serge vertauscht hatte, ohne sich jedoch von der unvermeidlichen schwarzen Binde zu trennen. Seine Haltung zeigte immer eine gewisse Ehrerbietigkeit, die einen Teil seines Wesens ausmachte.

»Ich habe Ihren Wünschen nach Möglichkeit Rechnung zu tragen versucht«, erklärte er. »Sie wollten doch zu einem ein- oder zweimonatigen Aufenthalt einen Platz mit bescheidenen Sportsmöglichkeiten haben, der Fremden nicht zugänglich ist und die Möglichkeit bietet, deren Herannahen zu bemerken. Das Haus ist selbst während der Ebbe nicht zu erreichen, es sei denn, daß jemand den rauhen Pfad von zirka einem Kilometer entlang käme, und während der Flut sind es nur die paar Anwohner, die sich einem solchen Wagnis aussetzen würden, und was die Annäherung von der See betrifft, so muß man über diese Gewässer hier schon sehr gut unterrichtet sein, um sich gerade während der Flut zwischen den Sandbänken und durch die Bucht zurechtzufinden.«

»Ein famoser Platz, Parsons,« erklärte sein Herr begeistert, »für mich wie geschaffen. Fischen im Meer, Jagd in den Marschen und alle Bücher, die ich mir gewünscht habe. Ich hoffe nur, daß Ihre Frau nichts gegen diese Einsamkeit einzuwenden hat.«

»Meine Frau teilt meine Empfindungen ganz und gar. Auch sie findet kein Opfer zu groß, um Sie nach all diesen schrecklichen Jahren durch jede denkbare Bequemlichkeit zu entschädigen. Wir hoffen aber, daß Sie später wieder Verlangen danach tragen werden, mit Ihren Freunden zusammen zu sein.«

Gilbert Channay lächelte vergnügt.

»Keiner von Ihnen muß fürchten,« sagte er, »daß der kleine Verdruß, den ich hatte, mich in einen Einsiedler verwandeln wird. Ich habe aber erst ein paar Sachen zu erledigen und glaube, daß die am besten von hier aus behandelt werden; wenn ich damit fertig bin, werde ich ein paar Monate in London und Paris zubringen und danach entweder hier oder in Devonshire ein Haus kaufen.« Parsons hustete.

»Entschuldigen Sie gütigst, wenn ich es erwähne,« sagte er, »ich fühle ja selbst, daß ich mir damit eine große Freiheit gestatte, aber in den letzten Tagen wollte es mir scheinen, als schauten Sie wartend nach jemand aus.«

»Ganz recht, Parsons,« gab Channay heiter zu, »ich erwarte ein paar Besucher.«

»Ich denke so manches Mal an diese Herrschaften,« fuhr Parsons fort, »die für das Ungemach, das Sie betroffen hat, verantwortlich sind. Sie wünschen sich aber doch nicht etwa weiteren Gefahren auszusetzen durch den Versuch, mit ihnen in irgendeiner Weise abzurechnen. Ich hoffe, daß Sie meine Frage nicht anmaßend finden.«

»Durchaus nicht,« gab Channay versichernd zurück, »fahren Sie ruhig fort.«

»Da ist zum Beispiel dieser Mr. Mark Levy, einer von der Bande, den die Geschworenen von Norfolk zu drei Jahren Zwangsarbeit verurteilt haben, nur schade, daß es nicht zehn sind. Nun, seine Verurteilung dürfte, wenn es mir verstattet ist, frei von der Leber weg zu sprechen, einen Teil Ihrer Rechnung ganz zufriedenstellend begleichen, noch dazu so ganz durch Zufall. Was die anderen angeht, so wird Ihnen das doch wohl keine Sorgen machen? Die nehmen noch alle ein böses Ende.«

Gilbert Channay begann nun wieder dem Hause zuzuschreiten, während er die Patronen aus seiner Flinte nahm.

»Wissen Sie, Parsons,« sagte er, »ich bin mir noch lange nicht sicher, daß umgekehrt nicht auch ein Schuh draus werden könnte. Mag sein, daß diese Leute kommen und mich zu finden versuchen. Sehen Sie, ich nenne eine große Summe Geldes mein eigen, und da sind ihrer einige, die meinen, darauf Anspruch erheben zu können. Ich persönlich finde ja, daß sie ihren Anspruch verwirkt haben. Wie es aber mal so ist, die Meinungen gehen da auseinander. Die sehen die Sache vielleicht in einem ganz anderen Licht. Ich werde also ein oder zwei lästige Besucher schon erwarten müssen.«

»Mr. Channay,« fuhr Parsons hartnäckig fort, »ich kenne Sie doch nun, seit Sie ein Schuljunge waren und auch nachher, als Sie die Universität bezogen und später, als Sie in die Armee eintraten – bevor also Ihr Vater all das Geld verlor und Sie Kaufmann wurden. Sie hatten immer einen Hang zum Wagemut. Jetzt sind Sie ja geborgen und besitzen Geld in Hülle und Fülle. Aber auch der Mut hat seine Grenzen. Wenn Sie sich doch jetzt keinen Gefahren mehr aussetzen wollten, Mr. Channay, es wäre uns furchtbar, Sie wieder verlieren zu müssen. Niemand möchte das!«

Gilbert Channay hielt bei der kleinen Pforte an, die in seinen Besitz führte, und übergab seinem Diener die Flinte.

