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Major Egerton Warling, Direktor eines in der Umgebung Londons gelegenen Staatsgefängnisses, fühlte sich bei dem wohl einzigartigen Abschiedsinterview durchaus nicht behaglich. Er war ein jüngerer Mann, der diesen Posten noch nicht lange innehatte, und er konnte sich noch der Tage entsinnen, als der Name des Scheidenden, der gerade hereingeführt worden war, um seine »letzte Segnung« zu empfangen, in begehrten Kreisen schon mehr einer Zauberformel gleichkam. Die Hände in den Taschen seines Schlafrocks vergraben, stand er und suchte nach Worten, deren vorsichtige Auswahl jede Beleidigung ausschalten sollte.
»Wie Sie sehen, Channay,« begann er, »haben wir Ihrem Ansuchen stattgegeben. Ein Uhr morgens ist für uns eine ungewöhnliche Stunde, einen – er – er – Gefangenen zu entlassen, der seine Zeit abgebüßt hat. Aber Ihr Ansinnen ist durchaus nicht unsinnig zu nennen, nach dem, was uns zur Kenntnis gekommen ist. Ich entnehme daraus, daß Sie den Belästigungen Ihrer früheren Kameraden aus dem Wege gehen wollen.«
Gilbert Channay lächelte nur matt. Wenig über Mittelgröße, war er ein Mann, der zur Schlankheit neigte. Aber seine Haltung und seine breiten Schultern verrieten den Athleten.
Seine Züge waren ebenmäßig, die Hautfarbe hatte jedoch durch die jahrelange Haft und unnatürliche Lebensweise gelitten. Eine gewisse Anmut lag in den kleinen Fältchen, die von den Augen und Mundwinkeln ausgingen, wenn auch die harten Tage eines im Tretmühlentakt verbrachten Lebens seinem Munde einen harten Zug verliehen hatten. Er war gut gekleidet; der Schnitt seines Anzuges verriet einen guten Schneider, war ihm aber jetzt zu groß. Er trug Handschuhe, als wolle er seine Hände verbergen, und hatte einen »Homburg«-Hut in der Hand.
»Ja, Herr Direktor, das war eigentlich der Gedanke«, gab er zu.
»Sie können die Anrede ›Direktor‹ jetzt fallen lassen, Channay, und mich kurz ›Warling‹ nennen«, bemerkte der Gefängnisdirektor. »Was ich Ihnen aber noch sagen wollte – wenn Sie für den ersten Abschnitt Ihrer Reise Polizeischutz wünschen, so kann das gemacht werden.«
Channay schüttelte nachdenklich den Kopf.
»Es weiß wohl niemand, daß ich zu dieser Stunde von hier weggehe?« fragte er.
»Keine Menschenseele«, gab der Direktor versichernd zurück.
»In diesem Falle möchte ich lieber ohne Begleitung sein«, entschied Channay. »Wenn ich an meinem Bestimmungsort ankomme, dann werde ich schon auf das, was meiner warten mag, vorbereitet sein. Riesig nett von Ihnen, Warling, das alles so für mich einzurichten, zu dieser Zeit aus dem Bett zu kriechen, um mir ›Lebewohl‹ zu sagen. Das wäre jetzt wohl alles, wie?«
»Ein guter Rat wäre wohl nicht ganz unangebracht, was?« fragte der Direktor fast ein wenig schüchtern.
»Ich glaube, daß dies unter solchen Umständen wohl üblich ist«, räumte Channay mit einem matten Lächeln ein. »Wollen Sie mir gar vorschlagen, daß ich mir einen ehrlichen Lebensunterhalt suchen soll?«
Major Warling zündete sich eine Zigarette an, und die geringe, hierzu erforderliche Bewegung verriet, daß er einen Pyjama trug. »Ich bedauere, Ihnen noch keine anbieten zu können, Channay,« sagte er, »nehmen Sie sich aber eine Handvoll für die Wagenfahrt mit. Was ich noch sagen wollte, ist das – ich habe Sie stets als einen übelbehandelten Mann betrachtet. Sie waren zweifellos der Kopf des Syndikates, das Ihren Namen trug, und wenn Sie auch die Bilanz der Siamese Corporation unterzeichnet hatten, so hatte ich immer das Gefühl, daß Sie für die unehrliche Seite der Geschichte – wenn überhaupt eine solche bestand – nicht allein verantwortlich zu machen waren . . . Das also so ganz ›en passant‹, nicht wahr –«, fuhr er fort, während er die Streichholzflamme ausblies. »Jetzt hören Sie mich mal einen Augenblick an. Ich kann den Gedanken nicht loswerden, daß Ihre Verhaftung zurückzuführen ist auf eine Art Verschwörung unter denen, die durch Ihr Verschwinden profitieren wollten, und daß Sie all diese Jahre darüber nachgegrübelt haben, wie Sie es diesen Kerlen heimzahlen könnten. Stimmt's?«
Gilbert Channay zuckte die Achseln und schwieg. Nach einigen Augenblicken ergriff Major Warling wieder das Wort.
»Nun, mein Lieber, Sie sind selbstredend nicht verpflichtet, sich in irgendeiner Weise bloßzustellen. Ich will Ihnen aber einen Rat geben – Sie dürfen nämlich nicht vergessen, daß solch ein großes Gefängnis, wie dieses hier, eine Art Flüstergalerie ist. Alles wird hier gehört. So ist man denn auch allgemein der Ansicht, daß Sie mit dem Entschluß in die Freiheit zurückkehren, sich mit diesen Kerlen, die für Ihr, sagen wir – Mißgeschick, verantwortlich sind, gehörig auseinanderzusetzen. So eine Art ›Vendetta‹, nur mit dem Unterschied, daß hier ein einziger gegen eine Rotte geht. Ich würde an Ihrer Stelle das unterlassen. Dieser Ort hier ist sicher nicht sehr einladend für einen Mann Ihrer Herkunft, aber glauben Sie mir, daß das Dartmoor-Gefängnis schlimmer ist. Und dann gibt es noch schlimmere als Dartmoor sind«, fügte der Direktor bedeutungsvoll hinzu.
»Ist das meine kleine Predigt?« fragte er leichthin.
