Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Elftes Kapitel.
Gastfreundschaft

Eine halbe Stunde später fuhr Genoveva in ihrem niedlichen kleinen Wagen, zu dem ihr kürzlich der Vater ein Paar wunderschöne Ponies geschenkt hatte, nach Southlands zurück. Sie war allein; Freddy Croft, der am Morgen neben ihr gesessen, hatte keine Gelegenheit gefunden, seinen Ruderanzug zu wechseln, wagte es infolgedessen nicht, die hellblauen Seidenpolster mit seinen nassen Kleidern zu beschmutzen, und hatte sich schließlich mit betrübter Miene und schwerem Herzen dazu verstehen müssen, in dem großen Wagen Platz zu nehmen, der die übrige Gesellschaft mit wegführte, nachdem sie nach Schluß der Regatta die Jacht verlassen. Der Abend war lind und warm, am fernen Horizont ging in feurigem Rot die Sonne unter und ihre letzten Strahlen weilten noch auf der schönen Landschaft, als werde es ihnen schwer, endgültigen Abschied zu nehmen. Die Bäume der stattlichen Allee rauschten träumerisch im Abendwinde, und träumerisch war auch das schöne Mädchen in dem eleganten Wagen, dessen kleine, zierliche Rosse bald hier, bald dort einen Augenblick stehen blieben, weil ihre Lenkerin, ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit, die Zügel nur lässig in den Händen hielt und von der Peitsche vollends gar keinen Gebrauch machte.

Woran dachte die schöne Genoveva, als sie sich in die weichen Polster zurücklehnte und ihre ernsten, dunklen Augen sinnend ins Weite blickten, während hin und wieder ein heiteres Lächeln über ihre oft so melancholischen Züge huschte und liebliche Grübchen auf Kinn und Wangen zeigte? Vielleicht an die Zukunft, das Zauberland der Jugend, die so gern Luftschlösser baut, vielleicht an die Vergangenheit, deren dunkles Reich die Erinnerung so gern mit dem goldenen Schimmer der Verschönerung übergießt? Vielleicht an die Gegenwart, an das heitere, frische, fröhliche Leben im ländlichen England, an die vielen neuen Bekannten, besonders an den jungen Baron, der sich in letzter Zeit so auffallend um ihre Gunst bemühte? Wer weiß es, genug, ihre Träumereien waren sichtlich angenehmer Art und so erstaunte sie denn auch nicht weiter, als sie plötzlich bemerkte, daß ihre Ponies eben in das große Thor einbiegen wollten, welches den Park abschloß, der sich um das Herrenhaus von Southlands erstreckte. Sie nahm die Zügel auf und wollte eben mit der Peitsche klatschen, um der Dienerschaft ihre Ankunft anzukündigen, als plötzlich hinter irgend einem Baum oder einer Hecke hervor eine lange, magere Gestalt mit der Behendigkeit eines Wiesels und den schlangenartigen Bewegungen eines Aals auf den Wagen zuschoß, die Hand auf den Schlag legte und mit hohler, theatralischer Stimme ausrief: » C'est moi!« Unmittelbar darauf machte der seltsame Ankömmling ein paar Schritte zurück, verbeugte sich tief und murmelte verlegen: » Mille pardons, mademoiselle, mille pardons!«

Genoveva wartete einen Augenblick, unschlüssig, was zu thun. Dann warf sie einen prüfenden Blick auf den Fremden. Es war dies ein großer, schlanker, schmalbrüstiger Mann, dessen staubige Stiefel mit schiefgetretenen Absätzen, dessen verbogener Hut und zweifelhafte Wäsche auf Heruntergekommensein schließen ließen. Aber die Stoffe, aus denen sein helles, an den Enden durchgescheuertes Beinkleid und sein langer, dunkelblauer Gehrock bestanden, waren fein und teuer, und der Schnitt der Kleider bewies, daß sie in dem »Atelier eines Künstlers erbaut« worden waren. Auch trug der rätselhafte Mensch Handschuhe, und seine Verbeugung – darin täuschte sich Genoveva nicht – bewies, daß er der allerbesten Gesellschaft angehören, oder wenigstens angehört haben müsse. Das Gesicht war schmal, feingeschnitten, aber mit zahllosen kleinen Runzeln und Fältchen durchzogen, das dunkelblonde Haar war in der Mitte gescheitelt, der blonde Schnurrbart wohlgepflegt. In den Augen lag ein bittender, leidender Ausdruck, und in der ganzen Haltung des Mannes, der mit gezogenem Hut am Wege stand, lag eine unaussprechliche Unterwürfigkeit, die Genoveva zum Mitleiden stimmte. Unter ihrem Blick schien er neuen Mut zu sammeln und trat ihr mit einer nochmaligen tiefen Verbeugung einige Schritte näher.

»Habe ich vielleicht die Ehre, Fräulein Gervis anzureden?« fragte er auf englisch.

Genoveva verneigte sich.

