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Croft Manor, das alte Herrenhaus der alten Familie Croft, hatte von jeher in der Gesellschaft einen Ruf gehabt, der sich von seinem soliden Aeußeren auffällig unterschied. Stille, fleißige, sparsame Landedelleute waren unter seinen Besitzern nicht zu finden, wohl aber ausgelassene, verschwenderische Lebemänner in Fülle, hie und da sogar, wenn das Gerücht wahr redet, ein Schelm. Der letzte Besitzer, der allen Lastern huldigte, namentlich aber denen, die eine volle Kasse verlangen, wäre allem Anschein nach samt seiner ganzen Besitzung zum Teufel gegangen, hätte er nicht so viel Rücksicht gehabt, sich kurz nach der Geburt seines Erben den Hals zu brechen. Wäre dieser Unfall nicht eingetreten, so hätte unser Freund Croft sich jetzt schwerlich im Genusse eines so großen Reichtums befunden, als er sein Erbe antrat. Von diesem Zeitpunkt an ging denn auch, wenigstens zeitweise, das alte lustige Leben auf Croft Manor wieder an.
Unsere Freunde aus Southlands kamen am Abend des Tages, für welchen sie eingeladen waren, in dem Herrenhause an und fanden in einem langen Saale einige dreißig Personen stehen und sitzen, denen es leicht anzusehen war, daß wenigstens zwei Drittel derselben von dem jungen Gutsherrn, die übrigen von seiner Mutter eingeladen waren. Die letzteren, eine würdevolle Reihe grauköpfiger Herren und Damen, hatten sich um Lady Crofts Lehnstuhl geschart, der nach alter Gewohnheit zu jeder Jahreszeit in der Nähe des Kamins stand, während die jüngeren und lebhafteren Gäste in der Gegend des großen Erkerfensters versammelt waren, wo Fräulein Crofts hohe Figur eine hervorragende Rolle spielte. Es schien, als hätten sich diese beiden Abteilungen in zwei streng gesonderten Lagern niedergelassen, wie wenn es unmöglich wäre, daß die Jugend mit dem Alter zusammenwohnen könnte. Mitten in dem dadurch leer gebliebenen Raume saß Nina Flemyng, streichelte den Kopf eines zottigen Hundes und führte eine leise Unterhaltung mit einem sechs Fuß langen Anbeter, einem strammen Dragoneroffizier, der sich in unbequemer Lage über sie beugte. Es waren im ganzen nur acht Damen anwesend.
Genoveva beobachtete diese und manche andere Einzelheiten von der Ecke aus, in der sie bescheiden Platz genommen, während ihr Vater den Klageliedern Lady Crofts lauschte, wieder mit jener wunderbaren, unergründlichen Miene, in der sich Höflichkeit, Ehrerbietung und Abspannung mischten, so daß er manchmal dem verstorbenen Kaiser der Franzosen ähnelte. Sie wunderte sich, wo Freddy stecken mochte, aber schon stürmte der Gegenstand ihres Sinnens in den Saal, mit einem Gesicht, welches von Sonnenbrand und frischem Wasser glühte und glänzte, mit frisch gebürstetem und noch feuchtem Haar und noch im Kampf mit einem widerspenstigen Aermel seines Rockes, der offenbar erst auf der Treppe angezogen worden war. Freddy brüstete sich nämlich damit, sich in weniger als fünf Minuten vollständig anziehen zu können. Ein eiliger Blick durch den ganzen Raum offenbarte ihm Genovevas Aufenthalt, und sogleich begrüßte er sie mit jenem kräftigen Händedruck, der bei den Engländern eine ganze Seite voll schöner Redensarten ersetzt.
»Nun, Fräulein Gervis,« sagte Croft, »haben Sie wirklich Ihren Weg hierher gefunden? Ein häßliches altes Nest, wie? Aber Platz ist genug darin vorhanden, und es scheint sich förmlich um einen zu dehnen. Ich hoffe, Sie werden diese Erfahrung auch machen. Wo ist denn aber meine Freundin, Fräulein Potts?«
»Sie ist nicht eingeladen worden,« lächelte Genoveva.
