Georges Ohnet
Die lichtscheue Dame – Zweiter Band
Georges Ohnet

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Dreizehntes Kapitel.

Fünf Monate waren es her, daß sich Marcel seinem Vater gegenüber verpflichtet hatte, mit den Gefährten seines Leichtsinns zu brechen, keinen Fuß mehr in den Klub zu setzen, die Vergnügensexistenz aufzugeben und durch Fleiß seine Thorheiten in Vergessenheit zu bringen. Gewissenhaft Wort haltend, hatte er sich nach Ars zurückgezogen, war nur selten in Paris erschienen und hatte mit einer Hingebung gearbeitet, die unanfechtbare Erfolge lieferte. Der Kriegsminister hatte sich nach Marcels Besuch dem Vater gegenüber mit einer Wärme über den jungen Gelehrten geäußert, daß Baradier entwaffnet war. All die geduldig ertragenen Verbote wurden nunmehr aufgehoben und der hübsche Junge schwamm, was man seinen fünfundzwanzig Jahren nicht verargen konnte, wieder mit Genuß im Fahrwasser des Lebemannes.

Bei seinem ersten Wiedererscheinen im Klub hatte man ihn mit offenen Armen aufgenommen und junge und alte Freunde hatten ihn mit Fragen bestürmt.

»Ja, was ist denn aus Ihnen geworden? Sie waren ja eine ganze Ewigkeit lang unsichtbar? Hat die kleine Machin Ihnen die ganze Zeit Hausarrest gegeben? Haben Sie in der Stille und Einsamkeit Buße gethan? Sind Sie auf Reisen gewesen? Nur heraus mit der Sprache!«

So schwirrte es von allen Seiten, und Marcel gab wohlgemut Bescheid, sagte, daß er allerdings verreist gewesen sei, aber ohne die kleine Machin, die ja ihre Vorzüge habe, im Grund aber doch mehr koste, als sie wert sei.

»Ist denn auch nur eine wert, was sie kostet?« bemerkte der dicke Stapoulo, bekanntermaßen der bestbetrogene unter den Pariser Lebemännern, weltschmerzlich.

Marcel erklärte dann weiter, daß er auch über einiges nachgedacht habe, und zwar wesentlich über das Banklegen, und zu der Ueberzeugung gelangt sei, daß vom Baccara niemand etwas davontrage als die Spielkasse, und er daher entschlossen sei, sich nur noch an solchen Spielen zu beteiligen, wo man beim Verlieren wenigstens das tröstliche Bewußtsein habe, daß die Freunde dadurch reicher würden.

»Wie oft ich diese Grundsätze schon aufstellen hörte!« bemerkte Baron Vergins, ein einstiger Kammerherr des Kaisers. »Und wenn Sie eine Viertelstunde vor dem Baccaratisch stehen, so spielen Sie doch wieder!«

»Wollen Sie mich auf die Probe stellen? Gehen wir hin.«

Sie gingen in den großen Saal, unter dessen gewölbter Stuckdecke der Tabaksrauch festhing wie ein dichter Nebel. Auf jeder Seite des weiten Raumes stand ein grüner Tisch, an dem sich die stummen Spieler drängten, während der Bankier mit gespannter Aufmerksamkeit sein Amt verwaltete.

»Ach! Ihr habt jetzt zwei Baccaratische?« sagte Marcel überrascht.

»Ja, das ist eine Neuerung. Am einen ist der Mindesteinsatz zwanzig, am anderen nur zehn Franken, so daß einer, der am großen Tisch gerupft worden ist, sich am kleinen erholen kann. Er kann ja dann immer wieder am großen Tisch verlieren, was er am kleinen gewonnen hat.«

»Höchst sinnreich! Ein doppeltes Sieb, das sicher nichts durchläßt!«

Marcel trat an den großen Tisch und sah auf einmal gespannt hin. Ihm gegenüber saß als Bankhalter kein anderer als Cesare Agostini. Eine Blume im Knopfloch, verbindlich lächelnd, teilte er mit zierlichen Bewegungen der wohlgepflegten Hand die Karten aus. Ohne Marcel zu bemerken, fragte er in seinem singenden Ton: »Karten?«

Er gab, hob für sich selbst ab, verlor nach beiden Seiten und schleuderte die vielfarbigen Spielmarken mit taschenspielerartiger Geschicklichkeit nach links und nach rechts.

»Wer ist der Bankier?« fragte Marcel die beiden Herren an seiner Seite.

»Ein Graf Cesare Agostini.«

»Neues Klubmitglied?«

»Nur Gast. Ein netter Junge, gewandter und angenehmer Spieler.«

»Glücklich?«

»Im Gegenteil. Riesenpech! Im ganzen Klub verliert keiner wie er.«

»Er ist doch gut eingeführt bei euch?«

»Durch den Prinzen Cystriano und Beltrand, die ihn vorgestellt haben, höchst ansehnliche Taufpaten. Uebrigens sind die Agostini eine bekannte Familie, jüngere Söhne eines fürstlichen italienischen Hauses . . . der Herzoge von Briviesca . . .«

»Warum nimmt man denn so viel Fremde in den Klub auf?« fragte Marcel mißbilligend.

»Ja, mein Lieber, weil sie die einzigen sind, die kommen! Der Klub lebt sozusagen von ihnen, sie betrachten ihn wie ein Hotel, ich weiß es, und das ärgert uns auch immer, aber was will man machen? Der Haushalt kostet Geld.«

»Weiß man, ob er Familie in Paris hat?« fragte Marcel weiter. »Frau oder Schwester?«

»Nein, er ist Junggeselle, und mit einer Dame habe ich ihn noch nie gesehen.«

Marcel brach das Gespräch ab, zog sich vom Spieltisch zurück, trennte sich unter einem Vorwand von den beiden Freunden und ging ins Schreibzimmer. Er griff nach dem Mitgliederverzeichnis und fand im Nachtrag, kürzlich erst eingeschrieben: »Graf Cesare Agostini, 7 Kolosseumstraße.« Jetzt hatte er seine Adresse und das war immerhin etwas, aber viel nützte es ihm nicht, denn im Grund verlangte ihn ja nur nach Aufklärung über die geheimnisvolle Frau, Anetta oder Sophia, Vignola oder Baronin Grodsko, falls sie nicht noch eine andere war. Was war dieser Agostini ihr, dem bezaubernden Geschöpf, das sich für Marcel plötzlich in ein Ungeheuer von gefährlichster Verderblichkeit verwandelt hatte? War er wirklich ihr Bruder? Ihr Mitschuldiger ja ohne Zweifel, aber Marcel wollte mehr, wollte alles wissen und war entschlossen, sich auf jede Gefahr hin Klarheit zu verschaffen.

