Georges Ohnet
Die lichtscheue Dame – Zweiter Band
Georges Ohnet

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Achtes Kapitel.

Baudoin war eben mit Reinmachen in Marcels Laboratorium fertig geworden, als er seinen Namen rufen hörte. Er trat ans Fenster und erblickte den Pförtner der Fabrik, der mit der Mütze in der Hand respektvoll die Meldung machte: »Herr Baudoin, vor dem Thor ist ein Mann, der Sie sprechen möchte.«

»Gut, ich komme gleich.«

Es war drei Uhr nachmittags, Marcel war wieder dem Wald zugegangen und Baudoin Herr im Hause. Er brachte die Möbel vollends in Ordnung, legte seine Schürze ab und ging in den Hof. Am Eingang zur Fabrik angelangt, sah er vor dem Thor einen Mann mit ungepflegtem, rotem Kinnbart auf und ab gehen, der einen Arbeiterkittel und grobes Schuhwerk trug, und der Pförtner sagte ziemlich verächtlich: »Dort ist der Mensch, der nach Ihnen gefragt hat.«

Im selben Augenblick hatte sich auch der Mann umgedreht und kam nun mit freundlicher Miene und ausgestreckter Hand auf Baudoin zu, der dem ihm gänzlich Unbekannten verwundert entgegensah, ohne sich irgendwie auf dieses Gesicht besinnen zu können.

»Wer zum Kuckuck mag denn das sein?« überlegte er. »Der muß sich geirrt haben!«

Aber schon sagte der Rotbart: »Guten Tag, Herr Baudoin!« und jetzt erkannte dieser seinen Freund Laforêt.

Er faßte ihn unterm Arm und zog ihn längs der Fabrikmauer auf der Straße weiter, bis er sicher war, von niemand gehört zu werden.

»Endlich! Da wären Sie ja!« sagte Baudoin vergnügt. »Aber wie Sie sich hergerichtet haben! Ich habe Sie erst am Sprechen erkannt.«

»Halten wir uns nicht in freier Luft auf. Es thut nicht gut, wenn wir zusammen gesehen werden. Gibt's hier nicht ein Wirtshaus, wo wir uns ungestört und allein sprechen könnten?«

»Wir wollen in den ›Goldenen Löwen‹ gehen,« entschied Baudoin. »Der Wirt kennt mich und wird uns ein Stübchen anweisen, wo niemand hinein kommt. Er ist ein alter Soldat, auf den man sich verlassen kann.«

»Gut! Gehen wir dahin.«

Bei einer Flasche Bier begannen die beiden Männer ihre vertrauliche Erörterung.

»Es war hohe Zeit, daß Sie kamen,« sagte Baudoin. »Hier geht etwas vor. Herr Marcel führt kein Einsiedlerleben mehr. Zwei Fremde, angeblich Bruder und Schwester, die unter sich italienisch reden, sind hier eingetroffen und haben gleich in der ersten Woche Mittel und Wege gefunden, mit meinem jungen Herrn anzubändeln.«

»Was für eine Sorte von Frau?«

»Wenn mich nicht alles täuscht, eine abgefeimte, ganz die Sorte, wie sie meinen armen General an der Nase herumgeführt hat.«

»Und der Mann?«

»Unbekannt. Eleganter Bengel, nennt sich Graf. Höchst wahrscheinlich ein Schwindler. Hübsches Kerlchen, habe ihn zwar nur von weitem gesehen.«

»Und die Schwester?«

»Wunderschön! Blond, Madonnenscheitel, man würde sie ohne Beichte zum Abendmahl lassen! Ganz in Krepp, tiefbetrübte Witwe . . . was die nur hier vorhaben mag?«

»Das werden wir hoffentlich bald herausbringen.«

»Ja, sehen Sie, das kann ich eben nicht, weil man mich kennt. Sobald ich mich nur rühre, ist's, als ob man den Leuten sagte: ›Achtung! Man lauert euch auf‹ und dann kehren sie den Stiel um und alles ist aus. Schon meine Rekognoszierung ihres Hauses und der nächsten Umgebung war höchst gewagt und ein zweites Mal könnte ich nicht hinausgehen. Wenn mich Herr Marcel erwischen und zur Rede stellen sollte, was könnte ich ihm antworten? Wenn ich ihn warne und ihm die Augen öffne für das, was um ihn vorgeht, so heißt das der Sache ein verfrühtes Ende machen, denn nur wenn die Intrigue ihren Verlauf nimmt, können wir hoffen, die Banditen zu fassen. Und ihn nicht warnen, heißt ihn großer Gefahr preisgeben! Das alles geht mir seit ein paar Tagen im Kopf herum, und je mehr ich mich besinne, desto weniger weiß ich, was ich thun soll, deshalb konnte ich Ihre Ankunft kaum erwarten. Sie werden mir zu allererst einen Rat geben und dann Mittel ersinnen, um Herrn Marcel zu verteidigen, wenn er bedroht wird.«

»Verfahren wir der Reihe nach. Wo liegt das Haus, das die Fremden bewohnen?«

»Das ist leicht zu finden; es ist eine kleine Villa, Schweizerhaus nennt man sie hier, die halbwegs zwischen Ars und dem Wald auf der Höhe liegt. Man kann sie gar nicht verfehlen, denn es ist das einzige Haus in der Gegend.«

»Gut, von morgen werde ich vor dem Thore postiert sein.«

»Und in welcher Eigenschaft?«

»Das lassen Sie meine Sorge sein. Sie sollen sehen, wie man Leute überwacht, ohne daß es den Anschein hat.«

»Aber ringsum ist auf einen Kilometer Entfernung keine andere Wohnung!«

»Das hindert mich nicht. Wie lebt denn die Dame?«

»Sehr zurückgezogen. Sie geht nur im Wald spazieren, anfangs allein, dann mit ihrem Bruder, jetzt mit meinem Herrn.«

»Es ist also schon angeheizt?«

»Es brennt lichterloh!«

»Gut!«

»Und was meinen Sie, daß wegen Herrn Marcels geschehen soll?«

»Nichts.«

»Ich soll ihn nicht warnen?«

»Auf keinen Fall! Wo ist denn Gefahr für ihn, wenn ich draußen und wenn Sie im Haus aufpassen? Ihm nach dem Leben zu trachten, hat ja niemand Grund. Wenn man, wie es höchst wahrscheinlich ist, die übliche List angewendet hat, ihn durch eine hübsche Frau zu ködern, so läuft er keine andere Gefahr, als die, sich in eine Dirne zu verlieben. Sollte ihm das zum erstenmal passieren? Das glauben Sie selbst nicht und ich noch viel weniger. Am Süßholzraspeln mit der traurigen Witwe stirbt er nicht und wir haben unterdessen Zeit, Schlingen zu legen, worin wir, will's Gott, das Gesindel fangen. Sie sind sicher, daß es nicht dasselbe Frauenzimmer ist, das in Vanves mitspielte?«

»Sie hat weder die nämliche Stimme, noch die nämliche Aussprache, aber wie kann man bei derart geriebenen Gaunern irgend etwas gewiß wissen? Was den Mann betrifft, da kann ich mein Wort darauf geben, daß er's nicht ist, denn den in Vanves habe ich wirklich gesehen. Er war wenigstens einen Kopf größer als das italienische Gigerl und sprach ganz eigentümlich, . . . Ach, den, der meinen General erschlagen hat, den würde ich auf der Stelle erkennen Wenn mir der je unter die Hände käme!«

Baudoin rollte die Augen und fuchtelte mit geballten Fäusten umher.