»Was Sie sagen! Wie gräßlich dumm von mir! Ich werde meiner Mutter sagen, daß sie noch heute abend eine Zeile schreibt und sie herbittet.«
»O nein, das sollen Sie nicht thun,« war die Antwort. »Sie macht sich nicht viel aus dem Kommen, und wer weiß –« hierbei warf sie einen Blick auf Herrn Gervis und ließ ihren Satz unvollendet. »Aber es ist sehr gütig von Ihnen, daß Sie an sie denken, und es wird sie freuen, wenn ich ihr das erzähle.«
»Wieso gütig? Ich wünschte, sie hier zu sehen. Fräulein Potts und ich sind immer ausgezeichnet miteinander fertig geworden. Wir wollen nachher noch einmal darüber sprechen. Ich muß mich nur erst einmal nach mehreren der Gäste umsehen. Ich fürchte, ich komme schon schauerlich spät.«
Freddy eilte hinweg, um seinen Pflichten als Wirt nachzukommen, kehrte aber bald zurück und stellte Genoveva den Herrn Oberst Flinch vor, von dem er mit vollkommen hörbarer Stimme nebenbei bemerkte, er sei »ein lustiger alter Knabe und werde sie über Tische brillant amüsieren, denn er schwatze das Blaue vom Himmel«.
»Ich werde mein Bestes thun, um meinem Rufe Ehre zu machen,« versprach Oberst Flinch, den Freddys Seitenbemerkung durchaus nicht außer Fassung brachte. Er führte seine Partnerin in das Speisezimmer und zu Tische, und sie fand an ihm wirklich einen unterhaltenden Nachbar. Er plauderte ihr so viel vor, daß der jungen Dame alle Mühe, selbst zur Konversation beizutragen, erspart wurde. Er gab ihr eine Menge charakteristischer Notizen über die Manieren und Eigentümlichkeiten der einzelnen Nachbarn. Er sprach gern, und sie hörte gern zu, so paßten sie beide sehr glücklich zu einander, und als Lady Croft das Zeichen gab, daß die Damen sich zurückziehen sollten, da trennten sie sich mit gegenseitigem Bedauern.
Wie bald wünschte Genoveva ihren geschwätzigen alten Freund zurück, als sie im Salon neben eine ebenso schwatzhafte, aber unendlich taktlosere Dame zu sitzen kam, die sie über die Geschichte ihres Lebens ausfragte und sich geradezu erkundigte, warum ihr Vater von seiner zweiten Frau getrennt lebe. Glücklicherweise dauerte aber dieses Martyrium kaum zwanzig Minuten, denn nach Verlauf dieser Zeit erschienen bereits in der Thür einige Herren und befreiten mehr als eine Dulderin von ihren Qualen. Nicht viele Herren waren es, denn die meisten befanden sich im Billardzimmer, und dorthin gingen jetzt auch einige der Damen, darunter Nina Flemyng und Flora Croft. Genoveva blieb allein im Salon zurück.
Fast unmittelbar darauf wurde sie durch eine leise Bewegung hinter sich aufgeschreckt, und als sie sich umblickte, entdeckte sie Freddy, der schmunzelnd hinter ihrem Stuhle stand.
»Erschrecken Sie nicht,« sagte er, »ich bin es nur. Ich mußte erst einmal sehen, wie die da unten beim Billard- und Gesellschaftsspiel beschäftigt waren, dann stahl ich mich davon und kam vom anderen Ende des Saales wieder herein. Nun sind wir die anderen los geworden, dem Himmel sei Dank, und wenn es Ihnen recht ist, wollen wir etwas Musik machen. Sie sind doch hoffentlich nicht so grausam gewesen, Ihre Violine bei Fräulein Potts daheim zu lassen?«
»Das habe ich wirklich gethan,« scherzte Genoveva, »Ihre Freunde würden mich höchst wahrscheinlich für grausam erklärt haben, wenn ich sie mitgebracht hätte.«
Freddy jammerte. »Aber das ist doch wirklich zu böse von Ihnen. Wissen Sie, auf diesen Augenblick habe ich mich gefreut, seitdem ich heute morgen aufgestanden bin. Den ganzen Tag über habe ich mir den Kopf darüber zerbrochen, wie ich es bewerkstelligen soll, Sie hier zurückzuhalten, und ob Sie nicht am Ende Billard oder Gesellschaftsspiele spielen wollten. Und nun ich es glücklich soweit gebracht habe –«
»Sehen Sie sich dazu verurteilt, mit mir zu plaudern, statt mich spielen zu hören. Es thut mir sehr leid. Können Sie denn nicht wieder zu den übrigen gehen?«
»Ach, Fräulein Gervis, Sie wissen, daß ich das nicht sagen wollte!« rief Freddy, in dessen blauen Augen sich ein milder Vorwurf neben vielen anderen Empfindungen Ausdruck verschaffte. Sie wissen, daß ich nichts in der Welt lieber thue, als mit Ihnen plaudern!«
Nach dieser Methode pflegte unser junger Freund seine Huldigungen auszuteilen. Wie alles, was er unternahm, that er es gründlich. »Sehen Sie, fing er nach einer Pause wieder an, ich muß Sie mir immer mit Ihrer Violine vorstellen. Sie scheint mir ordentlich ein Teil von Ihnen zu sein. Ich will Ihnen sagen, was ich thun werde: Morgen früh werde ich nach Southlands hinüberschicken und Fräulein Potts und die Violine herholen lassen.«
Genoveva antwortete nicht sogleich. Als sie es that, lag in ihrer Stimme ein sanfter Ausdruck, den Freddy bisher noch nicht darin entdeckt hatte.