»Parsons,« sagte er, »Sie sind ein guter Kerl, und was Sie sprechen, ist auch vernünftig. Jetzt will ich Ihnen aber mal was anvertrauen. Ich muß mit den Kerlen Abrechnung halten, die mir schlimmer als alles andere im Leben zugesetzt haben. Ich glaube, daß ich nicht eher wieder Lebensfreude empfinde, als bis einige dieser Kleinigkeiten völlig erledigt sind. Eins dürfen Sie aber nie vergessen: was immer ihnen zustoßen möge, ist ihre eigene Angelegenheit. Ich werde schon auf mich achten . . . Jetzt telephonieren Sie Padmores in Norwich, daß sie noch mehr Patronen Nummer acht und einige zum Entenschießen schicken sollen, und sagen Sie Ihrer Frau, daß sie mir zum zweiten Frühstück wie gestern ein Omelette macht. Ich werde jetzt bis an das Ende der Bucht gehen.«

»In dreiviertel Stunden wird wieder Flut sein«, erinnerte ihn Parsons.

»Ich werde schon darauf achten«, versprach ihm sein Herr.

Gilbert kletterte die Grasböschung hinunter und wanderte über den schlammigen Boden der Bucht, wo seine Jolle hoch auf dem Trockenen lag. Auf der anderen Seite dehnte sich ein breiter Streifen Marschlandes, der bis zum Festland hinüberreichte. Da und dort wuchs Seelavendel um viele Sumpflöcher. Das Gras war smaragdgrün und ein träges Wässerchen führte einen Silberfaden von der Einbuchtung der See bis zum alten Städtchen. Ziegelgedeckte Häuschen drängten sich malerisch um den Hafen, wo kleine Frachtschiffe und Fischerboote friedlich lagen. Und jenseits breitete sich das Land, tieffarbig und reich an fruchtbarer Erde, die sich dem farbensehnenden Auge in einer sanften Symphonie von altgold, seidenem flachsgelb und dunkelgrün darbot und sich in weichen Linien bis zu einem langen Bergrücken ausdehnte, der mit einer Gruppe herrlicher Kiefern bestanden war. Der Turm einer alten Kirche stand plastisch vor dem leeren Hintergrund. Kleine Bauernhäuser säumten das ländliche Bild und ein Wegstreifen verlor sich schlängelnd im Wald. Channays Blicke ruhten gedankenvoll auf der Gegend, als er ein Auto herankommen sah. In der Ferne leuchteten seine helleren Metallteile im Glanz der Sonne wie flüssiges Feuer auf. Schließlich verschwand es im Städtchen, und Channay verfolgte im Geiste den Weg bis zur Stelle, wo es hinter dem Kai wieder erscheinen mußte, wenn der Fahrer nicht vorzog, bei einem der zwei Gasthäuser in der Hauptstraße abzusteigen. Er sollte nicht lange warten, denn das Auto erschien an der Stelle, auf welche er den Blick unverwandt geheftet hatte. Von dort bog es in den rauhen Pfad ein, der zu seinem eigenen Hause (es hieß »Seamans Grange«) und zu einem am Rande des Festlandes gelegenen Bauernhofe führte. Channay verfolgte die Fahrt über Stock und Stein, bis es, einen halben Kilometer entfernt, am schwarzen Tor hielt, auf dem der Name des Hauses angemalt war. Der Chauffeur stellte an einen Fuhrmann, der sich auf das Bauernhaus zu bewegte, Fragen, nach deren Beantwortung er seinen Sitz verließ und die Tür des Autos öffnete. Er sprach mit seinem Fahrgast ein oder zwei Minuten. Channays Gesicht erstarrte, als er die große und schlanke Gestalt einer Frau aus dem Wagen steigen sah. Der Chauffeur öffnete ihr das Tor. Sie wandte sich ihm noch einmal zu, offenbar, um ihm noch einen letzten Befehl zu erteilen. Dann begab sie sich auf den Weg, den einzigen, auf dem sein Landhaus zu erreichen war. Channay ging auf einem heimlichen, überwucherten Seitenpfad zum Hause zurück und eilte gleich in den ersten Stock an ein Fenster. Auf dem Sims lag ein Revolver, eine Schachtel Patronen, eine Schrotflinte und ein Feldstecher. Er nahm den letzteren und studierte die herannahende Gestalt. Er brauchte kein zweites Mal hinzusehen; denn keiner anderen Frau war diese seltene, beschwingte Anmut eigen.

So hatten sie ihn doch gefunden! Sie kam natürlich als Abgesandte. Wie typisch für die Menschen, deren Werkzeug sie war! . . . Er ging die Treppe hinunter und sprach noch ein paar Worte mit Mrs. Parsons. Eine Minute später lehnte er wartend an einer Flaggenstange im Vorgarten. Eine Backsteinmauer umzog das kleine Gut, so daß er von seinem Standplatz das Herannahen seines ungewöhnlichen Besuches nicht beobachten konnte. Es dauerte jedoch nicht lange und er vernahm das Zurückfallen der äußeren Zauntür und das Aufklinken des Pförtchens. Nun trat er etliche Schritte vor und kam ihr gerade am Anfang des mit bunten Ziegeln belegten Weges entgegen.

»Das ist ja eine hohe Ehre«, sagte er mit einer kurzen Verbeugung.

Sie sah ihn mit großen, braunen, flehenden Augen scheu an, ihrer selbst nicht ganz sicher.

»Gilbert,« gestand sie, »meine Schuld ist's nicht. Ich komme auf Betreiben der anderen.«

»Ich kann mir leicht vorstellen,« erwiderte er, »daß du diesen Ausflug schwerlich zu deinem Vergnügen gemacht hast.«

Sie schien zu frösteln.

