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Es war etwa halb zehn Uhr, als Onkel Graff, der wie gewöhnlich in der Provencerstraße gespeist hatte, sich zum Heimweg in seine Wohnung anschickte. Er wollte über die Geschäftstreppe noch einmal in sein Arbeitszimmer im ersten Stock gehen, um einige Schriftstücke mitzunehmen, die er zur Vollendung einer Berechnung nötig hatte, als ihm Baudoin mit geheimnisvoller Miene in den Weg trat.
»Es sind zwei Damen hier,« sagte er leise, »wovon die eine Herrn Marcel sprechen möchte. Ich habe ihr schon gesagt, daß er auswärts gespeist hat. Das schien ihr sehr unangenehm zu sein, und nun will sie wissen, wo sie ihn treffen könnte . . .«
»Was für eine Art von Dame ist's denn?« fragte Graff.
»O Herr Graff, unbedingt eine anständige! Die andere scheint mir eine Gesellschafterin zu sein.«
»Wo sind sie denn?«
»Im Vorzimmer unten.«
»Zünden Sie Licht in meinem Arbeitszimmer an und führen Sie die Damen dort hinein.«
Baudoin verschwand.
»Was wird denn das wieder sein?« brummte Graff, ihm langsam folgend, vor sich hin. »Immerzu Weibergeschichten bei diesem Schlingel! Irgend eine Geliebte, die ihm eine Scene machen will!«
Er trat in sein Bureau, wo er eine dunkel gekleidete, jugendliche Gestalt mit verschleiertem Gesicht dicht an der Thür wartend vorfand. Sie war sichtlich erregt, aber der Eindruck war nicht ungünstig, und so bot er ihr einen Stuhl an und sagte wohlwollend: »Sie wollen meinen Neffen sprechen, gnädige Frau? Der ist leider ausgegangen. Müssen Sie ihn persönlich sprechen, oder kann ich vielleicht . . .«
»Mein Herr, es handelt sich um Leben und Tod,« unterbrach ihn die junge Dame mit flehend aufgehobenen Händen.
»Für wen?« fragte Graff hastig.
»Für Ihren Neffen!«
»Wie kommen Sie dazu, das zu wissen? Wer sind Sie?«
»Ich bin Marianne Lichtenbach,« versetzte sie ohne Zögern. »Herr Graff, ich vertraue mich Ihrem Zartgefühl an.«
Sie hatte bei diesen Worten den Schleier abgenommen, und er sah die Tochter des Todfeindes vor sich. Sie war sehr bleich und zitterte, aber sie sah entschlossen und mutig aus.
»Wer schickt Sie?« fragte Graff, beunruhigt auf das junge Mädchen zutretend.
»Mein Vater,« erwiderte sie mit Bestimmtheit, und Graffs zweifelnden Blick auffangend, setzte sie hinzu: »Er wäre selbst gekommen, wenn er nicht gefürchtet hätte, abgewiesen zu werden. Die Sache duldet keinen Aufschub! Mein Herr, Ihr Neffe ist vielleicht in diesem Augenblick schon in höchster Lebensgefahr und mein Vater, der Kenntnis davon erhielt, hat mich beauftragt, Sie zu warnen.«
»Aber auf welche Weise erhielt er denn Kenntnis davon?« fragte Graff argwöhnisch.
»Ach, mein Herr, bieten Sie alles auf, Ihren Neffen zu retten!« rief Marianne erregt. »Nachher können Sie fragen, sich erkundigen . . . er ist in äußerster Gefahr, sage ich Ihnen.«
»Und woher droht ihm denn Gefahr?«
»Von den nämlichen Leuten, die den General von Trémont ermordet haben. Das soll ich Ihnen sagen, das werde Sie hinreichend aufklären . . . Mein Vater hat Kunde von ihren verbrecherischen Absichten erhalten, die ihn empören und die er Ihnen anzeigt . . . Handeln Sie! Verlieren Sie keine Minute! Diese Nacht geht vielleicht nicht vorüber, ohne daß abermals ein Mord geschieht.«
»Aber wohin soll ich gehen?« rief Graff, von der Angst des Mädchens mit fortgerissen. »Wie und wo soll ich den Schurken in den Arm fallen?«
»Das werde ich Ihnen erklären . . . daß ich mich nur genau besinne, was mir aufgetragen wurde . . .«
Sie strich sich mit der Hand über die Stirne, wie um einen Schmerz zu bezwingen.