»Nicht so heftig,« mahnte Laforêt beschwichtigend. »In einer Sache, wie wir sie vorhaben, muß man sich beherrschen können, ruhiges Blut bewahren. Angenommen, der Mann stünde plötzlich vor Ihnen, was würden Sie thun?«

»Ihm an die Gurgel springen! Er sollte mir nicht entwischen, das schwöre ich!«

»Das wäre ein großer Unsinn! Sie dürften nicht verraten, daß Sie ihn kennen, müßten ihm folgen, seine Wohnung auskundschaften und ihn genau beobachten, um womöglich auch seine Mitschuldigen zu fassen. Ich muß Sie wirklich bitten, mein lieber Baudoin, sich das von vorne herein klarzumachen, denn wenn wir Gefühlsjustiz treiben, richten wir nichts aus.«

Baudoin seufzte.

»Ja, ja, Sie werden wohl recht haben, aber sauer würde mir's, dem Kerl nicht gleich das Fell über die Ohren zu ziehen! Aber Sie sind der Fachmann, ich muß mich unterordnen.«

»Jetzt müssen wir ein Verkehrsmittel verabreden . . . man darf uns von nun an nicht mehr beisammen sehen. Hören Sie mich an – wenn ich Sie sprechen muß, werde ich auf den linken Steinpfeiler des Fabrikthors mit Rotstift einen Tag und eine Stunde anschreiben, zum Beispiel: ›Dienstag 4.‹ Dann kommen Sie hierher und suchen mich auf. Wenn Sie mich brauchen, so schreiben Sie Ihre Bestellung ebenso auf, nur am rechten Pfeiler. Ich werde abends und morgens je einmal vorübergehen und nachsehen.«

»Abgemacht.«

»Jetzt verabschieden wir uns vorläufig. Außerhalb dieser Thüre kennen wir uns nicht mehr. Ich lasse Sie bezahlen und gehe zuerst. Glück auf und kaltes Blut!«

»Das werde ich mir wohl kaufen müssen! Vorrätig hab' ich's nicht!«

Um dieselbe Zeit ging Marcel mit Frau von Vignola im Wald spazieren. Der kleine Seidenpinscher trottelte in dem hohen Gras längs der Fußwege dahin, die so schmal waren, daß die beiden Spaziergänger sich dicht zu einander halten mußten, um nicht von den Zweigen gepeitscht zu werden, die ihr junges Grün saftstrotzend hinausleckten. Ein feuchtschwüler Hauch stieg von der Erde auf, die von der Frühlingssonne durchglüht wurde, und schweigend wandelte das junge Paar, vom Geheimnis des werdenden Lebens umwogt, von der lauen Luft umfächelt, voll inneren Genügens und träumerischer Mattigkeit den Berg hinan. Auf der Höhe des Bergrückens machten sie auf einem mit zartgrünen Eschen bestandenen Vorsprung Halt.

Das ganze weite Thal lag vor ihren Blicken, unmittelbar unter ihnen das Städtchen am Ufer des Flusses, der sich in trägem Lauf zwischen den junggrünen Wiesen durchschlängelte, an deren sammetartiger Unterlage die weidenden Kühe weiße und gelbliche Flecke bildeten. Das Ziegeldach der Fabrik, der hohe Schornstein mit seinem Helmbusch von schwarzem Rauch, die umzäunten Trockenräume, die Kirche und die willkürlich gruppierten Häuser, alles wirkte zusammen, ein anmutiges, friedliches, lachendes Bild zu geben. Die junge Frau ließ sich, mit der Spitze ihres Sonnenschirms auf die verschiedenen Punkte deutend, die Namen der Dörfer, Hügel und einzelnen Gebäude nennen, sie ergriff gleichsam unter Marcels Oberhoheit Besitz von der Gegend.

»Sie unterrichten sich so genau,« bemerkte er lächelnd, »als ob Sie sich hier anzusiedeln gedächten!«

»Das ist eine Gewohnheit von mir, ich weiß gern, wo ich bin, und will mich auskennen in meiner Umgebung,« versetzte sie. »Für mich gewinnen die Dinge erst dann Interesse und Bedeutung, wenn ich Namen und Zweck kenne. Das Eisenbahngeleise an sich ist mir vollständig gleichgültig, wenn Sie mir aber sagen, das ist die Linie, die von Troyes über Belfort zur Grenze führt, so fängt mein Geist sofort zu arbeiten an, und die genaue Vorstellung, die sich an das Geschaute knüpft, fesselt mich an die Sache selbst. Das ist allerdings gar nicht Poetenart und ich bin auch keine poetische Natur.«

»Sie scheinen mir eine hervorragende Intelligenz zu haben . . .«

»Was für eine Frau vom Übel ist, gestehen Sie es nur!«

»Daß Sie für eine Frau allerdings überraschend wenig oberflächlich sind, ist doch ein Vorzug?«

»Aber kein Reiz, das werden Sie zugeben?«

»Deren haben Sie so viele!«

»Ich wollte keine Schmeichelei herauslocken.«

»Da sie einmal ausgesprochen ist, bitte ich, sie in Gnaden anzunehmen.«

Sie sah ihn mit beinah kindlicher, jedenfalls ehrlicher Befriedigung an und sagte: »Sie sind unvernünftig und halten sich nicht an unseren Vertrag. Es war ja verabredet, daß Sie mich als guten Kameraden ansehen: nur unter dieser Voraussetzung habe ich Ihnen gestattet, mich auf meinen Spaziergängen zu begleiten und in meinem Haus aus und ein zu gehen . . . doch Sie sind eben ein Franzose, und die können im Verkehr mit Frauen das Hofmachen nicht lassen!«

»Hätte es ein Italiener etwa fertig gebracht, so lang in Ihrer Nähe zu sein, ohne Ihnen zu sagen, daß er Sie bewundert?«

»Ja, er würde es nicht sagen, wenn ich's ihm verboten hätte, um so mehr würde er es aber denken.«

»Wie können Sie das beurteilen?« rief Marcel feurig. »Halten Sie mich etwa für temperamentlos, weil ich Ihnen allzu gehorsam bin und mir höchstens eine sehr bescheidene, kühle Artigkeit gestatte? Schließen Sie aus meinen Worten nicht auf meine Gefühle . . . die sind grundverschieden voneinander . . .«

»Sie kennen mich erst seit acht Tagen . . .«

»Genügt das nicht, um für immer zu lieben?«

»Für immer! Das heißt eine große Verpflichtung rasch auf sich nehmen.«

»Eine Verpflichtung, die so leicht zu halten ist, kann ohne Bedenken auf sich nehmen, wer Sie gesehen und kennengelernt hat.«

»Namentlich, da sie keine Folgen haben wird, denn ich muß bald abreisen, weit fort . . .«

»Und wer zwingt Sie, Entschlüsse auszuführen, die in den ersten Stunden der Trauer und Vereinsamung gefaßt wurden? Ist es weise, in einer augenblicklichen Stimmung über sein Leben zu entscheiden . . . in Ihrem Alter, wenn die Zukunft so viele Entschädigungen in Bereitschaft hält? Mit siebenundzwanzig Jahren alles verloren glauben, weil das Schicksal Ihnen einen Gatten geraubt hat, der Ihr Vater hätte sein können? Ihr Leben hat noch kaum angefangen und Sie denken schon daran, nicht mehr zu leben!«

»Alles, was Sie mir da sagen, hat mir mein Bruder auch wieder und wieder vorgehalten! Es scheint ja der bräuchliche Verlauf der Dinge zu sein, daß auf eine verdorrte Liebe eine neue folgt! Aber wie erbärmlich ist es nicht, sich diesem gesellschaftlichen Uebereinkommen zu fügen und sich vom Schicksal willenlos hin und her werfen zu lassen! Ein Herz läßt sich denn doch nicht ausfegen wie eine Wohnung, um neue Mieter aufzunehmen; wer es bewohnt hat, läßt darin Erinnerungen zurück, die sich nicht so schnell verwischen! Und ist es für eine feinfühlende Seele nicht eine gewisse Entweihung, etwas Neues in sich eindringen zu lassen, wenn sie für immer abgeschlossen zu haben glaubte?«

