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Während Milona dem Befehl ihrer Herrin gemäß mit Windeseile nach Ars lief, kehrte diese selbst friedlich ins Wohnzimmer zurück, wo sie Marcel eine so wonnige Stunde geschenkt hatte. Sie setzte sich aufs Sofa, schmiegte den Kopf in die Kissen und versenkte sich in träumerischen Nachgenuß dieser Morgenstunden, wo die reine und doch kühne Liebe des jungen Mannes sie erfrischt und beinah geläutert hatte. Wenn sie ihn und seine Liebe in Gedanken mit Agostini verglich, stieg ein Widerwille gegen den Italiener in ihr auf. Auf der einen Seite dieser gefällige Liebhaber, der gern die Augen zudrückte, wenn es seinen persönlichen Vorteil oder die geheimnisvollen Interessen galt, die sie beide verfolgten, und auf der anderen dieser zärtliche, ehrliche, feurige Jüngling, der nur sie sah, nur nach ihr verlangte, sich mit ganzer Seele hingab. Ihr abenteuerliches Leben hatte sie noch kein so echtes, so reines Glück kennen gelehrt.
Jetzt kamen ihr die höhnischen Warnungen von Hans in den Sinn. Hatte er denn in ihrer Seele gelesen, dieser unheimliche Gefährte, der die Menschheit mit Füßen trat, der das Glück und die Liebe so wenig achtete, als der Hagel die reifende Saat? Und wenn sie nun verliebt wäre, wie er es geahnt hatte? Wer durfte ihr das Recht bestreiten, auch ein Herz zu haben? War sie denn mit Sklavenketten angeschmiedet an die düsteren, furchtbaren Abenteurer, die durch die ganze Welt ihrer verhängnisvollen, verderblichen Aufgabe nachzogen? Stand sie ihnen nicht völlig gleich an Erfolg, teilte sie nicht all ihre Gefahren, warum sollte sie nicht auch ihren freien Willen haben? Wer würde sie zwingen können zu dem, was ihr mißfiel, wer vor allen Dingen würde den Mut haben, sie zwingen zu wollen?
Sie war sich bewußt, nicht minder gefährlich zu sein, als der Gefährlichste unter ihnen, und die Genossen kannten ihre Kraft und ihre Verwegenheit wohl. Wenn's sein müßte, daß sie ihre Krallen mit denen der anderen maß, war der Ausgang denn doch sehr fraglich! Sie lächelte bei dieser Vorstellung, und dieses Lächeln verklärte ihr Gesicht mit unsäglichem Reiz. Wer würde in dieser jungen Frau mit den zarten, reinen Zügen und den schlichten blonden Scheiteln, die sie so jungfräulich kleideten, die hochmütige, spöttische, cynische Sophia Grodsko erkannt haben? Was würde Lichtenbach sagen, wenn er sie in dieser Stimmung sehen könnte, was alle die, die sie als lasterhaft, unbeständig kennengelernt und erfahren hatten, wie verhängnisvoll ihre Liebe war, die zum Untergang, zur Ehrlosigkeit, zum Tod führte.
Ein junger Mensch, vielleicht der Unbedeutendste, der je in ihre Kreise getreten war, hatte es dahin gebracht, daß sie in verträumter Sehnsucht seiner gedachte und sich um ihn ängstigte. Immer wieder fragte sie sich, ob es nicht besser gewesen wäre, ihn bei sich festzuhalten, als ihn nach seiner bedrohten Fabrik und vor allem dahin gehen zu lassen, wo Hans auf der Lauer lag, was schlimmer war, als alle anderen Plagen der Menschheit zusammen.
Sie stand auf, und schon bereute sie so sehr, nicht entschiedener aufgetreten zu sein, daß sie ernstlich erwog, ob sie selbst nicht auch nach Ars gehen sollte und sich mit eigenen Augen überzeugen, was dort geschah. Die gewohnte Vorsicht hielt sie zurück, aber sie ging wenigstens in den zweiten Stock der Villa hinauf, wo man von einer Altane aus über die Bäume hinweg ins Thal sehen konnte. Sie ward bald inne, daß die Gefahr, wenn sie überhaupt vorhanden gewesen, im Abnehmen begriffen war. Der Rauch lichtete sich, keine Flamme schlug mehr auf, das Rufen und Schreien ließ nach, die Kirchenglocken stellten ihren Hilferuf ein und das Hornsignal der Feuerwehr tönte nicht mehr herüber. Schon war sie im Begriff, ihren Ausguck zu verlassen, als sie Milona das Gartenthor öffnen sah. Das Mädchen ging mit hastigen Schritten durch die Allee, als ob sie von jemand verfolgt würde, und Sophia hatte das Vorgefühl einer unangenehmen Nachricht. Sie pfiff der Dienerin und Milo kam atemlos die Treppe heraufgeflogen.
»Ich hab's bestellt,« berichtete sie. »Ich habe Hans gefunden und ihm den Zettel gegeben. Nachdem er ihn gelesen hatte, gab er ihn mir zurück. Hier ist er.«
»Gut, aber das ist nicht alles. Was gibt's?«
»Agostini kommt hinter mir. Er ist vorhin in Ars ausgestiegen . . .«
Sophia runzelte die Stirne, eine leise Röte stieg ihr in die Wangen. Sie nahm aus einem silbernen Taschenfeuerzeug ein Streichholz, zündete es an und hielt den Zettel, den ihr Milona zurückgebracht hatte, an die Flamme. Nachdenklich sah sie zu, wie er in Asche zerfiel und diese in alle Winde flog.
»Wie kommt er her?« fragte sie dann.
»Zu Wagen, man hört die Glöckchen der Pferde schon im Hohlweg . . .«
Der Wagen hielt vor dem Garten und Cesare stieg aus, der Wagen blieb aber stehen. Langsam kam Sophia die Treppe herunter und war im Vorplatz, als der schöne Italiener mit leuchtenden Augen und lächelndem Mund eintrat. Sie streckte ihm gleichgültig und nachlässig die Hand hin.
»So empfängst du mich nach vierzehntägiger Trennung, Cara?« rief er.