»Ich warte schon lange Zeit, in der Hoffnung, die Prinzessin Uranow zu sprechen. In diesem ungewissen Lichte hielt ich Sie, mein gnädiges Fräulein, anfänglich für die Prinzessin – ein lächerlicher Irrtum, wie ich jetzt sehe. Darf ich fragen, ob die Prinzessin sich jetzt hier aufhält?«

»Nein, sie ist nicht in England. Kann ich etwas für Sie thun?« fügte das Mädchen hinzu, als sie den Ausdruck von tiefer Niedergeschlagenheit bemerkte, der auf dem Gesichte des Fremden Platz griff.

Er schüttelte den Kopf, murmelte etwas von Geschäftssachen und einer Mitteilung, die er der Prinzessin hätte machen wollen, sah aber dabei so krank, so erschöpft und gänzlich gebrochen aus, daß Genoveva nicht den Mut fand, ihn zu verlassen.

»Herr Gervis ist zu Hause. Möchten Sie nicht mit ihm reden?«

»Herr Gervis … ah! Herr Gervis?« Er flüsterte es kaum hörbar und erhob die Augen nicht von der staubigen Landstraße. »Ja, ich könnte mit ihm reden. Vielleicht wäre es am Ende das beste … da man dazu getrieben wird … Ja, vielleicht wäre es das beste, daß ich mit Herrn Gervis spräche.«

»Gewiß wäre es das beste,« ermutigte Genoveva.

Genoveva war sich nämlich nunmehr über den Ankömmling klar. Leute wie er, waren im Boulevard Malesherbes nicht seltene Gäste gewesen – in Verlegenheit geratene russische Edelleute, die sich auf ihre frühere Bekanntschaft oder auf die gleiche Nationalität mit der Prinzessin beriefen, um die Börse derselben zu ihren Gunsten zu öffnen. Varinka war gegen diese Unglücklichen stets liebenswürdig. Wenn ihr Gatte abwesend war, so unterstützte sie sie aus ihren eigenen Mitteln mit einer so ausgesuchten Anmut, daß die Geringfügigkeit ihrer Gabe den dankbaren Empfängern nebensächlich schien. War aber Herr Gervis in seiner Wohnung über der ihrigen anwesend, so wurden sie dorthin gewiesen und entfernten sich nach kurzer Zeit mit einer größeren Summe, als sie erwartet hatten, und mit der Erinnerung an gewisse beißende Redensarten, die ihnen das Gefühl einer Verbindlichkeit ersparten. Genoveva wußte, daß, mochte ihr Vater sein, wie er wollte, Geiz nicht zu seinen Fehlern zählte, und fürchtete nicht, daß dieser arme Bursche mit leeren Händen von Southlands weggehen würde. Nur ging sie noch mit sich zu Rate, ob sie bei ihrer Ungewißheit über seine sociale Stellung ihm den leeren Sitz in ihrer Ponyequipage anbieten sollte oder nicht. Noch ein Blick auf sein Gesicht wandte die Wage zu seinen Gunsten.

»Wenn Sie mir erlauben, will ich Sie nach dem Hause hinüberfahren,« sage sie.

»Sie sind zu gut und liebenswürdig, mein gnädiges Fräulein. Ich werde ganz gut zu Fuße hingelangen.«

»Aber es ist noch eine ganze Strecke entfernt, der Park ist sehr groß und der Weg geht bergan. Sie sehen ermüdet aus.«

Der Mann schwankte. »Ja, gnädiges Fräulein, ich habe einen weiten Weg gehabt und bin sehr müde und –«

Er vollendete seinen Satz nicht; aber sein Gesicht vollendete ihn so deutlich mit dem Zusatz: »sehr hungrig«, daß er diese demütigende Erklärung nicht in Worten abzugeben brauchte.

Es bedurfte also weiter keiner Ueberredung, und nach der Miene äußerster Erschöpfung, mit der er in die Kissen sank, und nach dem heftigen Hustenanfall, der ihn dort durchschüttelte, schien es Genoveva sehr zweifelhaft, ob er imstande gewesen wäre, den Hügel ohne Beistand zu erklimmen. Er sprach kaum mehr, als daß er ihr mitteilte, sein Name wäre Glymno, er sei (wie sie vermutet hatte) russischer Unterthan und habe die Ehre, die Prinzessin Uranow seit vielen Jahren zu kennen. In der Rührung ihres weiblichen Herzens über seinen heruntergekommenen Zustand hätte Genoveva ihn gern zum Essen eingeladen und ihm ein Zimmer für die Nacht angeboten, hätte sie nicht gefürchtet, daß ihr Vater vielleicht nachher eine derartige Einladung nicht anerkennen würde.

Gervis jedoch empfing den schäbigen Fremden mit seiner gewöhnlichen kalten Höflichkeit und zeigte sich zu Genovevas großer Erleichterung wenigstens mit Bezug auf Essen und Trinken völlig menschlich.

»In einer kleinen Viertelstunde,« sagte er, »werden wir uns zu Tische setzen. Vielleicht wird Herr Glymno uns Gesellschaft leisten, und was wir etwa an Geschäften abzuwickeln haben, kann ja bis nach dem Essen aufgeschoben bleiben.«

So wurde Glymno nach dem Ankleidezimmer geführt, wohin ihm auf Genovevas Geheiß ein Diener etwas Wein und Biskuit zur Stillung des ersten Hungers brachte.