»Ich halte Ihnen Ihre eigenen Worte von vorhin entgegen: ›Für immer! Das heißt eine große Verpflichtung rasch auf sich nehmen . . .‹ Sind Sie so sicher, ihr nachkommen zu können? Lassen Sie dem Leben sein Recht. Die Zeit schreitet fort, bewegt und modelt um, ohne sich um unsere Vorsätze zu kümmern. Sie gibt nicht Rechenschaft über ihre unwiderstehliche Einwirkung und wird Ihnen beweisen, daß auf dieser Welt nichts unveränderlich ist, auch nicht der echteste Schmerz.«

Frau von Vignola verharrte eine gute Weile gesenkten Hauptes in Schweigen, wodurch ihr Begleiter Muße gewann, sie nach Herzenslust zu betrachten. Er bewunderte die anmutigen Linien ihrer biegsamen Gestalt, die reizende Wölbung der Schultern unter dem enganliegenden einfachen schwarzen Kleid, die jugendliche Reinheit des entzückenden Gesichts mit dem Ausdruck leisen Staunens. Man hätte der Frau wirklich nicht mehr als zwanzig Jahre zugetraut. Ein feiner Flaum bedeckte sammetig die Wangen, wie bei einer reifen, saftigen Frucht, die verlockend schimmert.

»Und wenn ich Ihnen Gehör schenkte,« begann sie endlich, tief aufatmend, »mich von Ihren lebhaften Beteuerungen bestimmen ließe, wie viel Schmerzen würde ich mir dann erst für die Zukunft bereiten? Sie gehören nicht sich allein an, sind nicht unabhängig wie ich, die ich nur noch einen Bruder habe, der die Nachsicht und Gefügigkeit selbst ist. Sie haben eine Familie, die Sie zurückrufen wird; Sie werden diese Gegend verlassen und wohin gehen Sie dann?«

»Ich werde nach Paris zurückkehren, wo ich in der Regel meine Zeit vertrödle, und was hindert Sie, auch dort zu leben? Sie haben Güter, Geschäfte in Italien? Die wird Ihnen der Bruder abnehmen, dann ist Ihre einzige Aufgabe die, glücklich zu sein!«

»Paris ängstigt mich: sein unruhiges Getriebe hat für mich etwas Beklemmendes, wie die Brandung des Meeres. Ein ruhiges Leben kann ich mir dort nicht vorstellen.«

»Wie Sie sich täuschen! Die Unruhe von Paris ist nur Schein; nur an der Oberfläche ist das Leben bewegt. Gerade wie beim Meer, das Sie als Bild anführen, herrschen unter der Oberfläche Stille und Ruhe, die Stürme, die den Meeresspiegel trüben, dringen nicht hinunter. Es gibt in der Riesenstadt stille Winkelchen, in Grün versteckt, voll Sonnenschein und Blumen, wo die Zeit langsam und friedlich verstreicht. So eines würde man mit zärtlicher Sorgfalt für Sie ausfindig machen, und Sie würden darin Tage ohne Traurigkeit und ohne Hast kennen lernen. Fern vom Lärm und doch der Anregung nah brauchten Sie nur einen Schritt zu machen, um teil zu haben an allen höchsten Genüssen des Geschmacks und Geistes, und Sie würden kennen lernen, was das Köstlichste im Leben ist, ein durch zarte, echte Liebe verschöntes stilles Heim.«

»Das ist ein sehr verlockendes Bild und Sie scheinen mir ein geschickter Regisseur zu sein – sind Sie auch einigermaßen Hexenmeister? Besitzen Sie einen Zauberstab, um derart Schicksale gestalten zu können? Sie verwenden Kulissen und lassen Personen auftreten, wie es Ihnen beliebt, aber könnten Sie Ihr Programm auch verwirklichen, wenn man Ihnen Gehör schenken wollte? Sind Sie frei? Sie scheinen mir nicht mit der Wirklichkeit zu rechnen . . . was würde Ihre Familie, was würden Ihre Freunde . . .«

»Die würden ohne Zweifel damit einverstanden sein! Wenn Sie wüßten, wie lieb mich die Meinigen haben, wie sie alles mit Freude begrüßen würden, was ihnen den Beweis lieferte, daß ich mich gefaßt habe und vernünftig geworden bin! Mein Vater ist trotz einer etwas rauhen Außenseite der gütigste Mensch von der Welt, nur aus Liebe zu mir, aus Angst um meine Zukunft kann er über meine dummen Streiche aufbrausen. Auch an den Tagen der Mißverständnisse ist nie ein selbstsüchtiges Wort über seine Lippen gekommen. Er opfert seine eigenen Wünsche, ja selbst seine Ruhe dem Vorteil des Sohnes, und nur wenn er sah, daß ein Leichtsinn, den er für schädlich hielt, eine Abschweifung vom guten Weg, mir selbst zum Unheil gedeihen könnte, ist er aufgebraust gegen mich. Er liebt mich ausschließlich, und wenn er mein Glück unter ehrenhaften Bedingungen gesichert wüßte, würde er ohne Zögern das seinige opfern. Was meine Mutter betrifft, so ist sie Pflichtgefühl, Tugend, Güte in Person . . .«

Frau von Vignola verzog den Mund und sagte mit plötzlicher Herbheit, als ob diese Lobpreisungen ihr zu viel geworden wären: »Bewundernswerte Gefühle! Sie müssen wirklich kein guter Sohn sein, um mit solchen Eltern auch nur vorübergehend in Widerspruch zu geraten!«

»Ein schlechter Sohn bin ich nicht,« versetzte Marcel lächelnd, »aber ein vernünftiger Mensch war ich bisher nicht immer.«

»Und woran gebrach es Ihnen dazu?«

»An einer echten, ernsten Liebe.«

Sie drohte ihm lächelnd mit dem Finger und sagte: »Ich fürchte, Sie bieten mir einen lockeren Vogel an!«

»Beurteilen Sie mich nicht falsch, weil ich unverblümt über mich spreche, das wäre weder wohlwollend, noch gerecht. Sie würden sich da wirklich einen falschen Begriff von mir machen, das darf ich ehrlich sagen.«

»Also gut, Sie sind ein verkappter Tugendspiegel,« sagte sie leichthin.

»Jetzt spotten Sie! Welch einen beweglichen Geist Sie haben, und wie soll man da hoffen, Sie ernstlich von etwas zu überzeugen?«

»Ja, mein lieber junger Freund, haben Sie denn wirklich geglaubt, man könne mich so mir nichts dir nichts mit ein paar schönen Worten umstimmen? Die biegsame Natur, wofür Sie mich zu halten scheinen, bin ich eben nicht! Oder haben Sie vielleicht angenommen, daß die Frühlingslüfte, die reizende Landschaft, meine unbeschäftigte Einsamkeit, die stillen langen Abende vereint mit dem Zauber Ihrer Persönlichkeit mich Ihnen widerstandslos ausliefern würden? Sie haben's ein wenig eilig . . . doch meine Trauer läßt sich nicht so geschwind verscheuchen. Nun, Sie brauchen deshalb noch kein so verzweifeltes Gesicht zu machen, ich rede ja wahrhaftig sehr gelind mit Ihnen und brauche keine Strenge. Ich könnte ganz wohl die Beleidigte spielen, denn schließlich bieten Sie mir Ihr Herz ja mit gänzlicher Abwesenheit von Vorsichtsmaßregeln . . . nicht wahr, in dieser weltverlorenen Einsamkeit fühlt man sich der Natur näher? Es liegt einem nahe, auf ursprüngliche Sitten zurückzukommen und die Dinge beim Namen zu nennen, ohne sich mit Formen und Bräuchen aufzuhalten. Erschrecken Sie nur nicht . . . Sie sind schon begnadigt, ehe Sie darum bitten, aber unter der Bedingung, daß Sie nicht weiter sündigen!«

Verblüfft lauschte Marcel der spöttischen Zungenfertigkeit der jungen Frau. – War das die schmachtende traurige Witwe, die mit von Schluchzen erstickter Stimme zärtliche Lieder sang? Jetzt sprühte Bosheit um ihre Mundwinkel und verlangende Blicke straften die abwehrenden Worte Lügen. Es lag eine so aufreizende Mischung von Wohlanständigkeit und kecker Schelmerei, von Sittsamkeit und Sinnlichkeit in ihrem ganzen Gebahren, daß Marcel nicht mehr wußte, was er denken sollte. Er hörte den roten Mund strenge Worte sprechen, und dabei tauchten sich die Augen mit immer geneigterem Blick in die seinigen: er fürchtete sie zu erzürnen, wenn er ihr ferner von Liebe sprach, und doch trieb ihn eine geheime Ahnung, sie in die Arme zu nehmen und diese allzu verständigen Lippen mit Küssen zu verschließen.

