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Dreißigstes Kapitel.
Ausgezeichneter Rat

Küsse gehören unglücklicherweise unter die Gaben, die wohl zurückgegeben, aber nicht zurückgenommen werden können. Freddy hatte bei seinem Kuß weiter nichts beabsichtigt, als seine junge Freundin mit seinem Mitgefühl zu trösten; schnell genug wurde er inne, daß Frau Gervis ihm eine ganz andere Bedeutung beilegte. Im Augenblick war ihr Benehmen allerdings würdig und taktvoll. Ohne Ueberstürzung oder tugendhafte Entrüstung stand sie sofort auf und sagte ernst: »Es ist Zeit, daß wir uns auf den Heimweg begeben.«

Auf ihrem langen Heimritt machte sie keine direkte Anspielung auf das Geschehene. Dennoch war schon, als Freddy sich zum Diner ankleidete, die Ueberzeugung in ihm wach gerufen, daß er weiter gegangen war, als in seiner Absicht gelegen, und daß er vollkommen mißverstanden worden.

Als er dann später am Abend Nina gute Nacht und lebewohl sagte und diese ihm zuflüsterte: »Kommen Sie bald nach Croft Manor; ich muß Sie noch einmal sehen, ehe ich wieder ins Ausland gehe,« da sagte er leise vor sich hin: »Ich bin wieder einmal gründlich 'reingefallen!«

Am nächsten Morgen fuhr er nach Newmarket ab mit dem weisen Entschluß, sich während Ninas Aufenthalt in England soviel wie möglich von ihr fern zu halten; aus zwei Gründen aber hielt er diesen Entschluß nicht: erstens, weil Nina ihre Rückreise nach Paris bis nach Weihnachten aufschob, zweitens, weil es ihm an Mut fehlte. Als er in Flemyngs Hause einen Besuch abstattete, empfing ihn Nina in einer Weise, die ihn halb tot ängstigte. Sie schien es für verbürgt anzunehmen, daß er vor Liebe zu ihr vergehe. Sie ließ ein Wort von ihrer Pflicht fallen, sagte ihm, sie könne seine Besuche nicht häufig gestatten, höchstens dreimal in der Woche, und unter keinen Umständen dürfe sie Reden anhören – die zu äußern ihm nicht entfernt in den Sinn kam. Kurz, sie nahm eine so entschiedene Defensivstellung an, daß er sich unwillkürlich in die Rolle schickte, die sie ihm zuwies und statt wegzulaufen, ihr – den Hof zu machen fortfuhr. Als er wirklich eine Zeitlang wegging, schrieb sie an ihn. Als er vorhatte, im Dezember acht bis vierzehn Tage in London zu verleben, richtete sie es ein, daß sie zur selben Zeit einen vierzehntägigen Besuch bei einer alten Tante in London abstattete.

In dieser Zeit war es, daß ich, der bescheidene Erzähler dieser Geschichte, eine Einladung zum Diner bei einer Verwandten erhielt, die sich vorübergehend in London aufhielt. Sie bemerkte auf der Einladung, ich würde auch meinen Freund Gervis bei ihr finden. Als ich anlangte, befand der alte Diplomat sich bereits in dem Speisezimmer, streckte mir seine kleine, weiße Hand entgegen und sprach von dem Vergnügen, das er empfinde, mich nach einem Zwischenraum von einem Jahre frisch und gesund wiederzusehen. Ich gab ihm das Kompliment zurück; er aber zuckte mit den Achseln und sagte entschuldigend: »Ich muß mich wirklich schämen. Wie Sie sehen, bin ich noch immer in der Welt, zum großen Verdruß für viele Leute, und ich kann nicht sagen, daß meine Gesundheit schlechter ist als vor einem Jahre um diese Zeit. In meinem Alter und bei der Anzahl von Krankheiten, an denen die Aerzte mich leiden lassen, hätte ich längst dem jüngeren Geschlecht Platz machen sollen. Ich tröste mich indessen mit dem Gedanken, daß die Vorsehung mich doch wohl zu irgend eines Menschen Nutzen so lange aufsparen muß.«

Gervis legte den Kopf auf die Seite und sah mich mit seinen listigen Augen unter den halbgeschlossenen Lidern hervor an. Auf meine Erkundigung nach seinen Kindern, sagte er mir, er komme soeben von Paris und habe beide gesund verlassen. Mitteilsamer schien er hierüber nicht werden zu wollen.