»Ja . . . so war's . . . eine Frau, die er in Ars gekannt hat . . .«
»Die Italienerin?«
»Ja . . . die wird es sein. Er hat sie geliebt, man weiß, daß er sie wiederzusehen wünscht,« brachte sie mühsam mit entfärbten Lippen heraus, als ob diese Mitteilung sie selbst peinigte, »und nun hat man ihm geschrieben, ihn zu einem Stelldichein geladen . . . heute abend erwartet man ihn in einem abgelegenen Haus . . . aber nicht sie erwartet ihn, die er zu finden hofft, sondern Schurken, die zu jeder Gewaltthat bereit sind, die ihn zwingen wollen, ihnen ein Geheimnis preiszugeben . . . verstehen Sie jetzt?«
»Gewiß, sehr gut, aber wo liegt das Haus?«
»Hier,« sagte sie, ihm einen Zettel reichend, »mein Vater hat mir die Adresse aufgeschrieben.«
»Boulevard Maillot 26,« las Graff, »Und wann sagten Sie, daß er dort erwartet wird?«
»Um zehn Uhr.«
Als ob sie nur auf dieses Wort gewartet hätte, that die Standuhr zehn Schläge.
»Ach, mein Kind, warum sind Sie nicht früher gekommen? Wenn es zu spät wäre?«
»Wir haben nicht eine Sekunde verloren. Es war ja nur der Zufall, der meinem Vater diese Pläne verriet . . . man mißtraut ihm jetzt nicht minder als Ihnen, er stürzt sich selbst in größte Gefahr.«
Graff klingelte, worauf Baudoin sofort erschien.
»Einen Wagen, Baudoin, aber rasch. Sie begleiten mich. Haben Sie einen guten Revolver?«
»Ja, Herr Graff.«
»Den nehmen Sie mit! Nur rasch, und daß niemand ein Wort davon erfährt. Ich erwarte Sie und die Droschke im Hof. Schon zehn Uhr! . . . Aber wir werden doch hinkommen, . . . Und wenn sie dem Kind ein Leides angethan haben, dann wehe ihnen!«
Baudoin war schon fort, Marianne sah regungslos zu, wie Graff seine Vorbereitungen traf, ein Bündel Banknoten zu sich steckte, seinen Revolver untersuchte, einen Stock mit schwerem Bleiknopf zur Hand nahm. Erst nach einer Weile schien er sich auf ihre Anwesenheit zu besinnen, er trat auf sie zu und sagte mit Wärme: »Mein Kind, ich danke Ihnen für den Dienst, den Sie uns erwiesen . . . den uns Ihr Vater erwiesen hat . . . dieser Dienst macht vieles gut! Sagen Sie ihm, daß er auf meine unbedingte Verschwiegenheit zählen könne, daß niemand erfahren wird, wer der Warner war.«
»O retten Sie ihn!« rief Marianne mit überströmenden Augen. »Alles andere ist gleichgültig!«
Graff faßte das junge Mädchen schärfer ins Auge, las die Todesangst auf ihren Zügen, sah die wie in flehentlichem Gebet gefalteten Hände. Der Antrag, den ihm der Abbé von Escoyrac übermittelt hatte, die Begegnung von Marcel und Marianne im Elsaß-Lothringischen Bazar, kamen ihm in den Sinn, und die Vermutung drängte sich ihm auf, daß Lichtenbachs Tochter von einem persönlicheren Gefühl als allgemeine Nächstenliebe erfüllt sein könnte. Er seufzte, sein altes rührsames, der Romantik geneigtes Herz war bewegt, und er fuhr mit einer respektvollen Weichheit fort: »Marcel aber wird erfahren, was Sie für ihn gewagt haben . . . Ich fühle, was dieser Schritt Sie gekostet hat . . . Ihr Vater mußte Ihnen so manches erklären, Sie mußten verstehen lernen, was Sie nie zu wissen gebraucht hätten. Dank, noch einmal Dank, bis Marcel Ihnen selbst danken kann.«
Marianne lächelte wehmütig.
»Ich kehre morgen ins Kloster zurück, Herr Graff . . . für immer. Das Leben ist entsetzlich und trostlos . . . Ihr Neffe wird mich also nie wiedersehen!«
Sie band ihren Schleier wieder vor, ging an Graff vorüber zur Thüre hinaus und schloß sich an die im Vorzimmer wartende Begleiterin an. Mit schweigendem Gruß verschwanden die beiden Mädchen. Graff folgte ihnen unmittelbar, und als das Lichtenbachsche Coupé abfuhr, war auch Baudoin schon mit seiner Droschke zur Stelle.
»Zum Maillotthor,« sagte Graff im Einsteigen, »Baudoin, Sie setzen sich neben mich, ich habe Ihnen unterwegs viel zu sagen. Kutscher, wenn wir in zwanzig Minuten am Ziel sind, bekommen Sie zehn Franken Trinkgeld,«
»Danke schön, ist der Mühe wert! Fort!« rief der Mann und der Wagen setzte sich rasselnd in Bewegung. –
Marcel hatte sich nie ruhiger gefühlt, als auf dem Weg zum Sternplatz, wo er den Wagen treffen sollte, der ihn zu diesem Stelldichein führen würde. Er hatte im Klub gegessen, sich frei und heiter mit den Bekannten unterhalten, eine gute Cigarre geraucht und eine Weile dem Spiel im großen Saal zugesehen. Um halb zehn Uhr war er aufgebrochen, um mit dem Stock unterm Arm zu Fuß die Elysäischen Felder entlang zu gehen und die frische Nachtluft mit Genuß einzuatmen. Er ging mit federndem Schritt die stille Allee entlang, während auf dem Fahrdamm nach Paris zurückkehrende Wagen an ihm vorüberrollten, die Dunkelheit mit dem Schein ihrer Laternen durchlöchernd. Unter den Bäumen war er beinahe allein.