Die Kirchenglocken von Ars, die das Angelus läuteten, unterbrachen und veränderten seinen Gedankengang.

»Schon sechs Uhr!« rief die junge Frau erschrocken, »Wie die Zeit vergeht! Daheim wird man ja nicht wissen, was aus mir geworden ist.«

»Sie sind ja allein!«

»Rechnen Sie meine Dienerin für nichts?«

»Ach, die merkwürdige schwarze Hexe, die Sie Milo nennen?«

»Sagen Sie nichts gegen das Mädchen! Sie gefallen ihr!«

»Eine hohe Gunst!«

»Die durchaus nicht jedem zu teil wird, auch wenn er danach trachtet. So oft Sie kommen, lächelt sie, gerade wie mein Hündchen, das Sie immer leckt . . . es ist durchaus nicht so liebenswürdig gegen andere Besuche.«

»Ich bezaubere also die Jungfer und den Hund, nur die Herrin verschmäht mich!«

»O . . . die Herrin gibt den Ton an, die anderen gehorchen nur.«

»Gut, ich werde also auch gehorchen.«

Sie lächelte ihm mit reizender Anmut zu, pfiff dem Hündchen, das sich ein wenig verlaufen hatte, und trat an Marcels Seite den Rückweg zur Villa an. Als sie am Gartenthor anlangten, bemerkten sie einen Mann, der auf der Landstraße Steine schichtete, die schon am Morgen auf Schiebkarren hergeschafft worden waren. Unter einem kleinen strohgeflochtenen Schutzdach sah man seine Jacke, seinen Steinschläger und eine Gesichtsmaske aus Drahtgeflecht liegen. Der Mann zog höflich die Mütze und fuhr dann, ohne sich um die Spaziergänger zu bekümmern, in seiner Arbeit fort. Frau von Vignola schien nicht erbaut zu sein von dieser Nachbarschaft: sie sah den Mann forschend an und sagte, sobald sie in den Garten getreten waren: »Was hat denn der Mensch hier vor?«

»Höchst wahrscheinlich Steine zu klopfen,« erwiderte Marcel. »Jedenfalls ein Akkordarbeiter, der einige Zeit an der Straße beschäftigt sein wird.«

»Wie lang wird er wohl vor meiner Thüre zu thun haben?«

»Vermutlich ein paar Tage.«

»Sein Gesicht gefällt mir gar nicht . . . Hat man nichts zu fürchten von Leuten dieser Art?«

»Nicht das geringste bis auf den Lärm, den sie machen. Sie werden aber im Haus schwerlich etwas davon hören,«

Frau von Vignola schien noch nicht beruhigt zu sein; sie sah entschieden verstimmt aus.

»Wenn Ihnen der arme Teufel so ungelegen kommt,« bemerkte Marcel, »will ich mich an das Straßenbauamt wenden, daß ihm eine andere Arbeitsstelle angewiesen wird. Er kann ja hundert Meter weiter oben oder unten seine Steine klopfen; eine derartige Gefälligkeit schlage ich schon heraus.«

»Lassen Sie sich ja nicht einfallen, einen solchen Schritt zu thun! Ich werde mich schon an seine Nähe gewöhnen. Wozu den Mann stören? . . . Er wird ja wohl sein Brot verdienen müssen.«

Damit bot sie Marcel lächelnd die Hand, die er eine Weile zwischen den seinigen behielt.

»Sie sind mir nicht böse?« fragte er.

»Nein.«

»Ich darf morgen wiederkommen?«

»Ich freue mich darauf.«

»Und darf ich Ihnen auch wieder sagen, daß ich Sie liebe?«

»Wenn Ihnen das so viel Freude macht . . .«

Sie verstummten beide. Die Dämmerung war angebrochen, die Gebüsche im Garten lagen schon in weichem nächtlichen Schatten. Und doch waren die beiden hier viel weniger allein, als oben im Wald, und gerade das machte sie vielleicht kühner. Marcel zog die junge Frau an der Hand, die er zärtlich drückte, zu sich heran, und sie leistete keinen Widerstand. Das Gewebe des schwarzen Kleides streifte seine Schulter, er fühlte die Wärme ihres Körpers. Jetzt hob Marcel den Blick von ihrer Gestalt zu ihrem Gesicht auf und sah, daß sie sehr blaß war und daß ihre Augen sehnsüchtig schimmerten. Ein Fieber packte ihn; sein linker Arm umschlang die schlanke Gestalt, die sich willig hingab, ein bebender Mund, dem sich ein Seufzer entrang, war dicht an seinen Lippen, er fühlte, wie sie sich an ihn lehnte, und verlor eine einzige verzehrende Sekunde lang die Vorstellung von Dingen und Menschen.

Ein Schmerzenslaut und eine widerstrebende Bewegung brachten ihn wieder zum Bewußtsein seiner selbst. Er schlug die Augen auf, die er in seliger Verzückung geschlossen gehabt hatte, und sah Anetta ins Haus entfliehen. Auf der Schwelle blieb sie stehen und sah ihn an, wie nach dem rechten Wort suchend, das sie ihm sagen wollte. Er that einen Schritt auf sie zu, aber eine flehende Gebärde hieß ihn innehalten. Die Finger an den Mund pressend, warf er der Frau, die sein ganzes Wesen beherrschte, noch einen Kuß zu und ging.

Bei seiner Rückkehr in die Fabrik harrte seiner eine unliebsame Ueberraschung. Die sonst immer offenstehenden Gitterthore waren geschlossen, auf der Straße standen Gruppen geschäftiger, eifrig schwatzender Leute, die vor ihm zur Seite wichen, um sich, wenn er vorüber war, wieder in feindseliger Weise zusammenzurotten. Jetzt erst kam ihm wieder in Sinn, was Cardez neulich von der üblen Stimmung unter den Arbeitern gesagt hatte; in seinem heißen Drang, den Widerstand in der Liebe zu überwinden, hatte er die Schwierigkeiten im Geschäft ganz vergessen, nun wurde er jählings vom Himmel auf die Erde zurückversetzt.