»Das wäre alles, was ich Ihnen sagen wollte, außer, daß ich Ihnen Glück wünsche.«
»Es war auf alle Fälle riesig nett von Ihnen, aus den Federn zu kriechen, um mich nochmal zu sehen, und daß Sie überhaupt die alten Zeiten nicht vergessen haben«, erklärte Channay. »Und was Ihren liebenswürdigen Rat angeht, so will ich ihn im Gedächtnis behalten.«
»Der Taxameter wartet draußen, wie Sie wünschten«, sagte der Direktor. »Dem Chauffeur ist Anweisung gegeben, Sie nach der Garage zu bringen, wo Sie in den Wagen umsteigen werden. Wenn Sie für den ersten Teil Ihrer Reise einen Beamten in Zivil auf dem Bock haben wollen, so steht er Ihnen gerne zur Verfügung.«
»Ich möchte allein sein, nochmals vielen Dank!« erwiderte der Mann entschlossen.
»Einen Augenblick noch, bevor Sie gehen« – schloß Warling, »ich habe nämlich einem Bekannten, der unten auf Sie wartet, die Erlaubnis gegeben, noch ein paar Worte mit Ihnen zu sprechen. Er war früher bei der Polizei, kam aber zu etwas Geld und hat den Abschied genommen. Der wollte Ihnen noch etwas sagen. Jedenfalls ist er ein ganz harmloser Bursche . . . Leben Sie wohl, alter Freund, und Glück auf den Weg!«
Major Warling hielt ihm seine Hand entgegen. Sein scheidender Gast zögerte jedoch.
»Sind Sie jetzt kein Esel«, bat der erstere. »Unsere Lage ist vielleicht ein wenig merkwürdig, aber meinen Sie, ich könnte je vergessen, daß Sie es waren, der mir in unserer Burschenzeit die Kappe verlieh und mich später mit den Farben auszeichnete? Hier meine Hand, Channay, und fangen Sie noch einmal an!«
Gilbert Channay schlug ein. Seine Stimme und sein ganzes Wesen hatten eine Sanftheit angenommen, die alle hinter ihm liegenden Jahre in Vergessenheit aufzulösen schien.
»Sie haben ein gutes Gedächtnis und sind ein guter Kamerad, Warling«, sagte er. »Leben Sie wohl!«
Zum letzten Male ging Gilbert Channay die leeren Gänge entlang und stieg die Treppen zur Eingangshalle hinunter. Der ihn begleitende Wärter stieß die Türe eines Warteraumes auf.
»Hier drinnen wünscht Sie jemand zu sehen«, sagte er. »Ich werde einstweilen draußen auf Sie warten.«
Channay blickte ungeduldig, fast verstört nach dem Besucher, der die ganze Zeit über auf ihn gewartet hatte. Es war jedenfalls kein besonders günstiger Eindruck, den er von ihm empfing. Man sah auf den ersten Blick, daß er keinen Maßanzug trug, und alle Geschmacksverirrungen, die nur ein Mann in Einzelheiten seiner Kleidung zeigen konnte, schien er mit Genuß begangen zu haben. Sein Haar war gelblichbraun, die Augenbrauen sandfarben. Sein Begrüßungslächeln, das auf eine einschmeichelnde Wirkung berechnet war, ließ eine Reihe schlechtgeformter Zähne sichtbar werden.
»Sie wünschen mich zu sprechen«, sagte Gilbert Channay kurz angebunden. »Wie Sie sich vorstellen können, bin ich ziemlich in Eile.«
»Mein Name ist Fogg,« sprach der andere vertraulich, »Martin Fogg. Ich war mehrere Jahre als Junior Detektiv bei der Polizei. Ich interessierte mich für Ihren Fall. Haben Sie kürzlich etwas von Ihren Freunden gehört – Sie wissen, wen ich meine? Die Männer, die Sie verkauft haben und sich nachher selbst auf dem Holzweg befanden?«
»Hier hört man jedenfalls nichts,« war die barsche Antwort, »Sie scheinen ja meine Angelegenheiten gründlich studiert zu haben.«
»Das habe ich auch«, gab der kleine Mann eifrig zu. »Sie sind nämlich interessant. Isham ist in England, er ist jetzt Lord – und Sinclair Coles. Sie stecken beide in den Nesseln, nicht 'ne Mark in der Hand und Schulden, sag ich Ihnen, bis über die Ohren. Die zählen die Sekunden, bis sie auf Sie fliegen können!«
»An diesen Leuten bin ich wenig interessiert«, sagte Channay ruhig.
»Es sind aber die Leute, die sozusagen an Ort und Stelle sind«, erinnerte ihn Fogg, indem er seine Stirne mit einem blauseidenen Taschentuch abtupfte. »Sie hofften etwa zwei Millionen Mark zwischen sich zu teilen, als Sie verurteilt wurden, aber ich glaube, sie haben nicht einen roten Heller davon zu sehen bekommen. Die anderen mögen gefährlicher sein, aber die Gaunerei dieser beiden reicht auch schon – die gehen aufs Ganze. Das können Sie mir glauben.«
»Ich vermute, daß sie nichts unversucht lassen werden«, stimmte er zu. »Sie können sich denken, daß ich nicht ohne Grund um ein Uhr nachts entlassen werden wollte. Sogar noch ein paar Tage früher. Nächsten Donnerstag würde mich wahrscheinlich draußen ein Begrüßungskomitee erwarten.«
»Ich traue auch dieser Stunde nicht ganz«, erklärte Martin Fogg ziemlich unverblümt. »Ich will Sie gar nicht fragen, wohin Sie gehen, möchte aber ganz gern neben dem Chauffeur mitfahren. Ich bin bewaffnet und wie Sie wissen, so in einer halbamtlichen Eigenschaft mitgekommen. Sie könnten mich vielleicht doch ganz nützlich finden. Es ist nämlich kein Pappenstiel mit den beiden, verwegen wie sie sind.«
»Ist das jetzt alles?« fragte Channay.
Martin Fogg, der in der Mitte des Zimmers auf einem gewöhnlichen Tisch saß, strampelte mit den Beinen und blickte nachdenklich auf seine Schuhspitzen.
»Sie wollen also meine Hilfe nicht?« fragte er.
Channay schüttelte den Kopf.
»Danke bestens, ich werde schon selber auf mich aufpassen«, versetzte er bestimmt.