Mit einer gewissen Neugier dachte er daran, wer und was ihn wohl erwarten möge! Ob am Ende doch Bösewichter, wie der Untersuchungsrichter so bestimmt anzunehmen schien? Oder, was ihm so viel wahrscheinlicher dünkte, die rätselhafte Frau, deren Niederträchtigkeit er ja halb und halb erkannt hatte, aber an deren Liebe er glaubte? Die dunkle prunkhafte Schönheit, als die er sie im Opernhause wiedergesehen hatte, verschmolz in seiner Erinnerung mit der blonden Frau, die er durch die Wälder von Bossicant geführt hatte. Aber ob diese oder jene deutlicher vor ihm stand, beide sah er vor Leidenschaft bebend, bei beiden fühlte er die echte vollständige Hingebung, die jene Anklage der Doppelzüngigkeit, die alle, ja sogar er selbst gegen sie erhoben, Lügen strafte. Und wieder fühlte er die wonnige Frische ihrer Lippen, die seinen Mund suchten, fühlte das heftige Pochen ihres Herzens, wie damals, als sie ihn im dunklen Hintergrund der Loge so wild an sich gepreßt hatte.
All diese Gedanken und Vorstellungen stärkten die feste und kühle Entschlossenheit, womit er sich zu dem Stelldichein begab, das ihm endlich des Rätsels Lösung bringen sollte. Er war fünfundzwanzig Jahre alt, fühlte sich gesund und kräftig, wußte sich mutig und tapfer, und so durfte er sich wohl sagen, daß man im Fall eines verbrecherischen Anschlags nicht so leicht mit ihm fertig werden würde und sein fester Entschluß war, jeder Gefahr trotzig die Stirne zu bieten. Als er den Sternplatz erreicht hatte, sah er an der Ecke der Hochestraße richtig einen Wagen stehen, der sich beim Nähertreten als ein Coupé erwies, wie die Lohnkutscher es den Klubs stellen, ein Coupé ganz gewöhnlicher Art. Der Kutscher nickte halb eingeschlafen auf seinem Sitz.
»Sie erwarten jemand?« rief ihn Marcel an.
»Ja . . . jawohl mein Herr!«
»Nun, der Erwartete bin ich.«
»Gut; steigen Sie nur ein.«
Der Wagen rollte die breite Straße der Großen Armee entlang, bog dann in den Zugang zum Maillotthor ein, fuhr noch eine oder zwei Minuten weiter und hielt in der sehr dunklen Allee vor einer Gartenpforte. Marcel stieg aus, und der Wagen fuhr rasch davon. Eine von Epheu versteckte Gartenthüre ging auf und ein Diener in Livree erschien. Marcel folgte ihm durch den Garten nach dem Haus, das unbeleuchtet und schweigend vor ihm lag; nur aus einem Fenster im ersten Stock fiel ein schwacher Lichtschimmer. Er stieg die Stufen einer Terrasse hinauf und gelangte in eine Halle, die erleuchtet, aber durch Läden an der Hausthüre so abgeschlossen war, daß er von außen keinen Lichtschein hatte entdecken können. Der Diener ging ihm schweigend voran die Treppe hinauf und ließ ihn in ein mit hellem Stoff ausgeschlagenes Damenzimmer treten, das von einer elektrischen Stehlampe erleuchtet war. Dann verschwand der Diener lautlos und Marcel war allein.
Er lauschte angestrengt, aber nichts rührte sich im Haus, keine Stimme, kein Schritt war zu vernehmen. Seinen Hut auf den Tisch legend, wartete er. Jetzt hörte er im Nebenzimmer einen gedämpften Aufschrei, ein rascher leichter Schritt kam näher, eine verhängte Thüre wurde hastig aufgerissen und in höchster Aufregung, mit verzerrten Zügen erschien Sophia auf der Schwelle. Sie sprach kein Wort, aber in ihren Augen lag ein namenloses Entsetzen. Marcel am Handgelenk fassend, zog sie ihn in das Zimmer, aus dem sie gekommen war, ein Schlafzimmer, drehte hastig den Schlüssel im Thürschloß, verriegelte eine andere, nach außen führende Thüre und fragte, Marcel umschlingend und den Mund an sein Ohr pressend: »Unglückseliger! Wie kommen Sie hierher?«
Zu gleicher Zeit, offenbar einem unwiderstehlichen Impuls folgend, preßte sie die Lippen auf Marcels Hals und küßte ihn, von Angst und Lust halb besinnungslos, wild und heiß.
