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Es war ein Abend im Januar. Fünf Personen saßen beisammen in dem luxuriösen Salon der Prinzessin Uranow. Es waren die Prinzessin, Genoveva, Fräulein Potts, Claud und Poinsot, welcher sich jetzt im Boulevard Malesherbes so heimisch fühlte, daß er mit zur Familie gezählt wurde. Am vorgestrigen Abend war im Théâtre du Colisée Clauds neues Stück mit einem Erfolge aufgeführt worden, der des Verfassers kühnste Hoffnungen überflügelte; so herrschte denn Freude in der kleinen Gesellschaft und man sprach fast von nichts als von dem neuen Stück.
»Mir ist, als hätte ich es selbst geschrieben,« sagte Varinka, »und nach all den schlaflosen Nächten, die es mich gekostet hat, möchte ich heute die ganze Façade des Hauses erleuchten, solchen Triumph empfinde ich über seinen Sieg.«
»Wir alle,« bemerkte Poinsot, »dürfen uns einen kleinen Teil des Sieges zurechnen, denn wir alle haben die Angst vorher mit durchgemacht. Wer kann vorher sagen, was dem großen Kinde, das man ›Publikum‹ nennt, gefallen wird?«
»Es erinnert mich so an diese Zeit vor einem Jahr,« meinte Fräulein Potts, »als Clauds erstes Stück zur Aufführung gelangte. Schade nur, daß wir einige Lücken in unserem Kreise zu beklagen haben.«
»Ach ja, der arme Glymno,« rief Genoveva. »Ich wünschte, er hätte dabei sein können. Es hätte ihm so gut gefallen, wie jedem von uns. Ich muß es ihm doch morgen schreiben.«
»Apropos, wo ist denn unser guter Glymno?« erkundigte sich Poinsot, dessen Grundsatz war, von jedermann nur Gutes zu reden. »Er war ein Mann von,« vergeblich suchte er nach einem geeigneten Ausdruck des Lobes und endete dann ziemlich schwach mit: »spaßhafter Eigentümlichkeit.«
Die Prinzessin machte eine Grimasse. Glymno mochte sich wohl gegen sie mehr »eigentümlich« als »spaßhaft« gezeigt haben.
»Er ist in Nizza,« erwiderte sie, »und ich hoffe um seiner Gesundheit willen, daß er dort auch bleiben wird. Es ist Wahnsinn, wenn er versucht, in einem Klima wie dies hier zu leben.«
»In dem Falle,« bemerkte Poinsot vollkommen ernsthaft, »müssen wir schon auf das Vergnügen seiner Gesellschaft verzichten. Aber er ist nicht der einzige Fehlende. Wir alle erwarten mit Ungeduld die frohe Nachricht, daß Madame bald zurückkehren wird,« fügte er mit einer höflichen Verbeugung gegen Claud hinzu. »Wir dürfen Madame auf ihrem heimatlichen Boden nicht zu feste Wurzeln schlagen lassen. Am Ende raubte sie uns noch unseren Autor von hier hinweg.«
» Cette chère petite!« murmelte die Prinzessin, die sich ihrer Busenfreundin vom vorigen Winter kaum noch erinnerte. »Du sprachst ja davon, Claud, in dieses Viertel herzuziehen? Ich weiß eine entzückende kleine Wohnung in der Avenue de la Reine Hortense – etwas ganz Bezauberndes, sage ich dir.«
Claud lächelte. Er hatte kein Verlangen, sich noch einmal Varinkas Führung in Haushaltsangelegenheiten zu überlassen. Er sagte nur: »Mein Ehrgeiz steuert nicht so hoch. Ich dachte an Neuilly.«
»Neuilly! Welche Idee! Als ob einer in Neuilly leben könnte! Männer verstehen doch von so etwas nicht die Spur! Das überlasse mir nur. Ich werde dir ein kleines Nest ausstaffieren, daß du deine Freude dran haben sollst.«
In diesem Augenblicke fielen ihre Augen auf die Uhr auf dem Kaminsims, und sie sah, daß die Stunde da war, in der einige ihrer Freunde sich zum Spiel einstellen sollten. So eilte sie denn weg, um ihren Reizen noch ein wenig nachzuhelfen.