»Was geht denn hier vor?« fragte er, beim Pförtner eintretend. »Weshalb hat man die Thore geschlossen und was sollen diese Beratungen auf der Straße?«

»Ach, Herr Marcel, das kommt alles von dem Verdruß mit den Arbeitern. Sie haben heute um drei Uhr die Arbeit eingestellt und sind mit den Streikern von den Fabriken in Troyes in die Wirtshäuser gezogen. Die hetzen sie natürlich auf . . .«

»Es ist doch nicht zu Tätlichkeiten gekommen?«

»Nein, Herr Marcel, aber der Herr Direktor hat schon etlichemal nach Ihnen gefragt.«

»Ich suche ihn gleich auf.«

Er ging auf das Verwaltungsgebäude zu. Durch die geschlossenen Fensterläden drang ein Lichtstrahl, der ihm anzeigte, daß Cardez noch in seinem Arbeitszimmer war. Marcel trat ein und fand ihn schreibend. Beim Eintritt seines jungen Herrn erhob er sich rasch und begann, ohne eine Frage abzuwarten: »Nun, was habe ich Ihnen gesagt, Herr Baradier? Wir stehen im vollständigen Aufruhr und ohne den geringsten stichhaltigen Grund! Nur um's den Kameraden gleich zu thun, streiken sie! Was habe ich nicht an die Leute hingeredet, ihnen den Kopf zurechtsetzen wollen, ihnen ordentlich den Hof gemacht, alles vergebens. Sie sind selbst Maschinen! Die Führer heizen sie an, setzen sie in Bewegung und dann geht's drauf los! Ach, die Arbeiter! Sie haben ja solch ein warmes Herz für die Leute . . . jetzt werden Sie Ihre Erfahrungen mit ihnen machen!«

»Was für Maßregeln haben Sie getroffen?«

»Ich habe die Thüren schließen lassen, daß keiner ohne unsere Erlaubnis oder ohne Gefahr, in Strafe zu verfallen, herein kann. Jetzt warte ich das Weitere ab. Ein Arbeiterausschuß ist mir angemeldet.«

»Und unter welchem Vorwand wurde die Arbeit eingestellt?«

»Sie verlangen Abschaffung des Kehrens, Feueranzündens, billigere Lieferung der Nadeln . . .«

»Ist das berechtigt?«

»Es ist neu.«

»Aber ist es berechtigt?«

»Mein Gott! Man könnte ihnen ja unstreitig in diesen Kleinigkeiten den Willen thun, aber was werden sie dann morgen verlangen? Ihre Forderungen bilden einen ganzen Rosenkranz, den sie uns gern bis zum Ende nachbeten ließen. Wir sind jetzt am Anfang – wäre es klug, sogleich und vollständig nachzugeben?«

»Warum ihnen nicht guten Willen zeigen? Man würde uns den hoch anrechnen . . .«

»Oder ihn für Schwäche ansehen!«

»Also in Troyes ist der Streik erklärt,« fragte Marcel nach einigem Nachdenken, »und die dortigen Weber wollen unsere Leute nachziehen?«

»Ja, gestern sind sie nach Sainte-Savine gekommen, heute nach Ars. Und Spektakel haben sie gemacht! Sie müssen sehr beschäftigt gewesen sein, um den Lärm zu überhören.«

»Ich war nicht zu Hause,« sagte Marcel etwas verlegen.

»Nun, Ihre Anwesenheit würde auch nichts geändert haben an der Sache, die Kugel ist nun einmal im Rollen. Höchstens würde man Sie beschimpft haben, wie mich auch.«

»Beschimpft?« rief Marcel.

»Jawohl . . . hören Sie nur hin!«

Man hörte in der That ein Gejohle aus rauhen Kehlen und durch die Stille der Nacht erklang eine Art von Arbeitermarseillaise.

»Die verfluchten Schweinehunde,
Die von unsrem Schweiß sich mästen!
Bald schlägt ihre letzte Stunde
Und sie baumeln an den Aesten,
Wenn's ans Teufelholen geht
Und ihr um Erbarmen fleht,
Haben wir nur Hohn und Spott,
Bald geht's los, du lieber Gott!
Dann heißt's siegen oder sterben,
Um die Freiheit zu erwerben.«

Ein schriller Schrei von Weiber- und Kinderstimmen folgte auf den drohenden Kehrreim, dann ein wüstes Geheul: »Nieder mit Cardez! Nieder mit dem Direktor! An den Galgen mit ihm!«

»Hören Sie?« sagte Cardez. »An den Galgen! Ganz einfach an den Galgen! Und was habe ich den Leuten zuleide gethan? Auf der weiten Welt nichts, als daß ich Gewissenhaftigkeit in der Arbeit, Achtung vor der Ordnung verlangte. An den Galgen! Wenn sie sich einbilden, mich ins Bockshorn jagen zu können, so täuschen sie sich. Ein alter Soldat wie ich läßt sich nicht so leicht einschüchtern. Ueberdies verstehen sie sich besser aufs Schreien, als aufs Handeln, sie sind Großmäuler.«

»Haben Sie meinen Vater und meinen Onkel benachrichtigt?«

»Ich habe den Herren telephoniert. Sie sollten sich eigentlich mit der Kreisregierung in Verbindung setzen, um den gesetzlichen Schutz für die Werkstatt und die Freiheit der Arbeit zu fordern, dazu würde man aber das Militär brauchen und bei unserer hiesigen Bevölkerung könnte man nicht wissen, was dann entstünde. Wir haben tüchtige Schutzleute in Ars, allgemein bekannte und angesehene Männer, ich meine, damit sollten wir auskommen!«

»Fürchten Sie denn eigentliche Gewaltthätigkeiten?«

»Ich fürchte nichts, aber ich muß auf alles gefaßt sein. Unsere Leute hier sind, wie ich Ihnen schon sagte, mehr lärmend als bösartig, aber die Fremden, die Rädelsführer reißen sie eben mit fort.«

»Der Aufruhr ist blind und taub. Hundert Menschen zumal lassen sich nicht eines Besseren belehren, und wie soll man sich ihnen verständlich machen, wenn alle zusammen schreien?«

»Das ist's ja, worauf die Streikunternehmer rechnen! Der Tumult, die Gewaltthätigkeit. Indessen werde ich ja morgen den Arbeiterausschuß empfangen und ich hoffe immer noch, daß es möglich sein wird, ein vernünftiges Wort zu reden.«

»Ich werde Ihnen beistehen.«

»Wie Sie wollen.«

»Ist heute abend noch eine feindliche Kundgebung zu erwarten?«

»Nein, vor morgen nicht.«

»Dann will ich jetzt zu Tisch gehen. Gute Nacht!«

Baudoin erwartete seinen Herrn. Der treue Diener, dem Marcel eine gewisse Vertraulichkeit gern gestattete, ging nicht wie sonst zwischen den Gängen in die Küche, sondern machte sich immer etwas am Tisch zu schaffen. Er beobachtete seinen Herrn scharf und schien auf seinem Gesicht herausbuchstabieren zu wollen, was ihn innerlich beschäftige. Das war indes seit ein paar Tagen eine harte Arbeit, denn nie war Marcel so wenig mitteilsam gewesen wie jetzt. Sobald er allein war, lebte er in der Erinnerung die bei der schönen Italienerin verbrachten Stunden abermals durch, und so war für ihn keine unausgefüllte Minute denkbar. Er saß dann schweigsam da, aber sein Gesicht strahlte von innerer Freudigkeit und in seinem Herzen loderte ein Freudenfeuer. So geistesabwesend er auch heute war, schließlich fiel ihm der wie ein Fragezeichen aufgepflanzte Baudoin doch auf; er sah ihn einen Augenblick verwundert an und sagte dann: »Was ist denn heute abend mit Ihnen los, Baudoin? Sie scheinen ja ganz aus dem Häuschen zu sein?«

»Wäre auch kein Wunder! Herr Marcel wissen doch, daß die Arbeiter herumziehen und damit drohen, in der Fabrik werde alles kurz und klein geschlagen?«

»Nun, und da fürchten Sie sich, Baudoin?«

»Das wahrlich nicht, Herr Marcel! Wenigstens um mich ist mir's nicht angst.«

»Und um wen sonst?«

»Um den Herrn! Als ich von Paris wegging, band mir's Herr Baradier auf die Seele, gut für Herrn Marcel zu sorgen . . . wenn Ihnen etwas zustieße, könnte ich mich nicht mehr vor Herrn Baradier sehen lassen. Das ist's, was mich, wie der Herr sagte, aus dem Häuschen bringt.«