Lächelnd, aber ohne ihre Zärtlichkeit zu erwidern, fragte dieser: »Ja, haben Sie mich denn nicht gerufen?«
»Ich! Barmherziger Gott! Zehn Jahre meines Lebens, hören Sie wohl, zehn Jahre würde ich darum geben, daß Sie jetzt nicht hier, nicht in diesem Haus wären! Ach, die Elenden! Sie haben mich hintergangen! Sie haben ohne mich, gegen meinen Willen ihren Plan ausgeführt . . . gegen meinen Willen!«
»Und diese Elenden, wer sind sie?« fragte Marcel fest, indem er sich aus ihren Armen löste.
»Fragen Sie mich nicht! Ich kann, ich darf nicht sprechen! Die Gefahr, worin Sie stehen, ist ohnedies furchtbar genug! Wenn sie mich im Verdacht hätten, Ihnen irgend etwas zu verraten, wäre jede Hoffnung, Sie zu retten, verloren.«
»Sie scherzen wohl?« fragte Marcel höhnisch. »Glauben Sie, mir den Kopf mit Räubergeschichten verwirren zu können? Wir sind in Paris, nur ein paar Schritte abseits vom Getriebe der Stadt. In allen Straßen sind Schutzleute, und man ist also nicht so leicht ›furchtbarer‹ Gefahr ausgesetzt. Außerdem kann ich Ihnen zur Beruhigung sagen, daß ich vorzüglich bewaffnet bin, und daß ich den Leuten, von deren Seite Sie einen Überfall zu fürchten scheinen, nicht wehrlos gegenüberstehe.«
»Armes Kind! Sie wissen nicht, mit wem Sie es zu thun haben!«
»Sollte Ihr Bruder etwa darunter sein, gnädige Frau?«
Sie hielt ihm den Mund zu mit ihren schönen, weichen Händen, und er verstummte. Jetzt umschlang sie ihn wieder, preßte ihn voll Glut an sich und stammelte mit von Thränen erstickter, ganz veränderter Stimme: »O Marcel! Marcel!«
Sie erblaßte dabei, hing sich krampfhaft an ihn, um nicht umzusinken, und ließ stockenden Atems das Köpfchen mit dem dunklen duftenden Haar auf die Schulter des Geliebten sinken.
Ein scharfes Pochen an der Thür schreckte sie aus ihrem Taumel auf.
»Horch . . .«
Sophia schlich zur Thüre und rief in einer für Marcel unverständlichen Sprache eine Frage hinaus, die rasch beantwortet wurde. Sichtlich beruhigt, öffnete sie, indem sie Marcel zuraunte: »Es ist Milo.«
Milona schlüpfte herein, die Thüre ängstlich hinter sich schließend.
»Sie schicken dich?«
»Ja, Herrin.«
»Was wollen sie?«
»Daß Sie herunterkommen und sich mit ihnen verständigen.«
»Ich komme nicht.«
»Das denken sie sich . . .«
»Und dann?«
»Sie haben mich beauftragt, Ihnen zu sagen, was sie von dem jungen Herrn haben wollen.«
»Schweig! Er darf es nicht erfahren!«
»Ist's Ihnen lieber, wenn sie heraufkommen und ihn umbringen?«
Stille trat ein. Mit einem Aufstöhnen schmerzlichster Qual rang Sophia die Hände. Ohnmächtige Wut, höchste Verzweiflung entstellten die schönen Züge, Mit den Zähnen knirschend, schnellte sie auf den Kamin zu, ergriff einen kurzen scharfen Dolch, den sie mit erschreckender Gewandtheit schwang, und fragte: Du wirst mich nicht verlassen, Milo?«
»Sie wissen es ja, Herrin, ich sterbe für Sie.«
»Marcel ist bewaffnet, also sind wir zu Dreien! Ich werde ihn verteidigen mit dem letzten Blutstropfen!«
»Gegen die?« fragte Milona. »Hoffen Sie das Unmögliche? Wer vermag, diesen Widerstand zu leisten? Zum Äußersten entschlossen, warten sie unten im Eßzimmer.«
»O mein Gott! Ja, es ist Wahnsinn, noch zu hoffen! Ich kenne sie ja! O Marcel, Marcel, du Unbesonnener! Wie konntest du dich ihnen preisgeben?«
Ermattet warf sie ihren Dolch weg und sank, das Gesicht mit den Händen bedeckend, schluchzend auf einen Stuhl.
»Milona,« wandte sich Marcel mit größter Ruhe an die Dalmatinerin, »was wollen diese Leute eigentlich von mir?«
Milona warf einen fragenden Blick auf die Herrin, und da Sophia ihr kein Zeichen machte, zu schweigen, erwiderte sie: »Das Geheimnis, das berühmte Geheimnis, wodurch das Ihnen gestohlene Pulver erst wertvoll wird.«
Marcel lächelte.
»Ach so! Das treibt sie um,« sagte er verächtlich. »Sehr angenehm, Gewißheit zu haben, daß sie nicht herausbringen konnten, was ihnen so wichtig ist . . . Milona, bestellen Sie den Herren, daß sie es von mir nie erfahren werden!«
»Das wird sich bald zeigen!« rief Agostinis wutbebende Stimme durch die Thüre herein.