»Gestatten Sie mal, beabsichtigen Sie mit diesen Leuten zu teilen?« fragte der Exdetektiv hartnäckig weiter.
»Sind Sie nicht 'n bißchen neugierig?« bemerkte Channay kühl. »Doch, da Sie mich fragen – nein. Die Aktien, die ich in meinem Namen nachsuchte, wurden mir auf meinen Namen zuerteilt, und wie die Verhältnisse liegen, gedenke ich sie auch zu behalten.«
»Dann werde ich Ihnen das eine sagen«, fuhr Martin Fogg ernst fort. »Wenn Sie sich wirklich nicht von diesen Aktien trennen wollen, so rückt Ihnen diese Bande ganz einfach auf den Leib, und allein werden Sie nicht mit ihr fertig. Hören Sie also meinen Rat. Entweder kommen Sie mit ihnen zu einer Einigung, oder Sie verlassen das Land. Der eine oder der andere von der Rotte bringt vielleicht nicht genug Schneid auf, das Gesetz herauszufordern, aber Sayers und Drood scheuen vor nichts zurück.«
Channay schüttelte den Kopf.
»Diese Männer«, sagte er, »waren meine Teilhaber und sie haben sich wie Schurken betragen. Sie verdienen ihre Strafe und werden ihr auch nicht entgehen.«
»Sie begehen einen großen Fehler, wenn Sie versuchen, diese Gauner allein zu stellen«, sagte der Exdetektiv nachdrücklich. »Gestatten Sie, mein Herr, ich bin nicht arm – will also kein Geld –«
»Und ich keine Hilfe«, unterbrach ihn Channay. »Einmal habe ich mich beraten lassen und das Risiko auf mich genommen. Mit welchem Ergebnis, ist Ihnen ja bekannt. Der Schlußakt soll nun ganz meine Sache sein.«
»Lassen Sie mich heute nacht mit Ihnen reisen,« bat Martin Fogg, – »nur heute nacht.«
Channays Ablehnung war kurz und entschieden.
»Niemals war es nötiger allein zu sein«, erklärte er.
»Ich würde mich Ihnen ja in keiner Weise aufdrängen«, sagte der andere. »Ich würde einfach neben dem Chauffeur sitzen, und sobald Sie Ihr Endziel erreicht haben – unbemerkt verduften. Diese Nacht nur – ich beschwöre Sie – – –«
Martin Fogg brach seine Rede ab. Noch einmal betupfte er seine Stirn mit dem blauseidenen Taschentuch und blickte untröstlich nach der Tür, durch die Gilbert Channay gegangen war und die er mit einem Knall hinter sich zugeschlagen hatte.
Channay eilte durch hallende Gänge, schwere Türen fielen hinter ihm ins Schloß, noch ein Atemzug halbfrischer Luft im Gefängnishof, ein kurzer Aufenthalt bei der Portiersloge und dann öffneten sich geräuschvoll die massiven Portale. Gilbert Channay war frei. Er stand einen Augenblick still, und obgleich ihn äußerlich seine Selbstbeherrschung nie verlassen hatte, wurde er sich jetzt einer leichten Benommenheit bewußt. Vor ihm erstreckte sich eine breite Durchgangsstraße, die nach Ost und West in die weite, offene Welt führte. Er fühlte, wenn es auch dunkel war, Erde, ganz unzweifelhaft Erde unter seinen Füßen, über die Menschen wandeln konnten, wohin sie immer wollten. Überwältigt von Gefühl riß er sich mit Anstrengung zusammen. Die Freiheit als Erlebnis durchbebte ihn stärker, als er erwartet hatte. Ein paar Schritte von ihm entfernt stand ein Taxi mit brennenden Lampen und keuchendem Motor. Der Mann, der sich gerade mit dem Polieren der Fenster beschäftigt hatte, trat beiseite und öffnete den Wagenschlag.
»Nach der Adams Garage«, sagte Channay und stieg ein.
Während sich der Chauffeur auf seinen Bock begab, blickte Channay aus beiden Fenstern, um noch einmal die breite Durchfahrtsstraße zu überschauen. Die Nacht war wolkig, aber die elektrischen Straßenlampen strahlten eine starke Leuchtkraft aus, ihr Licht zitterte in den kleinen Pfützen auf dem Pflaster, die der Regen zurückgelassen hatte. Es war anscheinend keine Menschenseele zu sehen. Die Nebenstraßen, durch die der Wagen eilte, waren gleichfalls verlassen. Nach weniger als zehn Minuten hielten sie vor einer großen Garage, deren breite Front sich schwarz aus dem Dunkel hob. Irgendwo im Hintergrund brannte ein kümmerliches Licht, als sich aber das Keuchen des nahenden Motors hören ließ, flammten die Scheinwerfer eines kräftigen Tourenwagens auf, der sein breites Licht über die Portalschwelle der Halle hinweg auf die Straße ergoß. Channay zahlte das Fahrgeld und begab sich in das Innere der Garage. Ein Chauffeur kam ihm aus dem düsteren Hintergrund entgegen.
»Sie wissen wohin?« fragte Channay.
Der Angeredete öffnete den Schlag, ehe er antwortete.
»Ganz genau, mein Herr.«
»Sie kennen doch den Weg?«
»Jeden Zoll davon.«
»Wann werden wir Norwich erreichen?«
Der Mann überlegte.
»Gut. Wir werden dann dort frühstücken«, ordnete Channay an.