Nachdem sie so gegen den halbverschmachteten Mann, den sie am Wege aufgelesen, die Rolle des barmherzigen Samariters gespielt hatte, sah sie ihn in gewisser Beziehung als ihr besonderes Eigentum an und fühlte sich ähnlich zu ihm hingezogen, wie die Drossel zu dem hilflosen Kuckuck, dessen Leben von ihrer Fürsorge abhängt. Sie ordnete an, daß er bei Tische neben ihr sitzen sollte, sie wandte sich im Gespräch an ihn, statt an Freddy Croft, der zu ihrer Linken saß, sie versuchte es, ihm alle Behaglichkeiten zu verschaffen und ihm das Gefühl einzuflößen, daß er als Gleichstehender, nicht als Bettler in das Haus aufgenommen worden sei.

Das alles machte ihr um so mehr Ehre, als eine genauere Untersuchung und hellere Beleuchtung den Fremden als eine sehr wenig einnehmende Persönlichkeit offenbarte. Sein Gesichtsausdruck war der eines gewohnheitsmäßigen Verbrechers. Zurücktretende Stirn, tiefliegende, farblose Augen, die beständig blinkten und zwinkerten, eine gewisse verschleierte Unverschämtheit, die sich unter einem übertrieben demütigen Betragen verbarg, jede Einzelheit an des Mannes Manier und Erscheinung bis zu seinen krummen Schultern und seinen verschmitzten Seitenblicken schien den Strafgefangenen zu verraten. Aber das Schlimmste an ihm war, daß er, in dem Maße, als er durch Speise und Trank erfrischt wurde, Miene machte, seine Demut abzulegen. Er wurde geschwätzig, lobte Genovevas Kostüm, kritisierte dagegen die sonst in England gebräuchlichen Moden der Damenkleidung, ließ einige Bemerkungen über insulare Selbstgenügsamkeit fallen und unterbrach unseren alten, geschwätzigen Freund Flemyng, der über die Vorzüge der Konstitution abhandelte, mit einer schnippischen Bemerkung über die britische Monarchie, die schon dem Untergange entgegengehe.

»Mein Herr,« sagte Flemyng mit imponierendem Tone, »sollten Sie mit diesem Lande besser bekannt werden, so werden Sie sehen, daß Aufruhr und Aufreizung unter uns unbekannt sind, und werden sich einer Sprache enthalten, welche in allen Klassen der englischen Gesellschaft als eine persönliche Beleidigung empfunden werden muß.«

Das hätte Glymno zur Besinnung bringen müssen, that es aber nicht. Er zuckte mit den Achseln und lachte kurz und unangenehm. »Die Mehrheit wird stets die einmal bestehenden Einrichtungen unterstützen,« sagte er. »Ist der Herrscher einmal abgesetzt und die Verfassung in Stücke gegangen, so wird die Mehrheit aus sehr guten Republikanern bestehen.«

»Die britische Krone und die britische Konstitution werden niemals fallen,« bemerkte Gervis feierlich vom andern Ende der Tafel. »Wir haben Herrn Flemyngs Wort dafür, und Herr Flemyng hat den Gegenstand in seiner ganzen Ausdehnung studiert. Ich habe mir sogar zuflüstern lassen, obschon ich es vielleicht nicht sagen sollte, daß der sehr gelungene Artikel, von dem er uns vorhin einen Auszug gegeben hat, aus seiner eigenen Feder geflossen ist.«

»Nein, nein, ich versichere Sie!« rief Flemyng, die Anschuldigung mit der Hand von sich abwehrend, sah aber dabei unendlich befriedigt aus. »Es liegt Geschick in dem Artikel, großes Geschick, und des Verfassers Thatsachen sind klar und unwiderleglich; aber manche von seinen Schlußfolgerungen könnte ich nicht unbedingt unterschreiben. Solcher Mangel an Loyalität, wie Ihr Freund ihn da aufstellt, ist noch nie in meine Spekulationen für die Zukunft eingedrungen.«

»Dennoch kann man nicht sagen, was Gladstone thun wird, wenn er die Oberhand gewinnt. Ich verstehe Gladstone nicht,« bemerkte Claud.

»Es ist in diesen Tagen etwas sehr Gewöhnliches,« entgegnete Flemyng mit erhobener Stimme, »daß die Leute sagen: ›Ich verstehe Gladstone nicht‹. Ich möchte diejenigen, welche derartige Anklagen vorbringen, fragen, an wem wohl die Schuld liegen mag, ob nicht eher an ihrer eigenen Auffassungsgabe, als an dem Staatsmann, dessen Geist sie nicht würdigen können. Dessen mögen sie versichert sein, daß, wenn jetzt noch ungeborene Generationen die Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts studieren werden, der Name Gladstone darin mit unvergänglichen Flammenbuchstaben eingetragen sein wird, während die Namen vieler, die jetzt auf der Bühne der Welt einherstolzieren, eingehüllt in den Glanz einer kurzen Autorität, für immer in den Schatten der Vergessenheit hinabgesunken sein werden, wohin anspruchsvolle Mittelmäßigkeit und selbstsüchtige Feigheit unfehlbar führen.«

Dieser schwungvolle Schlußaccord rief von allen Enden der Tafel unterdrücktes Lächeln und vielsagende Blicke hervor. Freddy Croft, der soeben ein Glas Wein leerte, blieb mitten darin stecken, stand auf und lief spornstreichs aus dem Zimmer. Die Wahrheit ist, daß Flemyng seine wohllautende Rede wörtlich aus dem Leitartikel eines Zeitungsblattes entnommen hatte, das jemand absichtlich an einem in die Augen fallenden Platze im Bibliothekzimmer hatte liegen lassen. Gervis machte sich gern den harmlosen Zeitvertreib, seinem geschwätzigen Nachbar derartige Fallen zu legen, und mit einiger Geschicklichkeit war dieser stets dazu zu bringen, daß er hineinging.