Er hatte sich in einen hochlehnigen Lederstuhl gesetzt, der mit der Rückseite gegen die Thüre stand und ihn fast unsichtbar machte. Zwei Klubmitglieder saßen eifrig schreibend am Tisch, das Schreibmaterial des Hauses für ihre Briefschaften benützend. Die Stille und Kühle des Raumes, das gleichmäßige Ticken der Standuhr wirkten einschläfernd auf Marcel. Nur wie im Traum hörte er Stimmen an sein Ohr dringen und so verblieb er eine Zeitlang in einem Halbschlaf, aus dem er aber plötzlich aufschreckte. Unter den Stimmen, die ihn eingewiegt hatten, war plötzlich die näselnde des Italieners erklungen, und sofort war Marcel hell wach und ganz Ohr.

»Wieder viertausend Franken verloren . . . gestern tausend, das wird recht hübsch . . .«

Agostini lachte hellauf.

»Sie sollten ein paar Tage keine Karte anrühren, Agostini,« riet ihm einer von den Herren. »Mit Eigensinn zwingt man das Glück nicht.«

»Und was sollte ich anfangen, wenn ich nicht spielte? Ich hab' ja sonst nichts!«

»Und die schöne Dame in der Oper, der Sie gestern abend den Oberst Derbaut vorgestellt haben?«

Marcels Herz pochte wild. Sein Gefühl sagte ihm, daß die Frau, von der hier die Rede war, und der Agostini einen Offizier zugeführt hatte, dieselbe war, die ihn so leidenschaftlich beschäftigte. Er lauschte mit wahrer Anstrengung, um ja kein Wort des Gesprächs zu verlieren, aber Agostini antwortete mit so gedämpfter Stimme, daß keine Silbe davon zu ihm drang.

»Nun, wenn Sie nur als Heimatgenosse in Beziehung zu der Dame stehen,« hörte er dagegen den anderen sagen, »so bitte ich auch um die Ehre, ihr vorgestellt zu werden. Sie sind mir's eigentlich schuldig, Graf.«

Agostini lachte, ohne eine bestimmte Zusage zu geben, Marcel aber überlegte, daß Cesares Heimatgenossin notwendig eine Italienerin, die Italienerin aber Anetta sein müsse. Was sie wohl hier wieder im Schild führen mochte mit diesem Abenteurer? Den Oberst Derbaut hatte er ihr vorgestellt . . . der war beim Generalstab, also galt es wieder militärischen Geheimnissen! Über diesen Gedanken hatte er das Gespräch in seinem Rücken außer acht gelassen, nun aber drang wieder ein Satz davon an sein Ohr und dieses Mal ein sehr wichtiger.

»Also heute abend in der Oper?« sagte die Stimme von vorhin. »Bleibt dabei, Graf.«

Jetzt wurde es still, die beiden Klubmitglieder, offenbar fleißiges Federvieh, kritzelten eifrig weiter, und Marcel stand auf. Die Gelegenheit, Agostinis Schwester wieder zu sehen, war ihm jetzt sicher. Sie war nicht in Italien, wie der Abenteurer im Wohlthätigkeitsbazar mit so frecher Stirn behauptet hatte, sondern in Paris, wo alle Fäden zusammenliefen, und, ohne der Vergangenheit zu gedenken, an der Arbeit, an neuer Übelthat, denn Gefahr, Ehrlosigkeit und Tod waren es ja, was ihren Weg bezeichnete. Und plötzlich stieg das lachende Bild der holdseligen Frau mit den blonden Madonnenscheiteln, dem berückenden Lächeln und dem kindlichen Blick greifbar deutlich vor Marcel auf . . . konnte dieses süße rührende Gesichtchen das eines Ungeheuers sein? O dann war es ein furchtbares!

Wer sollte dem sanften, stillen Liebreiz mißtrauen, der von der ganzen Persönlichkeit ausging? Und doch hatte sie ihn verraten! Sie und kein anderer Mensch hatte dem Raubmörder enthüllt, wo die Geheimnisse des Laboratoriums zu finden waren, und zwar mit einer Geschwindigkeit, die an Taschenspielerei grenzte und eine Gewandtheit bewies, deren sich ehrliche Menschen von vorneherein nie rühmen können. Und waren denn nicht einmal ihre Küsse aufrichtig gewesen? Hatte sie sich nicht mit einer Glut hingegeben, die jede Täuschung ausschloß? Nein, das war keine Lüge gewesen, als sie sich jauchzend, liebestrunken in seine Arme geworfen hatte, in dieser Stunde, da er ihres Herzens wilden Schlag gefühlt hatte, wo ihre bebenden Lippen todeskalt geworden waren in zitternder Lust, da hatte sie nicht getäuscht, da hatte sie geliebt und sich in Wahrheit hingegeben. Wie aber diese Doppelzüngigkeit zusammenreimen mit dieser offenbaren Leidenschaft? Wie hatte sie ihn als Feind behandeln können in der Stunde selbst, wo sie ihn als Geliebten angebetet hatte? That sie etwa das Böse nur unterm Einfluß eines außer ihr stehenden verbrecherischen, verhängnisvollen Willens? Folgte sie dagegen dem eigenen Trieb, wenn sie nichts war als ein liebendes Weib? Wie gern hätte er sie reingewaschen von jedem Makel, von jedem Verdacht, den er selbst hegte. Aber wie war es möglich?

Vom Klub ging er nach Hause, und zwar in die Geschäftsräume, wo er im Privatzimmer des Vaters seinen Onkel Graff traf, der die Abendzeitungen eifrig studierte.

»Da sieh einmal her, Kleiner!« rief er, dem Neffen ein Blatt hinstreckend. »Die Presse beschäftigt sich mit unserer Sache. Hier ist ein Referat über die Sitzung der Akademie der Wissenschaften, in der Professor Marigot seinen Bericht über das Trémontsche Pulver abgestattet hat.«

Marcel nahm das Blatt gleichgültig und legte es, ohne auch nur einen Blick hineingeworfen zu haben, auf ein Pult.

»Das ist deine ganze Teilnahme an diesem Vorgang?« rief Graff. »Du bist nicht einmal neugierig auf den Eindruck, den Marigots feierliche Mitteilungen gemacht haben? Nun denn, wenn du nicht lesen magst, werde ich dir's erzählen! Der ›Globus‹ widmet der Entdeckung einen ganzen Artikel, worin sie als sehr bedeutsam bezeichnet und binnen kurzem eine vollständige Umwälzung in der Erzeugung bewegender Kraft vorausgesagt wird. Der ›Weiße Helmbusch‹, Lichtenbachs Blatt, dagegen bringt sofort einen Entrüstungsausbruch gegen die Erfindung, die er als schamlose Fälschung hinstellt, andeutend, daß es ganz einfach das ›Pulver Dalgetty‹ sei, ohne auch nur eine Veränderung im Mischungsverhältnis der Materialien.«

»Das ist wenigstens gründlich frech!« konnte sich Marcel nicht enthalten auszurufen.

