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Lady Jane war seit zwei Monaten die einsame Bewohnerin jener zwei Zimmer im zweiten Stock. Und doch nicht ganz einsam – der alten Mordaunt war gestattet worden, ihr Gesellschaft zu leisten, und sie war die treue Gefährtin ihrer Gefangenschaft. Sie war eine bessere Gesellschafterin, als es ein junges Mädchen hätte sein können, denn sie war für Lady Jane eine Art zweiter Mutter und kannte ihr ganzes Leben und alles, was sie betraf, und da sie außerdem eine Person von reicher und mannigfacher Erfahrung war, besaß sie einen ansehnlichen Vorrat von Geschichten und Erzählungen, woraus sich Nutzanwendungen auf alle Lagen des Lebens ziehen ließen. Sie wußte sogar Fälle anzuführen, die dem Lady Janes ganz ähnlich waren und zu Vergleichungen herangezogen werden konnten. Sie war voll von Geschichten, die jemals »in Familien« vorgefallen waren, unter welchem vertraulichen Ausdruck sie vornehme Familien verstand, wie die, woran sie ihr ganzes Leben gewöhnt war. Das maßlose Erstaunen, das Lady Jane empfand, als sie entdeckte, daß sie eine Gefangene sei, läßt sich unmöglich beschreiben. Sie hatte dieselbe Empfindung wie damals, als ihr Vater ihr weibliches Zartgefühl verletzt und ihr die brennende Röte der Scham in die Wangen getrieben hatte, einer Scham, die sie nicht sowohl für sich selbst, als für ihn fühlte. War es möglich, daß ihr Vater, das Haupt einer so vornehmen Familie, der Abkömmling so vieler edler Vorfahren und wiederum ihr Vater, der Mann, zu dem sie ihr ganzes Leben lang mit nie wankendem Vertrauen und mit aufrichtiger Bewunderung emporgeblickt hatte – daß er im Grunde gar kein Edelmann im wahren Sinn des Wortes, sondern ein Scheinedelmann, ein Edelmann nur dem Namen nach war, ein Schatten ohne Körper, das Bild ohne das Wesen eines Edelmanns? Daß Lady Jane sich dies mit dürren Worten klar gemacht habe, darf allerdings nicht angenommen werden. Ach nein! Gedanken, die wir in Worte zu kleiden vermögen, verursachen uns nicht so brennende Schmerzen, wie diejenigen, die in unsre Seele dringen wie ein Pfeil und uns plötzlich verwunden, ehe wir Zeit haben, unsern Schild zu erheben und sie abzulenken. Schmerzlicher selbst als die Trennung von ihrem Geliebten in dem weihevollen Augenblick, bitterer als der Gedanke an seine Enttäuschung, seinen Zorn, sein Elend war die Vorstellung, daß ihr Vater, ein großer Standesherr, ein vornehmer Edelmann, sich plötzlich so gar nicht vornehm, nicht wahr zeige, als ein Tyrann ohne das geringste Verständnis der Menschen, die seiner Gewalt preisgegeben waren. Lady Jane war um ihrer selbst und um Wintons willen traurig genug, wie man sich denken kann, aber diese letzte Wunde – das fühlte sie – war unheilbar. Denkt nur einmal an die Ueberlieferungen ihres Ranges, worin sie erzogen worden war, das stolze und doch so ernste und bescheidene Bewußtsein der Verpflichtungen, die er ihr auferlegte, das Martyrium, das auf sich zu nehmen, sie in ihrer Jugend so bereit gewesen war – und nun war es dahin gekommen, daß sie eine Gefangene in ihres Vaters Hause war, eingesperrt, wie ein unartiges Kind – sie, die wie eine Erbprinzessin erzogen worden war, die Vertreterin eines idealen Geschlechts! Ach, wenn eine Revolution, ein Aufstand ausgebrochen wäre, wenn die Demokratie gewütet hätte, wenn es eine Gefangenschaft gewesen wäre, wie sie sie einst für möglich gehalten hatte! Aber von der Erhabenheit dieser Vorstellung zu der Kleinlichkeit und Lächerlichkeit dieser Wirklichkeit herabzusinken! Während der endlosen Reihe von Tagen, die so langsam dahinschlichen, versuchte sie manchmal über ihre drolligen Erwartungen und die völlige Nutzlosigkeit der Leiden, denen