»Ich danke Ihnen von Herzen, Herr Croft. Aber ich fürchte, Miß Potts wird nicht kommen können. Ich müßte die Erlaubnis für sie erst erbitten, und – das möchte ich nicht gern thun. Aber Sie haben keine Ahnung, wie es sie freuen wird, zu hören, daß Sie nach ihr verlangten. Es geschieht so sehr selten, daß irgend jemand ihr die kleinste Aufmerksamkeit erzeigt, obgleich es Leute genug gibt, die sie brauchen, so oft es ihnen nur paßt. Ich glaube nicht, daß ich je einem Menschen begegnet bin, der so gut war wie Sie.«
Freddy starrte sie mit unverhohlenem Erstaunen an. Sein weiches Herz fühlte Mitleid. So viel Dankbarkeit wegen eines schlichten Aktes der Gutmütigkeit! Was für ein Leben mußte das arme Mädchen geführt haben! Unter welchen Ungeheuern von Selbstsucht mußte sie gelebt haben, um von einer solchen Kleinigkeit so gerührt zu werden! Er sah hinüber zu Herrn Gervis, der am entgegengesetzten Ende des Zimmers friedlich neben einer habichtsnasigen, reichen Witwe saß, und es packte ihn das Verlangen, diesen gebrechlich aussehenden Herrn bei den Schultern zu schütteln und ihn zu fragen, was das zu bedeuten habe. Eine Vision stieg vor seiner Seele auf: Er sah Fräulein Potts ihre letzten Lebensjahre in Croft Manor verleben, reichlich umgeben mit allen Annehmlichkeiten des Lebens, hochgeehrt von dem Besitzer des Gutes und seiner jungen Frau und angebetet von deren Kindern, die sie natürlich entsetzlich verziehen würde.
Trotzdem schmeichelte sich Freddy nicht, den Preis ohne Kampf auf ein bloßes Anhalten hin zu erlangen. Er war bescheiden und erkannte, daß das junge Mädchen ihm weit überlegen war; wenn sie seine Liebe nur ein wenig erwiderte, so wollte er mit Freuden unermüdliche Geduld und Treue beweisen.
Freilich steht zu vermuten, daß, hätte er in Genovevas Herzen lesen können, als er ihr nach einem fast zweistündigen tête-à-tête gute Nacht sagte, er doch ein wenig gekränkt gewesen wäre, hätte er gesehen, wie gleichgültig er ihr im Grunde war. Einmal freilich hatte Varinkas Andeutung von der möglichen Liebe des jungen Engländers ihr das Blut in die Wangen getrieben; aber das war nur eine vorübergehende Bewegung gewesen, und jetzt hätte sie darüber gelacht, hätte man ihr Freddy Croft als in sie verliebt geschildert. Sie, wie die meisten anderen jungen Mädchen, hatte sich ein männliches Ideal geschaffen, das in einer nebligen, fernen Zukunft mit ihr zusammenkommen könnte, ein Dichter, ein Musiker oder ein Künstler müßte es sein, ein Mann, für dessen irdische Bedürfnisse zu sorgen das Privilegium der Liebe sein dürfte, kurz, ein Mann, der keinem glich von allen, welche sie bisher gesehen hatte, am allerwenigsten aber diesem lustigen burschikosen englischen Baron.