»Aha! Sie haben gehorcht, Kanaille!« rief Marcel hinaus. »Ganz erfreulich, denn es vereinfacht die Sache! Sagen Sie Ihren Spießgesellen, daß ich sie nicht fürchte. Ich trage eine gute Waffe bei mir, die mir für sechs Menschenleben haftet, . . . Wenn's Ihnen recht ist, mache ich diese Thüre auf und der Tanz kann beginnen.«
»Überlegen Sie sich das noch eine Weile,« versetzte eine andere Stimme in rauhen Kehllauten. »Zu einer Dummheit hat man immer noch Zeit.«
»Was ist denn das für einer?« fragte Marcel. »Scheint weniger eselhaft zu sein als der andere.«
»Sie scheinen uns ganz richtig zu beurteilen!« höhnte Hans. »Geduld! Wir geben Ihnen eine halbe Stunde Bedenkzeit, Wenn Sie uns nach Ablauf von dreißig Minuten nicht den Willen gethan haben, so werde ich Sie zum Reden bringen. . . . Die Nacht ist feucht! wir haben unten ein Feuer, woran man sich wärmen kann!«
Vorsicht war jetzt überflüssig geworden, und die Banditen gingen hörbar die Treppe hinunter. Milona verließ schweigend das Zimmer, Marcel und Sophia allein lassend. Die Uhr auf dem Kaminsims zeigte zehn Uhr zehn Minuten.
»Sie haben gehört,« sagte Sophia. »Sie wissen jetzt, wozu man sich anschickt. Ihr Geheimnis will man haben . . .«
»Und ich habe ihnen gesagt, daß sie es nicht erfahren werden.«
Er blickte die junge Frau an und sah sie erbeben unter seinem Blick. Auf sie zutretend, legte er ihr die Hand auf die Schulter.
»Aber das Ihrige fordere ich!«
»Das meinige?« rief sie mit einer Gebärde des Entsetzens.
»Ja. Ich will wissen, wer und was Sie sind. Ich habe Sie geliebt und kenne doch nicht einmal Ihren Namen; heute abend wage ich um Ihretwillen mein Leben und weiß nicht, ob Sie die Schuldige oder das Opfer sind. Sind Sie Frau von Vignola, oder die Baronin Grodsko, oder beides, oder noch eine andere? Wenn ich glauben wollte, was man mir über Sie zuträgt, wären Sie eine Art von weiblichem Proteus, der Namen, Gesicht und Stimme wechselt, immer in verbrecherischer Absicht. . . . Soll ich Sie beklagen, oder verabscheuen? Man sagt, Sie seien ein Ungeheuer . . . ist Ihre Seele so häßlich, als Ihr Gesicht schön ist? Sie haben mich vorhin gefragt, weshalb ich gekommen sei? Ich bin gekommen um Antwort auf diese Fragen zu fordern. Ich will, verstehen Sie mich wohl, ich will wissen, was für eine Frau Sie sind.«
»Ein trauriges Weib, Marcel,« versetzte sie mit bitterem Lächeln, »das dich liebt, das an dir zu Grunde geht,«
»Leere Worte! In welchem Verhältnis stehen Sie zu den Banditen, die uns belagern? Welche Schändlichkeiten haben Sie gemeinsam mit diesen verübt? Ich will alles wissen, ich fordere Wahrheit, die ganze Wahrheit! Sie behaupten, mich zu lieben? Der einzige Beweis, den ich dafür verlange, ist Aufrichtigkeit.«
»Niemals!« rief sie beinahe kreischend und die Hände vors Gesicht schlagend. »Dir würde vor mir grauen!«
»Es ist also wahr, daß Sie ein verworfenes Geschöpf sind?«
»O, beschimpfe du wenigstens mich nicht! Führe keine solchen Reden, lieber Marcel! Laß mich nicht beleidigende, drohende Worte von deinen süßen Lippen hören! Mögen andere so sprechen, was liegt mir daran? Aber du . . . nein, nein! Wenn die ganze Welt mit Abscheu auf mich blickt, es ficht mich nicht an, solange in deinem Herzen ein Winkelchen ist, worein die Verachtung für mich nicht dringt!«
»Sie verdienen also Verachtung?«
Sophia schwieg. Marcel fühlte, wie der Zorn seine Nerven durchbebte, wie ihm das Blut in die Schläfen stieg, aber er verlor die Herrschaft über sich selbst nicht.
»Sie wollen nicht sprechen? Dann werde ich jene fragen, die mich unten erwarten. Sie werden sich wahrscheinlich ein Vergnügen daraus machen, mich gründlich aufzuklären.«
Er machte einen Schritt nach der Thüre, doch nun sprang sie auf, hielt ihn mit der Kraft einer Irrsinnigen fest, drückte ihn auf einen Stuhl nieder und sank neben ihm auf die Kniee.