sie ausgesetzt war, zu lächeln. Allein ihr Sinn fürs Komische war nicht sehr entwickelt, und sie konnte nicht über jene Jugendträume lachen, die doch schließlich die erhabensten ihres Lebens gewesen waren. Und das Bewußtsein, daß ihre gegenwärtigen Leiden unmöglich das beabsichtigte Ergebnis herbeiführen könnten, erleichterte es ihr nicht, sie mit Geduld ertragen. Wie konnte ihr Vater wohl erwarten, sie durch solche Mittel zum Gehorsam zu bringen, durch so erbärmliche Beweisgründe zu überzeugen, wie konnte er es für möglich halten, daß sie sich ändern, den Entschluß aufgeben werde, den sie unter Aufopferung aller ihrer Vorurteile und vieler ihrer besseren Empfindungen gefaßt hatte, weil sie zwei Monate, oder zwei Jahre, oder irgend eine beliebige Zeit in zwei Zimmern eingeschlossen war? Wenn sie ihre Kindespflicht nicht für einen hinreichenden Grund gehalten hatte, würde sie sich dann durch Schloß und Riegel überreden lassen? Ueber einen so ungeheuren Irrtum konnte Lady Jane nur in erhabener und schweigender Verachtung lächeln. Allein es war unedel, ihre sittliche Würde wurde durch eine so quälerische und kleinliche Prüfung in den Staub gezerrt. In einem Staatsgefängnis, mit dem Richtblock in Aussicht, würde sie heiter gelächelt und ihre erhabene Zuversicht und Festigkeit bis zum Tode bewahrt haben. Aber Einsperrung in ihren eigenen Zimmern war lächerlich, nicht heldenhaft, und der Gedanke, daß sie auf eine so erbärmliche Weise geprüft werde, die unmöglich ein Ergebnis haben könne, ließ sie erröten.
Die Mordaunt war eine ausgezeichnete Gesellschafterin, aber nach einiger Zeit fing sie an, den Kopf hängen zu lassen und sich zu härmen. Sie sehnte sich nach frischer Luft, sie jammerte nach ihren Enkelkindern, sie verlangte, o, über alle Beschreibung, nach einer Unterhaltung, nach einem kleinen, gemütlichen Schwatz, nach Verkehr mit ihresgleichen. Lady Jane war ein süßes Geschöpf – die liebste aller Damen, aber es war doch etwas andres, ob man mit einem solchen Engel sprach, oder ob man mit Mrs. Jarvis gemütlich plauderte. Die Alte konnte ebensowenig wie andre Sterbliche sich beständig in höheren Regionen bewegen. Sie sehnte sich danach, sich einmal gehen zu lassen, sich ungezwungen zu benehmen, sich, wie die Franzosen sagen, chez elle zu fühlen, ein Ausdruck, worin ein fast noch höheres Wohlbefinden zum Ausdruck kommt, als in »daheim«, worauf wir Deutsche so stolz sind. Ihre Gesundheit litt, was Lady Jane bezüglich der ihrigen nie zugeben wollte, und schließlich machte Mordaunt dem neuen Bedienten, dessen Aufgabe es war, die Gefangenen zu bewachen, so dringende Vorstellungen darüber, daß sie die Erlaubnis erhielt, auszugehen. Ihr wurde gestattet, auszugehen, und die Herzogin erhielt Zutritt, zwei Vorgänge, die mit dem Begriff der Gefangenschaft so vollständig im Widerspruch standen, daß sie thatsächlich ein Eingeständnis des Mißerfolgs waren, obgleich der Herzog daran nicht dachte. Das war eine große Veränderung für die Gefangene, in deren Wangen, wenn sie auch immer noch bleich blieben, ein Schimmer von der Farbe, in deren Herz die Hoffnung zurückkehrte. Diese Veränderung brachte ihr mehr als nur die Gesellschaft ihrer Mutter, obschon das sehr viel war. Sie erhielt nun auch Nachrichten von der Außenwelt – bestimmtere Nachrichten von Winton, als sein bloßer Anblick, wenn er über den Platz ging oder ritt, was er beständig that, ihr verschafft hatte. Jetzt erhielt sie endlich das ihr vorenthaltene Bündel Briefe durch ihre Mutter, eine ganze Hand voll. Lady Jane lächelte und weinte ein wenig über die Beschwörungen ihres Geliebten, fest zu bleiben und ihn nicht aufzugeben. »Was mögen die Menschen wohl alle denken?