In ihrer Abwesenheit trafen einige der Erwarteten ein, darunter Varinkas letzte Eroberung, der russische General Karakow, ein gedrungener, tatarisch wild aussehender Mann mit hervorstehenden Backenknochen, kleinen Augen und zurücktretender Stirn. Er war bei den übrigen Spielgenossen nicht sehr beliebt, weil sein ganzes Auftreten stolz und befehlshaberisch war und er Verluste nicht eben sanftmütig ertrug. Etwa ein Dutzend Menschen saßen plaudernd um den Kamin, als Varinka wieder in den Salon trat. Zugleich mit ihr, aber durch die gegenüberliegende Thür, trat noch ein Herr in das Zimmer, und die Prinzessin begrüßte ihn mit demselben Ton schreckhafter Ueberraschung, mit der sie ihn schon einmal begrüßt hatte.
»Sie!«
»Leider, ja, Prinzessin! Alte Liebe rostet nicht. Sie sehen, wie eitel das Bestreben ist, fern von Ihnen leben zu wollen. Sie sehen einen vollkommen Schiffbrüchigen vor sich – an Herz, Börse und Gesundheit.« Der dies sprach, war Glymno, Glymno mit seinem alten Grinsen und seinem alten Hustenanfall.
Die Prinzessin zuckte mit den Schultern, machte aber sonst gute Miene zum bösen Spiel. Die meisten Anwesenden waren schon mit Glymno bekannt, sie stellte ihm den General Karakow vor, mit dem er bisher noch nicht zusammengetroffen war. Der Kriegsmann verbeugte sich sehr steif und musterte den Fremden vom Kopf bis zu den Füßen mit einem forschenden Blick. Er liebte seine reisenden Landsleute überhaupt nicht, nun aber war diese neue Bekanntschaft, wie wir wissen, noch dazu mit einer nicht sehr einnehmenden Physiognomie gesegnet. Glymno beantwortete den forschenden Blick des Generals mit einem unverschämten Anstarren und ließ sich dann in einen Lehnstuhl neben Genoveva niederfallen, die sich teilnehmend nach seiner Gesundheit erkundigte.
»Ich danke Ihnen, meine Gesundheit ist so ziemlich, wie sie immer war, d. h. so schlecht wie nur möglich. Seit den letzten zwei Jahren erklären mir die Aerzte unabänderlich, ich könne jeden Tag sterben. Trotzdem befinde ich mich heute nicht schlechter als vor zwei Jahren – nur etwas schwächer. Um die Wahrheit zu gestehen, ich war vorhin nicht ganz aufrichtig gegen unsere teuerste Prinzessin. Was mich hertrieb, war kein Schiffbruch in Börse und Gesundheit (ich habe sogar zu Monaco unerhörtes Glück gehabt) – es war vor allem, nehmen Sie es nicht für ungut, das Verlangen, Sie noch einmal zu sehen. Ihre uneigennützige Herzensgüte ist schuld daran, daß ein alter Vagabund Sie jetzt mit seiner Gesellschaft langweilt. Sagen Sie mir: Haben Sie gute Nachrichten aus England?«
Genoveva antwortete nicht sogleich. Ihr alter Vertrauter schüchterte sie anfänglich immer ein. Als er jedoch ihre Zögerung übelzunehmen schien, sagte sie hastig: »Sie wissen, direkte Nachrichten habe ich nie; doch hört Claud zuweilen etwas von ihm.«
»Und alles steht gut? Nun, dann sind ja die Aussichten ganz erfreulich. Wir sind ja wohl tief ins zweite Jahr hinein, wie? Ich muß mir Mühe geben, noch das Ende desselben zu erreichen. So ist unser feierlicher d'Arblay verheiratet?«
»Ja,« lachte Genoveva sanft. »Man sagt, es soll eine Konvenienzheirat sein; aber ich glaube, er ist ganz glücklich mit seiner Frau. Das freut mich so. Ich konnte ihn immer gut leiden.«
»Ich auch, obgleich er mich mit edler Verachtung ehrte, worin er übrigens nicht allein steht. Wissen Sie, wer außer Ihnen die einzige Person ist, die mich je wie ein menschliches Wesen behandelt hat?«
Genoveva wußte es sehr wohl und war gern bereit, den warmen Lobeserhebungen zu lauschen, die Glymno über ihren abwesenden Geliebten mit Vorliebe hielt, weil ihm ihre unschuldige Frische und vertrauensvolle Liebe bei dieser Gelegenheit am vollsten entgegenduftete.