»Rasender! Du glaubst noch immer nicht an die Gefahr? Bleibe, bleibe bei mir, das ist die einzige Möglichkeit der Rettung.«
Er blickte ihr tief in die Augen und fragte von neuem: »Wer sind Sie?«
Statt aller Antwort schlang sie die Arme um seinen Hals, näherte lächelnd den Mund seinem Schnurrbart und berührte ihn in wollüstiger Liebkosung mit den süßen Lippen. Es überlief ihn heiß, aber er ließ sich nicht verwirren durch die Versuchung.
»Wer sind Sie?« fragte er wieder.
»Unbarmherziger!« stöhnte sie. »Was habe ich dir denn zuleide gethan?«
»Du hast meine Liebe gestohlen!«
Sie lachte – ein halb irrsinniges Lachen – und zeigte die blanken Zähne.
»Und die kannst du mir nicht mehr nehmen! Du kannst mich hassen, wenn du willst, aber die Erinnerungen an die kleine Villa, an die Wälder von Bossicant, die kannst du mir nicht rauben, selbst im Tode würden sie mein Eigentum bleiben!«
»Wenn du nicht sprichst, mir jede Auskunft verweigerst, so thust du es nur, weil du weißt, daß ich dich dermaßen verachten müßte, daß mir von diesem Glück der Vergangenheit nichts zurückbliebe, als höchster Ekel!«
Sie richtete sich stolz auf.
»Armer Marcel, wie du dich irrst – auch dann noch würdest du mich ja lieben! Und darunter würdest du so leiden, daß ich dir nicht Rede stehe, einzig und allein, um dir Schmerz zu ersparen. Verschmäht hat mich noch keiner. . . . Du weißt es, welcher Art meine Liebe ist, und dich würde danach verlangen, auch dann noch, wenn ich dir gestanden hätte, daß ich eine Verworfene, eine Verbrecherin bin! Und das, mein Geliebter, mein Angebeteter, würde dich erniedrigen, beflecken. Du würdest mich immer noch lieben, aber du wärest nicht jener Marcel, den ich allen vorgezogen habe, für den ich mein Leben lassen würde; in deine Trunkenheit würde sich bittere Selbstverachtung mischen, du würdest in Liebe glühen und schlecht dabei werden, und das ertrüge ich nicht! Nein, nein! Gib deine Fragen auf . . . wenn es mir so gefiele, könnte ja doch nichts dich von mir lösen! Ich kenne meine Macht. Wenn ich dir eine volle Beichte abgelegt hätte, du kämest doch wieder in meine Arme, aber du würdest dich deiner Schwäche schämen, in höchster Lust unglücklich sein, jede Wonne wäre dir vergiftet, und darum schweige ich. Statt mir's zum Vorwurf zu machen, solltest du mir dieses Schweigen danken. Zum erstenmal im Leben übe ich Großmut, dabei ist aber kein Verdienst, geschieht es doch für dich!«
Sie sah ihm ins Auge bei diesen Worten, und Marcel fühlte, wie seine Entschlossenheit dahinschmolz unter der Liebkosung dieses Blickes, wie seine Willenskraft schwand, Trunkenheit ihn zu erfassen drohte.
»Sie hat ja recht,« sagte er sich. »Ich bin weit unlöslicher mit ihr verknüpft, als ich wußte, ich wäre der Selbsterniedrigung fähig, die sie mir drohend vorhält. Jetzt kann ich ja nicht mehr zweifeln, daß sie alles begangen hat, was man ihr vorwirft, daß sie es nicht leugnet, ist Geständnis genug, Trémont ist durch sie gestorben, Laforêts Tod ihr Werk. Sie ist durch Blut gewatet, hat gesengt und gestohlen. Unter zwanzig verschiedenen Namen hat sie gelebt, gehandelt, betrogen und, wenn es ihren Zwecken dienlich war, Männer verführt. Sie ist eine Dirne, im Abgrund des Lasters gibt es kein verworfeneres Geschöpf als sie, und ich stoße sie nicht von mir, sie bezwingt mich, macht mich wahnsinnig . . . Nein! Nein! Ich will nicht!«
Er raffte sich auf, wollte die Verderberin abschütteln, aber sie schmiegte sich unauflöslich an ihn. Mit der Stimme, der keiner widerstand, hörte er sie flüstern: »Rings um uns ist Tod . . . vergessen wir alles, was nicht unsere Liebe, unsere Lust ist . . . denke nicht mehr, Geliebter, quäle dich nicht . . . in einem Augenblick kann ich dich schadlos halten für alle Pein, dich aus Tod und Verderben in wonniges Traumland führen.«
Noch wollte er Widerstand leisten, aber heiße Lippen erstickten seine Worte der Abwehr, und tief aufatmend gab er sich hin.
Die Zeit verstrich; sie dachten nicht mehr an Gefahr. Tiefes seliges Schweigen umgab die Liebenden, als ein heftiges Getöse Marcel aus den Armen der Zauberin aufschreckte. Schritte erdröhnten im Haus, von unten erklangen Rufe, Befehle, plötzlich krachte eine Thüre, als ob sie aus den Angeln gerissen würde, dann knallte ein Schuß. Im selben Augenblick rief eine Marcel wohlbekannte Stimme mit aller Macht: »Zu mir, Baudoin, zu mir!«
Abermals ein Schuß und wildes Fluchen.