« sagte sie. »Ist diese Beweisführung darauf berechnet, den Verstand zu überzeugen, Mutter, oder mich durch Liebe zu überreden?« Sie blickte sich in ihrem Gefängnis, in ihrem mit jeder Bequemlichkeit ausgestatteten Gemach um – und lächelte. »Wendet sie sich an meinen Kopf oder mein Herz?« Das war vielleicht eine etwas zu nüchterne Auffassung für den engelhaften Standpunkt, den die Welt im allgemeinen Lady Jane zutraute. Aber es war eine Thatsache, daß Lady Jane, obgleich poetischer als ihre Mutter, doch auch einen Teil des Wesens ihrer Mutter geerbt hatte, ihren gesunden Verstand, und das ist eine Eigenschaft, die sich bei jeder Gelegenheit Geltung zu verschaffen weiß. Die Herzogin war durch die Qual, hilflos dabeistehen zu müssen, während ihre Tochter litt, dahin gekommen, die Sache viel tragischer aufzufassen, als Lady Jane. Sie hatte sich von ihren Gefühlen überwältigen lassen und bildete sich ein, die Gefangene wäre ganz gebrochen und mutlos. Jetzt erkannte sie instinktiv, daß mit ihrer Tochter eine Veränderung vor sich gegangen war, denn es war eine Veränderung, die sie selbst vor langer Zeit ebenfalls durchgemacht hatte. Auch sie war dahin gekommen, die Hohlheit vieler Dinge, die Fruchtlosigkeit der grands moyens einzusehen. Lady Jane hatte sich sehr langsam entwickelt. Mit achtundzwanzig Jahren war sie weniger erfahren, als manche Mädchen von achtzehn. Jetzt waren ihr aber die Augen geöffnet. Selbst ihr Liebhaber, der es für möglich hielt, daß sie solchen Ueberredungsmitteln gegenüber schwach sein könne, war der Gegenstand eines vorübergehenden Gedankens voll jener erhabenen, aber milden Geringschätzung, womit sie die gemeine Gewalt, die gegen sie angewandt wurde, betrachtete, denn sie war leider gemein, wenn auch ein Herzog ihr Urheber war, und wie unaussprechlich ohnmächtig war sie bei aller Brutalität, kurz, alles das, was ein zur Beeinflussung einer empfindsamen, stolzen, scharfblickenden Seele bestimmtes Verfahren nicht sein sollte.
Die neue Ordnung der Dinge hatte erst kurze Zeit gedauert, als die alte Mordaunt eines Tages von ihrem Ausgang mit erhöhter Farbe und großer unterdrückter Aufregung zurückkehrte. Augenscheinlich bewegte etwas, das außerhalb ihres gewöhnlichen Gedankenkreises lag, ihr Gemüt, aber sie sprach nicht mehr als gewöhnlich und ließ ihre Herrin ungestört die letzten Briefe wieder und wieder lesen und ihr Herz erquicken an den Ausbrüchen des Jubels ihres Geliebten darüber, daß es ihm nach sechs furchtbaren Wochen des Schweigens und der vollständigen Trennung gelungen war, wieder mit ihr in Verbindung zu treten. Er sagte etwas über das nahe bevorstehende Ende aller Schwierigkeiten, was Jane kaum beachtete, da die geistige Wiedervereinigung, die diese Briefe bewerkstelligt hatten, sie vorläufig ganz in Anspruch nahm. Ein nahe bevorstehendes Ende! Gewiß, einmal mußte das Ende kommen, aber für jetzt war die Gefangene nicht so hoffnungsreich wie die da draußen. Sie wußte nicht, wie tapfer die Damen ihres Bekanntenkreises sich ihrer annahmen, noch kannte sie den gesellschaftlichen Belagerungszustand, der über den Herzog verhängt worden war, und sie lächelte, seufzte aber zugleich über Wintons Hoffnung. Während des langen, langen Abends ging alles wie gewöhnlich. Er war lang, obgleich für alles gesorgt war, was ihn erträglich machen konnte – Bücher und die Mittel zum Schreiben, zum Schreiben an ihn – was viel unterhaltender und fesselnder war, als jede andre Schreibübung. Das Feuer brannte hell, das Zimmer war voll üppigen Behagens, ein Flügel stand darin und Geräte für ein Dutzend jener Beschäftigungen, womit man sich über das Hinschleichen der Zeit hinwegtäuschen kann. Allein sie langweilte sich doch, wie das auch, trotz des Glücks über den Besitz der Briefe ihres Geliebten, und darüber, daß sie Gelegenheit gehabt hatte, mit ihrer Mutter zu sprechen, und der Ueberzeugung, daß die Sache früher oder später ein Ende nehmen mußte, ganz natürlich war. »Im Gefängnis zu sein, ist doch schließlich ein mäßiges Vergnügen,« sagte sie, als sie sich anschickte, zu Bett zu gehen, mit einem leisen Lachen. »Ich sehne mich nach einem Spaziergang in den Wäldern von Billings oder selbst nur in Rotten Row.«