»Gilbert, du hast dich so verändert«, fuhr sie fort. »Du pflegtest doch nie verletzende Dinge zu sagen. Weshalb lebst du an einem so eigentümlichen Platz?«

»Weil er mir gefällt«, sagte er. »Außerdem fühle ich mich wie ein mittelalterlicher Baron in seiner Burg. Ich kann Eindringlinge entdecken und mich auf ihren Empfang vorbereiten.«

»Du sahst mich also kommen?«

»Als du vom Weg abbogst. Wie du siehst, kann das Haus nur auf zwei Wegen erreicht werden, vom Deich und von der Bucht her. Und letztere ist nur bei Flut zu benutzen.«

»Weshalb erklärst du jedermann den Krieg?« fragte sie mit einer Spur von leidenschaftlicher Gereiztheit in der Stimme. »Weshalb benimmst du dich nicht wie ein vernünftiger Mensch? Auch dann würdest du noch reich sein. So viele deiner Freunde möchten dich zu gern wieder in ihrer Mitte sehen.«

»Du bist doch nicht etwa hergekommen,« bemerkte er, »um mit mir über meine Zukunft zu sprechen.«

»Das nicht«, stimmte sie ihm zu. »Es war lediglich Sinclairs Idee, die mich veranlaßte zu kommen, und dann auch Georges, und ich will dir gleich sagen, wieso.«

»Willst du ins Haus kommen?« fragte er. »Wir können aber auch hier sitzen oder außerhalb der Mauer. Wenn es dir Vergnügen macht, können wir die Flut in der Bucht herauskriechen sehen. Es ist ein fesselnder Anblick, das Steigen der Flut zu beobachten.«

»Ich bleibe sehr gern hier draußen«, entschied sie. »Könnte ich erst ein Glas Wein haben? Ich fühle mich ganz schwach. Die schickten mich schon in aller Hergottsfrühe heraus, damit ich noch vor Dunkel zurück sei.«

»Aber gerne«, sagte er, während er dem Hause zuschritt.

Parsons kam ihm schon entgegen und meldete, daß das Frühstück aufgetragen sei. Sie saßen nun Seite an Seite an einem runden Tisch des behaglichen Speisezimmers. Die Frau aß und trank mechanisch. Sie schien sich etwas schwer in die Lage zu finden, während Channay, obgleich er ein- oder zweimal in Gedanken versank, sich scheinbar ganz wohl fühlte. Auf seine Veranlassung hin wurde der Kaffee im Freien eingenommen. Sie saßen in Korbstühlen und konnten mit Muße beobachten, wie die Bucht sich füllte und das Wasser gierig das Boot umspülte.

Plötzlich unterbrach die Frau die kurze Stille.

»Man schickt mich,« sagte sie, »weil Sinclair ein Dokument in Verwahrung hatte, von dem er glaubte, daß es dich interessieren würde. Schon der Umstand, daß ich es dir anbiete, ist ein Geständnis ihrerseits. Nichts kann das auslöschen oder rechtfertigen, was sie getan haben, sie denken aber, daß dies Dokument für dich von besonderem Interesse sein würde.«

Sie übergab ihm eine Rolle dicken Kanzleipapiers, das an den Rändern etwas vergilbt und ausgerissen war, offenbar durch wiederholte Versuche, es in die lange Briefhülle hineinzuzwängen, aus der sie es jetzt wieder hervorzog. Gilbert Channay glättete es auf seinen Knien und las:

122a.   Pall Mall.
London S. W.

Die Unterzeichneten, sind zu folgender Vereinbarung gelangt:

1. daß Gilbert Channay in seiner Eigenschaft als Leiter unseres Syndikates seine Position dazu mißbraucht hat, um eine ungehörige und ungerechtfertigte Gewinnbeteiligung zu fordern;

2. daß wir uns bereit erklären, die Beweise zu erbringen, die unser Rechtsbeistand für erforderlich hält, um Gilbert Channay der Aufstellung einer betrügerischen Bilanz in bezug auf die Geschäfte der Siamese Corporation zu überführen;

3. daß, wenn Gilbert Channay überführt werden sollte, das Vermögen unter den Endesunterzeichneten gleichmäßig verteilt wird. –

(Gezeichnet):

Isham
Sinclair Coles
Edward Sayers
Matthew Baynes
Malcolm Drood
George F. Browning
Nicholas Euphratos
Giles Anderton
Mark Levy (durch Vollmacht)

Channays Züge schienen zu Stein erstarrt und das halb spöttische Leuchten in seinen Augen war einem metallenen Glanz gewichen.

»Ein kaltblütigeres, schuftigeres Dokument ist mir noch nie vor Augen gekommen«, bemerkte er kühl.

»Es ist einfach schrecklich«, gab sie zu. »Natürlich versuchen sie zu behaupten, daß du sie übervorteilt habest und daß solche Handlungen in der City üblich seien. Und doch wissen sie genau, daß die ganze Sache abscheulich war!«

»Und außerdem töricht«, sagte er nachdenklich. »Dachten sie wirklich, daß ich mein Geld so anlegen würde, daß jedermann, mit Ausnahme von mir, danach greifen könnte? Mein Privathauptbuch war in bester Ordnung. Ein jeder Pfennig unseres Gewinnes würde ehrlich verteilt worden sein, ich hütete mich aber, jemand anders Zutritt zu dem Geld zu ermöglichen. Es war auf meinen Namen angelegt, auf meinen Namen allein.«

»Das haben sie auch herausgefunden«, sagte sie. »Immerhin, Gilbert, wenn sich auch alle diese Männer bodenlos schlecht benommen haben, ein Teil des Geldes kommt ihnen aber doch zu, findest du nicht auch?«

»In einem gewissen Sinne wohl,« gab er zu, »sie kriegen es aber nicht. Die wissen ganz genau, daß nicht einer von ihnen gesetzlichen Anspruch darauf erheben kann.«

»Moralisch schuldest du aber einem jeden von ihnen fünfhunderttausend Mark oder wieviel es ist.«

