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II. Der Student Lupinus

Allein und einsam wie immer saß der junge Lupinus in seinem Zimmer, vor seinem mit Büchern und Folianten bedeckten Schreibtisch. Sein Antlitz war noch bleicher und abgemagerter wie damals, als wir ihn in Berlin kennen lernten. Seine Augen, welche tief in ihren Höhlen lagen, waren umgeben von jenen traurigen, bläulichen Ringen, die immer der Widerschein innern Leidens zu sein pflegen. Seine bleichen Lippen waren fest und schmerzlich zusammengepreßt, und die schmale kleine Hand, mit welcher er sein armes blasses Haupt stützte, war von einer durchsichtigen Magerkeit und Weiße.

Lupinus arbeitete oder schien wenigstens zu arbeiten, vor ihm lag einer jener ehrwürdigen, in Schweinsleder gebundenen Folianten, welche so sehr die Ehrfurcht und Achtung der Gelehrten erregen, und in denen die Quellen ihres Wissens und ihrer Forschungen sprudeln.

Die Blicke des jungen Mannes ruhten auf der vor ihm aufgeschlagenen Seite des Folianten. Aber so lange und so stätig, daß man wohl sah, wie er über dem Denken und Grübeln das Lesen vergessen hatte.

Welche Freude würden die Herren Professoren gehabt haben, wenn sie ihn so, über den Folianten geneigt, ganz Andacht und Aufmerksamkeit, hätten sehen können!

Aber welches (Entsetzen und welcher Abscheu würde sie ergriffen haben, wenn sie gewahrt hätten, was Lupinus eigentlich las, und welches unheilige Blatt da über der Ehrfurcht gebietenden Druckschrift ausgebreitet lag.

Dieses Blatt war ein Komödienzettel, der Komödienzettel des heutigen Abends, und auf ihm ruhten die Blicke des jungen Studenten Lupinus.

Nein, nein, sagte er nach langer Pause, ich werde nicht hingehen. Ich will mein Herz überwinden, wie ich es diese zwei langen, entsetzlichen Monate schon getan habe. Ich will und darf Eckhof nicht wiedersehen, niemals wieder. Ich fühle, daß ich verloren wäre, wenn ich es täte. Ah, als ob ich nicht ohnedies verloren bin. Als ob ich ihn nicht ewig vor mir sähe, als ob seine großen, brennenden Augen nicht immer hier in meinem armen Herzen bohrten und glühten, als ob vor meinen Ohren nicht ewig seine sanfte melodische Stimme erklänge und mir das Grablied meiner Ruhe und meines Friedens sänge, vergebens sträubte ich mich gegen mein Verhängnis, es ist doch über mich hereingebrochen und hat meine ganze Vergangenheit, meine ganze Zukunft zerschmettert. Möge mein Herz unter diesen Trümmern verbluten, ich darf und will nicht versuchen, es zu retten. Ich will ehrlich sterben, wie ich ehrlich gelebt habe. Nur möge mir Gott die Kraft verleihen, daß meine sterbenden Lippen meinem Vater nicht fluchen und ihn nicht anschuldigen. Er hat sich schwer an mir versündigt, er hat mich hinausgeschleudert aus den Bahnen, welche das Schicksal und die Natur mir vorgezeichnet, er hat die Natur seinem Willen unterordnen wollen, und ich bin das Opfer dieses egoistischen Willens geworden. Möge das Gott ihm vergeben. Wie Christus am Kreuze flehe auch ich: vergib ihm, Gott, denn er wußte nicht, was er tat! – Und jetzt, fuhr Lupinus nach einer Pause fort, jetzt genug der Klage und des Bedauerns! Ich habe meinen Entschluß gefaßt, ich werde dieser Versuchung Widerstand leisten, ich werde nicht ins Theater gehen, denn niemals, o nein, niemals darf ich ihn wiedersehen!

Mit einer heftigen Bewegung nahm er den Theaterzettel und drückte die Stelle, wo der Name Eckhof stand, an die Lippen. Dann zerriß er das Papier in kleine Stückchen, die er mit einem traurigen Lächeln über seinen Schreibtisch und seine Bücher ausstreute.

Das ist die Saat meiner Schmerzen, sagte er leise, möge sie aufgehen und sich entfalten zu einer Blume auf meinem Grabe. Aber solange ich lebe, will ich kämpfen und standhaft sein. » Kräftig, tapfer und treu bis ans Ende.« Das sei die Devise, welche ich über mein Leben wie eine flatternde Fahne ausbreite, und unter der ich mutig streiten und ringen will mit der Welt und meinem eigenen Herzen. Ruhe, träume und stirb, mein Herz, und du, mein Geist, wache auf und tröste mich!