»O, meine Liebe,« entgegnete ihre treue Mordaunt, sich über sie beugend, »Ihre Herrlichkeit soll 'was Besseres thun. Ja, Liebchen, es kommen bessere Tage, verlieren Sie den Mut nicht.«
»Nein, das würde nichts nützen,« antwortete Lady Jane seufzend, aber seltsamerweise bemerkte sie nicht, daß die Alte ganz voll von Geheimnissen steckte, und zwar angenehmen Geheimnissen, woran sie mit stillem Jubel dachte, bereit, bei der geringsten Ermutigung ihrem Herzen Luft zu machen. Vielleicht bemerkte sie es auch, aber sie war zu müde, um noch etwas hören zu wollen. Sie ermutigte sie also zu keinen weiteren Mitteilungen, sondern begab sich seufzend zur Ruhe, mit einer Sehnsucht nach Freiheit, wie sie sie seit den ersten Tagen ihrer Gefangenschaft nicht mehr empfunden hatte. Sie fand in jener Nacht keinen Schlaf.
Von Natur nicht unruhig, warf sie sich nicht ruhelos auf den Kisten umher, so daß man ihre Schlaflosigkeit hätte merken können, hatte sie doch so viel, womit sich ihre Gedanken beschäftigen konnten, Angenehmes wie Peinliches. Sie verbannte das Peinliche und dachte an das Angenehme, und so lag sie in der Dunkelheit der Winternacht ruhig und von süßen Gedanken erfüllt. Als es beinahe Morgen war, im dunkelsten und frostigsten Augenblick der Nacht, hörte sie ein Rascheln und leise Bewegung, die sie jedoch nicht beunruhigte, da sie aus dem Zimmer der Mordaunt kam. Bald darauf nahm sie in dem schwachen Licht des unverhüllten Fensters eine vermummte Gestalt wahr, ihr freilich vollkommen bekannt, da es niemand anders war, als die Alte, die in Schlafrock und Nachthaube, mit einem Shawl um Hals und Schultern, im Zimmer umherschlich. Was wollte sie in dieser geheimnisvollen Stunde? Lady Jane fürchtete sich nicht, im Gegenteil, sie freute sich, daß die Langeweile der endlosen Nacht durch diesen Zwischenfall unterbrochen wurde. Geräuschlos wandte sie den Kopf auf dem Kissen, um besser sehen zu können, was vorging. Aber Lady Janes Ueberraschung über das weitere Vorgehen ihrer Dienerin war grenzenlos. Die Amme stellte mit großer Vorsicht und jedes Geräusch ängstlich vermeidend, einen kleinen Schirm zwischen die Thür und das Bett, dann machte sie Licht und begann mit vieler Ungeschicklichkeit an der Thür zu arbeiten. Was machte sie nur? Das hinter dem niedrigen Schirm stehende Licht beschien ein ängstliches, dem Thürschloß zugeneigtes Gesicht, und bald wurde das Kratzen und Ausgleiten ungeschickt gehandhabter Werkzeuge hörbar. Auf der gegenüberliegenden Wand und an der Decke erschien ein schwankendes Schattenbild der vermummten Gestalt der alten Frau, und dieser Schatten arbeitete in einer Weise an der Thür herum, die Lady Jane anfangs ganz unverständlich war. Was hatte das zu bedeuten? Das Geräusch wurde in dem Maße stärker, als die Alte über ihr Mißlingen erregter wurde. Sie verletzte sich den Finger, preßte die Lippen zusammen, zog die Stirn in Falten, es war eben eine Arbeit, die Uebung und Fertigkeit verlangte, und sie besaß keins von beiden.
Als Lady Jane sich geräuschlos aufrichtete und mit ihrer leisen Stimme fragte: »Was machst du denn?« ließ die arme Frau die Werkzeuge mit dumpfem Geräusche zu Boden fallen und folgte ihnen in ihrem Aerger beinahe nach.