Indessen konnte Genoveva nicht umhin, in ihrem Schlafzimmer, als sie die Ereignisse des Tages vor ihrem Geiste Revue passieren ließ, sehr freundlich von Freddy zu denken. Seine Ehrlichkeit, seine aufrichtige Weise zu sprechen und alle seine Gedanken auch gleich zu Worten werden zu lassen, hatten einen besonderen Reiz für sie, die ihre Jugend in einer Atmosphäre der Erkünsteltheit verlebt hatte, für sie, deren nächste Verwandte, da sie alle in einer schiefen Stellung zu einander lebten, selten sagen konnten, was sie dachten, noch auch denken konnten, was sie sagten. Hier in England schien man eine feinere Luft einzuatmen. Man war hier vielleicht weniger verfeinert, aber wahrer und menschlicher.
Mit einem Worte, Genoveva fühlte aus einem oder dem anderen Grunde ihr Herz ungewöhnlich leicht und sah ihre jetzige Umgebung durch rosenfarbene Gläser.
In dieser Gemütsverfassung ging sie auch am nächsten Morgen nach dem Frühstückszimmer, wo sie schon eine ganze Gesellschaft versammelt fand. Es war im Zimmer keine zahlreiche Dienerschaft vorhanden, wie unter ähnlichen Umständen in einem französischen Schlosse unerläßlich gewesen wäre; jeder Gast versorgte sich selbst, einige am Tische sitzend, andere an einem Nebentisch stehend, der mit Schinken, Pasteten und mannigfachen Erquickungen beladen war. Es war ein endloses Geklapper von Tellern und ein wirres Getöse ringsum. Schon befanden sich alle Gäste nicht nur in den charakteristischen englischen Spielkleidern, sondern auch in bester Laune. Auch schien das Spätaufbleiben vom letzten Abend keinen üblen Einfluß auf den Appetit der Anwesenden ausgeübt zu haben, so schnell verschwanden die aufgehäuften Lebensmittel unter den Händen der jungen Leute. So brach man nach dem Cricketspielplatz auf, wo sich fast dieselbe Scene wiederholte.
Ein großes Zelt war aufgerichtet worden, von dem aus die nicht spielenden Gäste den spielenden zusahen, und in demselben befand sich eine Tafel voller Kuchen, Obst und anderen Erfrischungen. Dem Champagner und Bordeaux wurde so eifrig zugesprochen, daß ein halbes Dutzend Diener kaum hinreichte, die Gläser zu füllen. Es schien kein Aufhören im Essen und Trinken. Nach und nach fuhren mehrere Wagen vor, die noch Zuschauer aus den benachbarten Gütern zusammenführten – lauter durstige Seelen, denn es war ein glühend heißer Tag und an den alten Ulmen im Hintergrunde bewegte sich kein Blättchen.
Freddy stand hinter Genovevas Stuhl und klärte sie über die Geheimnisse des Spieles auf. Die Zuschauer fingen an, sich sehr warm für die Fortschritte der Spieler zu interessieren. Jeder Treffer wurde mit lautem Applaus belohnt. Nie war ein schöneres Spiel, nie köstlicheres Wetter, nie ein vollkommenerer Spielplatz, und so ging man aus dem Morgen fröhlich in den Nachmittag hinüber.
Wer sich nur wenig amüsierte, ja, wer sogar von Langeweile geplagt wurde, das war Claud Gervis. Mitten in einer Schar junger Männer, die ihm alle fremd, untereinander aber sehr vertraut waren, fühlte er sich höchst unbehaglich. Seit seinen Schultagen war er stets damit beschäftigt gewesen, andere Länder und Nationen kennen zu lernen, und hatte dadurch eine Kluft zwischen sich und seinen Altersgenossen gegraben, denn diese hatten in der Zeit die gewöhnliche Erziehung und Lebensweise der englischen »Gentlemen« gehabt. Er fühlte sich älter als sie, und unfähig, seine Verbindung mit ihnen da wieder aufzunehmen, wo er sie hatte fallen lassen. Er konnte sich nicht so schnell in ihre Denk- und Redeweise finden, war auch von den Eindrücken des vergangenen Abends keineswegs so erbaut wie seine Schwester. Die unaufhörlichen Späße amüsierten ihn nicht, Fräulein Crofts laute Stimme und männliche Manieren erfüllten ihn mit heiligem Schauder. Außerdem zeigte Nina Flemyng sich gegen ihn unbegreiflich launenhaft. Ein Nicken und ein Lächeln nebst ein paar alltäglichen Worten über den Tisch hinweg waren alles, was er von ihr hatte erlangen können. Mit keinem Wort versuchte sie die freundschaftlichen Beziehungen zu ihm zu erneuern, die sie erst vor wenigen Tagen in so wenig förmlicher Weise begonnen hatte. Die Nina in ihrem väterlichen Hause war völlig verschieden von dem Fräulein Flemyng auf Croft Manor. Es ließ sich ja verstehen, daß Nina sich in Positur setzte und ihre Würde bewahrte, wenn Fräulein Croft ihre gewagten Scherze anbrachte; aber daß sie wirklich und achtungsvoll bewundernde Freunde fern hielt, während sie die leeren und plumpen Aufmerksamkeiten eines langbeinigen Dragoneroffiziers annahm und dem Anschein nach gern sah – wie sollte man das verstehen? Da Claud nicht verliebt war, konnte er auch nicht eifersüchtig sein; aber er war befremdet und verletzt; er sah nicht ein, womit er eine solche Behandlung verdient hatte, und er hätte sich eine Erklärung derselben geholt, wenn nicht die stete Anwesenheit des vorerwähnten langbeinigen Dragoners jeden Versuch, eine Privataudienz zu erlangen, vereitelt hätte. Ein mitten unter dem Knallen der Champagnerpfropfen belauschtes Gespräch zwischen zwei Herren diente gerade nicht dazu, seine Mißstimmung zu verscheuchen.