Der Wagen fuhr dahin, federnd, in gleitender Bewegung, die sehr verschieden vom Gerumpel des Taxameters war. Gilbert Channays Hände zitterten ein wenig, als er eine der Zigaretten nahm, die der Gefängnisdirektor ihm geschenkt hatte. Er roch am Tabak und zögerte im Vorgenuß wohl eine volle Minute, bevor er sie anzündete. Dann begann er ihren aromatischen Duft langsam einzuatmen. Zum ersten Male entspannte sich sein Gesicht. Er hielt die Zigarette vor sich, betrachtete sie, studierte Marke und Fabrikation und schwelgte im Wohlgeruch des ungewohnten Tabaks, ehe er sie anzündete. Bald ließ er die Fenster zu beiden Seiten herunter und blickte neugierig nach rechts und links. Sie befanden sich nun in besser beleuchteten Straßen. Es grüßten ihn St. James' Street und Piccadilly wieder. Er lächelte vor sich hin, als sie bei seinem Wäschegeschäft in der Bond Street vorbeikamen. Am tiefsten aber empfand er das Erlebnis der Heimkehr, nachdem sie Oxford Street überquert und Marylebone Road hinter sich hatten und an Lords Cricket Platz vorbeikamen. Alle Verhältnisse schwankten. Das Drama seiner unmittelbaren Vergangenheit hatte an Bedeutung verloren. Ihm war, als habe er die Fülle dieses Daseins am stärksten im Mittelpunkt des sonnengebackenen Spielplatzes erlebt, wenn er, atemlos auf sein Schlagholz gelehnt, auf den rauschenden Beifall einer nur unklar gesehenen, tausendköpfigen Menschenmenge im weiten Rund gelauscht hatte. Und nun lag alles so still im Schatten der Dunkelheit, und die trennende Wand sah düsterdrohend drein. Er lehnte sich in die Wagenecke zurück und schloß die Augen. Als er sie wieder öffnete, bot sich ihm Neues, das zum Schwelgen einlud. Der Wildnis von Stein und Ziegel endlich entflohen, sah er nun Hecken zu beiden Seiten, Geruch trockenen Grases stieg auf, gemischt mit der Duftwelle aus einem blumenreichen Garten. Die Sterne funkelten vor ihrem Erbleichen. Noch einmal schloß er die Augen und schlummerte nun ein, während der Wagen mit verdoppelter Schnelligkeit dahinglitt.
In dem langen Zimmer eines altmodischen Hauses, in der Nähe von Newmarket, warteten zwei Männer und eine Frau auf Gilbert Channay. Ihr Wesen stand mit dieser Umgebung so gar nicht im Einklang und konnte leicht die ersten Eindrücke verwirren. In einem prächtigen alten Kamin prasselte, ungeachtet der vorgeschrittenen Jahreszeit, ein großes Holzfeuer. Stiche und Drucke zierten die Wände, und in jeder nur erreichbaren Ecke konnte man Gewehre, Reitpeitschen und Fischangeln finden, aber auch allerlei, was keinesfalls wünschenswert war. Mehrere Kartenspiele und ein Glücksspiel auf einem Tisch in der Mitte des Zimmers. Auf einem Seitenbüfett standen eine Anzahl Flaschen, volle und leere, ungeordnet, wie sie hingestellt worden waren, eine Unmenge Gläser, Schüsseln, einige davon leer, andere noch mit Sandwiches gefüllt. Die beiden Männer räkelten sich in bequemen Stühlen; die Frau saß am Tisch und spielte noch mit den Karten. Als die Uhr vier schlug, warf sie diese mit einer ungeduldigen Geste von sich. Ihr ganzes Wesen drückte närrische Unzufriedenheit aus. Dennoch war sie eine schöne Frau.
»Wie ich dieses Warten hasse!« sagte sie. »Wirklich, Sinclair, du hättest die Leute nicht so früh wegzujagen brauchen.«
Einer der Männer – mehr oder weniger rühmlich als Sir Sinclair Coles bekannt – groß, mit grauem Haar, gelblichblasser Hautfarbe und einem unangenehmen Mund – wandte sich ihr mit einer leichten Drehung des Kopfes zu.
»So sind wir wenigstens sicher«, sagte er. »Bomford hatte schon zuviel getrunken und fing an, sich über seine Verluste mächtig aufzuregen.«
»Verluste!« wiederholte die Frau ungeduldig. »Wenn's hoch kommt, tausend oder zwölfhundert. Ich habe ja auch keinen Pfennig davon bekommen, und weiß Gott, ich habe es nötig!«
»Ich auch nicht«, ließ sich Lord Isham aus der Tiefe seines Sessels vernehmen.
Die Frau schlug mit der flachen Hand auf den polierten Tisch.
»Ich weiß wirklich nicht, was mit uns los ist«, rief sie aus. »Glück! Nicht 'ne Spur davon. Was wir anfassen, geht verkehrt. Sinclair, bist du noch mal vor dem Diner in den Ställen gewesen?«
»Nein«, erwiderte er kurz.
»Aber ich«, fuhr die Frau fort. »Harding hat recht. Unsere ganze Sorge um ›Lady Anne‹ ist zwecklos. Ihre Gelenkschwulst ist so groß wie mein Kopf. Sie konnte nicht mal zum Posten humpeln.«
Isham erhob sich. Er war plump gebaut, hatte viel zuviel Fleisch an sich, seine Haut war schlaff und seine Augen blutunterlaufen. Weinflecke auf seiner Hemdbrust und eine ungeordnete Halsbinde gaben ihm ein ekelhaft übernächtigtes Aussehen, so daß selbst seine Gefährten ihn mit Widerwillen betrachteten.
»Verdammtes Pech«, murmelte er vor sich hin. »Man hat nochmal auf sie gesetzt, um mir einen neuen Start zu geben. Selbst die Kenner glaubten an ihren Sieg und sie hat unter den anderen noch immer mit Stolz bestehen können.«
Die Frau ließ die Karten lässig durch ihre Finger gleiten.
»Gilbert scheint unsere letzte Chance zu sein,« sagte sie, »und mich erfüllt Furcht. Vorausgesetzt, daß alles gut abgeht und wir Gilbert hierher kriegen, was werdet ihr dann mit ihm machen? Wie weit gedenkt ihr dann zu gehen?«
Sinclair Coles stand auf und klingelte. Ein verschlafener Bedienter trat ein.
»Ist außer Ihnen noch jemand auf, Johnson?« erkundigte er sich.
»Niemand, Sir.«
»Sie können dann zu Bett gehen. Ich werde mich schon um die Lichter bekümmern und abschließen. Kann sein, daß wir Besuch bekommen werden. Sie brauchen die Haustür nicht zu schließen.«
»Gewiß, gnädiger Herr.«
Der Mann zog sich zurück. Coles wartete, bis die Tür hinter ihm geschlossen war. Dann wandte er sich der Frau zu. Seine Sprechweise war unangenehm. Seine Oberlippe war ein bißchen zu kurz, so daß die Zähne besonders sichtbar wurden.