»Unter den gegebenen Umständen finde ich die Bezeichnung ›moralisch‹ durchaus unangebracht«, sagte er abweisend. »Es ist mir sehr lieb, dieses Dokument zu sehen. Es ist mir auch lieb, zu wissen, daß jeder einzelne vom Syndikat in dieses schandvolle Geschäft verwickelt war, einen ausgenommen.«

»Eric Rodes weigerte sich«, sagte sie. »Er verließ das Land bald darauf.«

»Ich werde nach Eric Rodes forschen«, erklärte Channay. »Er wird seinen Anteil erhalten. Die anderen sollen nicht einen Pfennig bekommen. Ganz im Gegenteil. Durch das, was sie getan haben, sind sie meine Feinde geworden, und du weißt sehr gut, Miriam, daß ich mich niemals an christliche Grundsätze gehalten habe, was die Behandlung meiner Feinde betraf.«

Obgleich sie im Sonnenschein saß, schien sie wieder zu frösteln. Die Stimme des Mannes klang hart und unversöhnlich.

»Ich bin dann also umsonst gekommen?« seufzte sie.

»Was hattest du eigentlich erwartet?« fragte er.

Sie blickte einige Augenblicke von ihm weg. Ihre Augen folgten gleichgültig dem Wellengekräusel der steigenden Flut. Andere Gedanken stiegen in ihr auf.

»Ich will dir sagen,« vertraute sie ihm verächtlich an, »welche verfluchte Idee die beiden Männer veranlaßt hat, mich zu schicken. Sie wußten nämlich, wie sehr du einst in mich verliebt warst, oder es wenigstens schienst. George, mein Mann also, dessen Eifersucht mir das Leben unerträglich macht, hat sich nun alles ausgedacht. Er bildete sich ein, wenn ich zu dir käme, solang du allein seiest und dir schöne Dinge sagen würde, daß dies dich einfach wachsweich machen müßte. Und wenn ich dir das Dokument in die Hände legen und dir Informationen geben würde, die du sonst auf keine andere Weise empfangen kannst, daß ich dadurch deine Gefühle beeinflussen könnte. Du siehst, wie George mir trotz seiner Eifersucht Vertrauen schenkt. Ich glaube sogar, mir ist gestattet, dich verheißungsvoll anzublicken, meine Hand in die deine zu legen, vielleicht gar dich zu beschwören und durch einen geheimen Zauber zur Öffnung deines Scheckbuches zu bewegen. Dann würde ich nach getaner Arbeit wieder in den Wagen klettern, heimschaukeln, heut nacht dort ankommen, wenn sie gerade ihr opulentes Mahl beenden – obgleich wir Bettler sind, besteht Sinclair nun mal darauf –, und den Scheck um ihre Nasen flattern lassen. George würde mir stillen Lobes voll und tief bewegt huldvoll auf die Schulter klopfen, während Sinclair mir ein Glas Wein einschenkt. Ein paar Tausend zur Bezahlung meiner drängendsten Schulden bekäme ich schließlich . . . das wär's, Gilbert . . . hier hast du einen genauen Auszug von dem, was man durch mich zu erreichen hofft!«

»Die Dinge wickeln sich nur nicht immer programmäßig ab«, bemerkte Channay. »Dieser Plan dürfte zum Beispiel ein oder zwei schwache Stellen haben, durch die er scheitert.«

Channay hatte sich ihr nun zugewendet. Sein Gesicht hatte die Spannung verloren und seine Augen blickten interessiert. Nur die kleine Falte um die Mundwinkel ließ eine verborgene Drohung vermuten.

»Liebst du George noch immer?«

»Guter Gott, nein!« rief sie aus.

»Warum hast du ihn geheiratet?« fragte er.

»Ich weiß es nicht«, gab sie zu.

»Du weißt es. Sage es mir.«

»Wenn du also darauf bestehst«, willigte sie mit einer Geste des Widerwillens ein. »Es hört sich schrecklich an. Du warst im Gefängnis, und ich fühlte, selbst wenn ich Frau genug wäre, dies zu vergessen, du vielleicht einen entgegengesetzten strengen Standpunkt einnehmen würdest. Ich war keine Frau. Das Leben, das wir Mädchen in diesen Tagen führten, müßte jeden verwöhnen. Ich gab also den Gedanken auf, dich zu heiraten. Ich träumte, wie wunderschön es sein müsse, Gräfin Isham zu sein. George drängte zur rechten Zeit auf die Heirat, und so heiratete ich ihn denn auch. Mehr kann ich dir nicht sagen – außer, was du wahrscheinlich schon selbst erraten hast – nämlich, daß unsere Heirat ein gründlicher Irrtum war.«

»So. Hm«, sagte er leise vor sich hin. »Und George ist eifersüchtig, was?«

»Lächerlich eifersüchtig«, antwortete sie. »Bis jetzt ohne die geringste Ursache.«

Sie hob ihren Kopf und sah ihn an. Sie war wunderschön. Selbst die dunklen Schatten unter ihren Augen verliehen ihr einen fremdartigen Reiz. Ihr schlichtes, seidengestricktes Gewand hob ihre schmale, schlanke Figur vorteilhaft hervor. Das Fehlen aller kosmetischen Hilfsmittel gab ihr die Möglichkeit, im Sonnenschein zu sitzen und in dem Licht noch schöner auszusehen.

»Hast du mich überhaupt noch gern?« fragte Channay.

»Gilbert, keine Gewissensfragen«, bat sie etwas unsicher.

»Ich will nur wissen, wie wir stehen«, fuhr er fort, indem er ihre Hand in die seine nahm. »Glaubst du, daß George dich hätte fahren lassen, wenn er geglaubt hätte, daß ich dir den Hof machen würde?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Selbst George ist nicht so ein unsäglich gemeiner Kerl«, sagte sie.