Unsere Unterhaltung wurde durch Freddy Crofts Eintritt unterbrochen, der, als er meinen Nachbar erkannte, in nicht geringe Verlegenheit geriet. Er beantwortete des alten Herrn gemütliche Bemerkungen, ohne sie mehr als halb gehört zu haben, kaute an seinem Schnurrbart und starrte nur immer nervös nach der Thür. Mir wurde sein Benehmen erst verständlich, als auf einmal – Frau Claud Gervis angemeldet wurde.

Nina rauschte herein – außerordentlich hübsch, in einem Anzug, der mir nach oberflächlicher Schätzung fünfzig Guineen wert schien ohne die Spitzen.

Die junge Frau mußte wohl von meiner Cousine gleich an der Thür vorbereitet worden sein, denn sie ging sogleich auf ihren Schwiegervater zu und reichte ihm mit einem freundlichen Gruße die Hand, ohne einen Anflug von Zaudern oder Verlegenheit. Er verbeugte sich vor ihr etwas tiefer, als es in unseren Tagen Sitte ist, und in seinen Augen blinzelte etwas, als ob die Lage ihm vielen Scherz mache; sofort aber schloß er die Augen wieder halb, und aus seinen sonstigen Zügen war nichts herauszulesen.

»Ich hoffe, Sie haben gute Nachrichten von Claud?« sagte er in seiner leisen, gemessenen Weise.

»O ja. Ich habe erst vor ein paar Tagen von ihm gehört. Er erwähnte auch, daß er Sie gesehen hätte.«

Damit wandte sie sich zu einem anderen und sprach ein paar Worte mit ihm, und mir schien es, als ob Freddy, der dieses Zusammentreffen mit offenbarer Besorgnis beobachtet hatte, freier atmete.

Der junge Baron führte meine Cousine zu Tische, zu seiner Linken hatte er Nina. Als ich vom entgegengesetzten Ende der Tafel das junge Paar beobachtete, konnte ich nicht umhin, das Betragen beider ziemlich anstößig zu finden. Sie tauschten viele bedeutsame Blicke und leises Geflüster miteinander aus. Ich wurde bald inne, daß ich nicht der einzige war, der diese Unschicklichkeit beobachtete; auch Ninas Schwiegervater studierte die Schuldigen sorgfältig, und, nach dem Ausdruck seiner Züge zu urteilen, machte ihm das ein unendliches Vergnügen.

Nachdem er seine Beobachtung mit bald nach rechts, bald nach links geneigtem Kopfe längere Zeit fortgesetzt hatte, redete er seine Schwiegertochter plötzlich an.

»Jedenfalls wissen Sie doch schon, daß Claud im Begriff ist, ein neues Stück auf die Bühne zu bringen?«

Wenn es seine Absicht war, sie zusammenfahren zu sehen, so gelang sie ihm glänzend. Nina befand sich tief in einer leise geflüsterten Konversation mit Freddy, als der Schall dieser nie erhobenen, und doch stets vernehmbaren Stimme in ihr Ohr fiel.

»Ich – nein; ich habe nichts davon gehört.«

Gervis zog einen Augenblick leicht die Augenbrauen in die Höhe.