»Und nun kommt das beste. An der Börse hat sich das Gerücht verbreitet, daß die Sprengstoffaktiengesellschaft im Besitz des Patents Trémont sei, und infolgedessen beginnen die Aktien trotz aller Schachzüge unserer Gegner zu steigen . . . wir sind demnach gerettet, während Lichtenbachs Lage höchst bedenklich wird.«

»Du weißt, daß mich solche Geschichten sehr kühl lassen.«

»Das weiß ich allerdings, aber ich weiß auch, daß dein Vater, der seit drei Monaten keinen ruhigen Schlaf mehr hatte, ganz munter und rosig aufgelegt ist. Er ist heute nach Aubervilliers gefahren, um ein Grundstück von drei Hektaren zu besichtigen, das uns angeboten wurde und zur Errichtung einer neuen Fabrik günstig gelegen wäre.«

»Das wäre ja ganz etwas für ihn! Bauen ist seine Leidenschaft.«

»Ja, er ist seelenvergnügt; was ihn aber so glücklich macht, ist vor allem das Bewußtsein, dieses glänzende Ergebnis dir zu verdanken. Er ist ja kein Freund von Gefühlsäußerungen, aber ein begeisterungsfähiger Feuergeist und voll Gemüt; die Bestätigung, daß du ein Mensch von großem Wert bist, thut ihm bis ins Innerste wohl und schmeichelt seiner Eigenliebe! Bis jetzt war ja nur von Trémont die Rede, wird aber bekannt, daß und wie du sein Werk vollendet hast, so wird auch dein Name viel genannt werden, darauf kannst du dich verlassen und du wirst sehen, wie deinem Vater dabei das Herz aufgeht.«

Marcel gab nicht nur keine Antwort, sondern ging mit so geistesabwesendem Gesicht im Zimmer herum, daß Graff verwundert sagte: »Du bist doch ein merkwürdiger Bursche, Marcel! Was ich dir da vorschwatze, sollte dir doch Vergnügen machen, und du hörst mich kaum an . . . was hast du nur?«

Der junge Mann schüttelte den Kopf und zwang sich ein Lächeln ab.

»Nichts, Onkel, aber ich wüßte nicht recht, was ich dir auf deine Verheißungen zur Antwort geben sollte.«

»Nicht? Du hast eben auch keine Ahnung, was für Pläne man bei Baradier & Graff für dich schmiedet! Dein Vater sagte heute früh zu mir: wir werden natürlich Marcel als Direktor an die Spitze der künftigen Fabrik stellen und gleichzeitig wird er Aufsichtsrat der ganz neu zu organisierenden Sprengstoffaktiengesellschaft . . . Begreifst du wohl, Kleiner, daß dies für deine sechsundzwanzig Jahre eine ungeheure Stellung bedeutet? Und weißt du wohl, was dein Vater noch gesagt hat? Wenn er heiraten wollte, dann wären all meine Wünsche erfüllt, dann würde er mich in jeder Hinsicht zufriedenstellen! Hm? Was sagst du dazu? Ich glaube, daß er im stillen an Genoveva von Trémont denkt . . . Weißt du mir darauf auch nichts zu antworten?«

»Nein, wahrhaftig nicht, Onkel,« sagte Marcel gelassen.

Nun stand Graff auf, faßte seinen Neffen an den Schultern und sah ihm forschend ins Gesicht.

»Ja, Onkel, nein, Onkel, nichts, Onkel, das ist alles, was ich seit einer halben Stunde aus dir herausbringe . . . du willst mich täuschen, du hast etwas erlebt, wovon du nicht sprechen willst . . . Marcel, hast du die Person von Ars wiedergesehen?«

»Nein, gesehen habe ich sie nicht,« rief der junge Mann, aus seiner Zurückhaltung heraustretend. »Aber ich weiß, daß sie in Paris ist, weiß, wo ich sie heute abend treffen werde, Onkel, und dann, dann werde ich die Lösung dieses wandelnden Rätsels finden!«

»Ach, mein liebes Kind, die kostet mich kein Kopfzerbrechens, die heißt Schurkin! Ich kann dir nicht sagen, wie es mich beunruhigt, dich immer noch mit der Person beschäftigt zu sehen! Nimm dich doch in acht! Du weißt, wie gefährlich sie ist, sie und ihre Bande. Denke an den armen General, an den wackeren Beamten, der in Ars sein Leben lassen mußte! Der Teufel müßte dich reiten, wenn du dich noch einmal mit dieser Dirne einlassen wolltest! Wenn du um ihren Aufenthalt weißt, so mache der Polizei Anzeige davon, man wird sie verhaften, und die Sache ist abgethan.«

»Wenn ich von ihrer Schuld so überzeugt wäre wie du, würde ich das vielleicht thun, obwohl es doch immerhin eine Sache ist, eine Frau preiszugeben . . .«

»Ritterlichkeit solchem Gesindel gegenüber!«

»Ich habe eben meine Zweifel, ob sie zu diesem Gesindel gehört, Onkel, und kann es nicht über mich bringen, sie zu verurteilen. Erst muß ich jedenfalls hören, was sie selbst . . .«

»Schnickschnack, du willst sie eben wiedersehen! Solch ein Esel bin ich denn doch nicht, mir da etwas weismachen zu lassen, soweit kenne ich mich aus in den Menschen. Dein Herz oder was sonst Frauenzimmer dieser Art im Mann erregen, verlangt nach ihr und du willst dich der Gefahr aussetzen, von irgend einem Meuchelmörder niedergestochen zu werden, nur um des Vergnügens willen, noch einmal von dieser Komödiantin genarrt zu werden!«

»Onkel Graff, im Opernhaus wird man mich doch schwerlich ermorden, und dort werde ich sie heute abend sehen . . .«

»Ist das auch wahr?«

»Hast du deinen Orchestersessel für heute schon vergeben?«

»Nein!«

»Dann sei so gut und überlasse ihn mir.«

»Wenn du mir dein Wort gibst, keine Dummheiten zu machen, die Person nicht etwa irgendwohin zu begleiten, falls sie es wünscht,«

»Nein, das kann ich dir nicht versprechen! Wenn sie mir nur ein Zeichen macht, so folge ich ihr, und wenn's zum Teufel ginge!«

»Siehst du wohl? Was sag' ich denn?«

»Aber darauf gebe ich dir mein Wort, daß ich nicht bei ihr bleiben werde. Ich bin auf meiner Hut, ein Agostini soll mich nicht fangen wie einen Gimpel.«

»Nimm einen Revolver mit!«

»Das ist selbstverständlich.«

»Ach mein Gott!« rief Graff mit einem Seufzer. »Eben war ich so von Herzen beruhigt und heiter, und nun geht die Not abermals los! Wenn du wenigstens Baudoin mitnähmest?«

»Unter keinen Umständen! Aber du kannst ganz ruhig sein; augenblicklich ist keine Gefahr für mich vorhanden und über das Weitere können wir später beraten.«

Baradiers Rückkehr machte der Unterredung ein Ende, und Marcel ging in seine Behausung, um sich vor Tisch umzukleiden.