Es dauerte aber nicht lange, so zeigte sich in Glymno die Macht der Gewohnheit: er fing an, unruhig in seinem Stuhl hin und her zu rutschen und nach der Sammetportiere zu schielen, hinter der drei Viertel der Gesellschaft schon verschwunden waren. Genoveva bemerkte seine Sehnsucht, stand auf und sagte: »Ich habe Sie schon allzulange hier zurückgehalten, Varinka wird sich wundern, was aus Ihnen geworden sein mag und warum Sie sich nicht zu den übrigen gesellen.«
Glymno erhob sich und ließ Genoveva, ihren Bruder und Fräulein Potts im alleinigen Besitz des Salons. Auf Clauds Bitte unterhielt das junge Mädchen die beiden anderen mit ihrem melodischen, leise gehaltenen Violinspiel. So saßen sie bis tief in die Nacht beisammen, und als dann die Damen zur Ruhe gingen, schlug Claud den Vorhang auseinander und trat fast unbemerkt in das heiße, glänzend erleuchtete Gemach. Poinsot sah auf und nickte ihm zu, alle übrigen spielten ungestört weiter. Claud versah sich mit einer der schweren russischen Cigaretten, die Varinka mit ihren Gästen um die Wette rauchte und deren eigentümliches Parfüm, vermischt mit Punsch- und Weindunst schwer über der Luft des kleinen Boudoirs lag. Dann ließ er sich auf einem Diwan nieder und beobachtete die Spielenden. Es war kein sehr angenehmer Anblick, denn alle diese verschiedenen Personen, Varinka an der Spitze, waren von dem Dämon des Spieles besessen und sahen entstellt aus vor Gier und Leidenschaft.
Eine höchst lächerliche Rolle spielte dabei General Karakow. Sein Glück war so schlecht wie seine Laune. Er hatte sehr viel Geld verloren und stieß nun unaufhörlich Verwünschungen hervor, um so lauter, je größer die Summen waren, die er aus der Tasche hervorziehen mußte, die er aber den Gewinnern so heftig zuschleuderte, als hätte er sie ihnen am liebsten an den Kopf geworfen. Diese kleinen Liebenswürdigkeiten waren jedoch im Boulevard Malesherbes bekannt und fielen niemandem mehr auf. Nur Glymno beantwortete die Wutausbrüche des Generals mit einer übertriebenen Höflichkeit, die den Zorn des vom Unglück Verfolgten noch verdoppelte.
»Danken Sie mir nicht, Herr!« stieß Karakow endlich hervor, als Glymno mit höflichstem Dank eine gewonnene Summe einstrich. »Meinen Sie, ich trete mein Geld freiwillig an Sie ab, sacre bleu? Sie haben gewonnen, um so besser für Sie, schlimm genug für mich. Darüber brauchen Sie keine Worte zu verlieren.«
Varinka sah von ihren Karten auf und beschwichtigte den Aerger des Generals mit einem mechanischen: » Allons, allons, mon cher Général, ne nous fâchons pas!« Damit nahm das Spiel seinen Fortgang.
Claud wurde des Zuschauens bald müde und wollte sich soeben zur Ruhe begeben, als ein Aufschrei des Generals ihn zurückhielt. Er wandte sich um und sah den Mann aufspringen und mit purpurrotem Gesicht wie anklagend den Arm gegen Glymno aufheben. Claud wurde von der entsetzlichen Furcht gepackt, daß der anstößige Freund seiner Stiefmutter beim falschen Spiel ertappt worden sei, er wurde jedoch schnell aus dem Irrtum gerissen.
»Ich habe es! ich habe es!« polterte der General. »Vom ersten Augenblick an, wo mein Blick auf Sie fiel, hätte ich schwören können, daß ich schon einmal mit Ihnen zu thun gehabt habe, jetzt weiß ich es. Sehen Sie mich an, mein Herr, erkennen Sie mich?«
Varinka sah entsetzt aus. Glymno jedoch war vollkommen unerschüttert, studierte den General sehr sorgfältig von oben bis unten und schüttelte dann den Kopf. »Ich habe Sie noch nie in meinem Leben gesehen,« sagte er höflich und fügte dann mit schneidender Ironie hinzu: »Euer Excellenz sind so glücklich, eine so interessante und anziehende Physiognomie zu besitzen, daß man sie nicht so leicht wieder vergessen kann.«
»Ah, Sie erkennen mich nicht! Ueberlegen Sie noch einmal, Karakow, früher Lieutenant bei den Vierziger Kosaken.«
Glymno schüttelte abermals den Kopf.
»Ich werde Ihrem Gedächtnis zu Hilfe kommen!« schrie der andere – riß den Rock herunter und rollte den Hemdärmel in die Höhe. Ein Arm mit einer großen Narbe kam zum Vorschein.