»Da kann man gar nichts thun, als abwarten, Baudoin.«

»Ich bitte den Herrn um Entschuldigung, aber es gäbe etwas viel Besseres, und das wäre, sich auf die Eisenbahn zu setzen . . .«

»Um meines Vaters Fabrik den Arbeitern preiszugeben?«

»Die Fabrik des Herrn Baradier ist gewiß wertvoll, aber der Sohn des Herrn Baradier ist es noch bedeutend mehr.«

»Sei nur ruhig, Baudoin, man wird weder mir noch der Fabrik etwas anhaben. Wir haben denn doch noch Gesetze, und die Arbeiter von Ars sind auch keine Wilden.«

»Herr Marcel, die Leute in Troyes und in Sainte-Savine sind auch keine Wilden, und trotzdem haben sie heute früh bei Herrn Tirot und Walapeyre alles kurz und klein geschlagen.«

»Dann sind diese Herren schlechte Prinzipale.«

»Es gibt keine guten und schlechten Prinzipale, es gibt eben Prinzipale! Die Gegenwart des Herrn Marcel ist hier nicht unentbehrlich und Herr Marcel sollte auf acht Tage nach Paris gehen.«

»Damit sie sagen könnten, ich hätte mich geflüchtet? Und damit der Papa Cardez, der mir so wie so nicht grün ist, sagen kann, Spielereien zu machen im Laboratorium sei ich wohl im stande, wenn sich's aber drum handle, die Fabrik zu verteidigen, sei ich nicht mehr zu sehen! Nein, nein! Der Zufall will's, daß ich gerade hier bin, und diesem Zufall füge ich mich, ja ich will sogar suchen, ihn zum allgemeinen Besten zu verwerten.«

»Dann werden Sie auch an die nötigen Vorsichtsmaßregeln denken?«

»Was für Vorsichtsmaßregeln?«

»In erster Linie immer einen guten Revolver bei sich zu tragen?«

»Das ist eine Idee! Ja, wozu sollte mir denn der nützen, mein guter Baudoin? Einer Volksmenge gegenüber könnte ich mich doch nicht verteidigen, und mit einem einzelnen oder auch zweien nehme ich's auch ohne Revolver auf!«

»Wenigstens sollten wertvolle Sachen . . . falls Herr Marcel sie hier hat . . . in Sicherheit gebracht werden.«

Herr und Diener sahen einander an. Marcel hatte begriffen, was des Generals Diener ihm damit sagen wollte, und diese Mahnung stimmte ihn ernst.

»Sie spielen auf das Pulver an, Baudoin?«

»Ja, Herr Marcel. Ich weiß, daß Sie die Rezepte besitzen, ich weiß ja, daß Sie in meines Generals Laboratorium gearbeitet haben. Ist hier nichts zu finden, was einen verwegenen Einbrecher in ihren Besitz setzen könnte?«

»Doch, Baudoin, man kann die Pulverproben, man kann sogar die Rezepte stehlen, aber das Geheimnis hat man damit immer noch nicht. Ein einziger Handgriff bei der Herstellung, den der General mir geoffenbart hat, entscheidet erst über den wirklichen Wert der Entdeckung. Das Pulver, so wie es vorhanden ist, die Rezepte, wie sie sich in meinem Schreibtisch befinden, sind keinen Einbruch wert . . .«

»Und doch ist mein Herr ihretwegen ermordet worden!«

»Nein, Baudoin, man hat ihn erschlagen, weil er nicht sagen wollte, in welchen Dosen er die Bestandteile mischte. Die Wut über diese Enttäuschung hat den Arm des Mörders geführt, er hat sich eingebildet, selbst den Erfinder spielen und die richtige Mischung herausbringen zu können. Er wollte das Geheimnis erzwingen, die Wissenschaft vergewaltigen und dabei ist er selbst getroffen worden.«

»Kann er den Versuch nicht erneuern wollen?«

»Wissen wir denn, ob er noch lebt? Aber sagen Sie mir nur, Baudoin, setzen Sie denn irgend einen noch so entfernten Zusammenhang zwischen den Unruhen, die bei uns jetzt das Oberste zu unterst kehren, und dieser Pulvergeschichte voraus?«

»Ich weiß nichts, ich setze nichts voraus, aber alles, was nicht ganz klar aussieht, flößt mir Mißtrauen ein. Es sind Ausländer unter den Arbeitern, und diese führen den Streik an . . . ein Ausländer war auch an der Pulvergeschichte beteiligt . . . mein Gott! Herr Marcel, ich bin vielleicht ein Narr . . . aber ich gäbe viel darum, Herrn Marcel in Paris zu wissen!«

»Sie sind ein Phantast, Baudoin, Sie sehen Gespenster!«

»Nun, ich sehe ja, daß Herr Marcel nicht geneigt ist, meine Warnungen zu beachten, aber wenigstens möchte ich bitten, mir den Schlüssel zum Laboratorium anzuvertrauen. Ich werde es den Tag über bewachen, bei Nacht dort schlafen . . . das wäre mir eine große Beruhigung . . .«

»Wenn dem so ist, thun Sie es, Baudoin! Holen Sie sich selbst den Schlüssel; er liegt in meinem Schlafzimmer auf dem Kaminsims. Die Beruhigung kann Ihnen werden!«

»Ich bin die Sorge darum noch lange nicht los, aber ich freue mich, daß Sie es erlauben.«

Darüber war die Mahlzeit beendigt, und Marcel ging in den Garten, um noch ein Weilchen am Fluß auf und ab zu spazieren. Der Abend war frisch; keine Wolke, kein Dunst verhüllte die blitzenden Sterne. Von Zeit zu Zeit drang Lärm aus den verschiedenen Kneipen herüber, wo die Arbeiter den Streik feierten und reichlich mit Alkohol begossen. Eine dumpfe Traurigkeit überkam Marcel, wenn er der Frauen und Kinder gedachte, die daheim in ihren armseligen Wohnungen den Vater zum Nachtessen erwarteten, während er sich, eingeschüchtert vom Hohn der Witzbolde und den Drohungen der Rädelsführer am Wirtstisch aufhielt und vom Tabaksqualm und Schnaps berauscht in den Lärm einstimmte. Was für ein Elend würde die unausbleibliche Folge dieser Arbeitseinstellung werden! Die kleinen Ersparnisse der sorglichen Hausväter mußten draufgehen, die Schulden der Unbesonnenen anwachsen. Und aus all dem Lärm und der Aufregung, die heuchlerische Volksfreunde angestiftet hatten, konnte nichts als Bitterkeit und Enttäuschung entstehen.

Indes bald schweiften seine Gedanken wieder ab von den Leiden, wofür er keine Heilung wußte, und wanderten zu der einsamen Villa am Bergabhang. Dort ging Anetta jetzt wohl auch im Garten auf und ab; er sah sie einsam und nachdenklich die schmalen Pfade durchwandeln. Ob sie wohl an ihn dachte, dem das Herz so voll war von ihr? Hatten sich ihre Seelen nicht gefunden und war der süße Kuß, den sie nicht nur geduldet, sondern zurückgegeben hatte, kein Beweis, daß sie sich ihm schenkte, wie er ihr eigen war? Es überlief ihn wonnig in der schweigenden kühlen Nacht; dann ging ihm durch den Sinn, jetzt zu ihr zu eilen, jetzt, wo sie ihn nicht erwartete. Aber was würde sie von einer solchen Hast denken? Die unerlaubte Stunde, die schutzlose Einsamkeit, worin sie sich befand, konnten ihr diesen Überfall als Beleidigung erscheinen lassen. Je schutzloser sie war, desto mehr Rücksicht und Achtung war er ihr ja schuldig. O, sie liebte ihn, er fühlte es wohl, und eine Übereilung konnte das süße Glück in Frage stellen, das ihm die Zukunft verhieß.