Man gab an diesem Abend die Walküre im Opernhaus und Marcel kam erst, als der zweite Aufzug begann. Die ehelichen Streitigkeiten Wotans, des skandinavischen Jupiters, mit Frigga, der zur Juno nur der Pfau fehlt, fesselten den jungen Mann nicht sehr. Er kehrte bald der Bühne den Rücken zu und sah sich, das Kinn auf die Lehne seines Sitzes gestützt, im Haus um. Die Logen des ersten Ranges füllten sich äußerst langsam, gleichsam mit Widerstreben; man merkte, die Abonnenten kamen nur, weil sie die Sache im voraus so teuer bezahlt hatten. Der zweite und dritte Rang waren dicht besetzt; auf diese bescheideneren Plätze kam man, um zu hören und sich zu begeistern. Im Amphitheater des obersten Ranges war Kopf an Kopf gedrängt, alle Augen auf die Bühne geheftet, dort saßen die Kunstfreunde und Kenner.

Aber nicht um Beobachtungen über das musikalische Verständnis der verschiedenartigen Hörer eines Meisterwerkes anzustellen, durchforschte Marcel das Haus; sein Blick suchte nur eine Frau, doch nirgends, weder im ersten, noch im zweiten Rang, in keiner Loge und nicht auf dem Amphitheater wollte Frau von Vignolas zartes Profil zum Vorschein kommen. Nur zwei Prosceniumslogen rechts von der Bühne waren noch unbesetzt, und Marcel kehrte das Gesicht wieder der Scene zu, um, seitwärts schielend, die leeren Vierecke, die in der reichen leuchtenden Vergoldung zwei schwarze Tupfen bildeten, scharf im Auge zu behalten.

Gegen Schluß des Aktes hörte er eine Thüre gehen, ein Lichtstrahl fiel in den dunklen Hintergrund der Loge und eine Gestalt erschien in undeutlichem Umriß in der Samtumrahmung. Die Thüre schloß sich, der Raum war wieder dunkel, doch um so heller erschien die Gestalt einer Dame in weißem ausgeschnittenem Kleid mit herrlichen Perlen um den Hals, die nun an die Brüstung der Loge trat. Sie setzte sich, den Kopf der Bühne zugewandt, und Marcel konnte nur die verlorene Linie der Wange und den üppigen schimmernden Nacken, von dem ein wahrer Helm schwarzer Haare aufstieg, deutlich erkennen. Das Gesicht sah er nicht, aber ein Zusammenhang zwischen dieser kräftigen dunkelhaarigen Dame und der zarten blonden Anetta war ja undenkbar. Strotzende Lebensfülle an Stelle ätherischer Anmut! Nein, sie konnte es nicht sein!

Verdrießlich wandte er sich ab, aber als jetzt der Vorhang fiel und wilder Beifallssturm die Sänger an die Rampe rief, wandte sich die Dame in Weiß den Zuschauern zu und Marcel erkannte mit wahrer Bestürzung den Blick der einst geliebten Frau. Alles andere hätte Täuschung sein können, aber dieser schmachtende Blick, der mit dem spöttischen Lächeln und der gebieterischen Stirn in so unendlich reizvollem Gegensatz stand, der war nur ihr eigen. Aufmerksam studierte er ihre Züge, ohne daß sie sich beobachtet gefühlt hätte, denn sie warf keinen Blick ins Parkett, und nach und nach erkannte er jeden einzelnen wieder, aber wie genau mußte man sie nicht kennen, um sich davon zu überzeugen, daß sie es war, und wie schmerzlich war dieses Wiederfinden!

Schon die Thatsache dieser Wandlung war ja ein genügendes Geständnis! Wenn sie es nicht nötig gehabt hätte, ihre Spur zu verwischen. Bekannten auszuweichen, wie wäre sie darauf verfallen, ihr Haar zu färben, Frisur und Gesichtsausdruck so fabelhaft zu verändern? Was für eine Komödie spielte sie denn und wann spielte sie Komödie? War sie in Ars gefärbt, geschminkt, verkleidet gewesen, oder war sie es heute? Und wen wollte sie betrügen? Damals ihn, oder heute einen unbekannten Liebhaber, den sie erwartete, den man ihr zuführen wollte, daß sie ihn ebenso heiß umschlinge, wie sie Marcel in dem stillen Landhaus umschlungen hatte?

Diese Vorstellung quälte ihn dermaßen, daß es unleidlich wurde. Er stand auf, indes die neben ihm Sitzenden hinaus gingen. Frau von Vignola war in den Hintergrund der Loge getreten, wo er jetzt undeutlich noch andere Gestalten sah. Vielleicht, daß Agostini ihr in diesem Augenblick den Bekannten vom Klub zuführte, der so dringend verlangt hatte, die schöne Italienerin kennen zu lernen. Marcel zählte die Logen von vorne ab, um sich nicht in der Thüre zu irren, trat auf den Gang hinaus und legte sich, durch eine Säule gedeckt, auf die Lauer, wobei ihm die Zeit endlos lang wurde. Jeder Vorübergehende ärgerte ihn; ein paarmal mußte er Grüße erwidern, sich verstecken, um nicht vom einen oder anderen angeredet zu werden, kurz es war ein qualvoller Zustand. Endlich, endlich ging die Logenthür auf und Agostini kam mit einem älteren Herrn von würdiger, vornehmer Erscheinung, der eine Rose im Knopfloch trug, heraus. Plaudernd gingen sie an Marcel vorüber nach der Haupttreppe, auf der sie bald außer Sicht waren, und nun eilte der junge Mann, der ihnen vorhin den Rücken zugekehrt hatte, vorwärts, machte der Beschließerin ein Zeichen und schob sich, kaum daß die Thüre geöffnet war, ins Innere der Loge.

Die Dame in Weiß saß auf dem Sofa im Vorraum. Marcel drückte die Thüre hinter sich zu und trat rasch vor die Dame, Sie wandte den Kopf, sah ihn an, ohne mit der Wimper zu zucken, und sagte ruhig: »Sie haben sich in der Loge getäuscht, mein Herr.«

»Nein, gnädige Frau,« versetzte er ironisch, »ich bin am rechten Ort, falls ich hier Frau von Vignola gegenüberstehe, die möglicherweise auch die Baronin Grodsko sein könnte.«

Diese Worte machten einen furchtbaren Eindruck auf die junge Frau. Mit erloschenem Blick und zuckenden Lippen fragte sie mühsam: »Was für einen Namen nennen Sie da?«

»Offenbar einen der Ihrigen! Denn soviel ich sehe, verändern Sie Ihren Namen je nach Lage der Dinge, Ihr Gesicht je nach den Männern.«

»Ich verstehe durchaus nicht, was Sie damit meinen und kann nur wiederholen, daß Sie sich irren . . . ich bitte, daß Sie sich zurückziehen . . .«

»Nein, ich werde die Rückkehr des Grafen Agostini abwarten, der seine Persönlichkeit nicht ableugnen wird. In seiner Gegenwart können wir uns dann aussprechen; sie wird uns die Feststellung Ihrer Persönlichkeit erleichtern.«

»Und er wird Sie töten,« rief sie, das Leugnen aufgebend. »Unglücklicher! Gehen Sie, verlieren Sie keinen Augenblick, zögern Sie nicht . . . Sie haben keine Ahnung, in welcher Gefahr Sie schweben!«

»Darüber bin ich mir vollkommen klar. Der General von Trémont ist tot, der Polizeiagent Laforêt ist tot und ohne Zweifel sind noch viele andere geopfert worden, die Ihrer Laune oder Ihren Unternehmungen Widerstand leisteten. Wenn ich das auch thue, so werden Sie ohne Zweifel versuchen, auch mich töten zu lassen, aber vorher will ich wissen, wer und was Sie sind!«

Das Gesicht der jungen Frau wurde finster; mit tragischer Gebärde hob sie den schönen Arm.