»Schweige mir von solchen Albernheiten!« sagte Sophia streng. »Dazu ist jetzt nicht die Zeit. In diesem Augenblick setzt Hans sein Leben aufs Spiel, um sich des Pulvers zu bemächtigen.«
»So ist dir der Gimpel ins Netz gegangen?«
»Wie du siehst und wie du noch deutlicher merken wirst.«
»Diavolo!«
Er sah sich nach Milona um, die sich zurückgezogen hatte, und rief: »Milo! Sagen Sie dem Kutscher, daß er warten soll!«
»Wer weiß, ob es uns nicht gelegen kommt, einen Wagen da zu haben,« bemerkte Agostini. »Ich habe im Vorüberfahren bemerkt, daß die Stadt in Aufruhr ist. Es brennt in der Spinnerei unserer lieben Freunde. Ist dieses Feuerwerk etwa von uns veranstaltet?«
»Ich glaube, daß Hans die Geschichte gemacht hat.«
»Nur immer munter! Er liebt reiche Inscenierung . . . übrigens würde ich recht gern frühstücken, ich bin Hals über Kopf von Paris abgereist.«
»Milona wird dafür sorgen.«
Sie gingen ins Eßzimmer, wo der Tisch noch gedeckt war, und Cesare setzte sich.
»Leiste mir Gesellschaft, Sophia,« bat er, »Die Zeit ist mir lang geworden ohne dich, vergebens habe ich versucht, mich zu zerstreuen.«
»Womit?«
»Du liebe Zeit, mit dem ehrlichen Bestreben, etwas Geld zu gewinnen im Spiel, aber das Glück ist mein Gegner. Das reine Verhängnis, ich darf nur eine Karte anrühren, so verliere ich!«
»Viel?«
»Zu viel! Immer zu viel! Ich rege mich, wie du weißt, sehr leicht auf, und nichts ist so unheilvoll wie die Leidenschaft, wenn sie nicht einer Frau gilt, nämlich!«
»Nun denn, wieviel brauchst du?« fragte Sophia ungeduldig.
»Aber gar nichts, Cara,« versetzte der schöne Italiener lächelnd. »Ich hatte ja Geld!«
»Wer hat dir's gegeben?«
»Lichtenbach. Es war ganz gut, daß er sich ein wenig an meine kleinen Bedürfnisse gewöhnte . . . bin ich erst sein Schwiegersohn, so werde ich ihn ja häufig in Anspruch nehmen.«
»Nimm dich in acht! Er könnte es auch einmal müde werden.«
»Das wird man ihm nicht zulassen!«
»Und seine Kasse ist auch nicht unerschöpflich.«
»Das kannst du nicht im Ernst glauben! Er füllt sie immer wieder, und ich kenne auch die Quelle, woraus er schöpft!«
»Wirklich? Wer hat dich darüber belehrt?«
»Mein Verwandter, der hochwürdige Monsignore Boldi, den ich dieser Tage in Paris gesehen habe. Lichtenbach ist, ganz abgesehen von seinen anderen Geschäften, Fideikommissar der Brüderschaften, und seit ich das weiß, wundere ich mich nicht mehr über seine Macht. Er verfügt demnach über ungeheure Summen und unbegrenzten Einfluß, und dabei fehlt ihm doch alle und jede Schneid, der Mann zittert ja immer! Du hättest nur sein Entsetzen sehen sollen, als ich eine Anspielung auf seine Würde als Bankier der Orden machte . . . du würdest dich halb zu Tode gelacht haben! Helle Schweißtropfen traten ihm auf die Stirn, und doch wüßte ich nicht, was er zu fürchten hätte,«
»Von Seite seiner Auftraggeber nichts, von der deinigen alles. Das hat er ohne Zweifel eingesehen.«
»Ach, das war ein Aufhebens um das bißchen Geld, eine Kleinigkeit von vierzigtausend Franken! Verfluchtes Baccarat! Freilich, Lichtenbach spielt eben nicht, außer an der Börse, und da gewinnt er immer.«
»Das weiß man nicht so gewiß.«
»Wie? Sollte er auch Pech haben?«
»Wir sind ja eben daran, ihn für immer davon frei zu machen!«
»Durch das Pulver?
»Ja . . . aber höre doch nur . . .«
Sophia lauschte mit ängstlichem Ausdruck auf ein Geräusch von außen. Sie holte aus einer Truhe einen kleinen Revolver und schob ihn in ihre Tasche.
»Bist du bewaffnet?« fragte sie.
»Stets, aber was fürchtest du denn?«
»Warte . . . stille . . .«
Ein leiser, eigentümlich modulierter Pfiff ließ sich vernehmen.
»Ach, es ist Hans!« sagte Sophia erleichtert.
Jetzt hörte man rasche Schritte im Garten, die Thüre des Wohnzimmers ging auf und Milona führte den Riesen herein. Er trug noch den Bauernanzug, den er zum Fischfang benützt hatte, warf aber, ohne sich um Sophias Anwesenheit zu kümmern, Kittel, Drillichhose sowie die plumpen Schuhe ab und rief: »Milo, meine Kleider!«
Dabei stellte er eine Flasche auf den Tisch, legte ein Blatt Papier daneben und bemerkte mit grausamem Lächeln: »Das wäre die Geschichte!«
»Sie haben's erreicht?«
Sophia wie Cesare gerieten in Aufregung. Sie traten mit einer gewissen Ehrfurcht an den Tisch und betrachteten durch das Glas die bräunlichen kleinen Lamellen, die schon so viel Blut gekostet hatten.
»Ja, das ist's! Der Wisch Papier und das Fläschchen da bedeuten abermals ein Menschenleben.«
»Sie sind überrascht worden?«
»Ja, es hat ihn das Leben gekostet.«
»Wen?« rief Sophia, die kreideweiß geworden war.
»Beruhigen Sie sich, meine Schönste, nicht Ihren Tauber!«
Hans verständigte sich mit dem Italiener durch einen Blick, der diesen bedenklich machte. Sein liebenswürdiger Leichtsinn war verflogen, das Gesicht wurde hart und kalt.
»Ein unbequemer Geselle war's, den ich längst auf dem Strich hatte,« fuhr Hans fort. »Eine Spürnase aus dem Ministerium, die mir nicht zum erstenmal in die Quere kam. Vor drei Jahren bei der Geschichte mit dem Feldwebel hätte er mich in Lyon um ein Haar gefaßt. Er hatte viel auf dem Kerbholz bei mir, nun ist's bezahlt.«
»Wird man das aber nicht entdecken?«
»Was schadet's? Wir haben die Geschichte ja im Sack und brauchen nur das Weite zu suchen. Um einen Geheimpolizisten schlägt man, wie Sie wissen, nie Lärm. Der kann mit seiner eingeschlagenen Schläfe im Fluß mariniert werden, bis man ihn herausfischt. Bis dahin sind wir längst über die Grenze.«
Jetzt erschien Milona mit einem vollständigen eleganten Herrenanzug samt grauem Filzhut und gelben Schuhen, und Hans kleidete sich mit größter Unbefangenheit um.
