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Nachdem Baudoin das Recht zur Überwachung des Laboratoriums bei seinem Herrn herausgeschlagen und diesen verlassen hatte, war er auf die Straße gegangen. Es war dunkle Nacht. Er stopfte sich seine Pfeife und strich sich an dem Pfeiler, der zum brieflichen Verkehr mit Laforêt diente, ein Zündholz an, wobei er die mit Rotstift hingekritzelten Worte: »Heute abend, neun,« glücklich entdeckte. Er setzte seine Pfeife in Brand, sah nach der Uhr und fand, daß es gerade Zeit sei, dem Ruf zu folgen.
Als er an den ›Goldenen Löwen‹ kam, fand er das Haus nicht so still und dunkel wie sonst. Durch die vergitterten Glasscheiben an der Hausthüre fiel helles Licht, und aus der Tiefe des seitwärts liegenden Saals drang Stimmengewirr. Baudoin trat an eines der Fenster im Erdgeschoß, deren Läden geschlossen waren, und horchte hin. Eine Stimme drang heraus, bald anschwellend, bald gedämpft, wie die eines Predigers, und von Zeit zu Zeit unterbrachen Zurufe und Beifall die Rede. Einen Augenblick wurde die Stimme heller, leidenschaftlicher, und dann entstand ein Donnergepolter im Saal, als ob sämtliche Tische zugleich von derben Fäusten bearbeitet würden.
»Für jemand von der Direktion wär's kein gesunder Aufenthalt hier, wie mir scheint,« brummte Baudoin vor sich hin, »Die Herren Streiker scheinen heute einen von ihren Phrasendrechslern mit besonderer Wollust anzuhören.«
Er ging ums Haus herum zum Hofthor und suchte den Weg nach der Küche, wo er den Wirt, seinen Freund, zu treffen hoffte. Mit einemmal legte sich eine Hand auf seine Schulter und er erkannte Laforêt, der leise hinter ihm hergekommen war.
»Ich habe Sie abgepaßt . . . das ganze Haus wimmelt von Leuten, und ich dachte mir, daß Sie durch den Hof herein kommen würden. Doch bleiben wir hier nicht stehen! es sind gar zu viele Augen offen heute nacht.«
»Wo können wir hingehen?«
»In meine Stube hinauf.«
An der Außenseite des Hauses führte eine Treppe zu einer hölzernen Altane, die rings ums erste Stockwerk lief, und von dort führte die Stiege bis zum Giebel weiter, Laforêt hatte sich eine Dachstube ausgesucht, die elendeste, die überhaupt im Hause war, wie sie sich eben für einen armen Akkordarbeiter ziemte. Er ging voran, machte die Thüre auf und bedeutete Baudoin, sich aufs Bett zu setzen, dann hob er das mit einer Klappe schließende einzige Dachfenster auf, das den Raum beleuchtete, um sich zu überzeugen, daß kein Späher auf dem Dach selbst war, und ließ das Fenster wieder herunter.
»Sie müssen den Mund an mein Ohr rücken, wenn Sie sprechen,« flüsterte er Baudoin zu. »Rechts und links befinden sich Kammern, und die Wände sind so papierdünn, daß man jedes Wort hört. Rechts schläft die Köchin, die immer noch Besuch von anderen Dienstboten erhält, wobei die Herrschaft nett heruntergerissen wird.«
Er lachte unhörbar in sich hinein.
»Ja, ja, die wenigsten ahnen, wie viel man im Leben zu hören bekommen kann, wenn man nur ein wenig aufpaßt.«
»Weshalb haben Sie mich hergerufen?« flüsterte Baudoin.
»Weil's in der Villa Neuigkeiten gibt. Sie ist nicht mehr allein, ein Mann wohnt im Hause.«
»Was für ein Mann? Ein hübscher junger Zierbengel, der italienisch spricht?«
»Nein. Ein großer, breitschulteriger Mann mit blondem Vollbart: ausländische Betonung, deutsch, wie mir scheint.«
Baudoins Augen funkelten durch die Dunkelheit, Er preßte Laforêts Hand heftig und fragte mit zitternder Stimme: »Sie haben den Mann genau gesehen?«
»So genau, wie ich Sie sehe.«
»Hat er seine beiden Arme?«
»Ja, er hat zwei Arme.«
Baudoin stieß einen Seufzer der Enttäuschung aus.
»Dann ist er's nicht! Ich hatte schon gehofft . . .«
»Es sei der von Vanves? Würden Sie den mit Sicherheit wiedererkennen, wenn Sie ihn zu Gesicht bekämen?«
»Vom Ansehen allein vielleicht nicht, denn es war ja damals sehr dunkel, aber wenn ich ihn hörte! Ja, unter Tausenden wollte ich ihn herausfinden!«
»Nun gut! Die Gelegenheit hoffe ich Ihnen verschaffen zu können, der Mann ist hier.«
»In diesem Wirtshaus?«
»Ja im ersten Stock, mit drei anderen in einem besonderen Zimmer. Es sind die Führer, die man aus dem Saal holte, als er ankam, denn mit der öffentlichen Arbeiterversammlung will er nichts zu thun haben, er verkehrt nur mit dem Generalstab. Ich bin ihm von der Villa bis hierher nachgegangen, und er hat mir zu einem tüchtigen Spaziergang verholfen. Ein verschmitzter Kunde! Dreimal hat er die Richtung verändert und mich irreführen wollen. Man hätte denken sollen, er fühle mich auf seinen Fersen, und doch war ich so vorsichtig, daß er mich nicht bemerken konnte. Erst ging er ins ›Café zum Bahnhof‹, wo er ein Glas Bier trank und zur Dienerschaftsthüre hinausging, während er von vorne eingetreten war. Ich hatte mir so etwas gedacht und war auch ums Haus herumgegangen. Von da ging er zum Bahnhof selbst und begab sich durch den Wartesaal auf den Bahnsteig. Auf dem spazierte er im Dunkeln bis zum Güterschuppen hinunter; dort fand er einen Ausgang nach der Stadtseite offen und ging dann geradeswegs zum ›Goldenen Löwen‹. Gegenwärtig befindet er sich unmittelbar unter uns und berät sich mit seinen drei Spießgesellen.«
»Und wie wollen Sie mir die Möglichkeit verschaffen, ihn sprechen zu hören?«
»Das werden Sie gleich sehen. Aber erst möchte ich Sie fragen, was der Bursche in Ars zu schaffen haben mag?«
»Ich bin überzeugt, daß er Herrn Marcels wegen hier ist. Ich spür's ordentlich, wie ringsum Gefahr lauert. Was soll der Aufruhr in der Werkstatt, während nie ein Schatten von Zwistigkeit zwischen den wohlwollenden Brotherren und ihren gut behandelten Arbeitern vorlag? Der Wind bläst aus ein und derselben Richtung, drum habe ich wohl gewußt, weshalb ich Sie rufen ließ! Die Italienerin ist Herrn Marcels halber hier, der neu Angekommene desgleichen und die ganze Geschichte ist von den nämlichen Banditen ins Werk gesetzt, die meinen General umgebracht haben.«
»Schön, das wollen wir an den Tag bringen. Das ist ja mein Handwerk, und eine größere Freude könnte ich meinem Minister gar nicht machen, als wenn ich die Herrschaften zu fassen bekäme. Wenn Sie sich nicht täuschen, Baudoin, wenn die Geschichte hier wirklich nur eine Fortsetzung des Versuchs von Vanves ist, so haben wir's mit einer Bande zu thun, die nicht mehr in den Lehrjahren steht und uns schon viel zu schaffen gemacht hat. Aber jetzt fassen wir das Nächstliegende ins Auge. . . . Sind Sie Turner?«
»Gewesener Vorturner in der Unteroffiziersschule!«
»Entschuldigen Sie die Frage! Da kann man von Ihnen lernen und braucht Ihnen nichts zu zeigen! Kommen Sie . . .«
Damit stieß er das Fenster wieder auf, rückte einen Stuhl darunter und kletterte von diesem aus aufs Dach. Baudoin folgte seinem Beispiel. Eine breite Dachrinne lief um das ganze Haus, und dieser folgten sie. Die Nacht war mondlos. Sie gelangten an die Hofseite und Laforêt wies seinem Begleiter ein kleines Zinkdach, das frei vorspringend etwa sechs Meter unter ihnen lag und zu einem kleinen Anbau gehörte, der zur Aufbewahrung von Sattelzeug diente.