»O, Flemyng also? Die Tochter des Mannes mit dem langen, weißen Haar, der sich bei den Gerichtsverhandlungen zuweilen so unsterblich lächerlich macht?«
»Ja. Hübsches Mädchen, ungewöhnlich hübsch, aber verteufelt kokett. Hier still – höllenmäßig still und sanft, hat aber ihre Gründe – Sie verstehen, hat ihre Gründe. Letztes Jahr wollte die alte Lady sie mit Croft verheiraten, hat sich Mühe genug darum gegeben – ja. Kein Geld, Sie wissen, aber Schönheit und Manieren. Er könnte schlimmer reinfallen – mit Ballettmädchen oder so was. Das arme, alte Ding! Schwebt bloß immer in Angst vor irgend einer Katastrophe. Ist aber nichts draus geworden.«
»Croft wollte wohl nicht drauf anbeißen?«
»Ei nun, manche sagen, sie wollte ihn nicht – er wäre zu sehr hinter den Damen her oder so was. Aber unter uns – die Mädchen sind's in solchem Fall gewöhnlich nicht, die die Männer wegschicken, ha ha ha! Sie ist nicht an gebrochenem Herzen gestorben. Wird schon einen anderen aufgabeln, sage ich Ihnen. Ist aber ein gescheites Mädchen – verdirbt es nicht mit den Crofts. Ganz nützliche Bekanntschaft, – sehen Sie – nehmen einen in der Saison mit nach London – kaufen einem auch dann und wann ein neues Kleid, ja. Nehmen Sie noch ein Glas von diesem Champagner. Ist eine edle Sorte. Habe erst den Kork untersucht, ehe ich mich entschlossen habe. Erfahrungen gemacht, ja, ja!«
Leichtsinnig verschossene Pfeile der Verleumdung treffen zum Glück nicht immer die Person, auf die man gezielt hat; es ist aber zu bedauern, daß sie oft andere schmerzlich verwunden. Nina fuhr fort, ihren Dragoneroffizier in glücklicher Unwissenheit anzulächeln; Claud aber zog sich bitterer Betrachtungen voll an das entlegenste Ende des Zeltes zurück. Wir sind alle in der Hand unserer Freunde und, dem Himmel sei Dank, wir wissen selten, was sie über uns sagen. In neun Fällen unter zehn hat es auch nicht das mindeste zu bedeuten. Claud aber, der noch jung und unerfahren auf den Wegen der Welt war, war thöricht genug, ihm eine sehr große Bedeutung beizulegen. So marterte er sich denn innerlich ab, als Freddy kam und ihn zum Mitspielen aufforderte.