»Hat Sie der Kutscher, der am Gartenthor hält, hereintreten sehen?« fragte Sophia.
»So dumm war ich nicht, mich dem Kerl zu zeigen. Ich bin am unteren Ende des Gartens über die Mauer gestiegen, die dort sehr nieder ist, und werde auf demselben, recht bequemen Weg abgehen. Euch rate ich auch zu einer Luftveränderung, Kinder. Ihr wißt, daß wir nach Venedig berufen sind, wer zuerst hinkommt, wartet auf die anderen. Ich heiße da unten im Süden wieder Major Fraser.«
Er packte unterm Sprechen das Glas und Papierblatt sorglich in eine Ledertasche, schüttelte Agostini die Hand, nickte der Baronin lächelnd zu und verschwand, wie er gekommen war.
»Milo, das alles muß verschwinden.« sagte der Italiener, mit der Fußspitze auf den am Boden liegen gebliebenen Bauernanzug deutend.
»Wird in der Küche verbrannt,« erwiderte die Dalmatinerin gelassen.
»Und du, Sophia, was hast du vor? Du hast gehört, was unser edler Freund uns empfahl . . . ich glaube auch, daß wir am besten thäten, abzureisen.«
Die junge Frau gab keine Antwort. Mit schleppendem Schritt, als ob sie ganz in Anspruch genommen wäre vom Nachdenken über die Form, worin sie ihren Entschluß kleiden sollte, ging sie ins Wohnzimmer, setzte sich vor den Kamin und steckte eine Cigarette an.
»Ich glaube, daß du sehr wohl daran thun wirst, sofort abzureisen,« sagte sie, zu dem schönen Italiener aufblickend, der erwartungsvoll vor ihr stand. »Du hast gar keine Veranlassung, hier zu bleiben. Was mich betrifft, so könnte ein plötzliches Verschwinden nur Verdacht erregen und wäre die größte Ungeschicklichkeit.«
»Aber hat man nicht schon Verdacht? Wird man dich nicht belästigen; wenn du bleibst?«
»Verdacht? Wieso? Wer? Habe ich irgend etwas gethan, was nur einen Schatten von Mißtrauen erregen könnte? Marcel Baradier ist der einzige Mensch, der mich kennt, der mein Haus betreten hat.«
»Und ohne Zweifel hat er dir und zwar dir allein den Aufschluß gegeben, der Hans in die Lage setzte, sein Unternehmen auszuführen?«
»Ja, das hat er gethan, vor zwei Stunden! Die Ausführung fand fast gleichzeitig mit der Enthüllung statt, und durch welch ein Wunder sollte ich, ohne mein Zimmer zu verlassen, den Mann in Kenntnis gesetzt haben, der das Laboratorium geplündert und dessen Wächter ermordet hat . . . Der wird nicht mehr plaudern, denn er ist tot! Man wird den Raub entdecken . . . gut, aber war denn nicht heute Unruhe und Wirrsal genug in der Fabrik, wobei sich zahllose Strolche einschleichen konnten? Wie sollte man darauf verfallen, mir einen Streich zuzuschreiben, der mit solcher Wahrscheinlichkeit auf deren Rechnung gehört? Mein Verschwinden aber, das könnte Verdacht erwecken, da müßte man mißtrauisch werden! Was ist aus mir geworden? Und was bin ich und wer? Das sind Fragen, die sich unwillkürlich aufdrängen und die sehr ungünstig wirken würden. Wenn ich aber ganz ruhig mit meiner Jungfer hier bleibe, wenn der junge Marcel bei seinem nächsten Besuch mich harmlos heiter antrifft, dann ist er irregeführt und alles gerettet. Das ist doch richtig ausgedacht?«
»Sehr richtig, gar zu fein sogar,« sagte Cesare mit spöttischem Lächeln.
»Was soll das heißen?« fragte Sophia gereizt.
Er machte sich noch näher an sie heran, geschmeidig und verbindlich wie eine Katze, die erst die Samtpfötchen zeigt.
»Wohin ist dein Vertrauen zu mir gekommen, Cara? Warum machst du den Versuch, mich zu täuschen?«
»Und womit, wenn ich bitten darf?«
»Du sagst mir die Wahrheit nicht, zum erstenmal nicht, seit wir uns lieben, Sophia!«
Sie preßte die Lippen aufeinander und erblaßte ein wenig.
»Mein lieber Cesare, sei nicht so furchtbar gründlich. Thue, was ich dich heiße, wie du es bisher immer gethan hast. Du hast dich ja nicht schlecht befunden dabei, oder? Nun gut, so sei auch fortan gehorsam.«
»Nein.«
Dieses Nein klang hart und trocken wie ein Schlag.
»Ach! Und darf man nach den Gründen dieser Weigerung fragen?«
»Es sind die nämlichen, die deine Handlungsweise bestimmen. Du willst nicht abreisen wegen Marcel Baradiers, aber gerade seinetwegen will ich, daß du mit mir gehst.«
»Eifersucht?«
»Ja.«
»Das ist mir ganz neu und höchst überraschend.«
»Daß wir verschiedene Gefühle kennenlernen, gibt dem Leben seinen Reiz.«
»Du glaubst also . . .«
»Daß dir der blonde Jüngling besser gefällt, als in unserem Programm vorgesehen war, und wenn ich auch nichts dagegen hatte, daß du zum besten unserer Sache mit ihm kokettiertest, so bin ich doch keineswegs geneigt, eine Liebschaft um der Liebe willen zu dulden. Das Stück ist aus, der Vorhang ist gefallen, hinter den Coulissen braucht man die Liebesscene nicht weiter zu spielen.«
»Du bist ein sehr praktischer Liebhaber, Cesare.«
»Erfährst du das heute erst?«
»Und ich war eine sehr großmütige Geliebte.«
»Wofür ich dir Dank weiß.«
»Aber ich wahre mir das Recht meines freien Willens und bin heute nicht in der Stimmung, dir zu gehorchen.«
Ihre Blicke kreuzten sich wie die zweier Kämpfer, die zum Streich ausholen. Cesares Augen funkelten vor Zorn, die zuckenden Lippen stülpten sich um, daß die weißen Zähne blitzten, Sophia war äußerlich ruhig, nur senkte sie jetzt die Lider, als ob sie ihrem Blick mißtraue. Mit größter Selbstüberwindung zwang sich der Italiener eine freundlichere Miene ab und sagte mit gemacht gutmütigem Ton: »Komm, Cara, reden wir als Freunde und zanken wir uns nicht! Wir haben ja alle Ursache, gegenseitig Nachsicht zu üben, wir kennen einander zu genau. Sag mir, was du beschlossen hast, ich überwinde mich gern, um dir einen Gefallen zu thun. Willst du eine Woche Freiheit haben? Versprichst du mir, nach diesen acht Tagen in Venedig mit mir zusammen zu treffen? Mein Gott, wir können einander ja wohl etwas zuliebe thun. Ich kenne die menschliche Natur und ihre Schwachheit . . . ich werde mir eine Weile einreden, nur Frau von Vignolas Bruder zu sein, und wenn ich meine Sophia wieder habe, werde ich ihr die Thorheit nicht nachtragen. Bist du's zufrieden?«
»Ich, weiß nicht recht,« sagte sie, die schönen Arme streckend.