»So ist das. Er ist eingebildet und eifersüchtig zugleich. Du gehörst ihm, und er bildet sich ein, von dir Gebrauch machen zu können, ohne etwas dabei zu riskieren. Gerade das wollte ich wissen.«

»Ich will dir noch das eine sagen«, vertraute sie ihm mit leise bewegter Stimme an, »ich glaube, wenn er das Gefühl gewahrt hätte, das ich in meinem Herzen heimlich glühend zu erhalten vermochte, so hätte er das Dokument zerrissen und lieber dem Bankerott entgegengesehen, als mir die Erlaubnis zu geben, dich aufzusuchen.«

»Bankerott! So schlimm steht es schon?«

»Innerhalb der nächsten Wochen, wenn sich nicht vorher ein Wunder ereignet oder ich bei dir Erfolg habe.«

»Teile mir jetzt in kurzen Worten mit, was du von mir willst?« bat er.

Sie wandte ihm ihr Gesicht zu, aber er vermied es, in ihre Augen zu sehen. Dann schaute sie wieder auf das Meer hinaus.

»Ich bin mir nicht ganz sicher«, seufzte sie. »Ich kann es dir nicht sagen, Gilbert. Ist die Frage nicht ein bißchen hart?«

»Dann antworte mir nur von ihrem Standpunkt aus«, schlug er vor. »Was erwarten sie von deinem Besuch bei mir?«

»Das ist etwas anderes«, erwiderte sie. »Sie wollen, daß du das Dokument als Beweis dafür annimmst, daß jeder einzelne, außer Eric Rodes, in gleicher Weise in die Sache verwickelt war, und daß du ein wenig mir zuliebe, in Anbetracht meines Bittens und Flehens und ein wenig ihretwegen, weil sie dir das Dokument ausgeliefert haben, ihnen einen Scheck, sagen wir in Höhe von einer Million Mark als ihren Anteil gibst. Wenn du das tun würdest, dann glaube ich kaum, daß sie sich noch darum kümmern, ob du die anderen bezahlst oder nicht.«

»Hm«, murmelte er.

Eine längere Stille folgte. Die Bucht hatte sich nun vollkommen mit Wasser gefüllt und die Jolle tanzte lustig auf den Wellen. Channay erhob sich.

»Wollen wir ein bißchen segeln?« fragte er.

Sie blickte erstaunt zu ihm auf.

»Würde es lang dauern?« fragte sie nachdenklich.

»Würde es was schaden?« gab er zurück, und seine Stimme klang wieder etwas freundlicher.

Sie sah ihn fest an, mit Augen voll ungelöster Fragen. Sein Wesen hatte sich augenscheinlich seit ihrer Ankunft geändert, etwas Sanftes angenommen und doch erregte etwas in seinem Gesichtsausdruck ihr Mißtrauen und bildete eine Schranke zwischen ihnen.

»Ich finde nicht«, gab sie zu. »Was sollte überhaupt schaden, in der Tat nichts.«

»Komm ins Haus, Mrs. Parsons kann einstweilen deinen Hut in Verwahrung nehmen«, schlug er vor. »Auf dem Wasser weht eine so kräftige Brise, daß du besser ein Tuch um den Kopf bindest.«

Sie begaben sich nun ins Haus. Channay gab Parsons noch etliche Anordnungen, dann gingen sie zum Boot hinunter. Bald waren sie unterwegs, und Miriam genoß, in weiche Kissen gelehnt, den Zauber des Meeres. Sie entfernten sich immer mehr vom Ufer, bis sie zu einem Meeresarm gelangten. Hier befestigte er das Segel, nahm die Ruderpinne zur Hand, setzte sich an ihre Seite und holte sich eine der Zigaretten, die auf ihrem Schoße lagen.

»Erinnerst du dich der Zeit, als wir uns in Bourne End ebenso vergnügten?« sprach er nachdenklich.

»Wie liebenswürdig wirst du noch weiter sein?« fragte sie ihn unterbrechend. »Da wir nicht mehr zueinander stehen wie früher, laß die alten Erinnerungen schlafen. Wenn du wüßtest, was mir das Leben heute ist, würdest du es nicht tun.«

Channay überhörte die Bewegung in ihrer Stimme; er blickte grübelnd auf das Meer. Dann begann er ein unzusammenhängendes Gespräch über die Umgegend, zeigte ihr die Grenzen, Sandbänke, Fischgründe. Sie antwortete nur einsilbig und schwieg schließlich ganz. Die Brise war nicht mehr sehr stark, und sie kamen nur langsam vorwärts. Manchmal hielt sie die Augen geschlossen, manchmal beobachtete sie ihn mit halbgeöffneten Lidern. Die Zeit schien ins Unbegrenzte überzugehen. Als sie sich endlich wieder der heimischen Bucht näherten und sie den tiefen Stand der Sonne bemerkte, stieß sie einen leisen Schrei aus.

»Wir müssen ja stundenlang weggewesen sein!« rief sie aus.

»Stimmt«, antwortete er. »Es ist jetzt sechs Uhr.«

»Gütiger Himmel!«

Sie setzte sich erschrocken auf.

»Weißt du, daß ich fünf Stunden brauchte, um hierher zu kommen?«

»Kann schon sein«, gab er trocken zurück.

Er war mit der Landung beschäftigt und warf Parsons, der schon am Ufer stand, das Seil zu.

»Ist der Tee fertig, Parsons?« erkundigte sich Channay.

»Im Arbeitszimmer«, sagte er. »Sobald Sie in Sicht kamen, habe ich angeordnet, Tee für Sie zu bereiten.«

»Sollen wir eigentlich jetzt aussteigen?« fragte Channay zögernd.