»Versuchen Sie nicht, das zu erfahren! Es würde Ihnen nicht gelingen!«

»Und doch bin ich schon einigermaßen in dieser Kenntnis vorgedrungen,« sagte Marcel, zähneknirschend vor Wut. »Spionin, Diebin, Komödiantin . . . ja Komödiantin, Lügnerin selbst in der Liebe!«

Sie schien von den beschimpfenden Worten, die er ihr ins Gesicht schleuderte, nur das eine erfaßt zu haben: »Lügnerin selbst in der Liebe!« Mit flammendem Gesicht faßte sie Marcel am Arm und starrte ihn mit Augen an, die im Halbdunkel funkelten.

»Nein! Ich habe nicht gelogen! Glaub' das nicht! Der Lüge in der Liebe bezichtige mich nicht. Ich habe dich geliebt! Wie kannst du dich darüber täuschen? Magst du sonst vor mir denken, was du willst, was liegt mir daran? Wir werden uns nicht wiedersehen. Hörst du wohl . . . niemals werden wir uns wieder begegnen! Also glaube, was ich dir schwöre – ich habe dich geliebt und liebe dich noch! Keinen habe ich je geliebt wie dich, und weil ich dich liebe, will ich dich nicht wiedersehen. Versuche nicht zu begreifen, wie ich das meine, wolle nicht in meine Geheimnisse eindringen, sie würden dir Tod und Verderben bringen, wie du vorhin selbst und mit Recht sagtest. Begnüge dich mit dem, was ich dir gegeben habe, sei froh, daß du es nicht mit dem Leben bezahlen mußtest. Sei blind, wenn ich an dir vorübergehe, taub, wenn du von mir sprechen hörst, wolle nicht in die Finsternis dringen, die mich umgibt. O mein Marcel, der mir so lieb war, den ich so kurze Zeit so heiß geliebt habe! Geh! Geh! Aber denke nicht mehr, daß ich dich belogen habe. In deinen Armen, an deinen Lippen war ich . . .«

Sie brach ab; Thränen schimmerten in ihren Augen, ihre Lippen wurden weiß, ihre Arme umschlangen ihn. Marcel fühlte sich an eine bebende Brust gepreßt, ein versengender Blick blendete ihn, er zitterte unter der Berührung glühender Lippen, die sich an den seinigen festsaugten. Er hörte nur das unter tiefen Atemzügen hervorgestoßene Wort: »Leb wohl«, dann drängte ihn ein kräftiger Arm der Thüre zu, die Umschlingung löste sich. Betäubt, besinnungslos stand er wieder draußen in dem Gang; an ihm vorüber eilten die Zuschauer nach ihren Plätzen. Das Klingelzeichen ertönte, er aber griff halb bewußtlos nach seinem Überzieher und gehorchte schwankenden, taumelnden Schrittes dem Geheiß der geheimnisvollen Geliebten, er ging.

Seine Zweifel waren weggewischt, er hatte ihn gehört, den echten Herzensschrei: »Ich liebe dich noch!« Nein, das war keine Lüge, in der Liebe hatte sie nicht gelogen, nicht damals, nicht heute. Wozu auch, da sie ihn ja doch von sich stieß mit der verzweifelten Angst eines Weibes, das um den Geliebten zittert? Es war also ein fremder, dem ihrigen überlegener Wille, der sie gezwungen hatte, ihn zu verführen, der sie jetzt antrieb, wieder irgend ein lichtscheues Werk zu verrichten? Er sah nicht klar darin und sollte auch nicht klar sehen.

Marcel wurde ruhiger, als er auf dem Platz vor dem Opernhaus stand, die Luft that ihm wohl, aber das Gedächtnis der funkelnden Augen und der bebenden Stimme, der Glut, womit sie ihn umschlungen gehalten hatte, kam plötzlich derart über ihn, daß sein Herz sich mit körperlichem Schmerz zusammenzog. Ach, was für ein Weib! Auf welche Wonnen er verzichten mußte! Er hatte sie ja kaum besessen, denn ihre damalige Rolle hatte ihrem Temperament Fesseln angelegt, und doch überlief es ihn bei der bloßen Erinnerung.

Und dabei war sie ein Ungeheuer und sie hatte sich nicht aufgelehnt gegen die Anklagen, die er ihr ins Gesicht geschleudert hatte. Zweifellos trug sie die Mitschuld an verschiedenen Mordthaten auf dem Gewissen, wenn sie die zarte weiße Hand nicht gar selbst in Blut getaucht hatte. Sie war die treibende Kraft in Unternehmungen, die das Licht scheuten, die Sendbotin politischer Feindseligkeiten, die Vermittlerin feilen Verrats. Ihre Schönheit, ihre Anmut, ihr Geist dienten als Vogelleim für die zu Betrügenden, ihr Leib war nur ein Mittel zum Zweck. Wie viele mochte sie nicht haben lieben müssen? Sie verschenkte sich, um zum Ziel zu gelangen, ihre Schönheit war ihr das Werkzeug, um Männer toll zu machen, ihren Einfluß für sich zu gewinnen, ihre Ehre, ihre Geheimnisse zu erschleichen. Nur in diesem Sinn war auch er in ihren Besitz gelangt, und das war's, was ihn am meisten schmerzte.

In seinem Herzen erhob sich eine Stimme, die ihn laut und heftig der Feigheit anklagte. Er sagte sich, daß der Zauber dieses Weibes ihn um sein sittliches Gefühl bringe, daß es erbärmlich sei, zu begehren, was man verachtet. Und dabei hatte er sie kaum gekannt! Wohin hätte es vollends mit ihm kommen müssen, wenn sie ihn ihrer gefährlichen Fähigkeit, Menschen zu verderben, länger unterworfen hätte? Sie hatte ihn ja geliebt, darum hatte sie sich von ihm gewendet; sie hatte ihn nicht sittlich verderben wollen!