»Ich muß es aber wissen!«
»Wo hast du eigentlich dein bißchen Verstand gelassen, Cesare, daß du mit der Baronin Grodsko unterhandeln zu können glaubst, wie mit der nächsten besten Bürgersfrau? Du scheinst vergessen zu haben, wie es ist, wenn sie ihrer Laune die Zügel schießen läßt. Du thust mir leid, mein Freund! Der Umgang mit Lichtenbach schadet dir, du wirst ihn aufgeben müssen, sonst wirst du noch ein altmodischer Erzphilister!«
»Du machst dich über mich lustig!«
»Durchaus nicht.«
»Du gibst mir also nicht dein Wort, wieder mit mir zusammenzutreffen?«
»Was habe ich denn mit Zypiatin für Umstände gemacht, nachdem ich ihn deinetwegen verlassen hatte?«
»Du gibst also zu, daß du mich verlassen willst?« knirschte der Italiener, kreideweiß vor Wut.
»Das wirst du später erfahren, mein Lieber. Für den Augenblick habe ich nur ein unmäßiges Verlangen, dich nicht mehr sehen zu müssen.«
»Aha! Das ist wenigstens offen! Aber du scheinst zu vergessen, daß wir sehr unbehagliche Geheimnisse miteinander haben?«
»Das vergesse ich ebenso wenig, als ich dich auffordere, daran zu denken.«
»Das heißt?«
Sophias Augendeckel hoben sich und ein Blick schoß darunter hervor, der Agostini blendete.
»Das heißt, daß wenn meine persönliche Sicherheit dein Verschwinden wünschenswert machen sollte, ich wenig mehr um dein teures Leben gäbe.«
»Du bedrohst mich mit dem Tod?«
»Schafskopf! Du weißt sehr genau, daß, wenn dir zum Unglück ein Wort entschlüpfte, das Licht über unsere Unternehmungen verbreiten könnte, mindestens fünf Personen im Nu bereit wären, dich niederzustoßen.«
»Aber die Angelegenheiten des Bundes sind nicht deine Privatangelegenheiten, und du weißt, daß ich diese so genau kenne wie die anderen!«
»Höre mich an, Cesare! Leute wie wir, die bei jedem Schritt Gefahr laufen, müssen Hand in Hand gehen. Eine Uneinigkeit liefert sie den Gegnern aus. Wir müssen einander mit vollständiger Selbstverleugnung dienen; jede selbstsüchtige Forderung zerstört das Zusammenwirken der Kräfte, das allein zum Ziel führt.«
»Ach! Du wirst doch Menschen, die hundertfach mehr Lebenskraft verzehren als die übrige Herde, nicht Leidenschaftslosigkeit zumuten wollen? Du vergißt, daß ich dich liebe und dich besitzen will, Sophia, ungeteilt, ohne Nebenbuhler.«
»Und darf ich bitten, mir zu sagen, wie du es angreifen willst, mich dazu zu zwingen?«
»Dafür gibt's ein sehr einfaches Mittel. Ich werde Marcel Baradier erzählen, was du getrieben hast, ehe du dich dem internationalen Spionendienst und der diplomatischen Wißbegierde zur Verfügung stelltest. Dann wollen wir sehen, ob seine Zärtlichkeit standhält angesichts einiger Anekdötchen, wie zum Beispiel der Geschichte von Segovia.«
Sophia wurde so blaß, daß Cesare selbst erschrak über die Wirkung seiner Worte. Sie knirschte mit den Zähnen, trippelte mit den Füßen wie ein umzingeltes Tier, zog blitzschnell den Revolver heraus, den sie bei Hansens Ankunft zu sich gesteckt hatte und legte auf den Italiener an.
»Du wirst niemand mehr verraten, Kanaille!«
Aber Agostini warf sich mit außerordentlicher Gelenkigkeit über sie her, riß ihren Arm in die Höhe, daß der Schuß ihm nichts hätte anhaben können, und entwand ihr ohne jede Rücksicht auf das verführerische zarte Handgelenk die Waffe, die er gelassen in seine eigene Tasche steckte.
»Wollen wir nicht zum Dolch übergehen, da wir einmal so weit sind?« fragte er, sie fest ansehend.
Sophia sank auf einen Stuhl.
»Hund! Du hast es gewagt, Hand anzulegen an mich! Das wirst du büßen müssen.«
»Gut, das soll gelten. Ich unterwerfe mich zum voraus dieser Strafe, aber verlieren wir jetzt nicht länger die Zeit mit Abgeschmacktheiten. War denn je anzunehmen, daß der Mann, den eine Baronin Grodsko ihr Leben teilen ließ, sich in die Ecke stellen lassen würde wie ein kleiner Junge? Ich bin der Mann, Sophia, vergiß das nicht. Du magst mich hassen, aber mich zu verachten, verbiete ich dir. Wir haben heute zum erstenmal unsere Kräfte gemessen, und du wirst zugeben, daß meine Klauen härter sind als die deinigen. Nimm den Kampf nicht noch einmal auf, ich führe ihn ohne Ritterlichkeit.«
Sie schüttelte den Kopf, betrachtete ihr gerötetes, gequetschtes Handgelenk und sagte etwas weniger rebellisch: »Du hast mir wehgethan, Cesare!«
»Wessen Schuld ist es? Ich glaube wahrhaftig, du warst einen Augenblick unzurechnungsfähig! Dieses Muttersöhnchens wegen bietest du mir Trotz! Weißt du, daß ich ihn töten werde?«
»Ich verbiete es dir!« rief sie laut.