»Das ist die Gelegenheit. Unsere Leute befinden sich in dem Zimmer, dessen beleuchtetes Fenster unmittelbar über dem Vorbau liegt, es gilt also ungesehen und unhörbar auf dieses Dach zu kommen, von dem aus man die Stube überblicken und sicherlich auch hören kann, was drinnen gesprochen wird.«
Baudoin beugte sich über den stockfinsteren Hof, um einen Weg zum Absteigen zu entdecken.
»Aber wie hinunter kommen? Sechs Meter und ohne Leiter?«
Laforêt zeigte ihm im Winkel der Mauer einen runden Wulst.
»Da ist die Rinne, die zum Ablauf des Regenwassers dient . . .«
»Richtig , . . . also denn vorwärts.«
»Stecken Sie Ihre Schuhe in die Tasche!«
Beide zogen die Schuhe aus, Laforêt aber schlug die Beine um die Rinne, faßte sie mit den Händen und ließ sich, die Kniee fest ans Mauerwerk drückend, um durch die Reibung ein zu schnelles Abgleiten zu verhindern, langsam und schweigend hinunter. In ängstlicher Spannung beobachtete Baudoin vom Dach aus die Reise. An Laforêts Kraft und Geschicklichkeit zweifelte er nicht, es fragte sich aber, ob die Rinne das Gewicht aushalten würde. Wenn eine der Klammern gebrochen wäre, hätte der Mann samt der Rinne mit großem Gepolter abstürzen und das ganze Haus in Aufruhr geraten müssen. Ein derartiger Unfall würde natürlich die verhängnisvollsten Folgen gehabt haben, aber Baudoin wurde bald von seiner Angst befreit. Laforêt faßte nach kurzer Zeit Fuß und legte sich platt ausgestreckt auf das Zinkdach.
Baudoin setzte sich sogleich in Bewegung, ihm die Reise nachzuthun, und vollführte sie mit großer Gewandtheit. Nachdem er an Laforêts Seite auf dem Dach etwas zu Atem gekommen war, sah er diesen auf dem Zink weiterkriechen und beeilte sich, ihm in der gleichen Weise zu folgen. An der Unterseite des beleuchteten Fensters angelangt, hinter dem die Beratung stattfand, richtete sich Laforêt auf den Knieen auf, aber nur so weit, daß seine Stirne ungefähr in gleiche Linie mit dem Fenstersims kam, und sah hinein. Ein Mullvorhang ließ die Gestalten nur in etwas verschwommenem Umriß sichtbar werden, ungefähr wie Figuren aus einer nicht ganz richtig beleuchteten Zauberlaterne. Je nachdem sie mehr oder weniger entfernt von der Lampe waren, erschienen die drei Männer riesenhaft vergrößert oder verkleinert. Der eine war aufgestanden und ging im Zimmer auf und ab, und je nachdem er sich dem Fenster näherte oder wieder davon entfernte, drang die Stimme mehr oder minder vernehmlich an Laforêts Ohr. Ohne sich umzudrehen, zog dieser Baudoin dicht zu sich heran und flüsterte, den Mund an dessen Wange drückend: »Man sieht nicht viel, aber hören kann man. Versuchen Sie's.«
Baudoin rutschte bis in die Mitte der Fensterbrüstung und spähte, das Kinn auf dem Gesims ruhen lassend, mit Anspannung all seiner Sinne in den Raum hinein, worin er zu finden hoffte, was er mit so heißer Begierde suchte. Es war nicht die Stimme des Auf- und Abgehenden, die sich vernehmen ließ, der Sprecher saß vielmehr am Tisch und schien in Papieren zu blättern. Es war anfangs schwierig, den Sinn seiner Worte zu verstehen, nach und nach aber drangen sie vollständiger heraus.
». . . Gewaltthat wäre zwecklos . . . kein Erfolg davon zu erwarten . . . die Arbeiter könnten stutzig werden und abfallen . . . man würde die Aufmerksamkeit der Behörden erregen . . .«
Soviel war leicht zu begreifen, daß er dem Auf- und Abgehenden widersprach, und daß dieser den Widerspruch schwer ertrug, wenn er auch schweigend und ohne Gebärden mit gesenktem Kopf einherging, wohl um seiner Erregung Herr zu werden. Jetzt blieb er mit einemmal stehen und sagte mit dumpfer Stimme: »Ich will's aber!«
Der andere hielt seinen Widerstand aufrecht, aber der Lauscher konnte nur abgerissene Worte davon verstehen.
». . . das Interesse der Allgemeinheit . . . unrichtige Anlage des Plans . . .«
Wieder ging der Gegner wie ein wildes Tier im Käfig auf und ab, ließ aber den anderen ungestört reden. Jetzt blieb er zum andern Mal stehen und sagte lauter als zuvor: »Ich will's aber!«
»Ist er es? Erkennen Sie die Stimme?« tuschelte Laforêt.
»Nein. Ich erkenne sie nicht,« flüsterte Baudoin beklommen.
Der Sitzende faltete seine Papiere zusammen, steckte sie in die Brusttasche und erklärte: »Dann haben wir nur zu gehorchen!«
Jetzt trat der Befehlshaber zu ihm hin, klopfte dem überwundenen Widersacher auf die Schulter und rief in gutmütigem Ton: »So laß ich mir's gefallen! Das hat aber Mühe gekostet! Schreiten wir zur That! Niemand wird es bereuen!«
Und er brach in ein herzhaftes Gelächter aus.
In diesem Augenblick gruben sich Baudoins Finger förmlich in Laforêts Arm, und eine vor Aufregung heisere Stimme raunte ihm zu: »Er ist's! Jawohl, er ist's! Das war sein Lachen!«
Baudoin machte eine Bewegung, als ob er aufspringen wollte, Laforêt aber hielt ihn mit Gewalt neben sich fest.
»Hören Sie noch einmal hin! Vergewissern Sie sich, daß es keine Täuschung sein kann.«
»Er ist's! Eine Täuschung ist gar nicht möglich! Sein Lachen! Dieses Lachen, gerade wie ich's damals gehört habe, am Abend des Verbrechens, als er aus dem Wagen stieg.«
»Dann bleiben wir nicht länger hier. Wir dürfen uns nicht unnütz der Gefahr einer Entdeckung aussetzen.«
Sie rutschten bis zum Rand des Zinkdachs, das sich kaum drei Meter überm Boden befand und an dessen einer Seite der Pferdemist aufgetürmt war. Beide Männer zogen ihre Schuhe wieder an, sprangen schweigend auf die weiche Unterlage und dann in den Hof hinab. Das Hofthor war mittlerweile geschlossen worden, aber Laforêt wußte jedes Schloß zur Nachgiebigkeit zu zwingen, und so standen die beiden Verschwörer bald nachher auf der Straße.