Nächst harter Arbeit ist eifriges Spiel das beste Gegengift gegen Schmerzen der Seele. Ehe Claud eine Viertelstunde auf dem Spielplatze war, hatte er alles über Nina Gesagte vergessen. Sein innerlicher Drang, den Nachbarn zu beweisen, daß er nicht, wie manche sich einbildeten, zu drei Vierteln ein Ausländer, vielmehr ein so guter Engländer sei, wie nur einer von ihnen, veranlaßte ihn, seine ganze Aufmerksamkeit auf das Spiel zu richten, und er hatte damit so viel Erfolg, daß er verschiedene Male mit einem allseitigen Bravo belohnt wurde. Gegen das Ende des Tages hatte er sogar das Glück, einen sensationellen Wurf zu thun, der ihn auf einmal mit Ehren überschüttete. Der lang anhaltende Applaus that ihm sehr wohl, aber als er gar sah, wie Nina Flemyng ihm eifrig Beifall klatschte, auf die Gefahr hin, ihre achtknöpfigen Handschuhe zu zersprengen, während der Dragoner, der kein Cricketspieler war, seinen Schnurrbart zupfend im Hintergrunde stand – da fing er an zu denken, daß er in der ersten Hälfte des Tages doch wohl etwas zu hart gegen das schöne Mädchen gewesen sei.
Genoveva war nicht Zeugin von dem Triumphe ihres Bruders. Bald nach dem zweiten Frühstück war Lady Croft, die das Cricketspiel nicht nur nicht verstand, sondern sogar verabscheute, beinahe schüchtern in das Zelt getreten und hatte Fräulein Gervis gebeten, sie auf einer Spazierfahrt zu begleiten.
»Ich wünschte von Herzen, daß Sie uns allen eine recht große Gefälligkeit erzeigten,« bat sie, sobald sie aus der gefährlichen Nachbarschaft der Cricketbälle hinweg waren und freier atmen konnten. »Mein Sohn sagt mir, daß Sie eine wundervolle Violinistin sind – zu reizend! Ich habe noch nie von einer Dame gehört, die die Violine spielte, außer Madame – wie heißt sie doch gleich? Und bei der freilich war es Profession. Wollen Sie nun nicht mit mir nach Southlands fahren und Ihr Instrument holen? Es ist zwar barbarisch, Sie von allen den anderen jungen Leuten wegzuholen; aber Ihr Vater sagt, Sie machen sich nicht allzuviel aus dem Cricket, und wenn es nicht ein zu großes Opfer ist –«
Genoveva konnte nur sagen, daß sie sehr glücklich wäre, ihrer freundlichen Wirtin einen Gefallen zu thun.
»O, ich danke Ihnen! – Und dann noch eins,« fügte sie zögernd hinzu: »Meinem Sohne lag sehr viel daran, daß ich auch Ihre – Ihre Freundin, Fräulein Peters – Potters –«
»Potts,« belehrte Genoveva.
»Potts, danke sehr – daß ich sie auf ein paar Tage einladen sollte. Ich sprach mit Herrn Gervis darüber; aber er hielt für besser, daß sie nicht käme.«
»O ja, ich wußte, daß er damit nicht einverstanden sein würde,« bemerkte Genoveva gelassen. »Es thut mir sehr leid, daß die Sache überhaupt zur Sprache gekommen ist.«
Lady Croft machte eine Gebärde der Abbitte. »Aber, meine Liebe, ich bin der Ansicht, daß Ihr Papa ganz recht hat. Natürlich, mir wäre es außerordentlich angenehm gewesen; aber Sie verstehen doch, solche Art Leute ladet man im allgemeinen nicht ein. Das heißt, Sie verstehen mich –«
»Ich verstehe Sie vollkommen.«
So fuhr das junge Mädchen mit Lady Croft nach Southlands hinüber, und bei ihrer Rückkehr befand sich auf dem Rücksitz die Violine.
Genovevas Spiel war kein schulmäßiges. Es war leidenschaftlich, bedeutungsvoll, hinreißend, regellos. Ihre Geige war ihre Zunge. Vermittelst derselben schüttete sie die Geheimnisse ihrer reservierten Natur aus. Was für Erfahrungen auch andere Künstler darin machen mögen, in ihrem Fall war das Spiel offenbar ganz Glückseligkeit.
Die Gäste in Croft Manor waren gewiß künstlerischen Eindrücken so schwer zugänglich, wie sie unter Alltagsmenschen in einem englischen Landhause, noch dazu in der Cricketsaison, nur zu finden sind, und als Fräulein Gervis auf Lady Crofts Bitte ihre Violine hervorbrachte, da waren gar noch die meisten derselben von dem Wunsche beseelt, die förmliche Gesellschaftskleidung mit einem bequemeren Anzug zu vertauschen und hinunterzugehen in die Rauch- und Billardzimmer; dennoch hielt sie sie für eine gute halbe Stunde wie an Zauberbanden fest und hätte das noch länger durchgeführt, wäre sie den ebenso aufrichtigen wie einmütigen Bitten der Anwesenden nachgekommen.