So wollte Marcel in aufrichtiger Liebe die Frau schonen, die ihm die verhängnisvolle Schlinge gelegt hatte, worin er schon rettungslos gefangen war! Wenn er ungesehen in das Schweizerhaus hätte eindringen und in der Tarnkappe ihr Wohnzimmer hätte betreten können, würde er überraschende Dinge gehört haben! Sophia und ihre dalmatinische Dienerin tauschten ihre Gedanken aus, während der unheimliche Hans, mit der Pfeife im Mund rittlings auf einem Stuhl sitzend, dem Gespräch höhnisch zuhörte.

»Und was werden Sie mit dem armen Jungen anfangen, wenn Sie herausgebracht haben, was Sie von ihm wissen wollen?«

»Sei ganz ruhig; der wird mir keine Ungelegenheiten bereiten! Er ist ein guter, sanfter Mensch, der meine Abreise still beweinen wird. Übrigens ist er noch nicht auf dem Punkt, wo ich ihn haben will.«

»Noch nicht auf dem Punkt der Weißglühhitze, wie wir Chemiker sagen würden,« fiel Hans mit rohem Lachen ein. »Wir wissen ungefähr, was das bei Ihrer Behandlungsweise heißen will, Sophia! Das war für den jungen Zypiatin der Moment, wo er toll genug war, den Plan für den Aufmarsch der Truppen an der afghanischen Grenze auszuliefern, für den armen Steinheim die Stunde, wo er im Kriegsministerium den Plan für die Verteidigung der Herzegowina stahl, für unseren schönen Freund Cesare Agostini . . .«

»Sprechen Sie nicht über Cesare,« unterbrach die junge Frau stirnrunzelnd.

»Und warum denn nicht? Der Streich, den er ausgeführt hat, gehört zum schönsten, was man machen kann, und wenn er je auf den Einfall käme, wieder über die italienische Grenze zu gehen, so stehe ich dafür gut, daß er in der unbekanntesten, unzugänglichsten und düstersten Festung Sardiniens verfaulen dürfte, denn ihn vor Gericht zu stellen, würde man nicht riskieren, auch nicht bei verschlossenen Thüren . . . er weiß ein wenig zu viel! Der kleine blonde Lothringer, den Sie sich jetzt zurichten, ist allerdings ein Osterlamm im Vergleich zu den Gesellen, die Sie bisher, ohne mit der Wimper zu zucken, ans Messer lieferten, aber nehmen Sie sich nur in acht dabei, Sophia! Ich kenne Sie genau und finde, daß Sie gegenwärtig nicht in der richtigen Verfassung sind . . . ich bemerke Anwandlungen von Schweigsamkeit, Träumerei, Zerstreutheit, und das weissagt mir nichts Gutes. Sollten Sie etwa im Begriff stehen, eine Dummheit zu machen, Sophia?«

Sophia fuhr zusammen. Sie heftete den klaren, scharfen Blick auf Hans und sagte barsch: »Was wollen Sie damit behaupten?«

»Aha! Die Bemerkung ärgert Sie . . . nimmt mich nicht wunder. Sie sind eine viel zu gescheite Person, um über sich selbst lang im unklaren zu sein, und Sie müssen sich ja Rechenschaft darüber geben, daß Ihr Gemütszustand nicht normal ist. Neulich haben Sie mir erklärt, daß dem jungen Baradier kein Haar gekrümmt werden dürfe, und zwar auf eine Art und Weise, die mir zu denken gab, und als ich Sie diesen Abend nach Haus kommen sah, waren Sie in einer schmachtenden Stimmung, die an einer praktischen Frau wie Sie einfach unnatürlich ist. Gewöhnlich, wenn Sie eine Rolle spielen, nehmen Sie, sobald Sie von der Bühne abtreten, Ihre eigenen Gedanken, Ihren wahren Gesichtsausdruck, Ihre ursprüngliche Redeweise sofort wieder auf, es ist immer, als ob Sie eine Maske ablegten und zu sich selbst zurückkehrten, diesmal aber vergessen Sie das, Sie bleiben in der Rolle, Sie unterliegen fremdem Einfluß, kurz und gut, Sie scheinen mir auf dem besten Weg, sich in den jungen Menschen zu verlieben!«

»Ich!« rief Sophia zornig.

»Ja, Sie, Sophia, Baronin Grodsko, sogenannte Frau von Vignola, und Sie werden mir zugeben, daß diese Verliebtheit eine große Dummheit wäre!«

»Sie sind verrückt, Hans!«

»Wäre mir sehr lieb, wenn ich mich täuschte, aber ich habe eine verflucht feine Nase! Hören Sie mich ruhig an, Sophia! Seine kleinen Schwächen hat ja jeder Mensch, und ich würde mich gar nicht wundern, wenn Ihnen das Bürschlein gefiele. Wenn Sie aber den Gedanken hätten, ihn an sich zu ketten, da würde ich mich sehr verwundern, denn ich könnte mir nichts Gefährlicheres vorstellen, sowohl für ihn, als auch für uns und namentlich für Sie selbst. Wenn Sie ein Gelüste nach ihm haben, nun wohl, der Augenblick ist günstig, die Villa abgelegen und mir wäre es gar nicht unlieb, wenn Sie den jungen Mann möglichst von der Fabrik fernhielten . . . aber nur keine Leidenschaft, nicht wahr? Eine Liebschaft . . . gerade so lang, als wir Zeit zur Ausführung unserer Pläne brauchen, gerade lang genug, um sein Vertrauen zu erschleichen und sich selbst eine gute Stunde zu bereiten, und dann . . . kehrt! So sehe ich wenigstens die Sache an!«

»Und genau so sehe ich sie auch an,« versetzte Sophia kalt und abweisend.

»Dann ist ja alles gut! Wenn Sie vernünftig sind, haben wir nichts zu fürchten und alles zu hoffen. Hast du wohl zugehört, Milo? Wenn deine Herrin einmal wieder Anwandlungen von Sentimentalität zeigen sollte, so ist's an dir, sie an ihre Pflichten zu mahnen!«

»An mir ist es, ihr zu gehorchen,« versetzte Milona mit finsterem Blick, »und nicht ihr zu befehlen. Was Sie betrifft, so unterstehen Sie sich nicht, mir je einen Befehl zu geben!«

»Und warum nicht, junge Wildkatze?«

»Weil ein Mädchen wie ich wohl seine Freiheit aufgibt, um jemand zu folgen, den sie liebt, aber niemals dem dienstbar wird, den sie verabscheut.«

»Das heißt ungefähr, daß wir beide nicht gut Freund seien?« spottete Hans hämisch lachend. »Das kannst du halten, wie du willst, Kleine. Ich will mir deine Neigung nicht erzwingen!«

Milona zuckte die Achseln, maß den Mann von oben bis unten mit einem verächtlichen Blick, brummte ein paar Worte in einer fremden, rauhklingenden Sprache vor sich hin und ging hinaus.