»Was werden Sie jetzt unternehmen?« fragte Baudoin. »Die Polizeiwache ist nur zwei Schritte von hier! Sie werden sich doch nicht besinnen, den Strauchdieb einsperren zu lassen?«
»Gut!« sagte Laforêt. »Das wäre eine Lösung. Und dann?«
»Wie und dann?«
»Ja. Dann haben wir ihn! Nichts ist einfacher als ihn zu kriegen. Die Schutzleute umstellen das Haus, warten bis er herauskommt, und führen ihn zum Polizeikommissar. Und dann?«
»Dann bezichtigt man ihn des Verbrechens in Vanves, übergibt ihn dem Untersuchungsrichter, er wird überführt, verurteilt . . .«
»Wirklich? Er wird überführt? Das glauben Sie? Ein Mann wie der, mit dem wir's hier zu thun haben? Den wird man überrumpeln können? Der wird kein Alibi bereit haben, um unumstößlich zu beweisen, daß er am Abend des Verbrechens zweihundert Meilen von Vanves entfernt saß? Und durch was für Zeugen wollen Sie ihn denn überführen? Sie sind der einzige, und vor fünf Minuten war es Ihnen selbst noch fraglich, ob er's sei! Und während wir diesen sauberen Vogel unter Schloß und Riegel hätten, möglicherweise nur, um ihn wieder fliegen lassen zu müssen, würden die anderen auf und davon sein. Ein nettes Stück Arbeit, das müßte man sagen!«
»Man kann aber doch nicht eine Faust im Sack machen und den Schurken da frei laufen lassen?«
»Der Schurke da ist im Begriff, uns hier etwas vorzuspielen, und im Augenblick, wo er auf die Bühne tritt, dürfen wir ihn ja nicht stören. Und die schöne Dame vom Schweizerhaus mit dem angeblichen Bruder? Und all diese Lümmel, die das Geschäft von Baradier & Graff zu Grund richten wollen? Haben Sie gar kein Interesse mehr für diese Gesellschaft? Es lohnt doch wohl der Mühe, sie zu beobachten. Und wir selbst sollten ihnen das Zeichen geben, daß ihr Geheimnis verraten ist? Das werden Sie doch wahrhaftig nicht wollen!«
»Also unthätiger Zuschauer bleiben bei dem Satansspuk?«
»Zuschauer, ja – vorläufig, aber unthätig gewiß nicht! Ich bin doch nicht nach Ars gekommen, einzig um Steine zu klopfen. Mein Handwerk ist ein etwas feineres, und ich will's ausüben.«
»Aber kann ich nicht wenigstens Herrn Marcel warnen?«
»Unter keinen Umständen! Das erste, was er thäte, wäre seiner Schönen eine Scene zu machen, und damit wäre alles verloren. Nur um Gottes willen nicht Verliebte ins Vertrauen ziehen! Von ihnen hat man sich nur der größten Dummheiten zu versehen!«
»Aber wenn Herr Marcel in irgend eine Schlinge rennt?«
»Seien Sie doch nicht immer in Todesangst um den jungen Herrn. Als ob der so übel dran wäre! Einem hübschen Weib den Hof machen, das ihm zuliebe thut, was er haben will, und vielleicht noch etwas darüber, wenn er's geschickt angreift.«
»Ach, der ist nicht ungeschickt! Die Weiber hat er ausstudiert.«
»Um so besser, dann verschlingt ihn keine bei lebendigem Leib! Ich behalte indessen den Herrn da oben im Auge und lasse ihn nicht los, bis ich alles beisammen habe, um ihn dem Herrn Richter in Paris auszuliefern, der vor Ungeduld schier überschnappt. Einverstanden?«
»Wohl oder übel muß ich's sein.«
»Dann gehen Sie Ihren Geschäften nach, während ich mich an die meinigen mache.«
Sie schüttelten sich die Hände und gingen in der Dunkelheit auseinander. Das abgeschlossene, aber noch immer hell erleuchtete Gasthaus hallte wider von Geschrei und Gesang und dem Klappern der Bierseidel auf den hölzernen Tischen, Still und dunkel ragte die Fabrik in den Sternenhimmel hinein. Als Baudoin an der Pförtnerwohnung vorübergehen wollte, kam der Pförtner heraus und rief ihm vergnügt zu: »Herr Graff ist angekommen!«
Die telephonischen Mitteilungen des Direktors hatten den Onkel so beunruhigt, daß er Baradier mitten in hochwichtigen Börsenverhandlungen über die Aktien der Sprengstoffgesellschaft im Stich gelassen und sich auf die Bahn gesetzt hatte, um nach Ars zu fahren. Als Marcel noch mit seiner Cigarre am Fluß entlang gegangen war, hatte er den trefflichen Mann plötzlich zwischen den Blumenbeeten im Garten auftauchen sehen und sich ihm mit einem Jubelruf an den Hals geworfen.
»Du, du bist's, Onkel Graff?«
»Jawohl, mein Junge! Ich wollte einmal nachsehen, was eigentlich hier vorgeht, und habe schon mit Cardez gesprochen. Was die Fabrik betrifft, weiß ich jetzt, woran ich bin, aber was treibst denn du, mein Junge? Mit Nachrichten überschüttest du uns gerade nicht . . . weißt du, was deine Mutter gestern gesagt hat: ›Der Junge hat keinen Gedanken für uns! Er hat uns nicht lieb!‹ Ja, ja, sie war sehr unzufrieden mit dir.«
»Ja, wie kommt sie denn nur dazu?« rief Marcel. »Was fällt ihr nur ein?«
»Ich frage dich eher, wie die gute Frau sich noch Täuschungen hingeben sollte über deine Gefühle? Du verwöhnst uns wahrlich nicht! Ach, die Kinder, die Kinder! Ich weiß es ja, sie leben nicht um der Eltern willen, sondern für sich selbst, aber so ein bißchen etwas könnten sie doch von Zeit zu Zeit thun für die, die sie großgezogen, gepflegt, verhätschelt haben.«
»Onkel, du thust mir wirklich sehr weh,« fiel ihm Marcel heftig bewegt ins Wort. »So habt ihr mein Stillschweigen gedeutet, diesen Eindruck konnte es machen? Aus Gehorsam gegen den Vater verbanne ich mich auf Wochen nach Ars, ich glaube ihm damit meinen guten Willen zu zeigen, nachdem ich vorher ein paar allerdings große Dummheiten gemacht . . .«
»Ja, dreihunderttausend Franken Schulden, mein Söhnchen, das was ich dir hinterm Rücken deiner Eltern gegeben habe ungerechnet, und in wie viel Zeit, hm?«
»Ach Onkel! Wozu darauf zurückkommen?«
»Du hattest es wohl schon ganz vergessen, nicht?«
Marcel lächelte.