Er neigte seine Blicke wieder auf den vor ihm aufgeschlagenen Folianten und las. Diesmal nicht bloß mit seinen Augen, sondern auch mit seinem Geiste und seinen Gedanken.

Aber das dauerte nicht lange; ein leises Klopfen an seiner Tür störte ihn, und ehe er noch Zeit hatte aufzustehen, ward die Tür geöffnet und der Rektor Magnifikus Professor Franke trat herein. Mit einer seltenen Freundlichkeit und Herablassung begrüßte er den über diesen Besuch ganz erstaunten und sprachlosen Studenten, dessen Verwirrung dem Stolz des Rektors ein wohlwollendes Lächeln abgewann.

Mein Besuch scheint Sie zu überraschen, sagte er, und Sie finden vielleicht, es sei ungewöhnlich, daß der Rektor der Universität zu einem Studenten komme. Aber was wollen Sie, junger Mann, Sie sind selber so ungewöhnlich, daß man, um Ihnen seine Beachtung und Anerkennung zu zeigen, auch zu ungewöhnlichen Mitteln seine Zuflucht nehmen muß. Sie sind der fleißigste, gelehrteste, ehrbarste und stillste Student unserer Hochschule. Man sieht Sie niemals in den Wirtshäusern, auf dem Fechtboden oder bei den lustigen Studentengelagen. Immer sind Sie einsam und nur mit Ihrer Wissenschaft und Ihren Studien beschäftigt. Deshalb sind Sie der Liebling und die Hoffnung aller Professoren, und deshalb ist es, daß ich, der Rektor Magnifikus, persönlich komme, Ihnen meine Achtung zu beweisen.

Es ist dies eine Ehre, welche mich tief beschämt, sagte der junge Lupinus hoch errötend, eine Ehre, deren ich mich kaum würdig fühle.

Ich will Ihnen noch einen größern Beweis meiner Achtung geben, fuhr der Professor fort. Ich will Sie zu meinem Vertrauten machen, und Sie teilnehmen lassen an einer Intrigue, welche, so klein sie auch scheint, doch für die Wissenschaft von den größten und heilbringendsten Folgen sein wird.

Und mit beredten Worten setzte ihm Franke jetzt die Gefahr auseinander, mit welcher die Wissenschaft von der Anwesenheit der Komödianten bedroht werde, und von dem unheilvollen Einfluß, welchen das Theater auf die Studenten ausübe. Indem er ihm den Bescheid des Generaldirektoriums mitteilte, vertraute er ihm dann den Plan an, welchen die Professoren entworfen hatten, um heute den gewünschten Skandal herbeizuführen, und bei welchem Lupinus eine werktätige Rolle spielen sollte.

Der junge Mann hörte der salbungsvollen Rede des Professors schweigend und wie erstarrt vor innerem Schrecken zu. Franke sah das nicht, er sah nicht die finstern, flammenden Blicke, welche Lupinus auf ihn schleuderte, er sah nicht, wie er allmählich erbleichte, und wie er seine zitternden Lippen fest aufeinander preßte, um die heftigen Worte vielleicht zurückzudrängen, die aus seiner Brust emporstiegen. Der Professor hörte sich selber zu, und bewunderte froh seine eigene eifervolle Redegewandtheit, wie hätte er da das Antlitz dieses Jünglings beobachten können, an dessen dienstbereiter Ergebenheit er gar nicht zweifelte, und dessen Weigerung ihm wie ein unglaubliches Märchen würde erschienen sein.

Auch weigerte sich Lupinus gar nicht. Er nahm ganz gelassen das dargereichte Billett an und legte es, ohne irgendeine Erwiderung auf seinen Schreibtisch. Er hörte schweigend den weitern Auseinandersetzungen des Professors zu, und dieser nahm das Schweigen für eine ehrfurchtsvolle Zustimmung.

Als aber der Herr Rektor sich endlich entfernt hatte und Lupinus allein war, da wich die Ruhe aus seinen Zügen und sein ganzes Wesen war jetzt Bewegung, Aufregung und Leidenschaft. Mit einer heftigen Bewegung nahm er das Theaterbillett und warf es zur Erde, um mit seinen Füßen darauf zu stampfen, und es den ganzen Zorn, die tiefe Verachtung empfinden zu lassen, welche er dem Professor nicht zu zeigen gewagt hatte.