»Ja«, antwortete sie.

Er führte sie in eine kleine Klause, die eine mattrote Tapete aufwies, eine reiche Auswahl von Büchern, eine wunderbare ›Queen Anne‹-Einrichtung und etliche kostbare Stiche. Flinten, Fischruten und Golfschläger standen in einer dunklen Ecke. Das Fenster gewährte einen Ausblick auf den Rasen. In seiner Nische stand ein bequemer Diwan, von dem aus man auf das Meer schauen konnte. Channay war ein aufmerksamer, aber schweigsamer Wirt. Sie lobte das Gebäck und die Sahne, während er ihr immer rätselhafter wurde und sie fast verwirrte. Schließlich hielt sie es nicht länger aus, zündete sich eine Zigarette an und wandte sich ihm zu.

»Gilbert,« begann sie, »es wäre jetzt an der Zeit, daß du einen Entschluß faßtest. Ich werde schrecklich spät nach Hause kommen.«

»Ich kann mich noch nicht entschließen«, entgegnete er.

»Irgendeine Antwort mußt du mir aber geben.«

»Wenn die Zeit kommt, ja. Laß uns jetzt ein bißchen auf den Rasen gehen, Parsons wird gleich kommen, um das Teegeschirr wegzuräumen.«

Sie standen nun nebeneinander und lehnten an der Mauer.

»Ich werde kaum vor Mitternacht zu Hause sein«, erinnerte sie ihn. »Johnson muß ja schon seit Stunden auf mich warten. Ich hatte ihm nämlich befohlen, mich um drei Uhr hier abzuholen.«

Sie sah in der Richtung des Tores, konnte aber keinen Wagen entdecken.

»Wo er wohl ist?« sprach sie leise vor sich hin.

»Ich nehme an, jetzt wieder in Ringley«, antwortete er.

Sie wandte langsam ihren Kopf und blickte ihn an.

»Gilbert, was willst du damit sagen?«

»Was ich gesagt habe, nichts anderes«, erwiderte er ruhig. »Ich habe ihn wieder heimgeschickt und deinem Gatten sagen lassen, daß du morgen irgendwann zurückkehren würdest.«

Eine Blutwelle färbte ihre Wangen und ein eigner Glanz funkelte aus ihren Augen. Sie ergriff seinen Arm.

»Gilbert!« rief sie aus. »Gilbert?«

»Dies ist allerdings der Sinn dieser mir aufgezwungenen Gastfreundschaft«, fuhr er fort. »Ich werde dir das morgen erklären, ehe du weggehst. Vorläufig wirst du dich dreinschicken müssen, die Nacht über hierzubleiben. Ich habe das Abendbrot auf acht Uhr bestellt, und außerdem steht dir ein sehr gemütliches Fremdenzimmer zur Verfügung. Es soll dir an nichts fehlen.«

»George wird ja den Verstand verlieren!« rief sie aus. »Warum willst du mich denn zurückhalten? Sage . . . warum? Ich verstehe das nicht.«

»Du wirst es schon verstehen, bevor du gehst«, versicherte er sie. »Bitte, füge dich also in das Unabänderliche. Du wirst selbst die Unmöglichkeit einsehen, von hier fortzukommen. Denke nur nicht, daß ich mich etwa ins Melodramatische verliere, durchaus nicht. Verschlossene Türen und dergleichen gibt es nicht, und doch dürftest du kaum ungesehen den dreiviertel Stunden langen Deichweg einschlagen können; und es würde dir ebensowenig Vorteil bringen, wenn du das Städtchen auch erreichst. Die nächste Bahnstation liegt elf Kilometer von hier entfernt, der letzte Zug ist vor einer halben Stunde abgegangen, und ein anderes Auto ist hier nicht zu haben.«

»Ist der Wagen wirklich zurückgefahren?« fragte sie.

»Wirklich und wahrhaftig«, erwiderte er.

Sie preßte seinen Arm. Sie zitterte am ganzen Leibe – aber nicht aus Furcht.

»Nun,« erklärte sie, »George schickte mich, und ich denke, er war sich darüber klar, daß man bei dir immer auf etwas Ungewöhnliches gefaßt sein muß. Wie aber denkst du, daß ich die Lage ansehe?«

»Ganz einfach als reizenden Gast auf einem nicht häßlichen Fleckchen Erde«, antwortete er. »Wir könnten noch ein Stündchen in den Marschen spazierengehen, und später will ich dir beweisen, daß ich die Kunst im Bereiten von Cocktail noch nicht verlernt habe.«

»Und dann . . .?« fragte sie atemlos.

»Wir haben auch ein Klavier. Vielleicht hast du Lust, ein wenig zu spielen? Und dann, hoffe ich, daß du die köstliche Ruhe der Nacht richtig zu würdigen weißt. In meinem Leben habe ich noch nie so gut geschlafen wie hier.«

Sie lächelte sonderbar, fast gezwungen.

»Zeige mir jetzt die Marschen«, bat sie. »Sie sehen wunderbar schön aus. Bitte, könntest du mir einen Stock leihen?«

Sie gingen wohl eine Stunde durch die Schönheit des Marschlandes. Sie beobachteten den kreisenden Flug der Möwen oder hie und da eine Schnepfe, die mit ihrem wunderlichen Schrei aus ihrem Versteck aufflog. Es war schon gegen acht Uhr, als sie zum Hause zurückkehrten. Miriam, welche die ganze Zeit über ziemlich gesprächig war, wurde plötzlich schweigsam. Sie lehnte sich im Sessel zurück und beobachtete Channay beim Mixen des Cocktails. Er reichte ihr ein großes Glas und schob ihr die Zigaretten hin.