Genoveva hatte diesmal keinen Anteil an dem Spaße, da ihre Aufmerksamkeit von Herrn Glymno in Anspruch genommen war, der die Politik fallen gelassen hatte und sich geläufig über die mannigfachen Reize der Prinzessin Uranow verbreitete.

»Sie sind sehr eingenommen von der Prinzessin, gnädiges Fräulein? Man braucht kaum danach zu fragen, wer kann ihr widerstehen? So viel Schönheit, so viel Eleganz, ein so großmütiges Herz! Außerdem ist es nicht befremdlich, daß Sie sie lieben, da sie durch Alter und Verwandtschaft so begründete Ansprüche darauf besitzt. Man könnte sagen, Mutter und Schwester in einer Person. Reizend!«

»Haben Sie Varinka lange nicht gesehen?« fragte Genoveva, der Glymnos Vertraulichkeit nicht sehr zusagte, die aber nicht wußte, wie sie ihm Einhalt gebieten sollte.

»Lange nicht? O ja, es ist viele Jahre her. Aber ich bin nicht ohne Nachrichten von meiner alten Freundin geblieben. Ich sage: von meiner alten Freundin; denn es gab eine Zeit, wo ich die Prinzessin Uranow genau kannte, sehr intim sogar. Ich denke nicht, daß, wenn wir uns wieder begegnen, ich ihr erst meinen Namen zu sagen brauche, o nein! Ich glaube, sie wird auch danach nicht erst fragen.«

Ein Etwas in der Idee schien ihn zu kitzeln; denn er lachte leise vor sich hin und zeigte dabei ein blitzendes Gebiß von großen, weißen, scharfen Zähnen.

»Aber das ist schon lange her,« nahm er das Gespräch sogleich wieder auf. »Die Welt ist rund; Freunde scheiden voneinander; neue Bande werden geschlossen; man vergißt nicht gerade seine früheren Freunde, aber man kann nicht immer bei ihnen sein. Ich habe die Prinzessin seit ihrer zweiten Heirat kaum gesehen. Und merkwürdig, Fräulein, Ihren Herrn Papa habe ich vor heute abend noch nie gesehen.«

»Außer in Wiesbaden im Sommer 1860,« warf Gervis sehr ruhig dazwischen.

Der ehemalige Diplomat hatte eine absonderliche Fähigkeit, zwei oder mehr Unterhaltungen zu gleicher Zeit mit anzuhören. Er hatte auch die besondere Gabe, seine Stimme derartig zu schärfen, daß sie auch durch weite Zwischenräume hindurch zu hören war. Diese kränkelnde Stimme tönte jetzt mit bewundernswürdiger Deutlichkeit den langen Tisch hinunter und hatte die Wirkung, nicht nur von Glymnos abgemagerten Wangen das Rot der Erhitzung schleunigst zu verbannen, sondern auch die Zungen sämtlicher Tischgenossen zum Schweigen zu bringen, da alle eine leicht begreifliche Neugier empfanden, zu erfahren, wer dieser schäbige Fremdling eigentlich war. Unter dem Stillschweigen aller beugte der Gast sich nach vorn, um seinen Wirt anzusehen; seine Augen blinkten schneller als je und seine Züge drückten eine eigentümliche Ueberraschung aus.

»Herr Gervis muß sich doch wohl irren,« sagte er dann. »Ich bin in meinem Leben noch nicht in Wiesbaden gewesen.«

»Das ist merkwürdig,« meinte Gervis. »Mein Gedächtnis täuscht mich sehr selten. Ich muß annehmen, daß eine starke Aehnlichkeit mich betrog, und auch, daß der Herr, von dem ich rede, ein russischer Unterthan war. Ich glaube indessen, daß er den Namen Glymno nicht trug, der mich in der That auch nicht an einen slawischen Ursprung erinnert.«

»Ich bin Kurländer von Geburt,« sagte der andere schnell.