»Wir werden uns mit Gilbert Channay ganz unzweideutig auseinandersetzen, denn ihm verdanken wir dieses Hundeleben seit drei Jahren. Auf irgendeine Weise muß er fast eine Million beiseite geschafft haben und nicht einen Heller von unserem Anteil konnten wir anrühren. Er muß es also wieder hergeben.«
»Wenn er sich aber weigert, was kannst du dann machen?« fragte die Frau. »Das Gesetz wird dir nicht helfen, oder?«
Der Mann blickte fast wild drein. Ungeachtet seiner grauen Haare funkelte in seinen schwarzen Augen noch das Feuer der Jugend.
»Nicht gerade töten, aber . . .« begann er langsam.
»Weshalb nicht?« unterbrach ihn Isham. »Verdienen tät er's schon, dieser gemeine Kerl! Wenn wir aus dem herauskriegen könnten, wo er das Zeug hat – selbst wenn sich darum ein Streit entspinnen oder ein Unfall dabei ereignen sollte – was wäre da schon groß dabei, der wäre ja viel besser aus dem Weg . . .«
Die Frau blickte vom Tisch zu ihm auf.
»Ob wir wohl jemals vergessen werden,« bemerkte sie, »daß wir es waren, die den großen Fehler begangen haben. Gilbert war der einzige ehrliche Mensch unter uns. Er würde zu uns gehalten haben, wenn wir zu ihm gehalten hätten.«
Sinclair Coles war aufgebracht und zeigte dies in einer seltsamen Weise, indem er einen langen Atemzug durch die geschlossenen Zähne tat. Seine Pupillen schienen sich zu verengern. Er warf einen Blick auf sein Gegenüber.
»Na ja, George, ich seh schon, wir werden unser Augenmerk auf ›Ihre Gnaden‹ richten müssen. Ich glaube wahrhaftig, daß sie noch in ihn verliebt ist!«
Die Frau erhob sich und blickte den einen mit Verachtung, den andern mit Haß an.
»Wenn ich mir den Luxus der Gefühle noch gestattete,« sagte sie, »meint ihr nicht, daß ich ein wahnsinnig verblendetes Geschöpf wäre, wenn ich nicht Gilbert Channay vor euch den Vorzug geben würde?«
»Miriam!« brüllte ihr Gatte.
Ihre abwehrende Handbewegung hieß ihn schweigen.
»Gefühle habe ich keine mehr«, fuhr sie fort. »Sie gehören der Vergangenheit an. Was ich will, ist Geld, um einige meiner Rechnungen zu bezahlen, eine gewisse Sicherheit, um den ewigen Unverschämtheiten der Lieferanten nicht mehr ausgesetzt zu sein und nicht mehr darüber grübeln zu müssen, von wem und durch welche Überredungskünste ich Geld leihen kann. Ich hasse es! Es hat mal eine Zeit gegeben, da hielt ich das Leben für ein berückendes Abenteuer. Auch das ist vorbei. Ich will jetzt ein Bankguthaben mein nennen, ein Heim – und Ruhe haben. Deshalb brauche ich das Geld.«
Ihr Redefluß wurde plötzlich gehemmt. Das Öffnen einer Haustür und schwere Fußtritte ließen sich in der Halle vernehmen. Noch kurz zuvor hatte die Frau erklärt, daß alle Gefühle in ihr erstorben seien, jetzt plötzlich überglühte Farbe ihre Wangen und strafte ihren Ausspruch Lügen. Sie wich etwas mehr in die Tiefe des Zimmers zurück, als bange ihr vor dem Kommenden. Die Tür wurde mit einem Ruck aufgerissen und ein Mann stand vor ihnen, der die Welt erst vor wenigen Stunden wieder betreten hatte, ihm zur Seite ein höchst unangenehm aussehender Geselle in der Gewandung eines Wildhüters.
Channay blickte mit einem Lächeln um sich. »Ach – nur ihr drei seid da! Ich hätte eigentlich eine größere Versammlung erwartet. George, du hast dich nicht ein bißchen verändert. Übrigens, du bist ja ›gestiegen‹, was? Ich sollte wohl ›Eure Lordschaft‹ sagen. Kapitale Sache, das, in einem jeden Aufsichtsrat schon einen Tausender mehr wert! Und Sinclair, schau einer an. Verzeihung, ich vergaß für einen Moment meinen sozialen Rutsch – Sir Sinclair Coles. Und die Dame, die ich einst ›Miriam‹ nennen durfte – welchen Namen führt sie heute?«
Lord Isham zog die Brauen erzürnt zusammen.
»Miriam ist meine Frau«, erwiderte er. »Behaupte jetzt nur nicht, daß du nichts davon gewußt hast. Ich glaube nicht, daß sie für ihre Rolle als meine Gattin sehr dankbar ist. Bin kein guter Gatte, weißt du, Channay, habe auch nie vorgegeben einer zu sein.«
»Wenn ich eine Frau gewesen wäre,« war die ruhige Erwiderung, »so würde ich dich als einen unausstehlichen Liebhaber betrachtet haben.«
Die Frau, die erklärt hatte, daß jedes Fühlen in ihr erstorben sei, sprang bebend auf. Ihre Augen verrieten unendliche Qualen.
»Deine Zunge ist noch so grausam, wie sie war«, rief sie aus. Channay zuckte die Achseln.
Sinclair Coles wendete sich an den Wildhüter, einem massigen Menschen mit mächtigen Schultern und dem Gesicht eines Preisboxers.
»Haben Sie seine Taschen durchsucht?« fragte er.
»In einer plumpen Weise, ja«, fuhr Channay dazwischen. »Sie brauchten keine Angst zu haben. Ich habe keine Waffen an mir.«
»Konnte auch nichts finden«, gab der Mann zu.
»Nehmen Sie also den Stuhl dort und setzen Sie sich mit dem Rücken zur Tür«, ordnete Sinclair Coles an. »Halten Sie Ihre Ohren geschlossen und seien Sie bereit, im Falle Sie gebraucht werden . . . So ist's recht. Und nun, Channay, können wir zum Geschäft übergehen. Ich spreche hier für Isham und für mich. Du kannst dich mit den anderen nachher auseinandersetzen. Um mal überhaupt anzufangen, nehmen wir als Grundlage der Verhandlung – sagen wir, zwei Millionen Mark.«
Channay schien sich von allen Anwesenden noch am wohlsten zu fühlen. Er schielte nach dem Seitenbüfett.