»Gilbert,« bekannte sie ihm, »als ich zuerst kam, da hielt ich dich für verrückt. Jetzt aber finde ich, daß du der vernünftigste Mensch bist, der mir je begegnet ist. Dieser Platz ist herrlich.«

»Ein bißchen einsam«, seufzte er.

Sie schlug die Augen vor ihm nieder. Die Finger, welche ihr Glas hielten, zitterten. Er wandte sich ab, um sich nun selbst ein Glas einzuschenken.

»Ich werde auf dies unerwartete Vergnügen trinken«, sagte er ruhig. »Gib mir dein Glas – –«

Er füllte es frisch auf.

»Gilbert,« bat sie, als sie sich einige Minuten später erhob, »ich beschwöre dich, sag mir das eine. Hier stehe ich, gehorsam, deine Sklavin. Sei natürlich. Selbst in dieser Minute will mir scheinen, daß uns etwas Fremdes umgibt, daß etwas Fremdes zwischen uns steht. Warum kannst du nicht – – –«

Sie brach ab. Er nahm ihre Hände in die seinen und führte sie an die Lippen. Sein Arm legte sich sachte um ihre Hüfte.

»Meine liebe Miriam,« sagte er, »drei lange Jahre war mir der Genuß versagt, mich mit einer Frau zu unterhalten. Ich bin also noch etwas plump. Das wird aber zweifellos wieder vergehen . . . Hier ist Mrs. Parsons. Sie wird dir bei deiner Toilette nach Wunsch behilflich sein und dir dein Zimmer zeigen. Wollen wir uns in ungefähr einer halben Stunde treffen?«

Das Gefühl der Anspannung, die niemals ganz nachgelassen hatte, erfuhr während des Mahls durch Parsons Anwesenheit eine gewisse Milderung. Das Essen war einfach, aber vorzüglich. Hummer (vom Nachmittagsfang), Lammrücken, Spargel, Obst und Creme. Der Kaffee wurde auf Miriams Wunsch im Freien genommen. Sie beobachteten das Nahen der Nacht, die aufglimmenden Lichter in den Bauernhäusern und das Verschwinden des weiten Marschlandes in der Dunkelheit. Beide sprachen nur wenig. Miriam schien sich dem Gebot der Umstände gefügt zu haben. Eine eigene, körperliche wie geistige, Müdigkeit hatte sich ihrer bemächtigt. Sie lehnte sich im weichen Stuhl zurück, die Hände hinter ihrem Kopf gefaltet, ihre Augen traumverloren auf die weite Fläche des Meeres geheftet. Sie schaute nach den aufglimmenden Lichtern der Fischerboote und kleinen Frachtdampfer und folgte dem späten Flug der Wildenten und Wildgänse. Die Kirchturmuhr schlug elf. Plötzlich lehnte sie sich zu Channay hinüber, und er fühlte eine warme Hand auf seinem Arm ruhen.

»Gilbert,« flüsterte sie, »weißt du, daß du mich heute nachmittag recht gequält hast? Soll ich dich an jene Nacht auf der Jacht bei Gibraltar erinnern?«

Sie neigte sich ihm noch näher zu, und er beugte sich wie gegen seinen Willen über sie. Ihre Lippen begegneten sich in einem langen Kuß. Ein Uhu ließ sich ganz in der Ferne vernehmen. Weit draußen auf dem Meer konnte man das Stampfen einer Schiffsmaschine hören. Er ließ sie ganz sanft aus seiner Umarmung los, während seine Lippen sich nur zögernd von den ihren trennten.

»Mrs. Parsons«, flüsterte er, »wartet, um dich nach deinem Zimmer zu geleiten.«

»Muß ich gehen?« fragte sie.

»Schon besser, du gehst«, riet er ihr.

Er lauschte ihren widerstrebenden Schritten, ihrer sanften Stimme, während sie mit der Haushälterin sprach. Dann schrieb er noch eine Stunde in seinem Arbeitszimmer. Nachdem er mit seinen Geschäften fertig war, fuhr er, noch im Abendanzug, mit seiner Jolle bis zu einer sandbankversperrten Bucht. In der Ferne sah er die Lichter einer kleinen Segelflotte, die gerade den Hafen verließ. Er warf den Anker aus und gab sich ganz der Stille der Nacht hin. Er beobachtete die Sterne und sah den Mond über den Bergrücken herauskommen und am Himmel aufsteigen. Auf einmal merkte er, daß er geschlafen hatte. Die Sterne leuchteten bleicher und ein Lüftchen umwehte ihn, der erste Vorbote herannahender Morgendämmerung. Er lichtete den Anker und ließ das Boot eine Strecke heimwärts treiben. Als er wieder anlegte, begann es im Osten ganz leise zu dämmern. Er ging ins Haus und begab sich gleich in sein Zimmer.

Es war ein eigentümliches Zusammentreffen, als er gerade im Freien bei seinem Morgenkaffee saß, daß Isham, halb laufend, halb gehend, auf dem engen Deichweg in dem gleichen Augenblick auftauchte, als Miriam aus dem Hause trat, bleich wie der Tod, mit schwarzen Rändern unter den Augen. Channay erhob sich, sie zu begrüßen.

»Hoffentlich hast du gut geschlafen? Dein Kaffee – –«

»Danke bestens«, unterbrach sie ihn. »Ich habe mir Tee bestellt. Mrs. Parsons hat ihn mir aufs Zimmer gebracht. Wann gestattest du mir, fortzugehen?«

Er wies auf ihren Gatten hin, der kaum noch fünfzig Meter von ihnen entfernt war.

»Wie du siehst,« sagte er, »wartet dein Wagen hier.«

»Und was soll dies alles heißen?« fragte sie.