»O, wirklich? Wahrscheinlich hatte er vor, Sie angenehm zu überraschen. In einigen Wochen findet, wie ich glaube, die erste Aufführung statt.«

»Dann, fürchte ich, werde ich ihr nicht beiwohnen können,« erwiderte Nina kühn. »Es ist über meine Rückkehr nach Paris noch nichts festgesetzt.«

»Ah, Sie lieben vielleicht Paris nicht? Manche Leute finden keinen Geschmack daran. Ich meinerseits halte Paris für einen der wenigen Orte in der Welt, wo zu leben sich lohnt. Sicher würde ich mich ganz dort niederlassen, wenn das nicht die Verpflichtung mit sich brächte, daß ich am Boulevard Malesherbes residierte. Ich zweifle aber daran, ob die Luft in jenem Viertel für Leute mit empfindlichen Nerven sehr zuträglich ist. Was meinen Sie, Croft? Sie waren ja auch im Frühling in Paris, wie ich höre.«

Freddy errötete bis über die Ohren.

»Ich ging nicht in das Haus der Prinzessin,« stolperte er heraus.

»Ah – nein, freilich nicht. Ich vergaß.«

Damit sank Gervis wieder in seinen Stuhl zurück.

Die ganzen nächsten anderthalb Stunden setzte er dies Benehmen fort. Das unglückliche Paar ihm gegenüber war auch nicht einen Augenblick vor ihm sicher. Vergebens stellten sie sich, als hätten sie sich nichts Besonderes zu sagen und plauderten mit unnötig lauter Stimme über die Jagdaussichten; vergebens warteten sie auf eine Gelegenheit, wo ihr Feind anderweitig beschäftigt wäre, um ihre vertrauliche Unterhaltung wieder aufnehmen zu können. Ohne seine geselligen Pflichten zu vernachlässigen, hielt Gervis Augen und Ohren offen für ihr Verhalten, und nicht sobald hatte er durch eine scheinbare politische Diskussion mit meiner Cousine sie in eine falsche Sicherheit gelullt, als er auch schon wieder mit einer harmlosen Frage oder einer doppelsinnigen Anspielung auf sie eindrang. Sie zogen sich aus dieser Feuerprobe übrigens noch mit ziemlichem Glück heraus, da Nina große Geistesgegenwart offenbarte. Freddys Hauptprüfung kam erst nach Tische, als die Damen sich zurückgezogen hatten. Ohne seine geistvolle Verbündete war Freddy dem verschleierten Sarkasmus des alten Gervis nicht gewachsen, schien diesen vielmehr für das Mundstück seines eigenen Gewissens anzusehen. Bald genug gab er den Kampf auf und suchte das Weite. Er zog die Uhr und spielte den Erstaunten.

»Beim Zeus! Ich hatte keine Ahnung, daß es schon nach halb elf wäre! Ich habe mich mit jemandem um elf Uhr verabredet. Bitte, lieber Knowles, entschuldigen Sie mich bei den Damen, ich muß sogleich fort und kann nicht erst nach oben gehen.«

So sagte er uns allen eine hastige gute Nacht und entfernte sich. Ich war nicht sehr überrascht, ihn am folgenden Morgen, als ich noch beim Frühstück saß, in meinem Zimmer auftauchen zu sehen, und zwar mit einem sehr kläglichen Gesicht und der dringenden Bitte um Rat und Hilfe.

»Ich will ihnen sagen, Knowles, wie es mit mir steht,« rief er und warf sich in meinen bequemsten Lehnstuhl, ohne Rücksicht auf dessen Sprungfedern. »Wenn Sie wüßten, wie nahe ich daran war, mich aufzuhängen!«

So fing er denn an, unter vielen Selbstvorwürfen mir alles zu beichten, was sich in Lincolnshire ereignet hatte, ohne das Geringste zu bemänteln, nicht einmal den verhängnisvollen Kuß an den Ufern der Nordsee, und gelobte (wie ich glaube, es schon vordem ein und das andere Mal von ihm gehört zu haben), daß, wenn er nur diesmal mit heiler Haut davonkäme, er niemals wieder mit einem lebenden Frauenzimmer zusammen reiten, fahren oder spazieren gehen wolle.