»Du bist ja nachsichtig mit der Jugend, Onkel, du verstehst sie.«
»Ohne je jung gewesen zu sein! Ach Marcel, Lust dazu hätte ich schon gehabt. Du kannst mir's glauben, daß Vergnügen, Luxus, Weiber, für mich ebensoviel Anziehungskraft gehabt hätten, wie für andere junge Leute, nur daß ich dabei immer wie ein Leichenbitter aussah und man mich einfach verspottet haben würde. Ja, ja, den jugendlichen Liebhaber zu spielen ist nicht jeder geschaffen, und Komiker mochte ich nicht werden . . .«
»Und so hast du dich mit Ruhm den Finanzen gewidmet, guter Onkel, und jetzt darfst du die dummen Streiche bezahlen, die dein Grünschnabel von Neffe macht, aber wie lieb hat er dich auch!«
Er hatte den Arm auf des Onkels Schultern gelegt und drückte ihn an sich, und der alte Mann sah mit feuchten Augen in die lachenden des jungen. Er schüttelte den Kopf, räusperte sich ein wenig, um seine Rührung zu verbergen, und sagte dann: »Ja, ja, ich weiß schon, irgend ein Winkelchen habe ich in deinem Herzen! Willst du mir denn auch wirklich eine Freude machen? Nun, so schreibe deiner Mutter ein nettes Briefchen.«
»Gewiß, Onkel, gleich morgen früh und dem Vater obendrein auch.«
»Bist doch ein guter Kerl, so ist's recht. . . . Und nun sag einmal, die Sache hier geht schief? Die verdammten Streiker wollen uns die Arbeiter aufsässig machen?«
»Es sieht so aus, aber Cardez greift's auch nicht geschickt an, er ist zu schroff. Im Grund ist er ja ein guter Mensch, aber äußerlich gibt er sich als Tyrann.«
»Ich werde selbst in die Unterhandlungen eingreifen, gleich morgen will ich den Arbeiterausschuß sprechen. Und was treibst denn du? Fleißig gewesen?«
»Jawohl! Ich habe das Blaßgrün und das Goldgelb, das ich suchte, herausgebracht. Ich werde dir die Proben vorlegen.«
»Und . . . und die andere Geschichte?« fragte Graff, unwillkürlich die Stimme dämpfend. »Das Pulver?«
»Die Rezepte sind erprobt, der Erfolg gesichert.«
»Hast du Versuche damit angestellt?«
»Ja, Onkel, und sie sind furchtbar in ihrer Einfachheit! Ich füllte einen dünnen Schlauch mit der Sprengmasse, und legte ihn um den Fuß einer Jahrhunderte alten Eiche im Wald von Bossicant. Fast ohne Knall und Rauch hat die entzündete Masse den Baum hart am Boden durchschnitten, wie mit einer Riesenaxt, daß sich der mächtige Stamm ganz still ins Heidegras legte.«
»Es hat dich doch niemand gesehen dabei?«
»Niemand! Am andern Tag sagte mir der Forstschütze: ›Ach, Herr Marcel! Das ist ein rechtes Unglück! Heute nacht hat der Sturm die alte Eiche oben auf der Platte rein abgeknickt. Merkwürdig, wie solch alte Bäume brechen! Der Wind ist ein geschickter Holzhacker!‹ Doch alles Bisherige gibt wahrhaftig keinen Begriff von der Gewalt dieser Sprengmasse. Ich wollte eine weitere Probe damit anstellen, dieses Mal an Gestein, und so ging ich nach dem verlassenen Steinbruch hinter der Straße nach Sainte-Savine. Dort legte ich in eine Höhlung eine ansehnliche Petarde wie bei der alten Eiche. Es waren reichlich dreihundert Raummeter Erde und Gestein, was in die Luft springen sollte. Bei anbrechender Nacht zog ich mich, nachdem Feuer gelegt war, zurück. Daß vor Tag niemand in diese Gegend kommen würde, wußte ich gewiß, ein Unfall war also nicht zu befürchten. Der Knall war wieder äußerst schwach, ich konnte ihn auf einen Kilometer Entfernung kaum unterscheiden. Am folgenden Morgen ging ich hinaus, um nach der Wirkung zu sehen. – Erschreckend, sage ich dir. Der ganze ungeheure Würfel war gehoben worden und im Untergrund ein trichterförmiges Loch von sechs Meter Tiefe aufgewühlt. Ich getraue mir zu sagen, daß man mit einer entsprechenden Ladung einen ganzen Berg wegheben könnte. Wenn es den Spaniern einmal einfallen sollte, Gibraltar aus der Welt zu wünschen, mit dieser Sprengmasse könnten sie es beseitigen! Ein schönes Bild wär's – Felsen, Wälle, Geschütze, Kasematten, alles auf einmal ins blaue Meer fliegend!«
»Hast du die Rezepte ausgearbeitet?«
»Nein, bis jetzt noch nicht.«
»Sei so gut, sie fertigzustellen und sie mir zu geben. Ich möchte sie mit nach Paris nehmen und dem Patentamt übergeben. Der Augenblick ist da, sich ihrer zu bedienen.«
»Du kannst sie morgen früh haben, Onkel Graff, das ist eine Kleinigkeit.«
»Siehst du, dein Vater und ich, wir arbeiten an der Ausführung eines folgenschweren Planes. Baradier, der sich ja eines hervorragenden geschäftlichen Spürsinns rühmen kann, hat Lichtenbachs unterirdische Wühlereien aufgedeckt. Der alte Spitzbube ließ die Aktien der Sprengstoffgesellschaft, die auf ein Minimum gesunken waren, massenhaft verkaufen, und wir zerbrachen uns lang die Köpfe darüber, warum die Entwertung immerfort zunahm, bis uns der Zufall den Beweis in die Hände spielte, daß Lichtenbach die Gesellschaft planmäßig zu Grund richtete, um zu seinem Vorteil eine neue zu gründen. Er arbeitete dabei durch sieben oder acht Winkelmakler, von denen einer unvorsichtige Äußerungen gethan hat, die uns plötzlich Klarheit gaben. Nun hat dein Vater, dem's bekanntlich nicht an Waghalsigkeit fehlt, auf der Stelle aufkaufen lassen, was Lichtenbach hergab, und die Entwertung hat sich im Nu in eine Preissteigerung verwandelt. Wir sind zur Zeit im Besitz von zweimalhunderttausend Aktien der Sprengstoffgesellschaft, die wir zu einem Schleuderpreis gekauft haben, und die morgen, sobald das Patent des neuen Sprengstoffs ausgestellt und von der Gesellschaft erworben ist, hoch über Pari stehen. Das ist ein furchtbarer Gegenzug. Gelingt er, so ist unser Vermögen verzehnfacht und wir haben Lichtenbach angethan, was er seinen Aktionären anthun wollte. Unser Gewinn ist sein Verlust. Dann werden wir, wie ich hoffe, mit ihm fertig sein.«
»Nun denn, Onkel Graff, die Rezepte sollst du morgen haben und du kannst damit machen, was du willst,«
»Was ich damit machen will? Ein Vermögen für Fräulein von Trémont in erster Linie und dann soll auch noch ein Zuwachs des unsrigen dabei abfallen.«
»Ach! Seid ihr denn immer noch nicht reich genug?«
»Doch, ich wenigstens wäre zufrieden, aber dein Vater hat Ehrgeiz. Er will in allem das Höchste erreichen und behauptet, nicht einzusehen, weshalb Franzosen nicht ebenso große Reichtümer ansammeln könnten wie Amerikaner.«
»Aha! Die Vanderbilts und Astors lassen ihn nicht ruhen! Welche Schwachheit!«
»Lieber Junge, du verstehst die Trunkenheit des Erfolgs noch nicht, die auch die klarsten und ruhigsten Geister ergreift! Du weißt, welch bedürfnisloser Mensch dein Vater ist . . . im Geldverbrauch hast du es schon viel weiter gebracht! Hier handelt es sich nicht mehr um die Mittel zum Lebensgenuß, sondern um den Ehrgeiz der Zahlen!«