»Das werde ich dir erklären«, antwortete er. »In einer gewissen Beziehung ist deine Mission nicht ganz mißlungen.«

»Du wirst doch selbst einsehen,« sagte sie mit allem Bedacht, »daß du mich roh behandelt hast.«

»Was ich durchaus nicht einsehen kann«, protestierte er. »Nur wegen einer einzigen Sache bitte ich dich um Verzeihung – ich meine den gestrigen Abend, als wir hier in diesen Stühlen saßen.«

Sie richtete sich stolz auf.

»Und ich,« versetzte sie, »wie vermöchte ich meine Demütigung zu ertragen, wenn nicht die Erinnerung an diesen einen Augenblick mich mit meinem Geschick versöhnte?«

Isham hatte sich seine Rede wohl zurechtgelegt, als er aber diesen beiden gegenüberstand, fehlten ihm die Worte. Er blickte von einem zum andern, mit geballten Fäusten und geschwollenen Stirnadern.

»Du wirst wohl besser zum Wagen gehen«, sagte er zu seiner Frau. »Ich habe mit Channay noch zu reden.«

»Das sehe ich nicht ein«, antwortete sie. »Du hast mich zu ihm geschickt, und jetzt will ich auch das Ende hören.«

»Das will ich dir erleichtern«, sagte Channay, indem er eine Briefhülle aus der Tasche zog. »Deine Frau, Lord Isham, hat eine Nacht in meinem Hause verbracht, mit mir das gleiche Dach geteilt. Ich befürchte aber, wenn dein Chauffeur nicht ganz diskret ist und die Einwohner dieses schwatzhaften kleinen Städtchens ihren Charakter nicht verändert haben, daß ein kleiner Skandal entstehen könnte. Vielleicht kannst du dir jetzt einen leisten, Isham. Du schicktest deine Frau zu mir, indem du ihrem Einfluß über mich vertrautest. Du hast dich hierbei einer Gefahr ausgesetzt, da dir doch bekannt war, wie wir früher einmal zueinander gestanden haben.«

»Und die Gefahr, der du dich ausgesetzt hast?« gab Isham zurück. »Meinst du, daß du etwa glatt davon kommen wirst? Ich habe ihr vertraut und scheine dabei zum Narren geworden zu sein. Ich werde mich von ihr scheiden lassen. Was aber nun mit dir?«

Channay lächelte.

»Du wirst dich niemals von ihr scheiden lassen«, erwiderte er. »Isham, dein Weg führt bergab, und weil ich das so klar erkenne, sehe ich davon ab, dich verdienterweise Hals über Kopf ins Wasser zu schmeißen. O nein, solange dich deine Frau nicht verläßt, wirst du dich nicht von ihr scheiden lassen, du siehst, daß sie die wichtigste Quelle deines Einkommens bedeutet. Diese Papiere habe ich gestern abend noch geschrieben«, fügte er hinzu, indem er ihm die Briefhülle übergab. »Die fünfhunderttausend Mark wirst du nicht von mir erhalten, ebensowenig werden deine elenden Bundesgenossen etwas von dem Geld zu sehen bekommen. Aber deiner Frau setze ich eine lebenslängliche Jahresrente von vierzigtausend Mark aus. Willst du dich jetzt noch von ihr scheiden lassen?«

Gespannte Stille herrschte, die zuerst durch Miriams leises Stöhnen unterbrochen wurde.

»Vierzigtausend jährlich«, fuhr Channay fort, »ist nicht viel, andererseits stellen sie eine gewisse Sicherheit dar, da sie euch mit dem Notwendigsten versorgen. Jedenfalls hat Miriam dies nun für den Rest ihres Lebens. Das Dokument muß nur noch gestempelt werden, Isham. Das wäre alles.«

Entstellt, wildäugig und bebend schien Lord Isham für einen kurzen Augenblick von einem Gefühl ungezähmter Selbstvernichtung erfüllt. Miriam und Channay beobachteten ihn aufmerksam. Die heftige Anwandlung ging aber vorüber, und Lord Isham steckte das Dokument in seine Tasche.

»Ich werde mir das noch ansehen«, murmelte er. »Komm jetzt mit, Miriam.«

Gilbert Channay mußte wieder lächeln.

»Du wirst dir das ansehen«, wiederholte er, »und dich darüber freuen. Du nimmst deine Frau ja nur zurück, weil sie vierzigtausend pro Jahr hat. Und jedesmal, wenn sie einen Scheck ausschreibt, wirst du etwas tiefer rutschen. Jeden Monat, den du von ihrem Geld lebst, wirst du dich mehr erniedrigt fühlen. Das wäre alles, Isham, was ich dir zu sagen hätte. Einer nach dem andern von euch neun, die ihr das verfluchte Dokument unterzeichnet habt, soll ein bißchen von der Hölle zu schmecken bekommen, in die ihr mich geschickt. Euren Anteil bemesse ich mit vierzigtausend pro Jahr.«

Channay öffnete das Pförtchen. Isham nahm den Arm seiner Frau. Sie blieb, regungslos ihre Augen auf Channay geheftet.

»Soll ich gehen?« fragte sie.

»Bitte«, antwortete er.

»Weißt du, daß du ein Teufel bist?« schrie sie in plötzlicher Wut. Er zuckte die Achseln. Mittlerweile waren sie durch die Pforte getreten.

»Man hat mich zu schlecht behandelt«, gab er zurück. »Übrigens,« fügte er mit dem feinen Lächeln, das sie in den letzten Stunden hassen gelernt hatte, hinzu, »wenn du deinem Gatten die ganze Wahrheit sagst, wird er dir vielleicht glauben.«

 


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