»Ah, wirklich? – Herr Flemyng, ich fürchte, daß ich Sie mitten in einer höchst interessanten Anekdote unterbrochen habe. Bitte, entziehen Sie uns nicht das Ende derselben.«

Das Gespräch wurde jetzt wieder allgemein, nur der arme Glymno nahm nicht mehr teil daran; sein Seelenfrieden war augenscheinlich zerstört. Er trank keinen Wein mehr, er aß nicht weiter, er redete mit seiner Nachbarin nicht mehr mit seiner vorigen Vertraulichkeit, sondern in der furchtsamen, kriechenden Weise, die zuerst ihr Mitleiden erregt hatte. Mehr als je sah er aus wie ein entsprungener Sträfling und schien in seinem Wirt den Detective zu sehen, der ihn durch ein Wort ruinieren konnte. Und dieser schreckliche Gervis bemerkte das und amüsierte sich damit, den unglücklichen Mann zu quälen, indem er plötzlich, wenn Glymno es am mindesten erwartete, mit einer höflichen Anspielung auf ihn eindrang, einem doppelschneidigen Gemeinplatz oder dergleichen. Was er ihm dadurch zu verstehen geben wollte, das war Genoveva klar genug. Es lautete in Worten ausgedrückt: »Mein lieber Mann, Sie sind doch wohl nicht einfältig genug, sich einzubilden, daß Sie mich beschwindeln können? Sie setzen doch hoffentlich nicht voraus, daß ich glaube, Sie heißen Glymno, oder daß ich nicht vollständig mit Ihrer ganzen unehrenhaften Carriere bekannt wäre. Sparen Sie sich die Mühe, uns noch mehr Lügen aufzubinden; wir verstehen einander. Sie brauchen Geld; ich besitze es im Ueberfluß, und ich weiß, Sie sind hungrig genug, um einen Fußtritt hinzunehmen, wenn Sie nur Gold auflesen können.«

Genoveva glaubte das ganze Spiel zu durchschauen und ihr zitterte das Herz in schweigender Entrüstung. Die Gewohnheit ihres Vaters, seinem Hange zur Satire auf Kosten seiner Gäste die Zügel schießen zu lassen, schien ihr ein Bruch aller Gesetze der Ehre und Gastfreundschaft. Ihr hatte es noch nie ein Vergnügen bereitet, den armen alten Flemyng zum Ergötzen der Tischgenossen sich lächerlich machen zu sehen, und sich über die gefallene Menschheit lustig zu machen durch gleichzeitiges Austeilen von Almosen und Beschimpfungen, schien ihr ein so unwürdiger Sport, wie ein Gentleman ihn nur immer pflegen konnte. Dieser eigentümliche Glymno konnte möglicherweise ein Verbrecher sein; aber wer konnte sagen, in welchen Lebenslagen er dazu geworden war? Unter allen Umständen war er krank, erschöpft und verarmt und warum sollte nun jemand wünschen, ihn noch tiefer herabzusetzen, als er es bereits war? Unter solchen Gedanken vergaß Genoveva das etwas zu freie Benehmen ihres Nachbars am Beginn des Abends, und indem sie ihn mit um so ausgesuchterer Freundlichkeit behandelte, suchte sie ihres Vaters Mangel an Liebenswürdigkeit wieder gut zu machen. Und der Mann war nicht undankbar. Als Genoveva aufstand, um das Zimmer zu verlassen, sagte er tief bewegt: »Sie sind sehr gütig gegen mich gewesen, gnädiges Fräulein, gegen mich, der ich an Güte nicht gewöhnt bin, ich werde es Ihnen niemals vergessen, niemals!«

An der Südfront des Wohnhauses von Southlands zieht sich eine breite, mit Sofas, Sesseln, Feldstühlen, Fußbänken und allen möglichen anderen Sitz- und Ruhegelegenheiten reichlich versehene Terrasse entlang. Am Abend, wenn der Atem der See und der Duft mannigfacher Gartenblumen sich wohlthuend verbreitet, ist der Aufenthalt daselbst ein Genuß. An diesem Abend zogen sich denn auch die Damen statt nach dem Salon nach dieser Terrasse zurück, und ehe sie die Langeweile kennen lernten, gesellten sich dort drei von den fünf männlichen Tischgenossen zu ihnen. Das arme Fräulein Potts, das noch immer in dumpfer Verzweiflung die einsamsten Plätzchen aufsuchte und sich bitterlich darüber grämte, daß Prinzessin Varinka sie wieder einmal schlecht behandelt hatte, fühlte sich dennoch nicht wenig beglückt, als es Herrn Flemyng auf sich zukommen sah. Dieser große Genius hatte kürzlich entdeckt, daß die bescheidene Gesellschafterin eine unendliche Ehrfurcht vor ihm hatte, und in Ermangelung eines besseren Hörers geruhte er zuweilen, sie mit einem seiner langatmigen Vorträge zu beglücken. Die Gesellschaft schied sich ganz naturgemäß in drei Gruppen, wie es denn jetzt selbstverständlich geworden war, daß bei jeder thunlichen Gelegenheit Freddy mit Genoveva und Claud mit Nina sich zusammenthaten.

Das letztere Paar schlenderte in die Dunkelheit hinaus und war bald den Blicken der übrigen entschwunden. Schweigend schritten sie nebeneinander die Kieswege entlang, vorbei an den Gruppen von Rhododendron und Azalea, hinweg über eine breite, sanft abfallende Rasenfläche. Ihre Vertraulichkeit hatte jetzt jenen gefährlichen Grad erreicht, auf dem lange Perioden der Sprachlosigkeit eine so wichtige Rolle spielen. Endlich machten sie Halt vor dem eisernen Gitter, das den Garten vom Park trennte. Nina legte ihren Spitzenumhang über die oberste Stange des Gitters, stützte ihre schönen Arme darauf und betrachtete träumerisch den schattigen Prospekt von Wald, Thal und Hügel, der weit unterhalb ihrer Füße mit einem unbestimmten Durcheinander von Himmel und Meer abschloß. Claud dagegen wandte der schönen Aussicht den Rücken zu und betrachtete mit untergeschlagenen Armen das schöne Mädchen.