»Ich weiß es wohl, und gerade das ist in meinen Augen das Schlimme. Es wäre besser, weniger reich zu sein und mehr auszugeben. Welch eine Waffe gebt ihr nicht den Sozialisten in die Hand, die uns in diesem Augenblick Fehde ankündigen! Wie wollt ihr vor ihnen eine derartige Anhäufung von Kapital rechtfertigen, worüber ein einzelner verfügt, indes die Masse sich abmüht, leidet und darbt? Sieh, Onkel Graff, das einzige, was Reichtum verzeihlich macht, ist viel auszugeben, damit der Überfluß sich in zahlreiche Kanäle ergieße. Wenn mein Vater nun einmal so viel Geld hat, wäre mir's lieb, er würfe es zum Fenster hinaus, denn da könnten's die auflesen, die draußen stehen, und ihr Elend wäre wenigstens für eine Weile gemildert. Ich wollte, daß er bei allen Bildhauern Statuen, bei allen Malern Bilder bestellte, nur damit der Reichtum ins Rollen käme, statt sich in Gewölben anzuhäufen. Welchen Anteil soll ich denn an den Aktien dieser oder jener Gesellschaft nehmen? Was kann ich mir denn bei diesem oder jenem Papier denken, wenn nicht die Arbeit einer Schar von Männern, die mit ihrem sauern Schweiß die Dividende verdienen, die den Aktionär zum reichen Mann macht? Siehst du, Onkel Graff, das ist weder sittlich, noch gerecht, noch menschlich, und ich glaube, daß ein Verschwender wie ich, vom sozialen Standpunkt aus, der richtige Ausgleich ist für einen Schätzesammler wie mein Vater.«
»Aber Marcel, deines Vaters Arbeit bereichert nicht nur ihn, sondern auch das Land, seine Ersparnisse kräftigen die Nation. Die großen Vermögen sind die Hilfsquellen, die in der Stunde der Not die Thatkraft eines Volkes speisen, dein Vater nützt als Bürger durch seinen Reichtum, so gut wie der Erfinder durch sein Genie, der Feldherr durch sein Talent. Dein Vater wird dem Erfinder die Mittel zuwenden, um seine Gedanken zu verwirklichen, er wird die Geschütze, die vervollkommneten Waffen des Soldaten bezahlen. Jeder von uns hat im Leben wie in der Gesellschaft seine besondere Aufgabe zu erfüllen, und ich kann dir nur sagen, daß die deines Vaters nicht zu den unwichtigen oder gar verächtlichen gehört!«
»Onkel Graff, ich spreche von Gefühlen und du antwortest mir mit Nationalökonomie, da können wir uns unmöglich verständigen! Ich habe recht, wie du recht hast, der Unterschied liegt nur darin, daß wir gar nicht von der nämlichen Sache sprechen!«
»Und ferner darin, daß wir nicht der nämlichen Generation angehören. Die Ideen der Menschen wechseln mehrmals im Lauf eines Jahrhunderts, und die Väter urteilen nicht wie ihre Kinder. Dein Vater und ich, wir haben den großen Krieg, den Zusammenbruch erlebt und wir erinnern uns des Lösegelds, das Frankreich zu bezahlen hatte. Das hat uns vorsichtig oder, wie du meinst, knickerig gemacht für den Rest unserer Tage. Als du zur Welt kamst, war der Wohlstand schon wieder im Aufblühen, und aufgewachsen bist du unterm Einfluß der Republik, deshalb hast du von Grund aus andere Anschauungen als wir. Du willst die Gleichheit, wir, das sage ich dir aber nur ganz leise, wir wollen sie nicht. Auf mich hat mein Vater die Achtung vor den Gesellschaftsklassen übertragen, mir steht ein Fabrikant höher als ein Kaufmann, ich schätze einen Advokaten, einen Notar, einen Richter mehr, als einen Maler oder Schriftsteller. Darin wird mich niemand umstimmen, so denke ich nun einmal. Es entgeht mir nicht, daß um mich her andere Anschauungen entstehen, aber ich kann nicht mehr teil daran nehmen, ich werde als unbußfertiger Sünder sterben. Deine Generation hat viel weniger Ehrfurcht als die unsrige: du verkehrst mit einem alten, berühmten, mit Ehren überhäuften Mann auf gleichem Fuß, behandelst ihn kameradschaftlich, mir aber wäre das rein unmöglich. Ebensowenig ginge es mir ein, wenn der Werkführer in der Fabrik mich als seinesgleichen behandeln, mir auf die Schulter klopfen wollte. Möglich, daß ihr recht habt, du und deine Altersgenossen, aber ehrlich gesagt, ich glaube es nicht. Nun, es wird sich ja zeigen, wie eure Kinder ausfallen, falls ihr welche bekommt, denn Ehe und Familie gehören ja auch zum überwundenen Standpunkt für euch, sie kommen aus der Mode.«
»Was du einem für Sachen hinsagst, und dabei thust du, als ob du einem gar nicht zu nahe trätest. Mein Vater würde mich jetzt schon dreimal einen Esel genannt haben und mir doch alle Gründe schuldig geblieben sein. Du dagegen hast eine ganz andere Art, und wenn ich dich höre, wird mir's weit eher zweifelhaft, ob ich im Recht bin! Und dann bist du so gut, Onkel, daß ich gar nicht im stande bin, dir gegenüber auf meinem Kopf zu beharren.«
»Kleiner Racker, du seifst mich ein, umschlingst mich mit Blumengewinden, bis ich nach deiner Pfeife tanze. Du bist im Grund ein rechter Schlaukopf, der uns, glaube ich, alle am Gängelband führt.«
»Aber Onkel Graff!«
»Hör einmal, so verbindlich bist du doch nicht für nichts und wieder nichts,« rief Graff lachend. »Willst du mir etwa wieder das Vergnügen machen, dich aus einer Patsche zu ziehen?«
»Wahrhaftig nein, Onkel, ich sage dir ohne alle selbstsüchtigen Absichten meine Herzensmeinung!«
»Ja, du bist im ganzen ein anständiger Junge, der seine bösen Augenblicke und guten Viertelstunden hat! Du bist also gegenwärtig vernünftig, hm?«
»Es wäre schwierig, es hier nicht zu sein!« versetzte Marcel mit einem beteuernden Blick gen Himmel in aller Ruhe.
»Aha, es fehlt an Gelegenheit! Ich hatte schon geglaubt, du würdest auch auf einer wüsten Insel die Möglichkeit entdecken, dich zu verlieben und Schulden zu machen!«
»Freilich, aber wer würde sie bezahlen, wenn mein Onkel nicht auch dabei wäre?«
»Ich glaube, du machst dich über mich lustig, Schlingel!«
»Nein, Onkel, ich bin ganz ernsthaft und höchst vernünftig, verlasse mein Laboratorium höchstens, um im Wald spazieren zu gehen, und habe, seit ich hier bin, noch keine fünfundzwanzig Franken ausgegeben.«
»Himmel! Müssen die Frauen häßlich sein in dieser Gegend!«
»Schön sind sie allerdings nicht.«
Ein wildes Geschrei, das aus der Richtung der Stadt hörbar wurde, schnitt das Gespräch ab. Es kam näher, und jetzt sah man auch Lichtschein. Dumpfes Getrappel wie von einer dahinziehenden Herde ertönte auf der Straße und nach kurzer Zeit konnte man unterscheiden, daß die von hundert Stimmen gebrüllte Arbeitermarseillaise abermals beleidigend von den Fabrikmauern widerhallte. Es waren die von ihren Frauen begleiteten Arbeiter, die, aus dem Wirtshaus kommend, die schlafende Stadt und ihre friedlichen Bürger mit Drohungen von Mord und Brand erschreckten. Marcel und Onkel Graff standen im Hintergrund des Gartens und ließen den kreischenden, heulenden Strom an sich vorüberziehen. Die Leute schwenkten rasch zusammengeraffte Kienfackeln, deren Rauch und Qualm ihnen ein Bild der Feuersbrunst war, worin die Zwingburg samt den Zwingherren untergehen sollte.