»Entzückt, dir zu gehorchen,« versetzte er artig, »Ich habe ja nur einen Wunsch im Leben, den, dir dienstbar zu sein. Zwischen uns zweien ist ein großer Unterschied; ich bin voll Rücksicht, behandle dich wie eine Fürstin, während du mich durch dein ganzes Benehmen, Haltung, Ton, Sprache, auf dieselbe Stufe stellst mit einem Bedienten. Ziemt sich das?«
Sie gab keine Antwort. Er ging durchs Zimmer und trat dann wieder zu ihr, um beschwichtigend, fast mitleidig zu sagen: »Derart verrannt habe ich dich noch gar nie gesehen, Sophia, Was zum Teufel hat dir denn der Junge beigebracht? Ich muß dir ja in Zukunft aufpassen, ich, der ich dir bisher blindlings vertraut habe! Es ist ja nicht zu glauben . . . vorhin hättest du mich beinah niedergeschossen! Was würdest du denn dann mit meiner Leiche gemacht haben? Dein blonder Liebster wäre gekommen und hätte dein Zimmer blutbespritzt, und mitten darin einen Toten gefunden? Was hättest du ihm dann weisgemacht? Du siehst, Sophia, das war entschieden ein Anfall von Wahnsinn und aus welcher Veranlassung und um wen? Da muß man sich ja schämen! Wäge doch die kleinen Liebesfreuden, wovon du träumst, gegen die ungeheuren Interessen ab, die deiner bedürfen, und du wirst nicht im Ernst behaupten wollen, daß erstere schwerer ins Gewicht fallen! Wahrlich, die Frauen müssen hie und da vom Teufel besessen sein, daß ein so erlesenes Geschöpf wie du in derartige Übertreibungen verfallen konnte!«
Er blinzelte von Zeit zu Zeit zu ihr hinüber, während er diese Beredsamkeit entwickelte, doch das Gesicht, das sie dabei zeigte, befriedigte ihn immer noch nicht ganz.
»Unsere Kraft und unsere Leistungen,« fuhr er fort, »beruhen darauf, daß einer dem anderen aushilft. Ich bediene mich deiner Schönheit, du kannst dich auf meine Gewandtheit und meinen Mut verlassen. Wo wir auch Hand anlegen, ist es deine Aufgabe, Menschen zu verführen, die meinige, dich dabei zu beschützen. Habe ich mich je dieser Pflicht entzogen? Als voriges Jahr in Wien jener Oberst von Bredmann Äußerungen über dich fallen ließ, die nicht am Platz waren, habe ich mich da einen Augenblick besonnen, ihn zu fordern und ihm im Prater ein paar Zoll Eisen in den Hals zu stoßen? Ich gebe gern zu, daß du deinerseits meinem Mißgeschick im Spiel immer mit entzückender Großmut abgeholfen hast. Eine Hand wäscht die andere; du gabst mir Geld, ich verschaffte dir Achtung, so konnte eines das andere brauchen, und dabei erledigten wir unsere Obliegenheiten, daß es eine Art hatte. Und mit welchem Erfolg! Du erinnerst dich doch? War das etwa nicht vernünftiger, als wenn wir uns entzweien? Komm, komm, Sophia, nicht diese starren Augen! Ich weiß, daß du mir grollst, aber du hast wahrlich nicht mehr Grund dazu als ich, Diavolo! Wach auf! Sprich! Gib mir Antwort!«
Sie schien eine gewisse Betäubung abzuschütteln, warf noch einen Blick auf ihre gerötete Hand und lachte bitter.
»Nun denn, so befiehl doch, du bist ja der Herr!«
Er schnalzte ärgerlich mit den Lippen.
»Diesen Ton liebe ich gar nicht! Du spielst jetzt das Opferlamm, und das paßt mir nicht. Du mußt dich freiwillig entschließen. Ich glaube dir gezeigt zu haben, daß du vom rechten Weg abkommst und daß es an der Zeit wäre, umzukehren. . . . Sag selbst, ob ich nicht recht habe?«
»Der Stärkere hat nie recht!«
»Echte Weiberphilosophie! Nun denn, Sophia, es thut mir leid, aber ich will dir nicht den Vorteil einräumen, dich zu einem Entschluß gezwungen zu haben. Ich lasse dir volle Freiheit, bleibe hier, reise ab, ganz wie du willst. Du weißt, was in beiden Fällen auf dem Spiel steht. Gib einen erprobten Freund auf für einen fraglichen Liebhaber. Ganz nach Belieben. Ich, ich reise ab, denn ich habe keine Lust, mich in diesem Haus fangen zu lassen, wie der Fuchs im Hühnerstall. Zehn Minuten hast du noch Zeit, dich zu besinnen und zu packen. Ich rauche indes im Garten meine Cigarette. Entscheide du selbst über deine Zukunft.«
Damit ging der Italiener hinaus. Ein Blick voll leidenschaftlichen Hasses folgte ihm, dann stand Sophia mit einem schmerzlichen Seufzer auf.
»Er hat recht,« sagte sie vor sich hin.
Sie rief nach Milona.
»Den Koffer, sofort! Wir reisen,« befahl sie kurz.
»Gut, Herrin!«
Einen Augenblick sah sich Sophia im Zimmer um, dann eilte sie an den Schreibtisch und schrieb: »Mein Geliebter! Du wirst kommen und wirst mich nicht mehr finden. Mein Bruder, dem irgend jemand – wer, weiß ich nicht – unsere Liebe verraten haben muß, ist wie ein Rasender hergeeilt und schleppt mich fort, weg, weit weg von Dir. Mache keinen Versuch, mich je wiederzusehen, aber bewahre das Gedächtnis meiner Küsse in Deinem Herzen. Die deinen brennen noch wonnig auf meinen Lippen und gehen mit mir. Leb wohl, Geliebter eines Tages, lebenslang Vermißter – Anetta.«
Sie versiegelte den Umschlag, legte ihn so auf den Mitteltisch, daß er einem Eintretenden in die Augen fallen mußte, sah sich noch einmal um und ging dann entschlossenen Schrittes in den Garten hinaus. Cesare schritt in dem äußeren Weg, wo sie an jenem ersten Abend mit Marcel gewandelt war, auf und ab. Ein Seufzer schwellte ihre Brust bei dieser Erinnerung, aber sie hatte sich entschieden und sie war nicht die Frau, Entschlüsse zurückzunehmen.