Mit einem nervösen Auflachen brummte er in sich hinein: »Am Ende muß ich ihr ja noch dankbar sein, dem elenden, niederträchtigen Geschöpf! Das ist sie ja . . . aber schön . . .«

Von so widersprechenden Gefühlen und Gedanken durchstürmt, ging Marcel nach Hause und sofort zu Bett. Als er am anderen Morgen erwachte, fand er zu seiner Überraschung den Onkel Graff an seinem Bett. Es war acht Uhr morgens. Während der junge Mann traumlos geschlafen hatte, war der Alte in höchster Unruhe gewesen, und schließlich hatte er dem Drang nicht mehr widerstehen können, sich mit eigenen Augen zu überzeugen, daß Marcel nichts zugestoßen sei. So war er denn mit Tagesanbruch hergekommen und hatte sich an sein Bett gesetzt, um diesen ungestörten Jugendschlaf zu beobachten. Als Marcel aufwachte, hoffte er von ihm zu hören, was er erlebt habe, fand ihn aber zugeknöpft und wenig mitteilsam, und so ging Graff schließlich zu Frau Baradier hinauf, um sich eine Tasse Kaffee auszubitten, da er noch nüchtern und sehr stärkungsbedürftig war.

Am selben Vormittag hielten Agostini und Hans in Lichtenbachs Privatzimmer eine Beratung mit dem Bankier. Graf Cesare rauchte nachdenklich seine Cigarette und Hans hörte mit verschlossener Mine an, was ihm Lichtenbach mit noch dumpferer Stimme als sonst auseinandersetzte.

»Die Lage ist für Sie allerdings ernsthaft,« sagte der Bankier, »für mich aber wird sie im höchsten Grade bedenklich. Auf Ihre Mitteilungen bauend, habe ich ein Baissemanöver ausgeführt, das die Sprengstoffgesellschaft in meine Hände liefern und mir ermöglichen sollte, die Aktien zu einem Schleuderpreis zurückzukaufen. Nun findet sich's, daß meine unmittelbaren Konkurrenten und erbittertsten Feinde, die Herren Baradier & Graff, gegen mich arbeiten und daß all meine Anstrengungen, ihnen den Fang abzujagen, erfolglos sind. Längere Zeit konnte ich mir ihre Beharrlichkeit gar nicht erklären, nun kenne ich deren Gründe. Die in der Akademie der Wissenschaften gemachten Mitteilungen haben mich über ihre Berechnungsweise aufgeklärt. Sie sind im Besitz des Geheimnisses, das Sie nicht entdeckt haben, jene haben Mittel und Wege, das Trémontsche Pulver auszubeuten, und das Dalgettysche Patent ist einfach wertlos. Das ist das Ergebnis all Ihrer Schliche und Kniffe, und da brauchen Sie sich noch aufs hohe Pferd zu setzen!«

»Wie teuer wird die Sache Sie zu stehen kommen?« fragte Agostini kaltblütig.

»Was sie mich kostet, fragen Sie?« rief Lichtenbach wütend. »Nun, so ziemlich mein ganzes Vermögen! Sie nehmen die Sache mit philosophischer Gelassenheit, das muß ich sagen! Wenn man einen Mann zu Grunde gerichtet hat, ist es recht bequem, nur zu fragen: ›Wie teuer kommt Sie die Sache?‹ Ich kann nicht von meiner schönen Erscheinung zehren, wie Sie, meine Eleganz trägt mir keine Zinsen: wenn ich Geld haben will, muß ich arbeiten, und das thue ich seit vierzig Jahren!«

»Nun, nun, Lichtenbach, nur keine Klagelieder!« mahnte Hans beschwichtigend. »Das ist ja richtig, daß Sie in der Patsche sitzen, wenn die Geschichte thatsächlich fehlschlägt, aber so ein kleiner Notpfennig bleibt Ihnen immer noch . . . wenn Sie wollen, übernehme ich den Bodensatz Ihres Vermögens zu zehn Millionen!«

»Dumme Spitzbuben, die ihr seid!« knirschte Elias, »als ob ihr auch nur eine Vorstellung davon hättet, was zehn Millionen sind! Ihr sprecht von solchen Summen, wie der Blinde von der Farbe! Die schmutzige Arbeit, die ihr tölpelhaft genug verrichtet habt, kostet mich die Hälfte meiner Lebensmühen und mehr als das, meinen Stolz! Denn ich, der ich Baradier & Graff immer von oben herunter behandelt, immer meine Tatzen habe fühlen lassen, ich bin ihnen jetzt auf Gnade und Ungnade preisgegeben! Und zwar durch euere Pfuscherei! Die berühmte Sophia, von der ihr so viel Aufhebens macht, hat sich in diesem Fall von A bis Z blamiert! Eine Menschenfresserin, der keiner entschlüpft, eine Sumpfblüte, deren Duft man nur einzuatmen braucht, um von dem mit Fäulniskeimen geschwängerten Gifthauch betäubt zu werden! Und dann läßt man sie einen harmlosen jungen Menschen verführen, für sie ein Kinderspiel, und siehe da, sie rührt sich nicht, übt keine Macht aus, will oder kann nichts aus ihm herausbringen, das Geheimnis bleibt undurchdringlich, und ich darf mittlerweile mein Geld verlieren! Werdet ihr mir's ersetzen, blödsinnige Schurken, die ihr seid? Ich kenne auf der Welt nichts Verächtlicheres, als einen Gauner, der obendrein dumm ist! Und das seid ihr, einer wie der andere, und eure Sophia dazu hin!«

Hans zuckte nicht mit der Wimper, Agostini aber wurde finster.

»Es ist etwas Wahres an dem, was Sie sagen, Lichtenbach,« erwiderte er, seine Cigarette ärgerlich wegwerfend, »Darum will ich über Ihre Ungezogenheiten hinweggehen, die Sie mir sonst teuer bezahlen müßten . . .«

»Lassen Sie mich ungeschoren! Ihre Meinung ist mir höchst gleichgültig,« brummte Elias.

»Das ist verfehlt,« warf der Italiener mit einem bösen Blick hin. »Ein Graf Cesare Agostini ist nicht dazu geboren, sich von einem Lichtenbach unentgeltlich beleidigen zu lassen.«

»Ur entgeltlich?« höhnte Lichtenbach, »Das glaube ich Ihnen! Es wäre das erste Mal, daß Sie etwas unentgeltlich thäten!«

»Ruhe,« gebot Hans mit Überlegenheit, »Wir sind nicht hier, um Artigkeiten auszutauschen, sondern um eine Lösung der Schwierigkeit zu suchen. Daß die Baronin uns im Stich gelassen hat, ist sicher; wir wissen auch warum, nur haben wir's leider zu spät erkannt. Sie hat sich sinnlos in den jungen Menschen vergafft und darum ihren Auftrag nur zur Hälfte ausgeführt, sie hat sich gescheut, ihn auszupressen, aus Angst, er könnte sie hinterdrein verachten. Abgeschmackte Zimperlichkeit! Aber was nützt das Reden? Die Sache ist mißlungen und jetzt ist der Mensch auf seiner Hut und wird nichts mehr herauslassen, außer wenn ich's auf mich nähme, ihn in einer letzten Auseinandersetzung zu befragen. Das bleibt uns immer noch. Sparen wir uns diese Birne für den höchsten Durst! Für den Augenblick steht die Sache so: wir haben ein gutes Patent, denn unser Pulver ist, was die Zusammensetzung betrifft, das Trémontsche, aber es fehlt uns irgend ein Fabrikationsvorteil. Unser Pulver ist ein gewaltthätiger Sprengstoff, der Trémonts dagegen ein berechenbarer, lenkbarer, und gerade darin liegt seine Bedeutung. Unter diesen Umständen können wir Dalgetty sein Eigentumsrecht fordern lassen, und die Inhaber des Trémontschen Patents, das später eingereicht wurde, der Fälschung zeihen. Dann entsteht Lärm, Skandal, Prozeß, damit kann man einen Druck ausüben und schließlich einen Vergleich herbeiführen.«

»Wie denken Sie sich das?« fragte Lichtenbach gespannt.