»Seid ihr nicht ein bißchen ungastlich?« fragte er. »Der Gefängnisarzt hat mir zwar gesagt, daß ich mit Alkohol zuerst sehr vorsichtig sein müsse, aber ich muß sagen, so ein bißchen Whisky mit Soda – der erste übrigens – – ich soll mir's selbst holen? Gut!«
Er folgte einer mürrischen Handbewegung Sinclair Coles', begab sich zum Seitenbüfett und suchte mit einer fast überängstlichen Sorgfalt nach einem sauberen Glas, mischte sich Whisky und Soda und nahm sich auch eine der Zigaretten. Dann rückte er sich einen Klubsessel heran und versank mit einem Seufzer der Erleichterung in seine Tiefe. Während all dieser Zeit wurde er mit einem gewissen Unbehagen und unruhig beobachtet.
»Ihr habt von zwei Millionen gesprochen, was?« fragte er.
»Ja! rief Sinclair Coles mit einem bösen Aufleuchten in seinen schwarzen Augen.
»Erhalten wir sie?« fragte Isham herausfordernd.
»Aber nicht einen Pfennig«, war die klare Antwort.
Eine kurze unangenehme Stille folgte. Selbst die Frau, welche den Kopf gehoben hatte, schien noch kühler geworden zu sein. Die beiden Männer waren scheußlicher denn je anzusehen. Sinclair Coles' Lippen glichen zwei dünnen getrennten Linien, seine Augen waren eine grimmige Drohung, und Isham blickte in finsterer Wut vor sich hin. Der Türhüter hoffte schon, daß auch etwas für ihn abfallen würde und hob interessiert den Kopf. Der Trotz in Channays Ton schien ihm verheißungsvoll zu sein.
»Zwei Millionen Mark«, sagte Isham, »stellen weit weniger als den Viertteil des Fundus dar, der dem Syndikat gehören sollte. Streitest du unseren Anspruch ab?«
»Nicht ganz und gar«, gab Channay zu. »Unter normalen Umständen würde ich gedacht haben, daß sich euer Anteil sogar höher stellt als das. Ohne auf die Einzelheiten, die euch bekannt sind, einzugehen, habt ihr es aber vorgezogen, mich meines Anteils zu berauben, anstatt euch mit dem eurigen zufrieden zu geben. Es beliebte euch, mir den denkbar faulsten und unehrlichsten Trick zu spielen, den nur eine kleine Gesellschaft von Männern aushecken kann, die sich in einem Unternehmen zum Zwecke gemeinsamen Gewinnes zusammengefunden hatte. Ihr zwangt mich, kaufmännische und technische Verantwortungen zu übernehmen, die dem Gesetz um ein Geringes entgegenliefen, um euch danach als Angeber aufzuspielen, nur von dem einzigen Gedanken beseelt, euch während meiner zwangsweisen Abwesenheit von der Gesellschaft den ganzen Plunder anzueignen und wohl wissend, daß mein Anspruch auf Wiedererstattung meines Anteils vor dem Gericht kaum aufrechterhalten werden könnte . . . Verzeiht, wenn ich etwas erschöpft bin, zu Konversationen wurde nämlich in meiner letzten Umgebung nicht gerade ermutigt.«
Er streckte seinen Arm etwas müde aus und nahm sich noch mehr Whisky und Soda. Nicht einer seiner Zuhörer sprach. Alle drei blieben Zuhörer.
»Ich war halt, wenn ich so sagen darf,« fuhr Channay fort, »für euch ein bißchen zu schlau. Die Aktien der Nyasa-Mine, um die ich im Interesse des Syndikates nachgesucht hatte, wurden mir auf meinen Namen zuerteilt und blieben auch auf meinem Namen unberührt. Mich seid ihr losgeworden, ohne euch jedoch die ersehnte Beute sichern zu können, und jetzt werdet ihr sie nie mehr gewinnen. Das Sprichwort ›Ehrlichkeit unter Dieben‹ ist euch ganz aus dem Sinn gekommen. Ihr werdet wahrscheinlich für den Rest eures Lebens diesen höchsten Grad der Gemeinheit zu bedauern haben, wie ihr ihn zweifellos während der letzten Jahre bedauert habt . . . und was mein tieferes und persönlicheres Unrecht angeht, so habe ich nichts darüber zu sagen. Eines meiner Prinzipien ist,« fügte er mit einer kleinen Verneigung vor Miriam hinzu, »niemals euer Geschlecht zu kritisieren. Ihr steht über dem gewöhnlichen Gesetz. Ihr tut das, was euch gut dünkt. Da wir aber nun mal bei dem Gegenstand angelangt sind, so laßt mich alles das zusammenfassen, was ich euch jetzt und in Zukunft zu sagen haben würde. Ihr wußtet sehr wohl, daß, wenn ich aus dem Gefängnis kommen würde und die Nyasa-Aktien dem Schatzmeister des Channay-Syndikates zuerteilt gewesen wären, ich auf meinen eignen Anteil niemals irgendwelchen Anspruch hätte erheben können. Ganz recht! Nun ist aber, unglücklicherweise für euch, die Kehrseite von der Geschichte ebenfalls wahr. Falsche Vorspiegelungen liegen mir in dieser Sache vollkommen fern. Die ungewöhnliche Höhe, welche die Aktien unmittelbar erreichten, ermöglichte es meinem Makler, sie mit dem Kapital aufzukaufen, das mir zur Verfügung stand, so daß ich jetzt ein Sümmchen von etwa zehn Millionen besitze. Ganz hübsch, Isham, was? Schon die Chose wert, Coles, was? Also für das, was ihr mir zugefügt habt, werdet ihr von meinem Gelde jedenfalls keinen roten Heller sehen. Mit euch bin ich fertig. Jetzt seid ihr dran.«
Plötzlich und unerwartet entschloß sich die Frau, die Rolle des Sprechers zu übernehmen.