»O, Mylady, ich kann's nicht! Ich bringe es nicht fertig, ich bin zu dumm!«
Sie weinte so heftig, daß Lady Jane sie kaum beruhigen konnte, und ihre Erklärungen fast nicht verstand. Endlich kam nach und nach heraus, daß jemand ihr die Werkzeuge mit vielen Vorschriften und Anweisungen, wie sie das Thürschloß aufbrechen solle, gegeben habe.
»Wer?« fragte Lady Jane mit tiefem Erröten und funkelnden Augen.
Warum sie so entrüstet war, daß ihr Geliebter an diesen Ausweg gedacht hatte, ist unerfindlich, aber im Augenblick erschien es ihr, als ob sie Winton diesen Plan nie verzeihen könne. Allein Lady Germaine war die Verbrecherin, und Lady Jane war besänftigt. Sie verband den verletzten Finger der Alten und schickte sie unerbittlich zu Bett. Dann betrachtete sie selbst, die Werkzeuge lange und eifrig. Sie meinte, das hieße ihren Vater mit seinen eigenen Waffen bekämpfen, und es würde ihrer ebenso unwürdig sein, auf diese Art ihre Freiheit zu erlangen, als es seiner unwürdig war, sie gefangen zu halten. War das wirklich so? Lady Janes Herz schlug stürmisch, ihre Schläfen hämmerten. War das wirklich so? Der Gedanke, daß sie ihre Freiheit in der Hand halte, erregte ihr ganzes Wesen. Sie verschloß die Werkzeuge in einem kleinen, in der Nähe des Bettes stehenden Schränkchen, denn jetzt war sie durch die bloße Vorstellung der Möglichkeit so aufgeregt und zitterte so heftig, daß sie kaum denken konnte.
Auch für den Herzog war die Nacht sehr unruhig. Wiederum war er der Mittelpunkt einer Kundgebung gewesen. Es schien ihm, er könne nirgends mehr hingehen, ohne die Worte flüstern zu hören: »Halb getraut!« Diesmal war es das Haus des Lord Kanzlers, wo die Emeute ausbrach. Eine sehr hochstehende Dame war der Ehrengast, freilich nicht die höchststehende des Reiches, aber dieser doch so nahe, daß ihre Anschauungen als aus der höchsten Quelle geschöpft gelten konnten. Sie sagte: »Wir konnten es nicht glauben,« gerade wie Mrs. Coningsby, aber natürlich hatten die Worte aus solchem Munde viel mehr Gewicht. »Ich fürchte, Sie gehören nicht Ihrem Zeitalter an, Herzog.«
»Unser Zeitalter hat nicht viel Verlockendes,« erwiderte Seine Durchlaucht würdevoll. Hier fühlte er sicheren Grund unter den Füßen.
»Aber wir können es doch nicht ändern, daß wir dazu gehören, und gerade die Vornehmen müssen zeigen, daß sie es zu führen verstehen, und dürfen sich nicht an die Anschauungen überwundener Zeiten klammern. Das ist vorbei,« sagte die gnädige Dame. Der Herzog verbeugte sich natürlich bis zum Boden. »Lady Jane wird hoffentlich bei der nächsten großen Cour als junge Frau erscheinen,« schloß die vornehme Mahnerin und setzte ihren Weg fort. Das war nicht mißzuverstehen. O, wie die seidene Gesellschaft jubelte! Sie hatten sich alle so nahe, als es der Anstand erlaubte, herangedrängt und die Ohren gespitzt. Und dann flüsterten sie einander zu, das sei die rechte Art, wie das königliche Haus seinen Einfluß in der Gesellschaft zur Geltung bringen müsse. Und der Herzog? Er stolperte aus den vergoldeten Hallen, in größerer Verwirrung und Bestürzung, als jemals ein Herzog empfunden hat. Jetzt endlich fühlte er die Macht des Stromes, der ihn dem Strudel zuriß. Er hatte den Boden unter den Füßen verloren. Vor ihm lag der Untergang. Er sträubte sich zwar, daran zu glauben – allein im Herzen wußte er ganz genau, daß es der Untergang sei. Und nun diese andre Angelegenheit, die so viele seiner Gedanken in Anspruch nahm, die eigentlich andern Dingen gehören sollten! Ein ganzer Band ließe sich mit des Herzogs ratlosen, unglücklichen Gedanken füllen.