»Mein Onkel Graff!« schrie Marcel. »Sie morden ihn!«
»Bleib! Geh nicht hinaus!« rief Sophia, ihn umklammernd.
Wortlos schüttelte er sie ab. Er stürzte auf den Flur, fand die Treppe und erkannte von oben in der Halle des Erdgeschosses, trotz des Halbdunkels eine Gruppe von drei Männern, die mit Graff rangen, der umzingelt und beinahe erstickt, vergebliche Versuche machte, sich seines Revolvers zu bedienen. Unmittelbar an der Hausthüre waren Hans und Baudoin handgemein geworden, Über die Stirne des wackeren Burschen lief ein blutender Hieb, aber er hatte den furchtbaren Einarmigen um den Leib gefaßt und hielt ihn fest, wenn auch mit äußerster Anstrengung.
Marcel faßte über das Geländer der Treppe hinweg sein Ziel ins Auge. Der Schuß ging los und einer von den drei Männern, die Graff festhielten, fiel. Im selben Augenblick ertönte in Marcels Rücken ein Knall und eine Kugel streifte sein Ohr. Blitzschnell drehte er sich und stand Aug in Auge mit Agostini, der eben wieder auf ihn zielte. Rasch schlug er ihm die Waffe weg, faßte den Italiener um den Leib und schleuderte ihn mit vor Wut verdoppelter Kraft wie einen Ballen in den Schlund des Treppenhauses hinunter. Der hübsche Cesare flog mit einem Schreckensgeheul hinunter, überschlug sich in der Luft und fiel auf das schmiedeiserne Geländer, um dann wie ein zerbrochener Hampelmann liegen zu bleiben, mit den Beinen gegen die Stufen schlagend, die sein Blut rötete.
Bei diesem Anblick brüllte Hans laut auf vor Wut, aber er konnte sich nicht auf Marcel werfen, der jetzt, vier Stufen auf einmal nehmend, die Treppe heruntergestürmt kam, doch schüttelte er Baudoin mit solcher Gewalt, daß dieser ihn fahren lassen mußte. Sofort bekam er ihn unters Knie und holte eben mit dem eisernen Arm zum Schlag aus, als Marcel vorsprang und ihn durch einen Fußtritt auf den Bauch zu Fall brachte. Aber der Riese erhob sich sofort wieder, nahm in einer Ecke Deckung und rief, sobald er zu Atem gekommen war: »Alle her zu mir!«
Aber die anderen waren jetzt zu sehr beschäftigt. Die Schutzleute waren auf das Geräusch aus ihrem Versteck geeilt und drangen ins Haus und Graff, der frei geworden war, eilte mit dem Revolver auf Hans zu, aber Baudoin schrie mit unkenntlich heiserer Stimme: »Den lassen Sie mir, Herr Graff, der gehört mir, der hat meinen General umgebracht!«
Der Bursche riß, eine Feuerwaffe verschmähend, die den Kampf ungleich gemacht hätte, Graff seinen Stock mit dem Bleiknopf aus der Hand und warf sich, damit bewaffnet, auf Hans. Einen wilden Fluch ausstoßend, schlug der Bandit, der sich verloren fühlte, mit der stählernen Faust um sich, traf aber nur die leere Luft. Baudoin war zur Seite gesprungen, der Stock sauste und der schwere Knopf traf Hans auf die Schläfe. Wie ein erschlagener Ochse wälzte er sich am Boden. Nun war der Kampf entschieden. Die drei Männer, die sich noch zur Wehr gesetzt hatten, sprangen gleichzeitig durch die Fenster hinaus und verschwanden im dunklen Garten.
»Das Haus ist umstellt,« rief der Polizeiwachtmeister Graff zu. »Die werden draußen gefangen.«
»Hebt die Verwundeten und Toten auf,« befahl er seiner Mannschaft.
Graff wollte auf Marcel zueilen, ihn umarmen, ausfragen, sich überzeugen, daß er wirklich heil und ganz sei, aber er sah nur noch Baudoin, der sich mit dem Taschentuch Blut und Schweiß von der Stirn wischte. Marcel hatte, sobald er über den Ausgang des Kampfes beruhigt sein konnte, nur noch an Sophia gedacht; die Gefahr, der er entronnen war, drohte jetzt ihr, die zu seiner Rettung eingetroffene Polizei mußte ihr Verderben bringen. So rasch, wie er heruntergekommen war, flog er die Treppe wieder hinauf; sein Gefühl sagte ihm, daß die Zeit kurz bemessen sei.
Er stürzte in das Zimmer, dessen Thüre offen geblieben war, und die er jetzt von innen verriegelte, um Sophia zu schützen, wie sie es vorher zu seinem Schutz gethan hatte. Nachdenklich stand sie da, den Arm auf den Kaminsims gestützt, wie unberührt von dem Lärm und Kampfgetöse unter ihr, und doch war Milona an ihrer Seite und hatte ihr sicher die Niederlage der Genossen gemeldet.
