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Die im letzten Kapitel beschriebene Flucht und heimliche Vermählung machte in Beachborough und Umgegend nicht geringes Aufsehen und die Nachricht davon breitete sich erstaunlich rasch aus. Unglaublich schnell drang die Neuigkeit auch zu mir nach London, und ich war selbstverständlich sehr geneigt, die That meines jungen Freundes als einen dummen Streich zu bezeichnen.
Ein paar Tage darauf kam ich nach Beachborough und es traf sich, daß meine Großmutter eine größere Gesellschaft gab, bei der Frau Bagshawe, die Gattin des Admirals, meine Tischnachbarin war. Es war nicht zu verkennen, daß sie interessante Neuigkeiten auf dem Herzen hatte und vor Begierde brannte, sie sich nicht durch einen anderen wegschnappen zu sehen. Ich war zu mitleidig, um ihr nicht zu Hilfe zu kommen.
»Nun, ist in Beachborough nichts Neues passiert?«
»Je nun,« fing sie mit einem strahlenden Lächeln an. »Ich sollte aber vielleicht nicht darüber reden. Und wahrscheinlich ist es Ihnen auch gar nichts Neues mehr, da Sie ein so großer Freund der Familie sind.«
»Ich versichere Sie, daß ich fast gar nichts gehört habe. Natürlich weiß ich, daß eine heimliche Vermählung stattgefunden hat; aber viel weiter erstreckt sich meine Kenntnis nicht.«
»O, das ist eine sehr alte Geschichte! Davon sind ja längst alle Einzelheiten bekannt. Aber die Gervis sind wirklich sehr merkwürdige Leute; da scheint immer etwas zu passieren. Haben Sie neuerdings etwas über Fräulein Genoveva gehört?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Was? Nichts über sie und Sir Frederick Croft? O, Herr Knowles, Sie haben ganz gewiß etwas davon gehört und wollen es nur nicht zugeben. Sie sind allzu vorsichtig.«
Ich protestierte gegen diese unbegründete Anschuldigung, und Frau Bagshawe segelte nunmehr mit frischem Mute mitten in ihr Thema hinein.
»Ich hörte es heute nachmittag von Fräulein Pennefather, die bei Lady Croft Visite gemacht hat. Sir Frederick hat vorgestern um Fräulein Genoveva angehalten, aber Herr Gervis wollte von der Verbindung nichts hören. Keine Gründe angegeben, keine Bedingungen gestellt – nichts. Eine einfache, direkte Abweisung! Und das, obgleich das Mädchen mit beiden Händen zugegriffen hätte. Lady Croft soll sich in einem schrecklichen Zustande befinden. Jeder muß ja freilich am besten wissen, was er thut; aber nach allem, was vorgegangen ist, denke ich, ist doch sein Benehmen im höchsten Grade befremdend. Finden Sie das nicht auch?«
»So etwas ist mir in meinem Leben noch nicht vorgekommen.«
»Genau, was ich selbst gesagt habe! Meine eigenen Worte! ›Fräulein Pennefather‹, sagte ich, ›so etwas ist mir in meinem Leben noch nicht vorgekommen.‹ Ja, wenn der junge Mann nicht auf alle Weise ermutigt worden wäre! Ich kann nicht leugnen, daß Sir Frederick kein Mann ist, wie ich ihn für eine von meinen Töchtern gewählt hätte. Aber das muß Herr Gervis den ganzen Sommer über gewußt haben, und über das Ende vom Liede kann er auch nicht im unklaren gewesen sein. Verlassen Sie sich darauf, es muß mehr dahinter stecken. Was ist das Motiv des Mannes? Das frage ich mich bloß. Was ist sein Motiv?«
»Stolz!« erklärte Frau Pender mit tiefer, kläglicher Stimme. Frau Pender ist eine Frau von wenigen Worten, aber was sie sagt, trifft gewöhnlich den Nagel auf den Kopf. Leider ist sie jedoch bei der Tischgesellschaft schlecht angeschrieben, da man ihr zutraut, daß sie sich selbst für die einzige Person hält, die reif ist, in den Himmel einzugehen. So ruft denn ihr Verdikt über den armen Gervis von mehr als einer Seite lebhaften Widerspruch hervor, und schließlich kommt es gar zu einem bissigen Zungengefecht. Was sich mir dabei abermals aufdrängte, war die Beobachtung, daß Gervis bis zu diesem Augenblicke die tiefe Abneigung seiner Nachbarn noch nicht hatte besiegen können.