»Schicken Sie Baradier & Graff einen klug gewählten Vermittler und lassen Sie ihnen Frieden bieten.«

»Den sie nicht annehmen werden!«

»Wer weiß? Es kommt darauf an, ihnen den Vorschlag mundgerecht zu machen, ihnen finanzielle und moralische Vorteile einzuräumen und ihnen ein Zusammenwerfen beider Geschäfte wünschenswert erscheinen zu lassen.«

»Das wäre Rettung, ja sogar Triumph!« rief Lichtenbach. »Wenn ich sie nur so weit hätte, daß sie mir den Finger böten, den ganzen Arm wollte ich dann schon packen!«

»Aha! Da werden Sie ja wieder ganz lebendig, alter Heuchler!«

»Wenn Sie wüßten, wie mich der Gedanke, von Baradier & Graff über den Löffel barbiert zu werden, martert! Mein ganzes Dasein wäre zwecklos gewesen! Seit ich in Paris bin, verfolge ich nur das eine Ziel, ihnen zu schaden, und diesem Lebensgenuß soll ich entsagen? Das wäre zu hart! Aber wen könnte ich zu ihnen schicken?«

»Einen Priester,« schlug Agostini vor.

»Den Abbé von Escayrac . . . falls er sich willig zeigt, mir diesen Dienst zu leisten? Ein herrlicher Gedanke! Er versteht es, die Gewissen zu lenken, die Geister zu bearbeiten. Aber was soll ich Baradier & Graff anbieten lassen?«

»Alles, wovon Sie wissen, daß es mit Anstand angenommen werden könnte! Auf die Kosten wird es Ihnen doch nicht ankommen? Sie machen sich ja später doch wieder bezahlt! . . . Haben Sie übrigens nicht eine Tochter? Sie soll sehr wohl erzogen und liebenswürdig sein, habe ich mir sagen lassen . . .«

»Nun, und ..?«

»Bieten Sie die dem kleinen Baradier an und eine unerhörte Mitgift dazu, . . . Vielleicht ist die Sophia doch dafür zu haben, daß sie diese Sache bei dem jungen Mann einfädelt.«

Nun aber lehnte sich Agostini auf. Heftig mit der flachen Hand auf den Tisch schlagend und die beiden Genossen mit mörderischen Blicken durchbohrend, fragte er: »Und ich? Wo bleibe ich bei dieser Vereinbarung? Vergessen Sie ganz, daß Fräulein Lichtenbach mir verlobt ist?«

»Dann entlobt man sich eben,« warf Hans gleichmütig hin.

»Maßen Sie sich etwa an, mich zu verspotten?«

»Ich verspotte niemand unnötig.«

»Also es ist Ihr Ernst? Sie wollen all meine Pläne über den Haufen werfen?«

»Und was wird denn aus Ihren Plänen, wenn Lichtenbach Bankerott macht? Und haben Sie sich denn unseren Freund Elias noch so wenig angesehen, Sie Grünschnabel? Halten Sie ihn für den Mann, sich mit Ihnen zu belasten, wenn Sie ihm nicht mehr nützlich sind? Sie sind schon jetzt um etliche Prozente gesunken in seiner Achtung, machen Sie also keine Geschichten. Wenn man Sie abfinden muß, weiß ich schon, wo das Geld zu finden ist . . .«

Der schöne Italiener legte die Hand aufs Herz.

»Aber welche Entschädigung wird mich über diesen Verlust trösten?«

»O Blume der Ritterlichkeit!« höhnte Hans. »Wir wissen's ja, daß Ihre Seele ebenso zart als zärtlich ist!«

Lichtenbach, der seit der Erwähnung seiner Tochter in Schweigen versunken war, nahm jetzt wieder das Wort.

»Ein Baradier eine Lichtenbach heiraten? Sollte es möglich sein? Niemals werden Baradier & Graff ihre Zustimmung geben . . . und ich selbst, ich sollte mich mit aller Macht gegen einen solchen Plan auflehnen . . .«

Wieder verstummte er, in Erinnerungen aus weit entlegener Zeit versinkend, dann fuhr er langsam und überlegend fort: »Und doch würde meine Tochter die Familie nicht verunzieren. Sie sind rechtschaffene Menschen! Und sie ist ein stolzes, reizendes Kind . . . wenn sie je einwilligten, so wäre ihr eine glückliche Zukunft gewiß. Sie könnte ein friedliches Leben in geachteter Stellung führen. Die Baradiers sind anständige Menschen! Wenn sie mein Kind als Tochter annähmen, würden sie ihr auch wie einer Tochter begegnen und sie fiele nicht einem Abenteurer zur Beute. Ich hasse diese Leute ja, ich will ihnen Übles, um all der Demütigungen willen, die sie mir bereitet haben . . . aber wenn sie wollten . . . wenn sie meine Tochter aufnähmen . . .«

Eine Thräne rollte über die Wange des harten Mannes, eine Thräne kostbarer als ein Diamant. Hans schnitt indes weitere Gefühlsergüsse ab, er war nicht der Mann für Rührscenen.

»Sie nehmen also meinen Plan auf? Sie werden dem Gegner gegenüber versöhnende Schritte einzuleiten versuchen? Was Sie ihm anbieten wollen, ist Ihre Sache; wenn's gelingt, so verschmelzen wir die beiden Patente. Nur Sie treten dabei an die Bildfläche, aber unser Anteil am Gewinn bleibt uns selbstverständlich vorbehalten . . . Sie sehen ja, daß Graf Cesare heißhungerig die Zähne blöckt. Also abgemacht?«

»Ja, es ist abgemacht.«

»Ihr Diener.«

Hans und Agostini gingen. Lichtenbach saß noch eine Weile gedankenvoll da, dann stand er auf und begab sich, eine lange Flucht von Zimmern durchschreitend, zu seiner Tochter. Mit einer Handarbeit beschäftigt, saß Marianne an einem Fenster, das nach dem Garten ging. Als der Vater eintrat, ging sie ihm entgegen. In einem hellblauen Morgenkleid mit Spitzen, die blonden Haare schlicht gescheitelt, sah sie so lieblich und mädchenhaft aus, daß es des Vaters Herz mit Rührung ergriff. Er setzte sich, zog sie neben sich aufs Sofa und begann mit einer liebevollen Heiterkeit, die ihr fremd an ihm war, zu plaudern.