»Haben Sie die Gedichte gelesen, die ich Ihnen gegeben habe?« fragte er plötzlich, nachdem sie schon einige Minuten schweigend in ihrer Stellung verharrt waren.

»Ja,« antwortete sie, den Kopf so nach ihm umwendend, daß sie seinen Blicken begegnen konnte, »ich habe sie wer weiß wie oft gelesen.«

»Wirklich? Also haben sie Ihnen gefallen?«

»Ich finde sie ganz vollendet. Ich wüßte nicht, je etwas gelesen zu haben, was mich so entzückte.«

»Sagen Sie das nur, um mir einen Gefallen zu thun, oder weil Sie es wirklich denken?« sagte Claud.

»Natürlich weil ich es denke. Haben Sie noch nicht bemerkt, daß ich immer denke, was ich sage?«

»Nun, ich weiß nicht. Ich stelle mir vor, daß Sie so gut wie jedermann es unmöglich finden, unabänderlich aufrichtig zu sein, ohne jemand in seinen Gefühlen zu verletzen. Nachdem ich Ihnen also gesagt hatte, daß der Verfasser jener Gedichte mein besonderer Freund ist, konnten Sie dieselben doch kaum mit einem ›melodisches Geplapper‹ oder einem anderen ähnlichen Urteil abfinden.«

»Warum nicht? Ihr Freund konnte der beste Mensch von der Welt sein, aber ein schlechter Dichter. Niemand, es müßte denn gerade ein Idiot sein, könnte von seinem Werk in dieser Weise reden.«

»Dann ist der Kritiker, der dem ›Hier und dort‹ in der ›Saturday Review‹ zehn Zeilen widmete, ein Idiot. Ich muß gestehen, daß ich das schon vorher argwöhnte; allein es ist einem doch angenehm, seine Meinung bestätigt zu hören. Fräulein Flemyng, wenn ich Ihnen nun ein großes Geheimnis anvertraue, ein Geheimnis, das ich bis jetzt noch niemandem offenbart habe, glauben Sie wohl, daß Sie es bewahren könnten?«

»Ich denke wohl, daß ich das kann.«

»Nun denn – ich zittere, aber ich habe mich nun einmal entschlossen, es Ihnen zu sagen, und früher oder später muß doch einmal das Geständnis heraus – der Verfasser jener unbedeutenden dichterischen Versuche bin – ich selbst.«

»Das wußte ich wohl.«

»Sie wußten es?« Claud war nicht wenig bestürzt. »Ich habe ungefähr das Gefühl, als wenn ich versucht hätte, eine nasse Rakete zum Steigen zu bringen,« sagte er und versuchte, die Sache leicht zu nehmen. »Ich glaubte, ich würde Sie in Erstaunen setzen, und nun haben Sie mich in Erstaunen gesetzt. Wollen Sie mir nicht mitteilen, wodurch Sie erraten haben, daß ›Clément Gérard‹ und ›Claud Gervis‹ eine und dieselbe Person sind?«

»Das war wohl furchtbar schwer zu erraten, nicht wahr?« lachte Nina. »Es gibt ja eine solche fabelhafte Menge von Leuten, die französisch und englisch so fließend sprechen, um Verse darin zu machen, noch dazu Leute, deren Namen mit C. G. anfangen. Uebrigens denke ich wohl alles erkennen zu können, was Sie schreiben,« fügte sie sanft hinzu, wobei sie auf das »Sie« gerade Nachdruck genug legte, um einen angenehmen Schauer durch alle Adern des Poeten zu senden.

Claud hatte von seiner italienischen Mutter ein Paar wahrhaft prächtiger dunkelbrauner Augen geerbt, deren Benutzung zur Aussprache unaussprechlicher Dinge er erst jüngst erlernt hatte. Jetzt erhob er diese sprechenden Augen zu Ninas schönen Augen, die es wohl kaum schwerer fand, ihre Sprache zu lesen, als sie es gefunden hatte, dem Dichter einen Namen beizulegen, der sich unter dem Pseudonym Clément Gérard versteckt hatte. Eine abermalige lange Periode des Schweigens wurde von Nina unterbrochen.

»Fühlen Sie sich nicht sehr stolz?« fragte sie.

»Worauf? Daß ich einen Verleger für mein Zeug gefunden habe? Es ist wertlose Makulatur, das weiß niemand besser als ich. Da ich sie nun aber einmal in die Welt geschickt hatte, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, sie Ihnen zu zeigen. Und Sie fanden wirklich ein paar davon lesenswert?« wagte er noch einmal zu fragen mit jenem Gemisch von Selbstunterschätzung und Verlangen nach dem Lobe anderer, wie es junge Schriftsteller charakterisiert.