»Nun?« fragte der Italiener.
»Du hast mich überzeugt. Ich reise mit dir.«
»Laß dir's gut sein! Nun erkenne ich dich wieder. Es war nur eine vorübergehende Verfinsterung, wie sie ja selbst bei der Sonne vorkommt.«
»Ja, ich war wirklich ein wenig verrückt,« gestand sie in spöttischem Ton. »Begreifst du, daß ich mich in diesen kleinen Baradier vergafft hatte?«
»Ich finde es sehr begreiflich,« gab Cesare gnädig zu. »Er ist ein reizender Mensch, aber jedes Ding hat seine Zeit, und da diese Liebelei ihren Zweck erfüllt hat, das von Hans so gierig verfolgte Ziel erreicht ist, haben wir nichts mehr zu thun, als zu verduften. Das thust du sonst immer aufs Vernünftigste . . . ich gestehe, daß mich dein Widerstand vorhin außerordentlich befremdet hat, – sentimental habe ich dich noch nie gesehen! Hang zu Schäferspielen war mir bei dir höchst unverständlich. Kannst du mir vielleicht jetzt erklären, was in dich gefahren war?«
»Das ist sehr einfach! Der junge Mensch hat mir eine ehrliche, reine und uneigennützige Liebe entgegengebracht, die mich wunderbar erfrischte. Mir war's, als ob ich nach langem Wandern über staubige, verdorrte Heide an eine frische Quelle gekommen wäre, aus der niemand vor mir getrunken hatte; ich verweilte bei ihr und beugte mich tief über den klaren Spiegel, und das Bild, das er von mir zurückstrahlte, war so anders, als ich, daß ich verwundert und beglückt war. Ich habe mir gedacht, hier könnte ich vielleicht Ruhe und köstliche Neubelebung finden, für eine Spanne Zeit aufhören, die Sophia zu sein, die so viele Männer gekannt, so viele Abenteuer durchgemacht hat, um in den Augen eines glühend liebenden Knaben ein einfaches Weib ohne Falsch und Absicht zu werden. Wenn mein Mund das Lügen, meine Augen das Täuschen verlernt haben würden! Welch schöner Traum, und der Verwirklichung so nah! Welch unverhofftes Glück, das deine Rückkehr in einem Augenblick in Trümmer schlug! Ach, ich habe dich verwünscht, Cesare, wie ich Hans verwünscht habe! Aber was war zu thun, wie mich losreißen von meinem Schicksal? Es war ja Wahnsinn, zu glauben, daß in meinem Herzen eine ehrliche Liebe gedeihen könnte – im Sumpf wächst keine duftige Wiesenblume. Denken wir nicht mehr daran. Vorwärts an unsere Arbeit und wehe der Gesellschaft! Sie wird meine Enttäuschung zu büßen haben!«
»Das heiße ich ein gutes Wort! Das ist meine Sophia! Alles, was du mir vorher vorschwatztest, waren trostlos abgedroschene Romanphrasen! ›Seine Liebe hat mir die Jungfräulichkeit wiedergegeben‹ darauf habe ich nur noch gewartet! Und daß du in ein Dorf ziehen willst, um von frischen Eiern zu leben, wie die Kameliendame mit Armand Duval! Das wäre wenigstens lustig! Halt . . . da bringt dir ja Milo Hut und Mantel . . .«
»Der Kutscher soll das Gepäck aufladen!«
Sophia sah scheinbar unbewegt zu, wie Koffer und Reisetaschen aufgeladen wurden und das friedliche Haus alles zurückgab, was ihm den Stempel ihrer Persönlichkeit aufgedrückt hatte. Als Cesare vom Gartenthor her nach ihr rief, sah sie sich ein letztes Mal um, drückte die Finger auf die Lippen und warf allem, was sie an die mit Marcel verlebten Stunden erinnerte, den frischgrünen Büschen, dem jungen Rasen, den verschwiegenen Mauern, den Bänken, worauf sie gesessen, den Vögeln, die in ihren eigenen Liebesliedern ihre Liebe gefeiert hatten, und dem Himmel, der ihrem Glück geblaut hatte, einen raschen, heimlichen Abschiedskuß zu.
»Fertig?« rief der Italiener ungeduldig.
»Ja, hier bin ich.«
»Wir fahren nicht vom Bahnhof in Ars ab, es ist zu viel Getümmel in der Stadt. Der wackere Kutscher wird uns nach Sainte-Savine führen, dort treffen wir den Schnellzug nach Paris.«
»Wie Sie wünschen.«
»Bitte, steigen Sie rasch ein.«
Sophia setzte sich in den Wagen, Milona stieg zum Kutscher auf den Bock. Ein Peitschenknall, Glöckchengebimmel, und bei der nächsten Biegung der Straße lag die Anetta-Idylle hinter der Baronin Grodsko.
Es war vier Uhr, als Graff, nachdem er der Polizei die nötigen Mitteilungen über den im Laboratorium verübten Mord gemacht und die Befehle zur Instandsetzung der Werkstätten erteilt, kurz alles unbedingt Dringliche erledigt hatte, seinen Neffen abholte, um mit ihm nach der Villa zu gehen. Baudoin schritt, mit einem guten Revolver bewaffnet, zur Rekognoszierung voraus, und die beiden Herren folgten ihm in einem Abstand von etwa hundert Schritten. Die Aufregung des Kampfes, der Gefahr hatte nachgelassen, sie fingen an, die Lage der Dinge kühl ins Auge zu fassen.
Sehr vielversprechend war sie just nicht. Die Frechheit und Gewaltthätigkeit ihrer Gegner hatten sich zu unverhohlen geoffenbart, als daß nicht weiteres von ihnen zu fürchten gewesen wäre, wenn der Kampf andauerte. Im Augenblick konnten jene ja triumphieren. Sie hatten den wissenschaftlichen Schatz an sich gerissen, dessen praktische Verwertung unendlichen Reichtum verhieß. Jetzt mochten sie triumphieren, aber ihre Freude mußte einer großen Enttäuschung weichen, sobald es an den Versuch ging, das geraubte Rezept zu benützen! Marcel hatte es ja den Seinigen erklärt: um den Sprengstoff in seiner ganzen Vortrefflichkeit und in seiner vollen Kraft zu erzeugen, war ein Vorteil nötig, den Trémont erfunden hatte, und den nur sein junger Freund kannte. Man konnte ja das Rezept ausführen, aber wenn man nicht wußte, auf welche Weise die Bestandteile gemengt werden mußten, würde der Erfolg den gehegten Erwartungen keineswegs entsprechen. Der Dieb und Mörder, der ins Laboratorium gedrungen war, hielt das kostbare Blatt wohl in Händen, aber gleich den Goldstücken, die sich im Märchen in dürres Laub verwandeln, mußte es für ihn unverwendbar bleiben.