Oft erinnerte sich in späteren Zeiten Freddy dieses Abends – der geräumigen Zimmer mit den darin verteilten Gruppen, auf deren aufmerksame Gesichter das sanft gedämpfte Lampenlicht fiel – der hohen schlanken Gestalt, die in ihrem Schleppkleide von weißer schillernder Seide ganz einer überirdischen Erscheinung glich, wie sie, den kleinen Kopf leicht zurückgeworfen, mit den schlanken Fingern gewandt den Bogen handhabte, während die Luft vibrierte von ihren wilden Scherzos und zitternden Adagios. Das Herz des jungen Mannes hüpfte vor Triumph und Entmutigung. Wie konnte er so anmaßend sein, sich dieses auserlesene Wesen als sein Weib vorzustellen? Wie konnte er hoffen, daß sie ein anderes als freundschaftliches und herablassendes Interesse an ihm nehmen sollte, der doch so weit unter ihr stand? Es beschämte ihn aufs tiefste, daß er noch vor wenigen Wochen von Fräulein Lamberts Reizen gefesselt worden und daß Genoveva mit diesem beschämenden Umstande bekannt war. Er fühlte den fast unwiderstehlichen Drang, sich ihr zu Füßen zu werfen vor aller Augen und ihr alles zu gestehen – daß sie seine erste und letzte Liebe sei (die bisherigen kleinen Abenteuer seien doch nichts weiter als unbedeutende Vorpostengefechte gewesen, nicht der Erwähnung oder Erinnerung wert), und daß von nun an sein Leben ihr allein gehörte; wenn sie ihm nur im mindesten Mut machen wolle, so werde er warten und streben, ihre Liebe zu verdienen, wenn sie aber sich von ihm wende, könne nur Verzweiflung und Tod sein Los sein. Es ist indes kaum nötig zu sagen, daß er dem unbesonnenen Antriebe nicht folgte, sondern nur seufzte und »Herzlichen Dank« murmelte wie jeder andere.
Genoveva war der Mittelpunkt eines bewundernden Kreises geworden; sie stand noch neben dem Klavier, wo sie ihren Standpunkt gewählt hatte, wenn auch nur aus Gewohnheit, denn sie hatte frei erfunden und ohne Begleitung gespielt. Da schloß sich ein Herr, von dem sie ganz gewiß weder Lob noch überhaupt Beachtung erhofft hatte, der Gruppe an. Seltsam genug, aber es war das erste Mal, daß Herr Gervis seine Tochter hatte Geige spielen hören. Er hatte das Instrument von Zeit zu Zeit in Varinkas Salon gesehen; da er jedoch ein empfindliches Ohr hatte und durch mangelhaftes Spiel leicht verletzt wurde, so hatte er nie eine Bemerkung darüber gemacht. Jetzt aber hatte er sie gehört, war überrascht und bezaubert und kam mit den übrigen Bewunderern, um ihr seine Glückwünsche darzubringen, wie er es mit einer Fremden gethan hätte.
»Ich gratuliere dir,« sagte er mit einer Verbeugung. »Du hast Talent und Originalität, und ich denke, du kannst wohl noch einmal eine große Violinistin werden. Aber – du bist eine zu echte Künstlerin, um nur Schmeicheleien hören zu wollen: darf ich mir ein paar Worte der Kritik erlauben?«
»O bitte,« sagte Genoveva, die über dem Vergnügen, von einem wirklichen Kenner gelobt zu werden, fast vergaß, wer ihr Gegenüber war.