»Ich habe sie unzähligemal gelesen,« war Ninas Antwort, »und ich denke, sie sind sehr, sehr gut – wunderbar gut!«

»Dann bin ich mehr als befriedigt. Es liegt mir mehr daran, daß ich das von Ihnen gehört habe, als wenn das Lob aller Recensenten Englands meinem armen kleinen Buche zu einer zweiten und dritten Auflage verholfen hätte.«

»So denken Sie jetzt vielleicht, heute über ein Jahr werden Sie nicht mehr so denken.«

Der junge Mann wollte protestieren, Nina aber gebot ihm durch das Aufheben einer ihrer kleinen Hände, nichts weiter zu beteuern.

»Bitte, schwören Sie mir nicht zu, daß meine gute Meinung von Ihnen das einzige erstrebenswerte Ziel für Ihr ganzes Leben ist. Es wäre recht hübsch, wenn solche Art Versprechungen zu halten wären; aber unglücklicherweise kann man sie nicht halten. Die traurige Thatsache ist, daß jetzt über ein – lassen Sie uns auch hoch gehen und sagen über zwei Jahre – Sie sich keinen Deut daraus machen, ob mir Ihre Gedichte gefallen oder nicht. Und mehr noch – ich werde mir ebensowenig daraus machen, ob Sie sich etwas daraus machen oder nicht.«

»Das mag wahr sein, soweit es sich auf Sie bezieht, aber nicht, soweit es sich auf mich bezieht.«

»O ja, auch das. Denken Sie, ich wüßte das nicht? Tout lasse, tout passe. Wir sind, was wir sind, nicht was wir sein möchten. Und, um die Wahrheit zu sagen, ich glaube auch, es müßte ziemlich langweilig sein, in einer Welt zu leben, die von unveränderlichen Menschen bewohnt würde. Immerhin aber machen wir uns heute abend etwas daraus, daß wir gegenseitig eine möglichst gute Meinung voneinander haben, und ich wünschte sehr, alles über Ihr Buch zu erfahren. Wie kamen Sie darauf, es in zwei Sprachen zu veröffentlichen? Mir gefällt, glaube ich, die französische Ausgabe am besten.«

»Mir auch. Aus Mangel an gescheiterer Beschäftigung pflegte ich von Zeit zu Zeit Verse zu kritzeln, wenn ich mit dem Vater in der Welt umherwanderte. Ich schrieb immer in französischer Sprache, weil sie mir geläufiger ist, wenn ich meine innersten Gedanken ausdrücken will. Die gleichzeitige Veröffentlichung in beiden Sprachen war ein Kunstgriff, um das Publikum herbeizulocken. › Par-ci, par-la; par Clément Gérard – Here and There; by Clement Gerard‹: ich dachte, das würde die Leute bestechen und sie mit Neugier über die Nationalität des begabten Autors erfüllen. Als ich demnach anfing, meine zerstreuten Lieder und Sonette zu sammeln, übersetzte ich sie, so gut es ging, ins Englische, mit welchem Resultat, sehen Sie ja. Ich bin verpflichtet zu sagen, daß das Publikum noch nicht so viel Erregung über dieses Phänomen gezeigt hat, als es wohl hätte thun können. Mein Pariser Verleger teilt mir mit, daß die erste Ausgabe des Werkes noch bei weitem nicht vergriffen ist, und bei der Londoner Firma habe ich noch nicht einmal anzufragen gewagt, wieviele Exemplare von ›Hier und dort‹ sie noch auf Lager hat, nachdem sie drei Monate lang geduldig inseriert hat. In ›Saturday Review‹ wird mein unsterbliches Werk zwischen einem Heere anderer litterarischer Erzeugnisse summarisch abgefertigt und zwar unter der Rubrik ›Kleinere Notizen‹. ›Kleinere Notizen‹! Ist das nicht skandalös? Natürlich schnitt ich mir das Blatt aus; hier ist es, falls Sie es zu sehen wünschen: ›Clément Gérards kleines Werkchen ist eins von der Art, die man nicht grausam behandeln kann. In einem Zeitalter, das tagtäglich eine Unmenge von Geplapper hervorbringen sieht, dem man den Namen ›Poesie‹ beilegt, kann man nur dankbar sein für ein Geplapper, das wenigstens Reim und Metrik beobachtet. Herr Gérard hat auf sein Werk offenbar großen Fleiß verwandt. Wenn er in Zukunft dem Inhalt so viel Aufmerksamkeit zuwenden wird, wie hier der Form, so dürfte er – u. s. w.‹ Nicht ein Wort über Clément Gérard und seine phänomenale Beherrschung beider Sprachen. Wie es auch kommen mag, dieser Kunstgriff scheint seine Wirkung zu verfehlen, und ich trage nicht einmal den Ruhm davon, in zwei Zungen melodisch plappern zu können.«

»Haben Sie nicht ein Licht bei sich?« fragte Nina. Claud zündete ein Wachsstreichholz an, bei dessen Schein sie hastig die kurze Notiz durchlas. »Nun,« sagte sie, »werde ich das dumme Zeug den Flammen opfern,« welchen Worten sie sogleich die That folgen ließ.