Als ich dem letzten Gast in seine Kutsche geholfen hatte und meine Großmutter in ihrem Zimmer aufsuchte, fand ich sie schon bei der Familientafel, um Abendandacht zu halten. Daß dann nichts mehr von ihr zu erfahren war, wußte ich. Sie zeigte sich aber auch am nächsten Morgen nicht mitteilsamer, und während der Besuche und Besorgungen, die ich an diesem Tage zu machen hatte, überlegte ich nur immer, ob ich Gervis meine Aufwartung machen sollte oder nicht. Um fünf Uhr trat Gervis selbst in das Zimmer.
Er war gütig genug, Freude über meine Anwesenheit auszudrücken, erstens, weil er meine Bekanntschaft dadurch erneuern könne, und zweitens, weil ich ihm bei Ausführung eines guten Werkes behilflich sein müsse. Ich glaubte, er wünsche durch mich eine Vereinigung der getrennten Parteien zustande zu bringen, und erklärte mich daher mit Freuden bereit, ihm meine Dienste in jeder gewünschten Weise zu widmen. Wie groß war meine Ueberraschung, als ich erfuhr, wozu er meine Hilfe begehrte.
»Ich bin im Begriff,« sagte er, nach einem höflichen Danke gegen mich, »die Leute in Beachborough einmal bei mir zu sehen. Es ist unter den obwaltenden Umständen ein schwieriges Unternehmen, aber ich halte es für unvermeidlich. Ich beabsichtige einen großen Ball zu geben und wollte mich wegen der zu erlassenden Einladungen soeben an Frau Knowles wenden. Da bin ich nun so glücklich, Sie zu treffen, der mir dabei gewiß von noch größerem Nutzen sein kann. Wäre Claud hier, so hätte ich ihm das äußere Arrangement überlassen, allein Claud, wie Sie wissen, hat mich verlassen. Ich hoffe, Sie werden Ihre Hilfe einem alten Manne nicht verweigern, der sich plötzlich ohne seine Schuld seiner rechten Hand beraubt sieht.«
Wer konnte einem so pathetischen Appell widerstehen? Allerdings wurde er in nicht sehr pathetischen Tönen gemacht; aber Schwäche und Weichheit war von Gervis überhaupt nicht zu erwarten. Da ich jedoch wußte, was Vater und Sohn einander gewesen, so wurde mein Mitgefühl mit dem verlassenen Vater leicht erregt. Auf die Gefahr hin, für impertinent gehalten zu werden, konnte ich nicht umhin, ihm zu sagen, wie leid es mir thue, daß sein Sohn eine so unüberlegte Ehe geschlossen habe.
Er zog ausdrucksvoll die Schultern in die Höhe und sagte: »Ich that alles, was ich konnte, um es zu verhindern, es glückte mir aber nicht. Für unsere Familie scheint der Ehestand besondere Gefahren darzubieten. Claud thut mir leid, aber er hat für sich selber gewählt und muß die Folgen tragen. Ich wünschte, er hätte seine Hochzeit bis nach diesem Ballfeste verschoben oder hätte daran gedacht, mir einige Instruktionen dafür zu hinterlassen. Was meinen Sie, soll ich hiesige Unternehmer in Nahrung setzen oder nach London schreiben?«
»Sie wollen doch nicht im Ernste sagen, daß Sie vorhaben, einen Ball zu geben?« rief da meine Großmutter.