Diesen Gedanken hing Graff nach, während er an Marcels Seite dahinschritt, aber er sprach nicht davon. Wozu auch? Der junge Mann kannte ja diese Thatsachen selbst am genauesten. Nichtsdestoweniger stand es fest, daß die ihr Diebsgelüste so heftig verfolgenden Gauner schon zwei Menschenleben geopfert und die Fabrik angezündet hatten, um ihr Ziel zu erreichen. Wenn sie zur Erkenntnis kamen, daß ihre That auch jetzt nur halb gelungen war, würden sie nicht abermals den Kampf beginnen, koste es, was es wolle? Unter diesen Umständen durfte man nicht nachlassen, man mußte alles daransetzen, um einem neuen Angriff vorzubeugen, durfte sich nicht scheuen, die schöne Unbekannte, falls sie mitschuldig war an den begangenen Verbrechen, im Auge zu behalten, zu verhören, nötigenfalls sie den Gerichten auszuliefern, um Klarheit in diese unheimliche Geschichte zu bringen.
Sie hatten jetzt den Wald erreicht und waren nur noch etwa hundert Meter von der Villa selbst entfernt, als Baudoin sie herankommen ließ, um zu sagen, er wolle den Garten umgehen und sich im Wald in den Hinterhalt legen, damit er einem etwa Entfliehenden den Weg abschneiden könnte.
»Nein,« sagte Marcel, den Vorschlag ablehnend. »Bleiben wir beisammen.«
In diesem Augenblick trat ein altes Mütterchen mit einem Bündel Holz aus dem Wald auf die Straße, wo sie keuchend stillstand und, die Herren mit dem zahnlosen Mund anlächelnd, zu Marcel sagte: »Sie wollen gewiß zu der jungen Dame im Schweizerhaus? Ja, die . . .«
»Nun, was ist's mit ihr?«
»Die, die ist nicht mehr da. Eine Stunde mag's her sein, ich ging gerade ins Holz, als sie mit Sack und Pack fortfuhr nach Sainte-Savine. . . . Es war der Kutscher vom ›Goldenen Löwen‹, der Cacheu . . .«
»Abgereist!« rief Marcel, aufs tiefste betroffen.
»Das war anzunehmen,« bemerkte Graff. »Die Sache war ja erledigt.«
»Unmöglich! Sie! Sie!«
»Armer junger Mensch! Thut ihm leid um die Spaziergänge mit der schönen Dame,« brummte die Alte.
Kopfschüttelnd nahm sie ihr Bündel auf, bedankte sich für den halben Franken, den ihr Graff in die Hand schob, und schleppte ihre Last in der Richtung eines nahen Dorfes weiter.
Marcel war schon in den Garten getreten. Was er sah, schnürte ihm das Herz zusammen. Die Hausthüre stand weit offen, als ob man sich in der Eile der Flucht nicht Zeit genommen hätte, sie zu schließen, und namentlich, als ob sie nichts mehr zu behüten oder zurückzuhalten hätte. Er ging hinein und rief in der Halle: »Milona! . . . Anetta! . . .« Keine Antwort. Alles still, öde, leer. Er trat ins Wohnzimmer und dort auf dem Tisch lag wenigstens ein Brief, den er hastig aufriß. Er überflog die Zeilen, setzte sich dann, um den Inhalt ruhiger zu lesen und wieder zu lesen, und als er den Sinn endlich völlig begriffen hatte, blieb er gesenkten Hauptes mit pochenden Schläfen auf seinem Platz, wie angesichts eines großen Unglücks. So fand ihn Graff, der schon durchs Haus gegangen war und sich von dessen Verlassenheit überzeugt hatte. Die Blässe, Seelenqual und innere Zerrüttung des geliebten Neffen ging ihm zu Herzen, liebevoll legte er ihm die Hand auf den Kopf, strich ihm zärtlich über die Haare und fragte, den Brief bemerkend, den Marcel in starren Fingern festhielt: »Sie hat dir geschrieben?«
Bei diesen einfachen Worten, die doch fast die Ehre der Entflohenen wieder herstellten, indem sie das Zutrauen aussprachen, daß sie ihre Liebe nicht vergessen habe, brach Marcel in Schluchzen aus und reichte, sein Gesicht in die Hände vergrabend, dem Onkel stillschweigend das Blatt. Graff trat damit ans Fenster, setzte seinen Kneifer auf und las, dann blickte er nachdenklich vor sich hin. Marcel raffte sich auf, um die Geliebte zu verteidigen, und fragte in flehendem Ton: »Onkel, sag mir, schreibt eine Lügnerin so? Fühlst du nicht, daß ihre Liebe aufrichtig ist? Kann sie die Mitschuldige von Verbrechern sein? Behauptest du noch, daß sie mich mißbraucht habe, mich verhöhne? Ist sie nicht vielmehr auch ein Opfer, das unter der furchtbaren Tyrannei derer, die uns bedrohen, ächzt? Dieser Brief, Onkel . . . fühlst du nicht, wie aus jedem Wort die Verzweiflung schreit und die Liebe spricht?«
»Dieser Brief macht auch mir den Eindruck der Aufrichtigkeit,« erwiderte Graff überlegend. »Ich leugne nicht, daß wahrer Schmerz darin durchbricht und daß, die ihn geschrieben, bitter ungern dieses Haus verlassen hat. Das ist mir ein Beweis, daß sie dich liebt, sich mit Schmerzen von dir losriß, aber wie sollte es ein Beweis sein, daß sie nicht schuldig, nicht an dem Verbrechen beteiligt ist?«
»Ach, Onkel Graff, hältst du es denn für möglich?«
»Ich halte es für möglich, ja ich fürchte, daß es Thatsache ist, mein guter Junge, und das wäre schlimmer als alles andere, denn wenn sie dich liebt – und wie sollte sie dich nicht lieben, da sie dich kennt, mein gutes teures Kind? . . . ja, wenn sie dich liebt, bin ich in noch größerer Sorge als je vorher, denn dann wird sie suchen, dich wiederzusehen.«
»Du glaubst?« fragte Marcel mit einem von Hoffnung verklärten Gesicht. »Ach, wenn das möglich wäre! Wenn du recht hättest!«