»Sehen Sie hierher! Ah, Schurke, Sie haben bei mir ein Andenken hinterlassen, als mir Ihre verwünschte Kugel den Knochen im Arm zerschmetterte. Ihnen verdanke ich's nicht, daß ich heute mit gesunden Gliedern umherlaufe!«
»Ich habe früher sowohl wie neuerdings auf viele Leute geschossen,« bemerkte Glymno gleichgültig. »Der Arm Euer Excellenz ist mir so wenig bekannt, wie Ihr liebenswürdiges Gesicht.«
Claud konnte bei der kühlen Frechheit des Mannes ein Lachen nicht unterdrücken; die Prinzessin aber war bleich geworden und trieb mit den Händen ein nervöses Spiel.
General Karakow streifte den Hemdärmel herab und zog den Rock wieder an. »Ob Sie mich kennen oder nicht, ich kenne Sie,« brüllte er dann mit fast tierischer Wildheit. »Meine Herren, dieser Mann ist ein entlaufener Verbrecher – ein Mörder, der den Kaiser getötet hätte, wenn er nicht beizeiten verhaftet worden wäre. Sein Name ist Ladislaw Graf Ponetzky – und dies, meine Herren,« auf die Prinzessin Uranow deutend, »ist seine Gattin.«
Das war eine schöne Entdeckung! Die ganze Gesellschaft verstummte. Der General sah sich mit einem Lächeln boshaften Triumphes um und rüstete sich dann zum Fortgehen.
»Prinzessin,« sagte er mit einer tiefen Verbeugung gegen Varinka, »ich habe die Ehre, Ihnen eine gute Nacht zu wünschen. Gern will ich glauben, daß Sie zur Zeit Ihrer Verheiratung mit Herrn Gervis, wie wir alle, voraussetzten, dieser Missethäter sei tot. Ich beklage Ihre jetzige unglückliche Lage; doch kann ich Ihnen nicht verhehlen, daß ich in wenigen Stunden Ihren Gatten bei der Gesandtschaft anzeigen werde, wie es meine Schuldigkeit ist.«
Damit stolzierte er aus dem Gemach.
Die entsetzten Spielgenossen saßen sprachlos da. Varinka hatte ihren Lockenkopf auf den Tisch gelegt und das Gesicht in den Händen verborgen. Glymno saß mit ausgestreckten Beinen, die Hände in den Hosentaschen vergraben, da und starrte in die Ferne. Die Karten lagen zerstreut auf dem Tische umher, es sah aus, als wären alle Zeugen des schrecklichen Auftrittes versteinert worden. Wie lange sie so beisammen saßen, konnte Claud nie mit Bestimmtheit angeben; er wußte nur, daß nach einiger Zeit die Fremden alle verschwunden waren und er mit Glymno und der unglücklichen Dame, die er nicht mehr seine Stiefmutter nennen durfte, sich allein befand.
Varinka, die noch immer das Gesicht in den Händen vergraben hatte, stieß abgebrochene Klagelaute aus: »Womit habe ich es verdient, daß gerade mir immer solche gräßliche Dinge zustoßen? Ich kann mich nie mehr in Paris sehen lassen! Ich will es nicht überleben – ich werfe mich in die Seine oder öffne mir eine Ader! … Nach all den Jahren fürchterlicher Angst und unaufhörlicher Geldopfer muß es nun durch einen so außerordentlichen Zufall herauskommen! Noch dazu, wo das Ende so nahe zu sein schien!« setzte sie aufrichtig genug hinzu.
Glymno machte eine wunderliche Grimasse.
»Nur zu wahr!« sagte er. »Es ist ein schlechter Streich, den ihr Fortuna da spielt. Ich hätte wenigstens vergangenen Winter sterben sollen. Mir ahnte schon, daß etwas Schlimmes im Anzuge war, als ich sah, wie wir beide die ganze Nacht hindurch gewannen.« Sein Blick ruhte auf dem Haufen Gold vor ihm, er strich es ein und steckte es in die Tasche. Dann fuhr er zu Claud gewendet fort: »Ich vermute, daß Sie gern etwas Näheres über die Geschichte hören möchten?«
Claud bejahte diese Frage. Glymno zündete sich bedächtig eine Cigarette an, die er einem roten, juchtenduftenden Etui entnahm, und lehnte sich so bequem zurück, als wenn er eine recht ausgedehnte Geschichte anfangen wollte.