Am nächsten Morgen stand er ganz benommen und ohne zu wissen, was er thun solle, auf. Aber im Herzen wußte er, daß er besiegt war. Alle Kampflust war ihm vergangen. Er verzehrte sein Frühstück und ließ sich dann in seiner großen, ungemütlichen Bibliothek nieder, um bei sich zu überlegen, was er thun solle, als ... Um zu erklären, was nun kam, müssen wir in unserm Bericht etwas zurückgreifen.
Lady Jane hatte ihren Tag in einem Zustand unterdrückter Aufregung begonnen, die sie durch ihre gewöhnliche äußere Ruhe zu verdecken strebte, die aber doch nicht ihre gewöhnliche Ruhe war. Die Mittel, sich die Freiheit zu verschaffen, waren in ihrer Hand. Der Mordaunt sagte sie nichts, und diese, niedergeschlagen durch ihren Mißerfolg und eingeschüchtert durch ihrer Herrin erstes Aufflammen der Entrüstung, machte sich so wenig sichtbar als möglich und ließ Lady Jane ungestört in dem Zimmer, von dem aus man den Platz übersehen konnte und das ihr (dem Namen nach) als Ankleide- und Wohnzimmer diente. Lady Jane konnte nicht vergessen, daß die Werkzeuge in dem kleinen geschnitzten Schränkchen lagen, das nie zuvor etwas gleich Bedeutungsvolles umschlossen hatte. Sie konnte sie nicht aus ihren Gedanken verbannen. Von ihnen Gebrauch zu machen, mochte ihrer unwürdig sein, eine Erniedrigung, wodurch sie sich mit ihrem Tyrannen auf dieselbe Stufe stellte, und doch – welch ein Gedanke, daß die Mittel in ihrer Hand lagen! Daß ihre Gefangenschaft vorüber war, sobald sie die Schwelle einmal überschritten hatte, wußte Lady Jane ganz genau. So etwas ließ sich nicht wiederholen. Einmal im Gange, auf der Treppe, und die Welt lag frei vor ihr. Wenn einem nach zweimonatlicher Einsperrung ein solcher Gedanke kommt, dann ist es schwer, die Aufregung zu unterdrücken. Sie wurde endlich so weit von ihr überwältigt, daß sie sich halb verstohlen, scheu und zaghaft erhob und zur Thür ging, um das Schloß zu untersuchen und zu sehen, was bei Tageslicht gethan werden könne. Sie war nicht lange vorher geöffnet und geschlossen worden, um das Mädchen, das den Gefangenen das Frühstück gebracht hatte, hinauszulassen. Die Werkzeuge lagen im Schränkchen, und wahrscheinlich würde Lady Jane mit ihren armen weißen Händchen ebenso ungeschickt damit umgehen, wie die Alte. Sie trat zur Thüre und untersuchte das Schloß sorgfältig. Plötzlich sah sie etwas, was ihr Herz wild schlagen ließ. Sie erfaßte den Griff, er drehte sich in ihrer Hand. Noch ein Augenblick, und sie riß die Thür mit einem leisen Schrei des Schrecks und des Triumphs auf. Offen! Sie war frei, aus ihrem Gefängnis heraus. Ihr Erstaunen war so groß, daß es an Bestürzung grenzte. Sie trat auf den an diesem Februarmorgen etwas düstern Vorplatz, und hier blieb sie stehen. Sie war ein Weib, zur Heldin geboren, eins aus dem Geschlecht der Don Quixots. Einen Augenblick hielt sie hoch erhobenen Hauptes inne und überlegte. Es mußte ein Zufall sein; einmal hatte der Schließer einen Fehler gemacht, hatte auf seinem Posten geschlafen, den Schlüssel in der verkehrten Richtung gedreht. Durfte sie aus diesem Mißgriff Nutzen ziehen, ihre Freiheit dem Irrtum eines Bedienten verdanken? Sie zögerte, dieser geistige Nachkomme des großen spanischen Kavaliers, des edelsten der Ritter. Aber jetzt mischte sich Janes gesunder Verstand hinein. Sie machte sich klar, daß sie jetzt, in diesem Augenblick befreit worden war – daß keine Macht der Welt sie wieder hinter jene Thür bringen könne. Sie nahm die lange Schleppe ihres schwarzen Gewands in die Hand und stieg langsam, in stolzer Haltung, nicht wie ein Flüchtling, sondern wie die Fürstin, die sie war, die Treppe hinab.