»Dann will ich dir raten, dir mehr Ruhe anzugewöhnen, Ruhe vor allem in Haltung und Benehmen. Jene inspirierte Miene, jener Schein der Ekstase sind reizend; aber die geringste Kleinigkeit genügt, sie lächerlich zu machen. Eine Künstlerin sollte jede Gefahr derart vermeiden.«
Genoveva runzelte unwillkürlich die Stirn. Das war gerade nicht die Kritik, welche sie erwartet hatte. »Es thut mir leid, daß ich lächerlich aussah,« meinte sie trocken, »aber ich habe mich noch nie mit meinem Aussehen beschäftigt.«
Gervis ließ sich durch die Unterbrechung nicht aus seiner Ruhe bringen. »Und wie die Haltung, so das Spiel selbst. Du neigst zur Uebertreibung. Manche Passagen accentuierst du allzu stark, in anderen beschleunigst du das Tempo dermaßen, daß niemand imstande wäre, dich zu begleiten. Aber das sind Fehler, die sich leicht verbessern lassen. Du hast natürlich Stunden genommen, darf ich fragen, wer deine Lehrer waren?«
Genoveva nannte einige mehr oder weniger bekannte Namen. »Aber ich habe sehr wenig geübt –« setzte sie dann hinzu – »alles, was ich wirklich kann, habe ich, als ich noch ein Kind war, von einem Oesterreicher gelernt, einem Herrn v. Elbitz. Ach, er war sehr liebenswürdig gegen mich. Er verkehrte viel in unserem Hause und gab sich große Mühe mit mir. Er war es auch, der mir meine erste Violine gab. Aber er ging plötzlich weg und ich habe nie wieder etwas von ihm gehört.«
Ein eigentümliches Lächeln spielte um Gervis' dünne Lippen. »Ah, ich denke, ich kann mich an deinen Lehrer erinnern. Ein junger Herr von besonderer Schönheit, der eine Zeitlang zu den vertrauten Freunden der Prinzessin gehörte. Er war also sehr gut und gab sich große Mühe? Und plötzlich blieb er fort? Das thun die Freunde der Prinzessin nicht selten, habe ich bemerkt.«
Genoveva verstand die Anspielung. Leider war es in einem Hause, wie das ihre, schwer möglich, die Auslegung geheim zu halten, welche die Welt den zahllosen platonischen Freundschaften ihrer Stiefmutter gab. Die viel verleumdete Dame war selbst nicht sparsam mit ihren Mitteilungen über diesen Punkt. Eine Sekunde lang ließ das Mädchen ihren Blick voll bitteren Zornes und heller Verachtung auf ihres Vaters Gesicht ruhen, wandte ihm dann schweigend den Rücken zu und schritt nach dem Sofa, wo Freddy Croft noch saß und grübelte. Glücklicherweise waren die Zuschauer, die mit nicht geringem Erstaunen der Eröffnung dieses seltsamen Zwiegesprächs zugehört hatten, unterdessen auseinander gegangen und hatten das Ende also nicht gehört.
Gervis sah ihr nach, ohne sein Lächeln abzulegen, und kehrte dann langsam auf seinen Platz neben Lady Croft zurück. Die mütterlichen Augen dieser Dame hatten mittlerweile das Geheimnis ihres Sohnes herausgefunden, und sie befand sich vor Freude und Hoffnung in einem so aufgeregten Zustande, daß sie nicht länger an sich halten konnte.
»Ich bin von Ihrer Tochter ganz entzückt!« fing sie an. »Ein so liebes Mädchen! So ruhig und natürlich, und so distinguiert! Und ihr Spiel nun ist gar superb. Ich schwärme für die Musik und mein Sohn ebenso. O, Herr Gervis, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich mich danach sehne, meinen Sohn an der Seite einer Frau zu sehen, die ihn zu sich emporheben könnte. Wenn nur die beiden jungen Leute sich aneinander anschließen wollten, wie gern wollte ich ihnen Platz machen und mir ein neues Daheim suchen!«
»Sie erzeigen uns zu viel Ehre, Lady Croft,« erwiderte Herr Gervis völlig ungerührt. »Aber packen Sie nur Ihre Sachen noch nicht gleich zusammen. Mir scheint Ihr Plan mehr als eine Aussicht darauf zu haben, daß er zu Wasser wird – erstens durch meinen unüberwindlichen Widerwillen gegen den Ehestand im allgemeinen, zweitens durch Ihres Sohnes Anlage zur Flatterhaftigkeit, drittens und namentlich aber durch die Eigentümlichkeit meiner Tochter. Ich bin zwar nicht sehr bekannt mit ihr, aber es scheint mir möglich, daß sie Sie enttäuschen könnte. Damen, welche die Violine spielen, wie sie es thut, geben im allgemeinen keine musterhaften Gattinnen und Mütter ab, und ich habe erst eben jetzt entdeckt, daß sie auch ihre Launen hat.«
Das war eine schöne Aufnahme der besten Partie in Lynshire! Lady Croft war nahe daran, Herrn Gervis ihre Meinung zu sagen, hatte aber einen solchen Respekt vor ihm, daß sie sich mit dem Gedanken tröstete, er sei augenscheinlich verrückt.