»Hörst du?« sagte Onkel Graff zu seinem Neffen. »Alle Fabrikanten wollen sie aufknüpfen, und doch ist unter all diesen Leuten nicht einer, dem wir nicht beispringen würden, wenn Not und Krankheit über ihn kommt, der unserer Hilfe und Teilnahme nicht gewiß wäre! Wir haben ihnen Arbeiterhäuser gegründet, wo sie vortrefflich wohnen, Schulen für ihre Kinder, Pflegeanstalten für ihre Kranken, Konsumvereine, wo sie alles zum billigsten Preis bekommen . . . nur das Wirtshaus ist nicht unsere Schöpfung, und dort kaufen sie sich den Haß gegen uns! Der Alkohol ist ihr Herr und dieser Gebieter kennt kein Erbarmen, er schenkt ihnen nichts!«
Nun war das letzte Ende des Zugs vorüber. Sei es, daß man die beiden Männergestalten in dem dunkeln Garten doch bemerkt hatte, sei es, daß man nur aufs Geratewohl den Schrei des Aufruhrs und der Rache gegen das Haus schleudern wollte, genug, die Nachzügler, die am schwersten betrunken waren und wohl auch die geringsten und hilfsbedürftigsten unter den Arbeitern sein mochten, plärrten aus voller Kehle: »Nieder mit den Protzen! Nieder mit den Blutsaugern!«
Dann verklang der Lärm allmählich, und Stille herrschte wieder. Traurig den Kopf schüttelnd, sagte Graff: »Komm, du Blutsauger! Wir wollen zu Bett gehen.«
Am anderen Morgen war der Onkel Graff zeitig in Bewegung: er suchte Cardez auf, um sich mit ihm zu beraten. Auch Marcel kam früher als sonst ins Laboratorium, denn er hatte ja versprochen, die Rezepte lesbar zusammenzustellen. Er traf Baudoin noch an der Morgenarbeit und bewunderte die ungewohnte Sauberkeit, die in seinem Kapernaum und unter seinen Reagenzgläsern herrschte.
»So reinlich hat es hier schon lange nicht mehr ausgesehen,« bemerkte er. »Der Staub wird gar nicht wissen, wie ihm geschieht! Aber, Baudoin, ich bitte Sie nur, die Chemikalien nicht anzurühren, es sind höchst gefährliche darunter.«
»O Herr Marcel, mich kennen sie schon! Ich habe ja zu Zeiten meines seligen Generals genug mit ihnen zu schaffen gehabt und habe mir immer gemerkt, was er mir einschärfte: ›Baudoin, ich sage dir ein für allemal, nichts vermischen!‹ Nach dem, was dann in Vanves vorgefallen ist, werde ich mich vollends hüten, die Schmieralien durcheinander zu manschen!«
»Haben Sie wirklich hier geschlafen, Baudoin?«
»Jawohl, Herr Marcel. Ich habe mir da oben auf dem kleinen Speicher ein Bett zurecht gemacht und befinde mich sehr wohl dabei, wenigstens bin ich ruhiger. Solange wir die bösen Gesellen im Ort haben, werde ich immer hier schlafen, aber nur mit einem Auge!«
»Ich glaube, Baudoin, daß es den Leuten, die Sie im Sinn haben, viel mehr um die Fabrik zu thun ist, als um mein Laboratorium!«
»Das weiß man doch nicht, Herr Marcel. Es ist eine wunderlich gemischte Gesellschaft, die uns seit ein paar Tagen die Ehre erweist . . .«
»Man könnte wirklich meinen, Sie hätten ganz merkwürdige Entdeckungen gemacht?«
Baudoin ließ den Kopf hängen. Er bekam Angst, gegen Laforêts Geheiß zu viel gesagt zu haben.
»Ach, Herr Marcel, dazu bin ich nicht der Mann,« sagte er einlenkend. »Dazu würde ein klügerer Kopf gehören, und darum bitte ich Sie, nur recht auf Ihrer Hut zu sein und niemand zu trauen, gar niemand.«
Die Beharrlichkeit dieser Warnungen fiel Marcel auf. Was sollte der geheimnisvolle Rat bedeuten, den ihm sein Diener noch im Hinausgehen gegeben hatte? Wußte der Mann etwa mehr, als er sagen wollte? Wen meinte er mit diesem: »Trauen Sie gar niemand?« Unwillkürlich tauchte Frau von Vignolas berückende Gestalt vor ihm auf – war sie es, vor der er sich hüten sollte? Er sah sie vor sich in ihrer träumerischen Ruhe, wie sie ihre traurigen Gedanken durch den Wald von Bossicant trug. Was konnte er von ihr zu fürchten haben? Welche Gefahren konnte ihm die zarte Frau bereiten, außer der einer unerwiderten Liebe? Ach! Diese Gefahr war freilich ernsthaft genug! Die furchtbarste, die ihm für den Augenblick denkbar war, und eine, wogegen er sich ganz machtlos fühlte. Sie lieben und doch nicht dahin gelangen, ihr Herz zu erweichen? Was sollte aus ihm werden, wenn ein solches Mißgeschick seiner harrte? Er konnte nicht ohne wahre Verzweiflung an diese Möglichkeit denken, derart hatte sich die junge Frau schon seines Herzens und seines Geistes bemächtigt. Schwer bedrückt ging er gesenkten Hauptes im Laboratorium hin und her und kam erst wieder zur Besinnung, als die Thüre aufging und der Onkel Graff eintrat.
»Du weißt doch, daß wir auf zehn Uhr die Zusammenkunft mit dem Arbeiterausschuß verabredet haben?« fragte er.