Der Herzog saß in seiner Bibliothek und überlegte, was er thun solle, und die Herzogin in ihrem Boudoir, sehr aufgeregt über die königlichen Worte, die ihr bereits hinterbracht worden waren. Ihre Gedanken waren, so befremdlich es scheinen mag, nur halb bei Jane, sie sah dem andern düstern und schrecklichen Verhängnis ins Gesicht – dem nahenden Sturz. Sie hatte greifbare Beweise vor sich und wußte, daß es sich nur noch um Wochen, vielleicht Tage handeln konnte, so daß ihr Herz, obgleich es, wie die aufgeregte See nach einem Sturm, noch unter der andern Erregung wogte, doch für den Augenblick Jane vergessen hatte. Dagegen war des Herzogs Geist ganz von Gedanken an seine Tochter erfüllt. Was blieb ihm übrig? Nachgeben! Er mochte die Sache betrachten, wie er wollte, er sah keinen andern Ausweg. »Die Weiber hatten,« wie Lord Germaine in seiner derben Sprechweise vorausgesagt hatte, »ihm die Hölle zu heiß gemacht,« und selbst die königliche Familie – es war klar, er konnte das Haus nicht verlassen oder sich in der Gesellschaft seiner Standesgenossen blicken lassen, bis dies geordnet war. Aber wie sollte er es anfangen? Am hellen lichten Tage, angesichts seines Haushalts, sein Unrecht eingestehen? Das war ein Gedanke, der sich gar nicht ausdenken ließ. Jetzt hieß es nicht mehr: was sollte er thun? sondern: wie sollte er es thun? Das beschäftigte ihn. Nicht im stande, still zu bleiben, und einsehend, daß sofort irgend ein Schritt gethan werden müsse, hatte er sich erhoben, als ...
So weit waren wir schon weiter oben gekommen. An diesem denkwürdigen Wendepunkt, als er die Empfindung hatte, die ganze Welt stehe still und warte gespannt, was er thun werde, wurde die Thüre der Bibliothek langsam von außen geöffnet. Die Thüren im Palais an Grosvenor Square quiekten und kreischten nicht, wie die Hexen des Alten Testaments, und wie es unsre Thüren so oft thun, sondern drehten sich langsam, majestätisch, geräuschlos in ihren Angeln. Das war es, was sich zutrug, während der Herzog mit dem Gefühle, daß etwas in ihm zusammenbreche, bebenden Herzens, als ob er einen Besuch aus der unsichtbaren Welt erwarte, mit weit aufgerissenen Augen und offenem Munde stille stand. War es eine Abordnung aus dem Herrenhaus? War es die königliche Dame in eigener Person? War es ...? Es war etwas noch viel Ueberwältigenderes, noch viel Wunderbareres. Es war Lady Jane. Der Leser weiß schon, wer einzutreten im Begriff war, aber der Herzog wußte es nicht. In wortlosem Erstaunen blieb ihm der Atem stehen, als ob er wirklich einen Geist sähe. Nach ihrer langen Haft war sie sehr bleich, und die Einbiegung in ihrer zarten Wange leider sehr sichtbar. Dem langen, weichen, schwarzen Kaschmirgewand, womit sie bekleidet war, sah man an, daß es ihr früher wundervoll gepaßt hatte, aber jetzt war es zu weit. Allein wenn auch mager und bleich, trug sie doch das Haupt hoch, und in dem Blick, den sie auf ihren Vater richtete, lag ein Lächeln. In der That, sie war die Triumphierende. Zu hochgesinnt und stolz, um zu fliehen, trat sie ins Zimmer und schloß die Thür hinter sich mit vornehmer Würde.
»Ich bin gekommen, um dir zu sagen,« hob sie an, »daß infolge eines Zufalls oder Ungeschicks meine Thür heute morgen unverschlossen geblieben ist, und ich habe mein Gefängnis verlassen.« Sie hielt das Haupt hoch, und er beugte sich und kroch vor ihr zu Kreuze. Und doch – hätte sie es nur gewußt – war ihm, als ob die Last der ganzen Welt von seinen Schultern genommen worden sei.
»Das ist Martins Schuld,« erwiderte er, »der Kerl soll sofort weggejagt werden. Jane, du magst mir glauben oder nicht, aber ich hatte die Absicht, heute selbst zu kommen und die Thüre zu öffnen.«
Schwach und angegriffen sank er in einen Stuhl und nahm den Kopf in die Hände. Er war tiefer erschüttert als sie, und es erforderte seine ganze Kraft, zu verhüten, daß er nicht in Thränen ausbreche wie ein Weib.