Als er zu Ende war, räusperte ich mich und sagte ihm ziemlich scharf meine Meinung. Da man doch nun nicht alle Tage den Genuß hat, vom Richterstuhl der Weisheit und Tugend herab einen Uebelthäter zu verdonnern, so ließ ich mich dabei mit ziemlicher Behaglichkeit gehen und ich muß sagen, er hörte mir mit gebührender Unterwürfigkeit zu. Endlich schloß ich mit den Worten: »Wir müssen jetzt mit Thatsachen rechnen. Sie haben sich in eine höchst ungemütliche Klemme gebracht und können nicht anders als auf eine ungemütliche Weise herauskommen. Ich gebe zu, daß es nicht angenehm ist, zu einer Dame zu sagen: ›Verehrte Frau, Sie scheinen das Opfer einer Hallucination zu sein. Ich liebe Sie nicht mehr, als ich die Königin Viktoria liebe. Soweit bin ich entfernt davon, daß ich vielmehr, wie Sie wohl wissen, eine andere von Herzen anbete. Lassen Sie uns unter diesen Umständen denn das Vergangene in Vergessenheit begraben, und uns wenigstens vorläufig streng voneinander fernhalten!‹«

»Barmherziger Himmel!« stöhnte Freddy, »wie kann ein Mensch so etwas über seine Lippen bringen! Das kann man schlechterdings nicht sagen.«

»Dessenungeachtet, mein Freund, werden Sie es sagen müssen. Sie brauchen nicht gerade dieselben Worte anzuwenden, aber den Sinn derselben müssen Sie Nina so klar machen, daß keine weitere Diskussion darüber möglich ist.«

»O, es ist sehr leicht, so von weitem die Sache abzumachen; aber Sie ziehen ihre Gefühle gar nicht in Betracht.«

»Ihre Gefühle!? Sie bilden sich doch nicht etwa ein, die Frau liebe Sie?«

Freddy kratzte sich den Kopf und sah mich mit einem wunderlichen Blicke an.

»Je nun – wissen Sie – o, Sie mögen mich so viel auslachen, wie Sie wollen – ich glaube, sie hat eine starke Neigung für mich. Wenigstens gibt sie es mir deutlich genug zu verstehen.«

»Was Sie sagen!«

»Ja. Und wenn eine Dame einem so etwas zu verstehen gibt, so – so sind Sie gewissermaßen verpflichtet – o, zum Teufel! Sie wissen, was ich sagen will. Erst dachte ich, sie ginge ja in einigen Wochen nach Paris zurück und damit habe die Sache doch ein Ende. Dann aber schob sie ihre Abreise bis Weihnachten hinaus, und jetzt hat sie sie gar noch weiter vertagt. Ich kann mir nun nicht helfen, ich muß mit ihr verkehren – und – kurz und gut, Knowles –«

»Kurz und gut, Freddy, Sie haben Thorheiten begangen, die sie gar nicht begehen wollten, und sind nun zu feige, zurückzutreten. Nur um nicht eine unangenehme Scene durchzumachen, setzen Sie Ihr ganzes zukünftiges Glück aufs Spiel.«

»Ja, man wird die Sache wohl so ausdrücken können.«

»Wie die Sache ausgedrückt werden kann, hat nicht viel zu bedeuten. Aber das muß ich Ihnen sagen, Freddy, wenn Sie wirklich so schwach und unentschlossen sind, wie Sie sich stellen, so schaffen Sie sich wenigstens so viel Seelenkraft an, wie Sie damals bei Miß Lambert offenbart haben, und machen Sie sich aus dem Staube. Verstecken Sie sich in Indien oder Aegypten, nur lassen Sie sich hier nicht eher wieder sehen, als bis Nina an ihren häuslichen Herd zurückgekehrt ist. Ihre Braut wird selbstverständlich alle Vorgänge des gestrigen Abends erfahren. Ob sie Ihnen verzeihen wird, müssen Sie besser wissen als ich; so viel läßt sich aber sicher erwarten, daß sie keinen Verkehr mehr mit Ihnen aufrecht erhalten wird, wenn Sie nicht sogleich mit Nina brechen.«

Freddy schüttelte verzweiflungsvoll den Kopf.