Mich, mich wollen sie zum Werkzeug dieser Erbärmlichkeiten machen! sagte er zähneknirschend. Weil ich zurückgezogen, einsam und freudenlos lebe, scheine ich ihnen geeignet, eine solche Infamie auszuführen. Weil ich nicht ins Theater gehe, glauben sie, daß ich ein Verächter der Kunst bin, und sie, gleich ihnen, für eine Feindin der Wissenschaft halte. OH, oh, wie wenig kennen sie mich, wie wenig verstehen es diese klugen und gelehrten Professoren, in den Herzen und den Gesichtern der Menschen zu lesen! – Aber wie, Eckhof ist in Gefahr, ich weiß es und soll schweigen? Eckhof wird bedroht von diesen engherzigen, aufgeblasenen Professoren, und ich soll ihn nicht warnen? Wäre das nicht Verrat, den ich an mir selber beginge, ein Verbrechen gegen die Kunst und mein eigenes, armes Herz?

Mit heftigen Schritten, mit keuchendem Atem ging er im Zimmer auf und ab, ringend mit den Gedanken und Entschlüssen, welche sein Innerstes bewegten und wie Orkane in ihm tobten und brausten. Plötzlich blieb er stehen. Sein Antlitz strahlte jetzt von Entschlossenheit und Energie, seine Augen glänzten im Feuer der Begeisterung.

Ich wollte meine Sehnsucht und mein Herz der Pflicht zum Opfer bringen, sagte er, aber Gott hat mein Opfer nicht angenommen, Gott hat es verworfen und mir selber den Weg vorgezeichnet, den ich zu gehen habe! Ich will nicht der Teilnehmer dieser Verschwörung sein, wenn ich sie verschwiege, wäre ich es. Ich werde also nicht schweigen.

Mit einem glücklichen Lächeln nahm er seinen Hut, und seine Wohnung verlassend eilte er hinunter auf die Straße. Aber vor der Tür Eckhofs angelangt, zögerte er, und eine glühende Röte, gefolgt von einer tödlichen Blässe, übergoß sein Gesicht.

Nein, nein, flüsterte er leise, ich habe heute noch nicht die Kraft, ihn wiederzusehen. Ich würde sterben, wenn seine Augen mich anblickten. Ich will zu Fredersdorf gehen.

Der junge Joseph Fredersdorf, welcher jetzt aus einem Jünger der Wissenschaft sich in einen Jünger der Kunst verwandelt hatte, war zu Hause und empfing Lupinus mit freudigem Erstaunen.

Der Heilige traut sich in die Höhle des Weltkindes, sagte er mit einem fröhlichen Lachen, der auf dem Dreifuß thronende Gelehrte steigt herab von seiner Höhe, um den Helden und Liebhaber der Theater- und Kulissenwelt aufzusuchen. Das ist ein unerhörtes Ereignis, welches jedenfalls etwas zu bedeuten haben muß.

Sie spotten über mich, und doch haben Sie dabei das rechte getroffen, sagte Lupinus. Ja, es hat etwas zu bedeuten, daß ich hier bin, denn nicht ohne eine ernste Veranlassung würde ich, welcher so undankbar und schroff Ihre freundliche Annäherung zurückgewiesen hat, den Mut gefunden haben, zu Ihnen zu kommen. Aber ich weiß, daß Sie mir vergeben werden um des Zweckes willen, der mich zu Ihnen führt. Hören Sie mich an, und dann urteilen Sie!

Mit hastigen Worten, oft unterbrochen von den Ausrufen Fredersdorfs, von den Ausbrüchen seines Unwillens und seines Zorns, erzählte ihm Lupinus von dem Besuch des Rektors und von dem Zweck desselben.

Das ist also eine Verschwörung in bester Form, sagte Joseph, als Lupinus geendet hatte, eine Verschwörung, um derentwillen, wenn sie von den Studenten ausginge, die Herren Professoren Zeter und Mordio schreien und die armen Jungen auf das Karzer schicken würden, wie sie es mir so oft getan.

Eine Verschwörung, welche, wenn sie gelänge, die Entfernung der Schauspieler zur Folge haben würde, sagte Lupinus.

Sie darf also nicht gelingen. Wir müssen alles anwenden, dies zu verhindern. Das Wichtigste ist, daß wir die übrigen Studenten ermitteln, welche der Herr Rektor mit dieser ehrenvollen Aufgabe betraut hat. Diese müssen wir für uns zu gewinnen suchen, oder, wenn dies nicht gelingen will, am Besuch des Theaters verhindern.

Und wenn wir diese Studenten nicht ermitteln können?