»Gewiß, ich hab's nicht vergessen.«
»Was ist dir denn, Marcel? Du bist nicht wie sonst . . . hast du Verdruß gehabt?«
»Durchaus nicht; mich nimmt nur unsere Lage in Anspruch. Du hast mit Cardez gesprochen? Worin bestehen denn eigentlich die Forderungen dieser Arbeiter?«
»O, sie haben mancherlei Wünsche! Vor allen Dingen weniger Arbeit und mehr Lohn, ferner das Recht, die Werkführer selbst zu wählen, die Unterstützungs- und Krankenkasse selbst zu verwalten, für die Unfallversicherung keinen Abzug mehr zu erleiden. Mein Gott, über all diese Punkte kann man sich ja verständigen und ich bin gern bereit, Opfer zu bringen, dann kommt aber eine alles übersteigende Forderung, die möglicherweise jedes Übereinkommen verhindert.«
»Und die wäre?«
»Die Entlassung von Cardez, dem die Arbeiter alle Strenge zur Last legen, die indes unbedingt von der Arbeit selbst erfordert wird, soll ein so großes Geschäft im Gang erhalten werden . . .«
»Entlassung des Direktors! Dann werden sie morgen die unserige verlangen!«
»Ja, mein Junge, und dann hast du ja nur die reine und einfache Erfüllung des kollektivistischen Ideals! Die Werkstatt gehört dem Arbeiter, der Boden dem Bauern, das heißt also, Grundbesitzer und Unternehmer sind entthront. Wir gehen jetzt kerzengerade darauf los.«
»In diesen Punkten kann von Nachgeben natürlich nicht die Rede sein,« entgegnete Marcel kühl. »Jede Gewalt aus der Hand geben, nicht mehr Herr im eigenen Hause sein? Um keinen Preis, unter keinem Vorwand! Für seine Arbeiter sorgen, wohl und gut, aber sich von ihnen auf der Nase tanzen lassen, nie und nimmermehr!«
»Oho, nur nicht so hitzig!« bemerkte der Onkel Graff lächelnd. »Du fällst von einem Extrem ins andere. Gestern Feuer und Flamme für den Umsturz, heute früh zu eisernem Widerstand entschlossen. So geht die Sache nicht: der goldene Mittelweg ist immer noch der ratsamste, und diesen gedenke ich zu beschreiten. Ich gebe vorderhand die Hoffnung noch nicht auf, die Leute wieder zur Besinnung und Vernunft zu bringen, von dir aber möchte ich eines verlangen . . .«
»Und das wäre?«
»Daß du dich aus dem Staub machst und bei der Zusammenkunft nicht anwesend bist.«
»Ist das eine Idee!« fuhr Marcel auf. »Die stammt nicht von dir, Onkel Graff! Die hat dir Cardez eingeblasen!«
»Nun ja . . . Cardez ist allerdings derselben Meinung. Er fürchtet dein Ungestüm, sieht voraus, du werdest dich nicht genügend beherrschen können. Deine ihm wohlbekannten Anschauungen . . .«
»Der Schafskopf! Er soll nur seine Anschauungen erst ins Lot bringen! Nachdem er uns durch ganz überflüssige Neuerungen die Arbeiter feindselig gestimmt hat, wagte er, auch noch den Wunsch auszusprechen, daß der Sohn des Hauses sich fernhalte von einem Kampf, der seine materiellen und idealen Interessen so nahe berührt? Und er bildet sich ein, daß ich mir diese Ausschließung gefallen lassen werde! Der Mann kennt mich schlecht!«
»Wenn ich selbst aber auch besonderen Wert darauf legte, daß du der Sache fern bleibst?«
»Und warum, Onkel Graff?«
Der Onkel war etwas verlegen, zögerte eine Weile mit der Antwort, entschloß sich aber schließlich zu sprechen.
»Ich hätte dir lieber nicht alle meine Gründe gesagt, aber freilich . . . die Sache ist die, daß unsere heutige Zusammenkunft möglicherweise ernsthafte Unordnungen nach sich ziehen wird. Wir sind benachrichtigt worden, daß die Arbeiter sehr erregt sind, bis aufs Äußerste bei ihren Forderungen beharren werden, kurz, daß heftige Scenen, ja Gewaltthätigkeiten zu befürchten sind.«
»Und wenn? Da ist doch um so mehr Grund vorhanden, daß ich anwesend bin.«
»Wenn ich's zugebe, so lade ich deinem Vater gegenüber die schwerste Verantwortlichkeit auf mich.«
»Aber was hast du denn eigentlich erwartet, daß ich thun werde?«
»Daß du so vernünftig sein würdest, nach Paris zu fahren . . .«
»Und dich mit der wütenden Meute allein zu lassen? Du hast wirklich eine nette Meinung von deinem Neffen!«
»Komm, komm, mein Junge, zanken wir uns nicht! Ich bin ein alter Mann, den die Leute hier nicht ungern sehen, und darf hoffen, leidlich mit ihnen fertig zu werden; wenn ich aber dich dabei zu überwachen habe, so wird die Aufgabe doppelt so schwierig, und ich muß dir ehrlich sagen, daß du mir gehörig im Weg wärest. Du hast keinerlei Amt hier, du bist hier nichts als ein Erfinder und bist einer ganzen Gruppe von Arbeitern mißliebig, gerade wegen deiner Erfindungen. Sie behaupten ja, du wollest sie um den Verdienst bringen, indem du Maschinenarbeit an Stelle der Handarbeit zu setzen suchest . . . kurz, ich kann dir nur wiederholen, Marcel, daß ich triftige Gründe habe, dich zu entfernen, und daß es sehr vernünftig von dir wäre, dich meinen Wünschen zu fügen.«
»Nun denn, daß Vernunft nicht meine starke Seite ist, weißt du ja schon lange: ich habe dies mehr als einmal bewiesen und werde es noch einmal beweisen, indem ich dir nicht gehorche. Mag sich darüber ärgern, wer Lust hat, mir ist's einerlei, ich werde keinen Zoll breit von deiner Seite weichen. Ich will mich aber ganz ruhig verhalten und dich ja nicht von deiner Aufgabe ablenken, nur dabei sein will ich, weil es mein gutes Recht und meine Pflicht ist, neben dir auf dem Posten zu stehen. Wer weiß, ob du, wenn ich dir gehorchen wollte, nicht selbst nach einiger Zeit denken würdest: ›Im Grund hat mir's der Junge recht leicht gemacht, ihn fortzuschicken; auf Gefahren scheint er minder erpicht zu sein, als aufs Vergnügen!‹«
Der Onkel sah den jungen Mann aufmerksam von der Seite an, als er diese Worte sprach, und sein bekümmertes Gesicht heiterte sich mehr und mehr auf dabei. Marcels warme Beredsamkeit that ihm wohl: die Mißbilligung seines Ungehorsams wich mehr und mehr der Freude, den Neffen so mutig, hingebend und liebevoll zu finden. Ja, besonders Marcels Liebe that ihm wohl; das weiche Herz des alten Junggesellen fühlte sich köstlich erwärmt davon. Er hing ja an dem Neffen wie an einem leiblichen Sohn, und sich von ihm so geliebt zu sehen, verwischte alle Unzufriedenheit, rief ein seltenes, inniges Glücksgefühl wach. Natürlich konnte er ja nicht eingestehen, welch tiefe Befriedigung ihm der offene Widerstand gegen sein Geheiß bereitete, und so zog er die Stirne sehr kraus und sagte, obwohl die Augen dazu lachten, in verletztem, mürrischem Ton: »Schön! Zwingen kann ich dich ja nicht. Setze also deinen Kopf durch, aber wenn daraus Unheil entsteht, so trägst du die Verantwortung . . .«
»Onkel Graff, wir werden miteinander siegen oder sterben!« rief Marcel übermütig. »Welch schöneres Ende konnte ich mir wünschen, und wie prächtig werden wir uns in den Vermischten Nachrichten ausnehmen!«
»Das ginge mir gerade ab!«
»Und welche Vorsichtsmaßregeln wirst du denn treffen, um nicht von dem Löwen Volkswut aufgefressen zu werden?«
»Gar keine! Ich bin überzeugt, daß wir durch Waffengewalt nicht weit kämen, und habe die Behörde dringend ersucht, ja keine Truppen aufzubieten . . . sie wollten uns nämlich Dragoner schicken. Warum nicht gar Artillerie?«
»Und wer sind denn die Abgesandten, mit denen wir verhandeln müssen?«
»Es sind ihrer acht; Anführer und Sprecher ist der berühmte Balestrier.«
»Ein aufgeweckter Bursche, nur hat er mehr Bücher gelesen, als er verdauen konnte. Nationalökonomie vom Biertisch,«
Die anderen sind schlichte Leute, denen die Genossen von Troyes die Köpfe verdreht haben und die, wie ich fürchte, um so rüpelhafter auftreten werden, als sie eigentlich von Natur friedlich sind. Man stürzt sich dann in eine Rolle und trägt um so stärker auf . . .«
»Nun, wir werden ja sehen, wie sie sich anstellen!«
Marcel zog den Onkel zum Tisch in seinem Laboratorium und wies auf eine bauchige Glasflasche von mäßiger Größe.