»Es ist eine gräßliche Geschichte, so viel steht fest. Wie ich aber herauskommen soll, kann ich noch nicht einsehen. Ich werde die Dinge ihren Gang gehen lassen und abwarten, was daraus wird.«

Sein Starrsinn brachte mich endlich um alle Geduld.

»So gehen Sie Ihren eigenen Weg, zum Teufel, Sie Schote, und fahren Sie meinethalben mit Nina zur Hölle!« rief ich aus. »Wenn Sie denn doch eine so jämmerliche Memme sind, so kann man Ihrer Braut nur Glück wünschen, wenn sie von Ihnen loskommt. Sie ist, Gott sei Dank, noch jung. Sie wird den Verlust überwinden und einen besseren Mann heiraten, hoffe ich.«

Freddy nahm seinen Hut und ging niedergeschlagen, aber nicht erzürnt von dannen. Ich war halb geneigt, ihn zurückzurufen, ehe er ganz die Treppe hinunter war: doch gab ich dem Antriebe dazu nicht nach. Es fiel mir ein, daß solche Leute wie er mit rauher Hand angefaßt werden müßten, und daß er bei einsamem Nachdenken vielleicht auf meine Idee eingehen und sich dadurch retten dürfte.

Wie ich später erfuhr, ging der junge Mann von mir direkt nach einem Hause in South Kensington, wo er ein Zusammentreffen mit Nina verabredet hatte. Höchst wahrscheinlich sagte er ihr, wo er gewesen war, und höchst wahrscheinlich holte sie dann vom übrigen von ihm heraus, was ihr wissenswert erschien.

Kurz darauf kehrten beide nach Beachborough zurück, und es bedurfte nicht langer Zeit, um die ganze Gegend über ihre unpassende Vertraulichkeit reden zu hören. Es war allerdings wunderbar, wie Ninas sonstige Achtung vor Anstand und guter Sitte sie in diesem Fall verlassen hatte. Sie schien es darauf angelegt zu haben, der öffentlichen Meinung zu trotzen, und ließ sich unter anderem täglich zur Promenadenzeit mit ihrem vorgeblichen Anbeter auf der belebten Esplanade sehen – ein tragikomischer Anblick, denn Freddy schlich so scheu neben ihr her wie das böse Gewissen.

Eines Tages kam ihr der unglückliche Einfall, meiner Großmutter einen Besuch abzustatten. Es waren noch mehrere andere Besucher im Zimmer, und die alte bissige Frau Knowles empfing Nina mit einem wütenden Grinsen.

»Ich glaubte, Sie wären längst zu Ihrem Gatten zurückgekehrt?« sagte sie, laut genug, um von allen Anwesenden gehört zu werden.

»Nein, noch nicht,« antwortete Nina sehr liebenswürdig. »Er wünscht meine Rückkehr nicht eher, als bis er ein Haus für mich hat.«

»O, ein Haus? Und wenn ich fragen darf, worin wohnt der Mann denn jetzt? In einem Zelte?«

»Er wohnt in der Rue d'Amsterdam, Frau Knowles,« sagte Nina mit zunehmender Liebenswürdigkeit. »Wünschen Sie vielleicht auch die Hausnummer zu wissen?«