»Gilbert,« sagte sie, »denke von uns, was du willst. Du kannst nicht schlecht genug von uns denken. Wir sind der Abschaum der Menschheit, und verdienen es auch, als solcher behandelt zu werden. Du darfst aber gewissen Tatsachen gegenüber nicht blind sein. Vorausgesetzt, mein lieber Mann und Sinclair Coles würden deinen Standpunkt teilen, so gibt es noch andere, die einen ganz anderen Männertypus darstellen, wie du wohl weißt. Wenn du mit diesen, z. B. Sayers, so sprichst, wie mit uns, dann wirst du auf der Stelle umgebracht werden.«
»Du und ich waren mal miteinander verlobt«, bemerkte Channay. »Hast du jemals während dieser Zeit auch nur einen Augenblick geglaubt, daß bei mir durch Drohungen etwas zu gewinnen sei?«
»Daß du tapfer bist, weiß ich«, gab sie zu, »die Lage ist aber hoffnungslos, und du willst doch leben.«
»Wie ein Mann mit seinen gesunden fünf Sinnen,« unterbrach Sinclair Coles mit heiserer Stimme, »doch nicht wie ein Krüppel, in dessen Körper kein Knochen mehr heil ist. Jetzt hör' mal zu, Channay, laß uns mal friedlich zurande kommen. Du sollst deinen Anteil, deinen vollen Anteil behalten, wenn du uns den Rest übergibst. Auch dann wirst du ein reicher Mann sein, was willst du mehr?«
»Euch als Bettler sehen, das möchte ich«, war die ruhige Erwiderung.
Selbst das Gesicht der Frau nahm einen harten Ausdruck an.
Sinclair Coles, der sich schon vor ein paar Minuten von seinem Stuhl erhoben hatte, trat etwas näher an Channay heran.
»Channay,« sagte er, »du warst niemals ein Narr. Was hältst du von meinem Wildhüter dort? Man nennt ihn den ›Rauf-Charlie‹. Vier Jahre im Ring und niemals geschlagen, was sagst du dazu?«
Channay blickte unbeweglich nach dem Mann im braunen Velvet.
»Wenn ich ganz offen sein soll und da ihr mich gefragt habt, so muß ich sagen, daß mir noch nie ein Mensch von unangenehmerem Äußeren begegnet ist.«
Der Wildhüter erhob sich und rieb sich seine Hände. Er sah nach seinem Herrn hinüber, als warte er auf ein Zeichen, Coles zuckte aber nur mit den Achseln.
»Miriam,« sagte er, »du gehst besser aus dem Zimmer.«
Sie zögerte einen Augenblick und wandte sich dann Channay zu.
»Gilbert,« sagte sie, »die einzige Schwierigkeit bestand darin, dich hierher zu bekommen. Siehst du denn nicht, daß es gar keinen Zweck hat, diese Rolle weiter zu spielen? Sie können dich hier halb umbringen, und es wird nur eine ganz gewöhnliche Rauferei gewesen sein. Sie können aber auch weitergehen . . .«
Channay streckte seine Hand nach einer anderen Zigarette aus.
»Ehrlich gesagt,« meinte er, »ich bezweifle, daß sie so weit gehen werden. Schließlich ist es doch ein bißchen riskant, was? Ein fürchterlicher Skandal in hohen Kreisen, gerade jetzt, wo Isham in den Grafenstand erhoben worden ist. Und dann – werden sie dem Geldsack keinen Zoll näher kommen.«
»Sie werden dich aber entsetzlich ›zurichten‹«, beharrte sie.
»Es würde mich aber weit mehr ›zurichten‹, wenn ich einen einzigen Pfennig zu eurem verrückten Haushalt beisteuern wollte.«
Der Wildhüter schlich leise näher. Gemeine Rauflust in seinen Augen, begann er sich mit tierhaftem Ansprung bereitzustellen.
»Zuviel Geschwätz«, murmelte er. »Wollen Sie nicht das Zeichen geben? Soll ich ihn gleich in Schlaf lullen oder wollen wir erst noch ein bißchen Spaß mit ihm machen?«
Channay ließ ihn kaltblütig an sich herankommen.
»Du wirst schon Spaß haben,« warnte er ihn, »wenn du für dergleichen erst mal Werg zupfst. Ich . . .«
Channay brach in seiner Rede plötzlich ab. Ein ganz unerwarteter Klang schrillte grell durch das Haus. Irgend jemand hatte die altmodische Schelle an der Haustür gezogen, und in der Stille des frühen Morgens tönte sie voll unheimlicher Drohung, so daß der Wildhüter seinen Arm sinken ließ und wie verstört um sich schaute.
»Verdammt, was ist das?« fragte er.
Die beiden Männer wechselten verblüffte Blicke. Die Frau lauschte, und fast konnte man einen Schimmer von Erleichterung in ihren Augen entdecken.
»Wahrscheinlich hat jemand die Lichter gesehen«, murmelte Sinclair erzürnt. »Bleibt ihm nah und seht zu, daß er sich ruhig verhält, während ich die Tür öffne . . . Mein Gott, sie sind schon in der Halle!«
Fast gleichzeitig flog auch schon die Zimmertür auf. Sinclair Coles, der öffnen wollte, stand wie versteinert. Ein Polizeiinspektor war eingetreten. Er grüßte hastig und ließ seine Blicke durch das Zimmer gleiten.
»Bedauere die Störung, meine Herren«, entschuldigte er sich kurz. »Inspektor Peacock ist mein Name. Mein Besuch gilt diesem Herrn hier – Mr. Gilbert Channay.«
Channay erhob sich von seinem Stuhl. Die übrigen schienen wie vom Schlag gerührt.
»Ohne einen Augenblick zu leugnen,« bemerkte er, »daß Ihre Ankunft sehr gelegen kommt, Herr Inspektor, so ist es mir doch unverständlich, was Sie von mir wollen. Ich bin kurz nach Mitternacht ordnungsgemäß aus dem Brixtongefängnis entlassen worden und kann Ihnen die Versicherung geben, daß ich mich seitdem keiner Übertretung des Gesetzes schuldig gemacht habe.«
»Bedauere,« erwiderte der Inspektor höflich, »es kann sein, daß Sie nicht ganz richtig orientiert sind. Sie sind nämlich drei Wochen vor Ablauf Ihrer Zeit herausgekommen, und die erste Bedingung Ihrer Freiheit schreibt vor, daß Sie einen Umkreis von fünfzig Kilometer Radius um London nicht überschreiten dürfen. Ich war beauftragt, Ihnen zu folgen und zu sehen, daß Sie innerhalb des Radius blieben, und mußte zu meinem Bedauern feststellen, daß Sie ihn schon um zwanzig Kilometer überschritten haben. Es tut mir leid, die kleine Zusammenkunft mit Ihren Freunden unterbrechen und Sie wieder nach London zurücknehmen zu müssen.«
Channay zuckte ergeben die Achseln.