»Grund zur Sorge habe ich freilich, mein lieber Junge, wenn du schon beim Gedanken der bloßen Möglichkeit eines Wiedersehens mit dieser Frau so aufleuchtest! Und doch ist sie ohne Zweifel eine durchtriebene Intrigantin . . . o, reizend, das bestreite ich gar nicht, sonst hättest du dich nicht derart verliebt, aber nur um so gefährlicher, denn . . . Marcel, wenn es die Frau von Vanves ist . . .«
»Unmöglich!«
»Sag das nicht, denn du weißt nichts davon. Diese Art von Frauen sind furchtbar! In Fällen wie der unserige ist meist eine Art von weiblichem Proteus im Spiel, die verschiedensten und verwirrendsten Gestalten annehmend, um jedes Auge zu täuschen und jeden Verdacht abzulenken. Es sind kosmopolitische Abenteurerinnen, die von der menschlichen Thorheit leben, weibliche Spione, die auf Staatsgeheimnisse fahnden, Verführerinnen, die jedes Gewissen klein hacken. Du wirst doch vernünftig sein, Marcel, und dir nicht Sand in die Augen streuen lassen? Warum hat der Mann von Vanves bei ihr seinen Unterschlupf gehabt? Warum wurde das Haus hier leer, sobald das Pulver aus dem Laboratorium verschwunden war? Denn das ist doch keine Abreise, das ist eine Flucht! Wie plötzlich dieser Entschluß entstanden, wie jählings er ausgeführt worden ist! Heute früh noch kein Gedanke daran, oder sie müßte dich getäuscht haben, denn sie wollte dich doch heute abend erwarten. In all diesen Einzelnheiten verrät sich die Schuld, die Doppelzüngigkeit . . . mit süßen Worten hat man dich gekirrt, und während sie gesprochen wurden, haben die Genossen Mord und Diebstahl verübt . . .«
»Das müßte mir erst bewiesen werden,« rief Marcel heftig.
»Und was würdest du dann thun?« fragte Graff, ihn fest ansehend.
»Mich rächen, das schwöre ich dir! Meine ganze Liebe würde sich in Haß verwandeln. Wenn die Worte, die mein Herz gefesselt haben, Lügen waren, so würde ich mir dieses Herz lieber aus der Brust reißen, als das Gift dieser Liebe mit mir herumzutragen. Wenn diese Frau kein Opfer wäre, müßte sie ein Ungeheuer sein, und bei allem, was mir heilig ist, sie dürfte nicht ungestraft ausgehen!«
»So viel verlangt man gar nicht von dir,« sagte Graff, über den Zorn des Jünglings sehr befriedigt. »Vergiß sie nur und nimm dir vor allem fest vor, nicht wieder in ihre Netze zu gehen, falls sie dir noch einmal in den Weg kommt.«
In diesem Augenblick ging die Thüre auf und Baudoin trat mit einem Buch in der Hand ein.
»Es ist doch gut, wenn man genau nachsucht,« sagte er, geheimnisvoll lächelnd, indem er seinen Fund hochhielt. »Wenn ich mich mit einem Blick ins Zimmer der Dame zufrieden gegeben hätte, würde mir diese Entdeckung entgangen sein.«
»Was ist es denn?« fragte Graff.
»Ein Buch, nur ein Buch.«
Marcel hatte schon danach gegriffen; es war ein Roman, den er in den letzten Tagen in Anettas Hand gesehen hatte.
»Das Buch hat an sich nichts zu sagen,« fuhr Baudoin fort. »Es ist ein Roman in einer fremden Sprache und war zwischen Wand und Bett eingeklemmt. Natürlich hat man's bei der hastigen Abreise vergessen, aber es war noch etwas darin . . .«
Mit pfiffiger Miene hielt der Bursche den Herren einen schmalen Papierstreifen hin.
»Ein in der Mitte durchgerissener Briefumschlag war als Buchzeichen hineingelegt . . . der Brief wird ja schwerlich an jemand anders gerichtet gewesen sein, als an die Dame, die sich des Umschlags in der Weise bediente. Nun, und da steht eine Adresse darauf . . .«
»Eine Adresse?«
»Sehen Sie selbst.«
Er reichte Marcel den gefältelten Papierstreifen, den dieser glättete, um dann laut zu lesen: »Frau Baronin Grodsko.« Der untere Teil des Umschlags mit Orts- und Wohnungsangabe war abgerissen, der Poststempel des Abgangsortes aber erhalten; er lautete: »Wien . . . April 18..« Die übrige Zahl war verwischt.
»Baronin Grodsko?« wiederholte Marcel. »Ja, sie hieß doch Anetta Vignola.«
»Mein Gott, solche Damen wechseln die Namen so oft wie die Kleider,« rief Graff. »Welch unglaubliche Unvorsichtigkeit von ihr, diese Adresse nicht zu vernichten! Wie aber konnte der vor vierzehn Tagen in Wien abgesandte Brief überhaupt hierher gelangen, wo sie doch einen anderen Namen führte? Wahrscheinlich wurden all ihre Briefe von irgend jemand in einem zweiten Umschlag unter ihrem jeweiligen Namen weiterbefördert.«
»Ich erlaube mir zu bemerken,« sagte Baudoin mit Nachdruck, »daß mein verstorbener General die Dame, die am Abend des Verbrechens zu ihm kam, ›Baronin‹ nannte,«
Marcel erschrak sichtlich.
»Das ist richtig,« murmelte er vor sich hin, »aber welch ein Zusammenhang sollte zwischen Anetta Vignola und der Baronin Grodsko bestehen?«
»Das müssen wir eben herausbringen, denn das ist möglicherweise der Faden, der uns aus diesem Irrgarten fuhren kann. Mut, Mut, mein Sohn! Wenn die Frau, die du beweinst, die ist, die wir vermuten, wenn sie so viel Schlechtigkeiten begangen oder daran mitgearbeitet hat . . .«
»Ach, Onkel, dann ist sie der Abschaum der Menschheit, und ich werde kein Erbarmen mit ihr haben.«
»Gut!« sagte Graff, dem Neffen die Hand drückend. »Und nun haben wir hier nichts mehr zu thun. Einen Anhaltspunkt hat uns dieses Haus gegeben, das übrige müssen wir anderswo suchen.«
Nachdem sie sorgfältig alle Thüren verschlossen hatten, kehrten sie nach Ars zurück.