»Was hat sie denn gesagt in ihrem verdammten Neugriechisch?«

»Sie sagte: ›Möge dich das Fieber verzehren, Sohn der Wölfin, und du daran verbrennen, ohne daß man dir einen Trunk Wasser reicht.‹«

»Schönen Dank für den frommen Wunsch. Mein Stock wird noch einmal auf deinem Rücken tanzen, du holdes Kind!«

»Lassen Sie sich so etwas nicht einfallen! Milo würde mit Dolchstichen antworten.«

»Eine angenehme Gewohnheit! Aber Sie wissen ja, daß ich mich so leicht nicht fürchte, und wenn diese Wildkatze bissig wird, will ich sie schon zahm machen. Doch reden wir von ernsteren Dingen! Haben Sie Nachricht von Cesare?«

»Er ist von London zurück und schreibt mir, daß die Geldgeschäfte gut stünden. Unsere englischen Freunde sind bekanntlich praktische Leute. Sie haben ein Kapital von fünfzig Millionen aufgebracht und verlangen nun mindestens eine Welt für ihr Geld. Und sie werden sie erhalten, und wenn sie hunderttausend Menschen darum erwürgen müßten!«

»Gewiß, wenn man seine Berechnungen auf die Dummheit und Leichtgläubigkeit der Menschen stützt, geht man nie fehl. Das ist's, was Finanzgeschäfte im ganzen so langweilig macht.«

»Ihnen flößt im Grund nur die Gewalt Achtung ein! Sie haben ganz die Natur zu einem Condottiere aus dem sechzehnten Jahrhundert und haben sich nur verirrt in unsere schwächliche, elende Gesellschaft. Sie müssen in unserer engbrüstigen Natur beinahe ersticken! Sagen Sie einmal, Hans, da wir heute am Plaudern sind und uns den Anschein der Ehrlichkeit geben, wer sind Sie eigentlich und wo kommen Sie her? Seit fünf Jahren treffe ich immer wieder mit Ihnen zusammen und kenne Sie doch nicht besser als am ersten Tag, unsere Interessen gehen Hand in Hand, aber Ihre Person entzieht sich mir. Man nennt Sie in der Regel Hans, zuweilen Fichter, Sie scheinen ein Deutscher zu sein, sprechen aber überraschend gut spanisch und russisch. Ich habe Sie die größten Schändlichkeiten verüben sehen, und doch sind Sie nicht ohne Not grausam. Sie versuchen, mir große Summen zuzuwenden, und sind selbst ein Mensch von wenig Bedürfnissen – wohin fließen Ihre Einnahmen? Was für ein Ziel verfolgen Sie? Was für eine geheimnisvolle, unterirdische Arbeit vollbringen Sie? Was Sie für uns leisten, ist ja nur ein Teil Ihrer Thätigkeit; Sie haben Vertraute, die in keinem Zusammenhang mit uns stehen; Sie verschwinden, um Aufgaben zu erfüllen, von denen wir nichts wissen. Mitunter habe ich den Eindruck, daß wir, wir anderen, nur Werkzeuge in Ihrer Hand seien und, ohne es zu wissen, mitarbeiten an der Ausführung eines großen Planes, der die ganze Menschheit umspannt. Ich habe mich schon gefragt, ob Sie nicht das sichtbare Oberhaupt einer ungeheuren, furchtbaren, internationalen Verschwörung seien, die auf ein gegebenes Zeichen an allen Orten zumal die Revolution entfachen wird.«

Hans lächelte, beifällig nickend.

»Wahrhaftig,« sagte er dann in seinem spöttischen Ton, »es geht doch nichts über die Frauen! An Takt und Spürsinn nimmt's kein Mann mit ihnen auf. Sie haben also darüber nachgedacht, wer und was ich in Wirklichkeit sei, Sophia? Ja, meine Liebe, Sie haben etwas mehr Wißbegierde als ein Lichtenbach oder ein Agostini, von den übrigen gar nicht zu reden, denn keiner von beiden hat je versucht, weiter sehen zu wollen, als mir zu zeigen beliebte. Das freut mich von Ihnen, Sophia, das macht Sie mir interessant! Sie sind ein denkendes Geschöpf.«

Damit stand er auf, umfaßte die hübsche Frau, zog sie an sich und drückte einen freundschaftlichen Kuß auf ihre Stirne. Dann sagte er, sie aus nächster Nähe ansehend, als ob er damit seinen Worten den Eingang in ihr Gehirn erleichtern wollte: »Strengen Sie sich aber nicht weiter an mit psychologischen Studien über mich, es wäre verlorene Liebesmühe. Für Sie bin ich Hans Fichter und werde es immer bleiben, aber Sie dürfen überzeugt sein, daß ich nicht nur Hans Fichter bin. Sie haben mit ergötzlichem Scharfsinn über meine Persönlichkeit nachgedacht, aber Sie werden nie mehr darüber herausbringen, als Sie schon wissen, und das zu Ihrem Glück, denn Sie würden Ihre Entdeckung nicht eine Minute überleben. Ja, ja, mein Kind. Es hängen zu viel Leute an mir, für die es von Wert ist, daß ich die Hände frei habe, als daß einer leben dürfte, der sich einfallen ließe, mir nachzuspüren. Aber bilden Sie sich nun nicht etwa ein, daß ich eine Art von bösem Geist, ein Herrscher über empörte Seelen, ein Schiedsrichter über kommende soziale Wandlungen sei, damit kämen Sie auf eine falsche Fährte. . . . Meine Macht ist groß, aber unbeschränkt ist sie nicht, ich bin nur einer von den vielen Soldaten einer Sache, die siegen wird, mit welchen Mitteln es auch sei, und ich anerkenne nichts über mir, als eben diese Sache.«

»Hans!« rief Sophia. »Sie reden ja genau wie die Nihilisten meiner Heimat! Ich habe einen jungen Studenten gekannt, Semenikoff hieß er, der in Moskau unter den Muschiks Propaganda machte und fast dieselben Worte gebrauchte, wie Sie . . . eines schönen Tages war er verschwunden.«

»Ja, meine Liebe, gerade wie Sie verschwinden würden, wollten Sie auch nur ein einziges Wort von den im übrigen ja ganz harmlosen Sachen wiederholen, die ich Ihnen eben gesagt habe. Wissen Sie denn, was Ihr Semenikoff war, den ich zwar nie gesehen habe, den ich mir aber sehr genau denken kann? Ein von der Polizei bestellter Lockspitzel, der abgeschafft wurde. Das kommt alle Tage vor. Seien Sie deshalb vorsichtig, Sophia! Ich habe Sie sehr gern und es thäte mir sehr leid, wenn Ihnen Unheil zustieße, aber ändern könnte ich's nicht. Damit gute Nacht!«

»Sie gehen zu Bett?«

»Nein, ich gehe aus. Ich habe eine Verabredung mit meinen Leuten in Ars. Haben Sie denn nicht das Geplärr gehört, heute den ganzen Tag? Ach, diese Arbeiter! Eine Viehherde! Ob die sich träumen lassen, daß sie nur streiken und brüllen und drohen, weil es mir beliebt, weil es mir nützlich ist?«

»Seien Sie selbst nur vorsichtig!«

»Ach, was ich hier betreibe, ist Kinderspiel.«

Er steckte sich eine Cigarre an und ging. Im Garten war es sehr dunkel; lautlos wie ein Schatten durchschritt er ihn, denn er ging nicht auf den Kieswegen, sondern seitwärts auf dem Rasen. Am Thor angelangt, schloß er auf, ohne daß irgend ein Knirschen hörbar gewesen wäre, drehte sich dann wie ein Clown, um beim Zuschließen mit der ganzen Breite ans Holz gedrückt zu stehen und auf der Straße nicht gesehen zu werden. Einen Augenblick blieb er, von den beiden Steinpfeilern gedeckt, unbeweglich stehen, dann streckte er den Kopf vor und sah sich um, als ob seine Augen die Dunkelheit durchdringen könnten. Nach ein paar Sekunden trat er bis in die Mitte der Straße und schlug die Richtung nach Ars ein. Kein hinter ihm Kommender würde vermutet haben, daß er aus der Villa getreten war.

Als er etliche hundert Meter entfernt war, teilten sich die Zweige eines Gebüschs an der anderen Seite der Straße ebenfalls lautlos, und ein Mann sprang über den Graben. Es war der Steinklopfer der seit ein paar Tagen in der Nähe der Villa arbeitete. Seinen Schritt genau nach dem des Vorgängers regelnd, folgte er ihm nach der Stadt hin.



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