»Die Polizei ist im Hause,« sagte Marcel, erschrocken auf sie zutretend. »Wissen Sie es nicht? Warum sind Sie noch hier?«
»Ich habe auf dich gewartet,« versetzte Sophia ruhig.
»Aber Sie richten sich zu Grunde!«
»Was liegt dir daran?«
»Ich dulde es aber nicht! Ich kann den Gedanken nicht ertragen, daß Sie leiden sollen, gequält werden, weil Sie mich verteidigt haben.«
Ueber Sophias Gesicht ging ein Leuchten.
»Willst du mich denn noch haben?«
»Das ist unmöglich!« versetzte Marcel fest. »Sie wissen es wohl! Nach dem, was zwischen uns liegt, darf ich Sie nicht wiedersehen! Ich kann es nicht, es darf nicht sein . . . um Ihrer selbst willen . . .«
»Dann überlaß mich meinem Schicksal,« sagte sie mit dem sorglosen Gleichmut von vorher.
»Nein, das will ich auch nicht! Sie, um meinetwillen verloren, während . . . Wollen Sie mein Gemüt mit dieser qualvollen Erinnerung belasten?«
»O mein Marcel! Dir gefallen, dich lieben, dich besitzen möchte ich . . . für dieses Glück wäre mir kein Preis zu hoch.«
Sie lächelte ihm unter Thränen zu. So schön war sie, daß es ihn heiß überlief, aber er wandte sich ab.
»Unglückselige! Was haben Sie vor?«
Sie zeigte ihm einen Ring, der an Stelle des Steins eine Kapsel aus ziseliertem Gold enthielt.
»Sieh diese Kapsel an: sie enthält die Freiheit und den Tod. Ihr Inhalt in einem Glas Wasser getrunken, und alles ist vorüber, ohne Schmerz und Qual . . .«
Sie streckte die Hand nach einem Brett aus, worauf Wasserflasche und Glas standen.
»Ich verbiete es dir!« rief Marcel außer sich.
Der Blick, womit sie ihn ansah, war furchtbar, und ein überirdischer Glanz strahlte von ihrem Gesicht.
»Ohne dich, nichts . . . mit dir, alles . . . entscheide du!«
»Es ist unmöglich!« schrie er auf.
»Bedenke es noch!« sagte sie mit einem geisterhaften Lächeln. »Du weißt, was ich bin. Wenn du willst, lebe ich weiter, aber nur, um dein zu sein . . . ich werde kommen, wenn du nach mir verlangst. Ich werde dich nicht belästigen, aber ich will dich haben . . . alle Buße, alle Schmerzen, alle Opfer nehme ich auf mich, um dein zu sein!«
Die Treppe erdröhnte von schweren Schritten.
»Sie kommen!« rief Marcel mit Entsetzen. »Sie werden dich verhaften! Wenn es noch möglich ist, so sei barmherzig und rette dich!«
»Laß sie kommen! Sie werden mich nur verhaften; wenn ich es will. . . . Ich habe von keinem Menschen etwas zu fürchten, als von dir, von dir allein hänge ich ab. Willst du, daß ich weiter lebe? Schwöre mir, daß du mich wiedersehen wirst.«
In dieser Sekunde stiegen die blassen Totengesichter des Generals Trémont, des armen Laforêt, Agostinis tragikomische Gestalt, der sich im Blut wälzende Riese Hans vor Marcels innerem Auge auf, und ein namenloses Grauen schüttelte ihn. Wortlos senkte er den Kopf. Ein leises Klirren von Glas veranlaßte ihn, die Augen aufzuheben. Sophia trank. Er stürzte vor und riß ihr das Glas aus der Hand – es war geleert.
»Zu spät!« sagte sie lächelnd.
»Öffnen Sie! Öffnen Sie!« riefen laute Stimmen zur Thüre herein.
»Öffne, Milona . . . jetzt . . .« befahl Sophia mit letzter Kraft.
Die Dalmatinerin gehorchte. Sophias Augen umschleierten sich, ihr Gesicht wurde leichenblaß. Die entsetzte Dienerin konnte sie gerade noch in ihren Armen auffangen; mit einem tiefen Seufzer brach sie zusammen, und das gelöste dunkle Haar fiel über ihr Gesicht wie ein Trauerschleier.
»Wo ist die Frau?« erklang von der Treppe her die Stimme des Untersuchungsrichters Mayeur, der atemlos, aber als Triumphator auf dem Schauplatz erschienen war. »Man hat sie doch hoffentlich nicht entwischen lassen?«
Neben Graff erschien er auf der Schwelle und blieb wie versteinert stehen.
»Hier ist sie!« sagte Marcel, auf die Sterbende deutend.
Die »Lichtscheue«, die Unerreichbare, war wieder entflohen, dieses Mal in die ewige Nacht.