»Du glaubst doch gewiß nicht, daß ich an deinen Worten zweifle? Ich bin froh, sehr froh, daß es so war,« entgegnete sie mit weicher Stimme. Er war doch immer ihr Vater, und auch sie fühlte sich ihm gegenüber nicht frei von Schuld. »Ich wollte, ich hätte gewartet, bis du kamst,« sagte sie.
»Ja,« versetzte er, die goldene Rückzugsbrücke, die sie ihm gebaut hatte, mit großem Eifer benutzend, »ich wollte, du hättest gewartet bis ich kam, aber das war nicht zu verlangen, ich glaube nicht, daß das zu verlangen war.« Dann richtete er sich, die Hände schwer auf den Tisch stützend, mühsam auf und betrachtete sie. »Gott sei mir gnädig! Wie mager du bist und wie blaß! – Ist das – ist das mein Werk? Großer Gott! So lange eingeschlossen, armes Mädchen! – Gewiß hassest du mich, Jane?«
Lady Jane trat zu ihm und reichte ihm beide Hände. »Vater, ich habe gesündigt wider dich. Vergib mir!« rief sie, zu hochherzig, um nicht das Unrecht auf sich zu nehmen; und so küßten Vater und Tochter einander, er, wie ein weinendes Kind, sie, wie eine tröstende Mutter. Einen solchen Augenblick hatte das Leben dem Herzog noch nicht beschert. Und wir sind genötigt, zuzugeben, daß weder die Herzogin, die doch seine treue Lebensgefährtin war, noch Winton, der stets so bereit war, jede edle Regung in Lady Jane zu bewundern, die Vollständigkeit dieser Aussöhnung jemals begreifen konnten. Hoffentlich versteht sie der Leser besser. Sie waren zu tief verletzt und entrüstet, um die alten Beziehungen sofort wieder aufnehmen zu können, als ob nichts vorgefallen sei. Allein wir haben keine Zeit, näher darauf einzugehen. Als Lady Jane ruhig, als ob sie ihre Mutter erst vor einer halben Stunde verlassen habe, in das Boudoir eintrat, warf die Herzogin mit einem lauten Aufschrei ihre Papiere beiseite, stürzte ihrer Tochter entgegen und schloß sie leidenschaftlich in die Arme, ihr mit dem Grimm einer Löwin, die ihr Junges verteidigt, über die Schulter schauend. Sie wollte sofort den Wagen bestellen, um Lady Jane an einen sichern Zufluchtsort zu bringen, aber Jane wollte davon nichts hören. Sie beruhigte ihre Mutter, wie sie ihren Vater aufgerichtet hatte, und eine Stunde später war auch Winton in dem kleinen Gemach, das plötzlich in ein Paradies verwandelt worden war. Er hatte während der ganzen Zeit eine besondere Trauungserlaubnis in der Tasche mit sich herumgetragen, und da in einer großen Stadt sich alles in kurzer Frist bewirken läßt, selbst im Februar, wurde Lady Jane Altamont mit einem kleinen, aber ausreichenden Gefolge und vor einem großen Haufen aufgeregter Zuschauer in der St. George Kirche, Hanover Square, wie alle Leute ihres Ranges getraut. Es ist wohl kaum nötig, zu erwähnen, daß am nächsten Morgen die »Morning Post«, sowie die meisten andern Zeitungen eine Beschreibung der Feierlichkeit brachte, mit einer zarten Hinweisung auf die Schwierigkeiten, die vorher zu beseitigen waren. Viele, die dies lasen, verstanden es, noch mehr verstanden es nicht, nirgends aber erregte es größere Aufregung, als in dem Pfarrhaus von St. Alban, wo Mrs. Marston, die arme Frau, die Zeitung der vornehmen Welt hielt, weil sie in dieser Wildnis sich sonst zu sehr vereinsamt gefühlt hätte. Mit dem großen Blatt in der Hand stürzte sie ins Arbeitszimmer ihres Gatten (der die Geschichte soeben mit Gefühlen, die der Schilderung spotten, im »Standard« gelesen hatte). »Siehst du nun, William,« sagte sie feierlich, »habe ich dir nicht gleich gesagt, daß uns die Sache nichts anging und wir uns nicht hineinmischen sollten? Und dein feiner Herzog, dem du so eifrig zu Gefallen gehandelt hast, noch nicht einmal ›danke schön‹ hat er gesagt. Aber ich habe ja im voraus gewußt, was du zu erwarten hättest,« rief Mrs. Marston.
Ende.