»So! Und ich wünschte nur, ich könnte den Narren von einem Recensenten hinterher schicken. Ich glaube nicht, daß er jemals Ihre Gedichte gelesen hat. Lassen Sie uns weiter keinen Gedanken mehr an ihn verschwenden. Warum haben Sie mir noch nie gesagt, daß Sie schriftstellern?«

»Ich war zu ängstlich. Ich glaubte nicht, daß es Sie interessieren würde, zu hören, daß ich Gedichte dritter Güte herausgegeben habe.«

»Wie komisch Sie sind!« sagte Nina. »Wenn es etwas gibt, wofür ich eine Schwäche habe, so ist es Genie, und merkwürdig genug bin ich noch nie mit einem litterarischen Manne zusammengekommen, außer mit Herrn Knowles, der zuweilen für Zeitungen schreibt. An seinem Umgang ist mir aber nicht viel gelegen; ich treffe oft in Londoner Gesellschaften mit ihm zusammen und habe die Bemerkung gemacht, daß er ein fast unverbrüchliches Schweigen beobachtet, bis der Champagner zweimal die Runde gemacht hat, danach aber wird er diktatorisch und plappert sich so außer Atem, daß niemand mehr ein Wort anbringen kann.«

(Es thut mir leid, meine Erzählung hier unterbrechen zu müssen; aber ich kann diese abscheuliche Anklage, die Claud mir später wiedererzählte, nicht ohne einen Protest mit anführen. Sie ist ebenso falsch wie impertinent, und wenn mir nicht Fräulein Flemyng stets zu gleichgültig gewesen wäre, so könnte ich mich dadurch rächen, daß ich gewisse Redensarten, die hinter ihrem Rücken über sie geführt wurden, hier wiedergäbe. Aber ihr Urteil ist mir nicht wichtig genug. Ich bitte um Entschuldigung wegen dieser Parenthese und fahre mit leidenschaftsloser Genauigkeit in meiner Erzählung fort.)

»Knowles wird also nicht gerechnet,« fuhr Nina fort, »er wäre doch nie etwas anderes als ein Schwachkopf, und wenn er das ›Verlorene Paradies‹ geschrieben hätte. Sie sind der erste Schriftsteller, mit dem ich auf freundschaftlichem Fuße stehe, und ich könnte nicht umhin, und wenn es mein Leben kostete, stolz auf Sie zu sein.«

»Es ist entzückend, das aus Ihrem Munde zu hören. Nur können Sie nicht im Ernste stolz auf einen Freund sein, der bloßes Geplapper veröffentlicht.«

»Unsinn! Sie wissen sehr wohl, daß Ihre Gedichte kein Geplapper sind; sie sind köstlich. Was sagt Herr Gervis darüber?«

»Mein Vater? Du lieber Himmel! Sie glauben doch nicht etwa, daß ich es wagen würde, ihm das Buch zu zeigen? Ich kann im Geiste sehen, wie er es liest und, halb erstickt von inwendigem Gelächter, äußerlich das ernsthafteste Gesicht bewahrt und mir über mein unerwartetes Talent Komplimente macht. Nein, die Autorschaft von ›Hier und dort‹ ist ein Geheimnis zwischen Ihnen und mir und den Verlegern, und ich bitte darum, daß es auch so bleibe. Ich werde keinen solchen Firlefanz mehr schreiben.«

»Sie werden doch hoffentlich noch mehr Gedichte schreiben?«

Claud schüttelte den Kopf. »Es handelt sich um das Non possumus. Wenn ich jemals wieder etwas schreibe, so wird es Prosa sein.«

»Was für Prosa meinen Sie?«

»O, ich weiß es noch nicht. Einen Roman vielleicht oder ein Drama.«

»Ach ja, das wäre recht hübsch,« sagte Nina gedankenvoll. »Es wäre mir eine Freude, wenn ich den ersten Aufführungen Ihrer Stücke beiwohnen dürfte. Ja, ich denke, ich hätte es gern, daß Sie ein erfolgreicher Theaterdichter würden.«

Es lag in der Art, in der sie diese Worte sprach, eine Art stillschweigenden Eigentumsrechtes, wovon Claud sich nicht anders als geschmeichelt fühlen konnte.

»Vielleicht könnte ich Erfolg erringen, wenn Sie wünschten, daß ich es thäte,« sagte er. »Jedenfalls würde ich unter einem solchen Antrieb das Beste thun, was ich nur könnte.«

Nina lachte leise vor sich hin. Claud fragte in bekümmertem Ton nach der Ursache ihrer Lustigkeit.

»O, Sie werden eines Tages auch lachen,« antwortete sie. »Sollten wir jetzt nicht lieber zum Thee hineingehen?«

Als Claud einige Stunden später in der Einsamkeit seines Schlafzimmers diese Unterredung noch einmal in Gedanken durchging, wurde er von mancherlei trüben Vorgefühlen beunruhigt. Er war nicht sicher, ob des Saturday Reviewers Schätzung von »Hier und dort« nicht am Ende doch eine gerechte sei; er war nicht sicher, ob er weise gehandelt hatte, sein Geheimnis zu enthüllen; er war überzeugt, daß er viel zu viel von seinen eigenen Angelegenheiten geredet habe, und das Quälendste war, daß er sich durchaus nicht klar darüber war – ob Nina ihn liebe oder nicht. Seine eigenen Gefühle aber, die waren ihm schon längst kein Geheimnis mehr.



 << zurück weiter >>