»Aufrichtig gesagt, Herr Inspektor,« vertraute er ihm an, »ich bin durchaus nicht so enttäuscht, als ich es vielleicht unter anderen Umständen gewesen wäre. Ich stehe Ihnen also gern zur Verfügung.«
»Ich muß für meinen ungewöhnlichen Einbruch sehr um Entschuldigung bitten«, sprach der Inspektor, zu den Herren gewandt, während er seine Hand leise an Channays Ellenbogen hielt. »Mr. Channay hätte aber die Vorschriften wissen müssen. Das trägt ihm noch weitere vierzehn Tage ein, erst danach werden Sie wieder Gelegenheit haben, ihn zu bewirten.«
»Welche Gelegenheit wir freudig erwarten«, ergänzte Sinclair Coles vor sich hinmurmelnd.
Channay blickte nochmals von der Tür aus zurück und lächelte. Des Inspektors Hand ruhte noch auf seinem Arm.
»Früh gewarnt ist halb gerüstet«, sagte er mit leisem Spott. »Wenn ich das nächste Mal von London komme, dann lasse ich mich von meinem Freund hier nach der Bahnstation begleiten. Deine Auffassung von Gastlichkeit kann mir keinen Geschmack abringen, mein verehrter Coles. Ich kann nicht finden, daß weder du noch Isham während meiner bedauerlichen Abwesenheit irgendwie Fortschritte gemacht habt. Eure Art, einen zu unterhalten, sagt mir jedenfalls gar nicht zu, und ich fürchte, daß ich mir künftig den Vorzug eurer Gesellschaft versagen muß . . . Ich stehe Ihnen vollkommen zur Verfügung, Herr Inspektor. Darf ich wohl ergebenst daran erinnern, daß Ihr Armgriff mir jetzt ein bißchen schmerzhaft wird. Gute Nacht!«
Beim Inspektor konnte man Zeichen der Ungeduld bemerken.
Er hastete mit seinem Gefangenen durch die Halle, zog den Schlüssel von innen aus der Tür und schloß sie von außen, als sie das Haus verließen. Er bestieg mit ihm schnell einen Zweisitzer und raste die Allee entlang.
»Bedauere wirklich, Ihre Abschiedsreden unterbrochen zu haben,« bemerkte er, »ich sah aber, daß Sir Sinclair Coles schon anfing mißtrauisch zu werden. Mein Mützenschirm ist nicht richtig und mein Rock ebenfalls nicht das, was er sein sollte. Sie wollten mir im Gefängnis nicht aushelfen, und so mußte ich mir das Zeug von einem Freund leihen.«
Channay, der aus dem Fenster gelehnt nochmals zurückgeblickt hatte, nahm seinen Sitz wieder ein. Ein amüsiertes Lächeln umspielte seine Lippen.
»Martin Fogg,« erklärte er, »Sie sind ein Genie. Was kann Ihr Wagen leisten?«
»Hundert«, war die zuversichtliche Antwort.
»Gut, stellen wir ihn darauf ein. Die Biegung links ist der Weg nach Norwich. Schon flackern Lichter in der Garage und jemand ist schon in der Allee. Ihre Geschichte war großartig, wenn auch etwas dünn, wenn sie zum Überlegen kommen.«
Sie bogen in die Hauptstraße ein. Ganz in der Ferne war das Nachtgewölk zerrissen und ein schwacher Blitz leuchtete auf. Die Heide dehnte sich zu beiden Seiten und der Weg lag vor ihnen wie ein dünner Bandstreifen. Noch war das Licht sehr schwach, Fogg drehte aber dennoch seine Lampen aus.
»Wir werden schon ›ollrright‹ in Norwich frühstücken«, versprach er seinem Fahrgast. »Ich habe die Reifen von dem Wagen, in welchem Sie gekommen sind, durchstochen. Die werden nicht eher auf den Weg kommen, als bis wir an Thetford vorbei sind. Ich werde einmal halten müssen, um meinen Rock zu wechseln, bevor wir durch eine Stadt kommen.«
»Wecken Sie mich dann«, sagte Channay, während er sich gähnend in die Wagenecke zurücklehnte.
Zu einer Verfolgung kam es nicht, oder, wenn eine solche wirklich aufgenommen worden war, mußte sie bald wieder aufgegeben worden sein. Als Channay wieder erwachte, rumpelte ihr Wagen lustig über Norwichs Steinpflaster. Sein Gefährte hatte sich schon längst wieder in Zivil geworfen.
»Was nun, Mr. Channay?« fragte Fogg ihn besorgt. »Verstehen Sie mich recht, eine defensive Teilhaberschaft, weiter nichts! Wie Sie sehen, habe ich meine eigene Methode, Dingen auf die Spur zu kommen. Ich wußte, daß diese Verschwörer an den Chauffeur in Adams Garage herangekommen waren.«
Gilbert Channay blickte nun auf die sonnenbeleuchtete Straße, die mit den Müßiggängern eines solchen frühen Morgens belebt war. In seinem Gesicht lag eine gewisse, sich steigernde Aufmerksamkeit, mit der er die Vorübergehenden beobachtete.
»Fogg,« sagte er, »Sie sind wirklich ein guter Freund, und ich bin Ihnen über alle Maßen zu Dank verpflichtet, wenn das aber, was die Zukunft angeht, das Präludium ist . . . Na, erste Seitenstraße links werden Sie das Hotel gegenübersehen. Rauchfleisch und Eier und Kaffee, Fogg! Ich habe einen Teufelshunger!«
Martin Fogg spitzte seine Lippen.
»Lang wird's nicht dauern und Sie werden Ihre Ansicht schon ändern«, erklärte er zuversichtlich.