»Es ist nun schon einige Zeit her, daß du dich bei mir eingerichtet hast, mein Kind . . . wie bist du eigentlich damit zufrieden? Findest du es nach deinem Geschmack?«

»Ich müßte fürchterlich undankbar sein, wenn ich nicht befriedigt wäre! Du läßt mich ja schalten und walten im Hause nach meinem Belieben. Es fragt sich viel eher, ob du damit zufrieden bist?«

»So sehr, mein Kind, daß ich mir wünschen könnte, es möchte immer so bleiben! Aber das geht ja nicht, du weißt, daß wir uns trennen müssen.«

Marianne wurde sehr ernst, ja ihr Lächeln hatte etwas Wehmütiges.

»Eines Tages, Väterchen, aber möge der Tag noch sehr fern sein! Nichts drängt uns zur Eile . . .«

»Du wirst dich verheiraten! Lockt dich der Gedanke nicht?«

»Das käme auf den Gatten an.«

Eine Stille trat ein. Dieser Mann, der die Menschen so hart handhabte, war diesem Kind gegenüber, mit dem er doch rechnete wie mit anderen Werten, befangen. Er wagte es nicht, von Agostini zu sprechen, den er ihr doch gestern noch zugeführt und angepriesen hatte, sie aber hatte den Mut, die Lage klarzustellen.

»Es beunruhigt mich ein wenig,« begann sie, »daß du den jungen Italiener, den Grafen Agostini, so freundlich aufnimmst, Vater, und deine Art, mir von ihm zu sprechen . . .«

»Aber, mein Kind . . .«

»Laß mich dir sagen, was ich auf dem Herzen habe, Vater! Nachher kannst du das Lob deines Bewerbers singen, aber gestatte mir, offen zu sein! Das ganze Gebaren deines Schützlings ist mir unheimlich. Es fehlt ihm an Ehrlichkeit, er ist mir zu schmeichlerisch, zu unterthänig. Dieser ewig lächelnde, ewig von Schmeicheleien überfließende Mund erweckt mein Mißtrauen, seine Stimme tönt mir falsch ins Ohr, um so mehr, als sein kalter, boshafter Blick die Liebenswürdigkeit seines Ausdrucks und die Süßigkeit seiner Reden Lügen straft . . . Und dann ist er ein Ausländer, Vater! Gibt es in Frankreich keine heiratsfähigen Männer mehr, daß du dir den Schwiegersohn jenseits der Grenze suchst? Er ist ein Graf, aber an solch einem Titel hängt mein Herz gar nicht. Er thut nichts, und ich möchte nur einen Mann haben, der die Arbeit liebt . . . Papa, hängst du denn so sehr an deinem Grafen? Wenn du mir Freude machen und mich nach meinem Sinn verheiraten wolltest, würdest du mir einen anderen Bewerber aussuchen. . . . Deine Tochter ist ja nicht die erste, beste . . . das hast du mir so oft, so eindringlich gesagt, daß ich leicht hätte eingebildet werden können, aber ich bin zum Glück verständig. Gib mir keinen unbeschäftigten, ehrsüchtigen, bösartigen Mann zum Gatten! Wenn du mich von einer Sorge befreien willst, so heiße den schönen Italiener ziehen! Das ist nicht der Mann, den ich brauche!«

Lichtenbach lächelte wohlwollend und fragte sie neckend: »Wie sieht denn der aus, den du brauchst?«

Marianne senkte errötend die Augen; eine Antwort fand sie nicht.

»Aha! Geheimnisse!« rief Lichtenbach. »Die muß man seinem Vater beichten! Solltest du schon einem begegnet sein, der dir gefiele, Töchterchen? Sag mir's nur, ganz ohne Scheu! Du weist ja, daß ich nie gegen deinen Willen handeln werde. Warum hast du mir nicht längst gesagt, daß dir der Graf mißfällt? Nun sag mir auch, wer dir gefällt . . . nur heraus mit der Sprache.«

»Nein, nein,« sagte sie, ohne die Augen aufzuschlagen. »Das ist überflüssig. Ich habe keinen anderen Wunsch, als immer bei dir zu bleiben, dabei bin ich am glücklichsten.«

»Das ist nicht die ganze Wahrheit,« rief Lichtenbach erregt, »und ich will sie wissen. Fürchtest du denn Schwierigkeiten? Ja? An wen denkst du? Kenne ich den jungen Mann?«

»Lassen wir das, Vater,« erklärte Marianne bestimmt. »Es war thöricht von mir, daran zu rühren . . . es könnte nur peinlich sein für dich und mich . . . du hast mich ja gewarnt, aber leider zu spät! Ich verspreche dir, nie mehr darauf zurückzukommen.«

»Du führst ja Reden, als ob es sich um meinen Todfeind handelte . . . sollte es möglich sein . . .

Er sprach den Namen Baradier nicht aus, aber Marianne fühlte, daß er ihn erraten hatte. Scheu hob sie den Blick, als ob sie dem Vater Abbitte leisten wolle für diesen halben Verrat, aber sie entdeckte auf seinen Zügen nichts von der Entrüstung, die sie erwartet hatte. Er blieb vollkommen ruhig und schien nachzudenken.

»Es ist Marcel Baradier, mit dem wir uns beschäftigen, nicht wahr, mein Kind?« fragte er dann in gelassenem Ton. »Es war ein Mißgriff, eine Unbesonnenheit, dich in dieses Haus gehen zu lassen, aber was geschehen ist, ist geschehen. Es läßt sich nicht zurücknehmen, nun gilt es nur, die Sache richtig anzugreifen.«

»Sie angreifen . . . du wolltest . . .« stammelte Marianne.

»Ja, mein geliebtes Kind, ich will's versuchen. Ich bin ja kein Unmensch; wenn es sich um dein Glück handelt, kann ich alles überwinden.«

»Du könntest deinen Groll vergessen?«

»Ich werde alles aufbieten, daß sie den ihrigen vergessen.«

»O mein Vater! Mein geliebter Vater!«

Sie warf sich ihm in einem solchen Freudensturm an die Brust, daß Lichtenbach vor Scham erblaßte. Zum erstenmal im Leben empfand er deutlich, was Niederträchtigkeit ist, und zwar ohne Zweifel, weil in diesem Fall sein Kind die Betrogene war. Zu gleicher Zeit drängte sich ihm der Gedanke auf, daß alle während des ganzen Lebens begangenen Fehler ein Kapital von Schuld bilden, das man zu einer bestimmten Stunde mit Demütigungen und Leiden verzinsen muß. Sein Kind mit Wehmut ansehend, sagte er diesmal mit voller Aufrichtigkeit: »So ernsthaft ist's? Nun denn, Marianne, ich werde alles Menschenmögliche thun, daß du glücklich werden sollst.«

Er küßte sie, ging in seine Geschäftsräume, gab dann Befehl einzuspannen und fuhr zum Abbé von Escayrac.



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