»Wenn Sie keine Einwendungen dagegen haben, meine teure Frau Knowles – ja. Ich habe meine Einladungen noch nicht erlassen, doch sehe ich keinen anderen Weg, die Gesellschaft im großen und ganzen zu befriedigen. Alle diese guten Seelen zu einem Diner einzuladen, würde doch ein zu großes Unternehmen sein, und übrigens hätte ich keine Zeit dazu, denn in acht bis zehn Tagen beabsichtige ich von hier wegzugehen.«
»O, das habe ich längst zuvor gewußt,« brummte meine Großmutter. »Daß Beachborough nicht für lange ausreichen würde, konnte man wohl voraussehen. So wollen Sie also wieder auf Reisen gehen?«
»Irgend wohin wenigstens. Wohin, kann ich selbst noch nicht sagen. Ich gestehe, daß ich ein Leben vollkommener Einsamkeit in Southlands nicht ertragen könnte, und heute über acht Tage werde ich meine Tochter nach Paris schicken. Ich wollte gern den Ball am Abend vor ihrer Abreise haben. Mit diesem Abschiedsfeuerwerk wollen wir dann so plötzlich verschwinden, wie wir gekommen sind. Wenigstens dürfen wir hoffen, Ihnen einigen Stoff zur Unterhaltung gegeben zu haben.«
»Hm – ja. In dieser Beziehung können wir nicht über Sie klagen. Und eine allerliebste Verwirrung haben Sie hier angerichtet, das muß man Ihnen lassen. Ich möchte wohl wissen, was Sie sich bei alledem denken.«
Herr Gervis legte den Kopf auf eine Seite und betrachtete lächelnd die alte Dame.
»O, es hilft Ihnen nichts, mir gegenüber dieses Gesicht aufzusetzen,« sagte meine Großmutter in ihrer entschiedenen Weise. »Mich können Sie damit nicht einschüchtern; ich bin nun einmal entschlossen, der Sache auf den Grund zu kommen, ehe Sie uns verlassen.«
»Von ganzem Herzen, meine teure Frau Knowles. Wollen wir gleich darauf losgehen?«
Meine Großmutter sah sich zweifelnd nach mir um, als ob sie sich auf meine Diskretion nicht recht verlassen könne. Ich stand sofort auf. Gervis aber zog mich wieder auf meinen Platz zurück.
»Bitte, gehen Sie uns nicht davon. Geheimnisse haben wir nicht auszukramen, und ich hege die Hoffnung, daß Ihre Großmutter durch Ihre Gegenwart sich bewegen läßt, mich soweit zu schonen, als ihr Gewissen es ihr zulassen wird. Vielleicht darf ich als Milderungsgrund mit anführen, daß ich in den letzten Tagen von seiten verschiedener Damen sehr schwer zu leiden gehabt habe.«
»Geschieht Ihnen ganz recht!« rief meine Großmutter unbarmherzig.
»Sehr wahrscheinlich. Wenn Sie aber Lady Croft ganze drei Stunden in Krämpfen gesehen hätten, so würden Sie gewiß zugeben daß ich gestraft genug bin. Auch Fräulein Potts hat, wenn alle Stränge reißen, einen bewundernswerten Wortfluß zur Verfügung. Sie fragten, was ich mir bei alledem denke, und das soll doch vermutlich so viel heißen, als: warum ich zwischen dem jungen Croft und meiner Tochter keine Verbindung zugeben wollte?«
Meine Großmutter antwortete mit einem wiederholten kräftigen Kopfnicken.
»Nun, ich habe nicht das mindeste dagegen, Sie einzuweihen. Sie werden mir wahrscheinlich nicht glauben, aber dafür kann ich nicht. Wenn Sie und andere Leute mich als Beispiel anführen, daß die Rasse der menschenfeindlichen Ungeheuer noch nicht ausgestorben ist, so kann ich nichts dagegen thun. Ich habe nämlich die Vorstellung, daß die Natur beabsichtigt, durch die Erfahrungen der Eltern die Kinder zu beschützen. Nun lehrt mich meine Erfahrung, es für ein Unglück und eine Verkehrtheit anzusehen, wenn Leute Hals über Kopf in den Ehestand springen, bloß weil sie sich zufällig verliebt haben, denn da hinkt die Reue bald genug hinterher. Das war mein Hauptbeweggrund bei meiner vielangefochtenen Handlungsweise. Ein anderer, unwichtigerer ist, daß ich der Prinzessin, als sie England verließ, halb und halb versprach, daß Genoveva, wenn sie zu ihr zurückkehrte, durch keine