»Siehst du die Flasche dort, Onkel Graff? Mit einem brennenden Streichholz und ihrem Inhalt könnte ich die Aufwiegler in einer Sekunde in die Luft sprengen!«
»Das ist also das berühmte Pulver?«
»Ja. das ist's!«
»Zeig mir's doch.«
Marcel nahm das Glas, entkorkte es und ließ die kleinen braunen Körner, die es enthielt, in seine Hand rinnen. Ein starker Kampfergeruch verbreitete sich im Zimmer.
»Das ist das Schießpulver für Kriegszwecke. Es ist hier lamellengeformt, kann aber auch in Täfelchen hergestellt werden, die dann ungefähr aussehen wie Hosenknöpfe ohne Loch. Diese längliche Form ist besser für das Laden größerer Geschosse, die Täfelchen dagegen eignen sich mehr für die Füllung von Patronen. In nicht gepreßtem Zustand brennt es ab wie armenisches Papier ohne Rauch und mit einem Geruch nach Sandelholz. Soll ich dir's zeigen?«
»Nein, nein!« rief der Onkel Graff mit Überzeugung. »Es ist mir überhaupt gar nicht wohl dabei, wenn du das Zeug so in die Hand nimmst, man weiß ja nie . . . es kann losgehen, wenn man's am wenigsten erwartet.«
»Das ist rein unmöglich! Du kannst es in die Rocktasche stecken . . . der Kampfergeruch würde im Sommer vor den Motten schützen, dafür ließe sich's auch verwerten,« versicherte Marcel lachend, aber der Onkel ließ sich nicht vollständig beruhigen und bat ihn, sein Pulver wieder ins Glas und dieses an seinen Platz zu thun.
»Und die Sprengmasse für industrielle Zwecke?«
»Davon habe ich gegenwärtig keine Probe vorrätig, aber das Rezept liegt fix und fertig dort in der Schublade meines Schreibtischs . . .«
»Und damit läßt sich Trémonts Entdeckung verwerten?«
»Ja, vorausgesetzt, daß man weiß, wie man's anzugreifen hat. Die Herstellungsweise ist mein Geheimnis, das ich nicht preisgeben werde, ehe man thatsächlich an die Fabrikation geht. Die dazu nötigen Materialien und das Verhältnis der Zusammensetzung sind aber genau angegeben.«
Marcel zog die Schublade auf und entnahm ihr ein Blatt Papier, das die Aufschrift: Formel des Pulvers Nummer 1 trug, darunter mehrere Linien abgekürzter Wörter und Zahlen. Er bot dem Onkel das Blatt hin, dieser nahm es aber nicht.
»Laß es in dieser Schublade,« sagte er. »Augenblicklich kann ich nichts damit machen, gib mir's lieber heute abend nach der Verhandlung. Ich werde dann deinem Vater schreiben und ihm das Blatt zuschicken.«
»Wie du willst.«
Marcel legte das Blatt an seinen vorigen Platz und verschloß die Schublade.
»Ich gehe jetzt zu Cardez,« sagte Graff. »Wenn du mir etwas zu sagen haben solltest, triffst du mich dort.«
Als Marcel allein war, ging er ein paarmal im Zimmer auf und ab und trat dann ans offene Fenster, um auf den unmittelbar darunter liegenden Fluß zu blicken. Ein Fischer hatte sein Boot mitten in der Strömung festgelegt und streute ringsum weichgekochte Getreidekörner ins Wasser. Ein großer Strohhut bedeckte den Kopf des Mannes, der seinen grauen Rock über den Rücken gehängt hatte. Er schien Marcel nicht einmal zu bemerken, stopfte sich seine Pfeife, steckte sie an, setzte sich ins Hinterteil seines flachen Nachens und fing an, die Angel auszuwerfen, woran er ein paar Würmer befestigt hatte. Nach ganz kurze Zeit schon fühlte er einen Ruck an der Schnur, worauf er sie rasch hereinzog und ein stattlicher Weißfisch mit silberglitzerndem Bauch ins Boot fiel. Marcel fand Gefallen am Zusehen und setzte sich auf den Fenstersims, wo er eine gute Viertelstunde lang den überaus ergiebigen Fischfang beobachtete. Dann ging die Thüre auf und Baudoin trat mit sehr verstimmtem Gesicht herein.
»Beim Pförtner ist jemand, der Sie sprechen will, Herr Marcel,« meldete er in einem Ton und mit einer Miene, als ob er seinen Auftrag bedeutend lieber nicht ausgerichtet haben würde.
»Wer denn?«
Baudoin schnitt ein Gesicht.
»Ein Frauenzimmer. Wird eine Kammerjungfer sein.«
Marcel sprang auf; sein erster Gedanke war, es werde Milona sein und Frau von Vignola sei am Ende etwas zugestoßen. Verdrießlich sah Baudoin dem eilends Hinausstürmenden nach.
»Wie er rennt! Ja, die hat ihn fest im Bann, diese Person! Und diese Jungfer! Die helle Zigeunerin! Eine faule Bande!«
Marcel traf vor der Pförtnerwohnung richtig Milona. Sie hastig beiseite ziehend, fragte er: »Ihrer Dame ist doch nichts zugestoßen?«
»Nein, sonst wäre ich nicht hier,« versetzte Milona ruhig lächelnd. »Aber meine Herrin ist in Sorge um Sie. Heute nacht hat sie wüstes, drohendes Geschrei gehört und Fackelschein gesehen. Sie weiß aus Erfahrung, was solche Dinge bedeuten und was verrückt gewordenes Volk anrichten kann. Sie will Sie sprechen, von Ihnen selbst hören, was diese Unruhen zu bedeuten haben. Sie müssen sie beruhigen . . .«
»Darf ich sie jetzt besuchen, Milona?«
»Sie werden erwartet.«
Marcel beherrschte seine Freude kaum.
»Gehen Sie rasch voran! Ich kann nicht wohl mit Ihnen durch den Ort wandern. In ein paar Minuten komme ich nach. Melden Sie mich bei Ihrer Herrin,«
Milona verbeugte sich mit einer gewissen stolzen Unterwürfigkeit und setzte mit einem beinahe zärtlichen Blick auf den jungen Mann hinzu: »Zögern Sie nicht lange! Sie ist nur heiter, wenn Sie da sind!«
»O Milona!« flüsterte Marcel freudebebend, »Was hat sie Ihnen anvertraut?«
»Nichts! Und wenn sie mir etwas anvertraut hätte, würde ich's nicht verraten. Aber ich sehe sie ja, sehe sie allein und sehe sie mit Ihnen . . . ganz verwandelt ist sie dann! Kommen Sie bald! Sie hat geweint heute früh.«
Ihm zunickend, preßte Milona den Finger an die Lippen und entfernte sich rasch. Mit wild pochendem Herzen sah ihr Marcel nach. Vor seinen Augen tanzten Feuerfunken; Streik, Arbeiter, der Onkel und seine schönen Vorsätze, alles war vergessen. Nur die blonde Frau, die in der Villa seiner wartete, stand vor seiner Seele und mit allen Kräften der Jugend und Liebe drängte es ihn zu ihr.