»Nein, ich danke Ihnen. Ich kann mir seine Adresse anderweitig verschaffen, falls ich Lust habe, an ihn zu schreiben, was vielleicht in den nächsten Tagen geschehen kann. Ich an Ihrer Stelle würde aber hinübergehen und das neue Haus selbst aussuchen helfen. Ich habe gehört, daß Leute von hohem Rang jetzt gern gesonderte Haushaltungen führen; Sie werden aber finden, daß in der Mittelklasse, wozu Sie und ich gehören, noch immer die Sitte herrscht, daß die Frauen mit ihren Männern zusammenwohnen. Ich hoffe, daß, wenn Sie mich wieder besuchen, Sie auch Ihren Gatten mitbringen werden. Bis dahin leben Sie wohl.«

Man kann sich leicht das Wohlbehagen vorstellen, mit dem diese Zurechtweisung von den Anwesenden mit angehört wurde, und die triumphierenden Blicke, mit denen die niedergedonnerte Verbrecherin auf ihrem Wege durch das Zimmer verfolgt wurde. Nina hat danach erklärt, daß unter all den unverschämten, unfeinen Leuten in Beachborough meine Großmutter bei weitem die schlimmste sei.

An demselben Nachmittag aber war ihr noch eine andere offene Rüge von einem bescheideneren Teile der Bevölkerung zugedacht. Sie traf im Zwielicht mit einem Haufen von Fischern und Bootsleuten zusammen, unter denen die hohe Figur und die breiten Schultern unseres alten Bekannten, Tom Burvill, hervorragten. Als Nina mit vorgehaltenem Taschentuch – die Fischer strömten nämlich nicht gerade das feinste Parfüm aus – an ihnen vorüberschritt, trat Tom in erheucheltem Respekt zur Seite und rief seinen Gefährten laut zu: »Heda, ihr, geht doch mal schnell aus dem Wege, daß die Dame vorbei kann. Ihr seid lange nicht gut genug, um eine und dieselbe Luft mit ihr zu atmen. Ei, wo denkt ihr hin! Für die ist doch nichts in der Welt gut genug. Erst war ihr ihre Familie nicht gut genug, jetzt ist's ihr Mann, nächstens wird's ihr Name sein.«

Mangel an Mut konnte man Nina nie vorwerfen. Sie kehrte sogleich um, und trat Tom Burvill gegenüber.

»Was sagen Sie da? Wiederholen Sie das gefälligst!«

»Ich habe doch zu Ihnen nichts gesagt! Ich habe bloß mit meinen Freunden geredet.«

»Nun, wissen Sie, ein andermal, wenn Sie auf der Straße eine Dame insultieren wollen, so suchen Sie sich eine andere dazu aus, wenn Sie nicht gerade Verlangen haben, eingesperrt zu werden. Ich versichere Sie, daß mein Vater Sie nicht vergessen hat, und daß ihm mehr von Ihnen bekannt ist, als Sie sich's träumen lassen. Nach dem, was heute geschehen ist, wird er seine Augen offen über Sie halten.«

»So? Ei was! Wissen Sie, wenn Sie nach Hause kommen, so grüßen Sie doch Ihren Papa recht schön von mir, und er soll doch seine Augen für die Leute offen halten, die es nötiger brauchen, als ich. Ihr Herr Papa hat nämlich eine Tochter, die es dringend nötig hätte, daß man auf sie acht gäbe! Kennen Sie die Tochter vielleicht, Madame? Ihr Herr Papa scheint mir keine Augen im Kopfe zu haben, sonst – –«

Nina zog es vor, die Unterredung abzubrechen. Mit hocherhobenem Kopfe ging sie ihres Weges weiter, aber in ihrem Herzen sah es ganz eigentümlich aus: Wenn ihr Stolz sie nicht daran gehindert hätte, so wäre sie gern in Thränen ausgebrochen.

Wenn nur ein halbwegs passendes männliches Individuum in Beachborough oder dessen Umgebung gewesen wäre, das als Schadenersatz hätte eintreten können, sie hätte am liebsten den jetzt ohnehin so trübseligen Freddy seines Dienstes enthoben; da ein anderer Anbeter aber absolut nicht vorhanden war, mußte sie den armen jungen Baron vorläufig schon noch festhalten.



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