Verlobung gebunden sein solle. Es ist noch ein dritter Beweggrund vorhanden, den ich aber nur zaghaft anführe, der nämlich, daß ich mich nicht erinnern kann, jemals zwei Leute gesehen zu haben, deren Geschmack und Gewohnheit sie weniger dazu befähigte, ihr Leben zusammen zu verbringen, als diese beiden. Aus all diesen verschiedenen Erwägungen lehnte ich Sir Frederick ab. Sie können sich die herzbrechenden Scenen vorstellen, die das nach sich zog, und die harten Worte, mit denen man mich bearbeitete. Aber die Hitze des Kampfes ist vorbei, und mit Ausnahme von Lady Croft, die leider noch sehr erzürnt ist, sind wir alle ganz gute Freunde. Die jungen Leute werden (selbstverständlich) durch Dick und Dünn treu zu einander halten, und in zwei Jahren, wenn Genoveva großjährig ist, können sie ihr Verhältnis erneuern, wenn sie dann noch dazu geneigt sind. Die Zeit und die Trennung haben bis dahin volle Freiheit gehabt, ihre Wirkung zu thun. Gehen unsere jungen Freunde als treue Liebhaber daraus hervor, so haben sie weiter nichts geopfert als vierundzwanzig Monde der Glückseligkeit, was sich noch ganz gut verschmerzen läßt. Wenn sich aber ihre Gesinnung ändert, wie dankbar werden sie mir sein, der ich in der Fülle meiner Weisheit ihnen eine lebenslängliche Reue erspart habe! Und nun, meine liebe Frau Knowles, haben Sie alles darüber gehört.«
»Ah! Und wissen Sie, was die Früchte von alledem sein werden?«
»Nicht im entferntesten. Wissen Sie es?«
»O ja. Sie werden, ehe Sie bedeutend älter sind, eine zweite Entführung und heimliche Hochzeit in Ihrer Familie erleben.«
»Ich denke nicht. Genoveva ist minderjährig, wie Sie nicht vergessen dürfen. Auch sind die Aepfel der Hesperiden nicht so wohl behütet gewesen, als sie es ist unter den Drachenaugen von Fräulein Potts.«
»Hm, hm,« seufzte meine Großmutter etwas besänftigt, »Sie mögen recht oder unrecht haben, ich will mich nicht zum Richter darüber aufwerfen. Aber soviel ist klar: Sie haben Ihre Heimat zerstört und Ihre Kinder wider sich aufgebracht. Sie thun mir leid, Vincenz Gervis.«
»Warum? Sie würden mich nicht bedauern, wenn Sie wüßten, wie genau die Dinge nach meinen Wünschen eingetroffen sind. Ich wünschte nicht, daß das Mädchen sich hastig verheiratete, nicht, daß sie den ersten besten Engländer heiratete, noch weniger, daß die Prinzessin sie mit einem zweifelhaften Fremden zusammenbrächte. Die Lage ist jetzt vollkommen nach meinen Wünschen. Ist Genoveva nur erst wieder in Paris, so wird die Prinzessin schon Sorge tragen, daß sie von Herrn Freddy nicht viel zu sehen bekommt; sie selbst, da sie zur Opposition neigt, wird sich weigern, einen von den Schützlingen ihrer Stiefmutter auch nur zu beachten; ich aber werde wie ein Schutzengel über ihr wachen, die Fortschritte der Dinge beobachten und vielleicht einen passenden Bewerber in Vorschlag bringen, sollte ein solcher mir begegnen. Denn – unter uns gesagt – ich habe kein großes Vertrauen auf die Beständigkeit des liebenswürdigen Sir Frederick.«
»Wollen Sie mir zu verstehen geben, daß das Ganze eine abgekartete Sache ist?« fragte meine Großmutter überrascht.
»Der Himmel verhüte es! Ich versuche nie die Ereignisse zu lenken, ich richte nur mein Verhalten nach ihnen ein. Und nun, da es scheint, daß ich nicht gescholten werden soll, dürfen wir vielleicht zu dem zurückkehren, was mich ursprünglich hierher geführt hat. Ich bitte Sie also, mir zu sagen, wie ich Einladungen drucken, mein Haus auf den Kopf stellen und einen glänzenden Ball arrangieren kann – alles in Zeit von sechs Tagen?«
»Tom ist Ihr Mann,« sagte meine Großmutter, auf mich deutend. »Er ist zu nicht viel in der Welt nütze, aber in dieser Hinsicht wird er Ihnen den größten Teil Ihrer Sorgen abnehmen.«