Dann müssen wir geschehen lassen, was nicht zu ändern ist, aber wir müssen die üblen Folgen zu hintertreiben suchen. Wir müssen uns an den König wenden und ihm sagen, wer den Skandal veranlaßt hat, und weshalb das geschehen ist. Der König ist gerecht, und, wie ich glaube, den Schauspielern der Bühne mehr gewogen als den Schauspielern der Kanzel und des Katheders. Zum Glück ist es nicht schwer, zu dem König zu gelangen, am allerwenigsten für mich, dem Bruder des Geheimkämmerers. Sehen wir also den Dingen, welche da kommen sollen, mit Ruhe und Fassung entgegen. Seien wir tätig, besonnen und klug, und der Sieg wird auf unserer Seite sein. Jetzt aber, mein teurer Freund, denn Sie müssen es sich schon gefallen lassen, daß der ungelehrte und sehr wenig ehrbare Schauspieler Sie von heute an seinen teuersten und besten Freund nennt, jetzt wollen wir vor allen Dingen zu meinem Meister und Herrn, zu Eckhof gehen. Eckhof muß nicht allein diese Verschwörung, sondern auch denjenigen kennen lernen, dem wir die Kenntnis derselben schulden. Eckhof muß Ihnen danken, und ich weiß, er wird das mit Freuden tun, denn er gehört zu den großen und edlen Seelen, welche es nicht scheuen, andern verpflichtet zu sein und zur Dankbarkeit nicht zu stolz sind. Kommen Sie also zu Eckhof.

Er wollte Lupinus ungestüm mit sich fortziehen, dieser aber wehrte ihn sanft zurück. Nein, sagte er, ihm kann es gleichgültig sein, wer ihm diese Warnung gebracht, und ich habe es nicht getan, um Dank zu erwerben, sondern um meinem Gewissen Genüge zu tun. Was soll ich bei Eckhof? Er würde spotten über den ungelenkigen, schüchternen und traurigen Studenten, und wie demütig und unbedeutend ich immer sei, so will ich doch nicht, daß man über mich lache.

Glauben Sie wirklich, daß Eckhof das tun würde? Er, welcher die tiefste Verehrung, die heiligste Andacht hat für alles, was der Kunst und der Wissenschaft angehört, für alles, was natürlich und wahr, edel und gut ist? Er, welcher das Herz eines Kindes und die Liebeskraft einer Frau hat, er sollte Sie verlachen, weil Sie nicht sind, wie wir, das heißt, nicht leichtsinnig, übermütig, unverständig und töricht, sondern weise und gelehrt, obwohl Sie ein Kind sind, treu und gut selbst gegen uns, welche Sie ohne Zweifel geringschätzen?

Ich? fragte Lupinus ganz erstaunt. Ich sollte Sie geringschätzen? Ach, Sie wissen also nicht, – aber nein, unterbrach er sich selber, wir sprechen über das alles ein andermal. Heute haben wir beide zu tun. Ich will versuchen, die Studenten zu ermitteln, welche der Herr Rektor gewonnen hat, und Sie müssen zu Eckhof eilen, um mit ihm die nötigen Verabredungen zu treffen.

Sie wollen mich also nicht zu ihm begleiten?

Nein, mein Freund, heute nicht! Lassen Sie uns erst die Begebenheiten dieses Abends abwarten, morgen vielleicht bitte ich Sie, mich zu ihm zu führen.

Das wäre einmal ein Triumph, den ich den Herren Zopfgelehrten wünsche. Herr Lupinus, die Leuchte der Wissenschaft, der berühmteste Arzt der Zukunft, Herr Lupinus, ein Freund der Schauspieler, ein Freund des verachtungswürdigen Renegaten der Gelehrsamkeit, Joseph Fredersdorfs! Hören Sie, Sie müssen mir den stolzen Triumph gönnen, dreimal mit Ihnen Arm in Arm um den Marktplatz und den grünen Turm zu gehen. Dreimal hintereinander, versprechen Sie mir das?

Sorgen wir erst, daß der Plan der Professoren mißlingt und die Schauspieler nicht aus Halle vertrieben werden.

Und wenn wir dies erreicht haben, dann wollen Sie mit mir Arm in Arm dreimal um den Marktplatz gehen?

Nicht dreimal nur, sondern so oft Sie wollen!

Nun habe ich die Kräfte eines Simson und die Schlauheit einer Delila, sagte Joseph mit komischem Pathos. Mit diesem Ziel vor Augen werde ich alle unsere Feinde besiegen.


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