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27. Vor der Flucht.

An demselben Tage, an dem sich das vorerwähnte Ereignis abspielte, sollte Mademoiselle Sarah Bernhardt im Gaiety-Theater als ›Kameliendame‹ auftreten. Schon lange vorher hatte Capri eine Loge bestellt, da sie die berühmte Tragödin sehen wollte. Beim Frühstück hatte sie ihren Gatten daran erinnert, damit er sich für den Abend freihalte, denn sie besuchte niemals ein Theater ohne hin.

Kurz vor dem Lunch kam Lord Harrick heim und traf Guy Rutherford auf der Treppe.

»Ah, Rutherford, eben habe ich an dich gedacht,« sagte der Vicomte, dem Freunde herzlich die Hand reichend; dieser zögerte erst einen Augenblick, doch schlug er dann kräftig ein.

»Du willst doch nicht schon fortgehen? Nein, daraus wird nichts, du bleibst zum Lunch bei uns!«

»Ich danke, aber ich kann nicht, denn es ist spät geworden, und ich habe um zwei Uhr eine Verabredung. Die Zeit entschwand so rasch, während ich mit Lady Harrick plauderte.«

»Du hast ihr das hoffentlich gesagt?«

»Nein!«

»Pflegst du bei Damen kein Kompliment anzubringen?«

»Nicht bei allen.«

Lord Harrick, der in vorzüglicher Laune war, schlang den Arm Guys in den seinigen und entführte ihn ins Speisezimmer.

»Aber ich bitte dich, Guy, bleibe zum Gabelfrühstück bei uns,« bat er noch einmal.

»Ich kann wirklich nicht, mein Bankier erwartet mich um zwei Uhr, und es handelt sich um eine wichtige Angelegenheit. Mein Besuch galt eigentlich dir, da du aber zeitig ausgegangen warst, machte ich deiner Frau meine Aufwartung und habe mich verspätet.«

»Ich will nicht zudringlich sein, aber nicht wahr, einen Gefallen erweisest du mir doch noch heute?«

»Wenn es in meiner Macht steht, herzlich gerne.«

»Ich habe Capri versprochen, sie heute abend ins ›Gaiety‹ zu begleiten – welches Stück wird doch gegeben?«

»Die ›Kameliendame‹, mit Sarah Bernhardt in der Titelrolle.«

»Ganz recht.«

»Nun?«

»Im Klub hat mich Saintsbury gebeten, in der Abendsitzung für seinen Antrag zu stimmen. – So unangenehm es mir ist, ins Parlament zu gehen, muß ich's doch tun, denn ich konnte doch nicht gut ›nein‹ sagen.«

»Gewiß nicht,« entgegnete Guy und blickte verlegen zur Seite.

»Du bist ein guter Kerl, und da wollte ich dich bitten, Capri, die ich nicht um ihr Vergnügen bringen will, ins Theater zu begleiten. Du erweisest mir doch diesen Dienst?«

Rutherford zögerte einen Augenblick, dann sagte er rasch:

»Mit Vergnügen!«

»Tausend Dank, mein Junge! Du kannst auch jederzeit über mich verfügen.«

Ohne daß einer der Männer es bemerkt hätte, war Capri eingetreten. Sie blieb wie festgewurzelt stehen, als sie die beiden in freundschaftlichem Gespräche erblickte, jede Spur von Farbe war aus ihrem Gesichte gewichen, in ihren Augen flimmerte ein seltsames Feuer. Lord Harrick blickte zufällig in den Spiegel und bemerkte sie.

»Capri, du bist doch nicht böse, wenn ich dich nicht ins Theater begleite und dies Rutherford überlasse? Ich mußte Saintsbury mein Wort geben, heute ins Parlament zu kommen. Es handelt sich um einen Gesetzentwurf.«

»Ist das göttliche Bestimmung?« fragte sich Capri. Da sie bemerkte, daß ihr Gatte eine Antwort erwartete, entgegnete sie:

»Da du es wünschest, werde ich gehen. Kannst du nicht wenigstens für einen Augenblick mitkommen?«

»Zu meinem größten Bedauern, nein.«

»Wie lange wird die Sitzung dauern?« fragte Guy.

»Das weiß ich nicht; möglicherweise bis zum frühen Morgen.«

Capri schlug die Augen nieder und enthielt sich jeder weiteren Bemerkung.

»Möchtest du nicht wenigstens mit uns dinieren? Vorausgesetzt, daß du noch nicht vergeben bist. Wir speisen heute wegen des Theaters um eine halbe Stunde früher als gewöhnlich. Nicht wahr, Capri?« Diese nickte bloß.

»Du bist zu freundlich, Harrick, aber ich bin bereits versagt.« Er war fest entschlossen, an dem Tische des Mannes, dem er ein großes Unrecht zuzufügen gedachte, kein Brot mehr zu brechen. »Jetzt muß ich aber wirklich fort, also nochmals guten Morgen, Lady Harrick,« sagte er, ihr die Hand reichend und die ihrige bedeutungsvoll pressend. »Um neun Uhr hole ich Sie ab, seien Sie bereit.« Sie hatten sich verstanden. Dann wandte er sich an Harrick: »Du bist ein echter Sohn Britanniens und interessierst dich noch für Politik. Diese wird imstande sein, dich über das bitterste Leid zu trösten und dir darüber hinwegzuhelfen. Was wäre England ohne solche Söhne! – Also auf Wiedersehen heute abend!« Er winkte mit der Hand, um diese Harrick nicht reichen zu müssen, und entfernte sich elastischen Schrittes.

Den ganzen übrigen Tag lag Capri in ihrem Boudoir. Sie schützte heftige Kopfschmerzen vor und erteilte ihren Dienern den Befehl, niemand vorzulassen, da sie bis zum Abend ungestört bleiben wolle. Als ihr Wagen am Nachmittag vorfuhr, schickte sie auch diesen fort. Sie fehlte seit Beginn der Saison zum erstenmal in Rotten-Row. Der Tag erschien ihr wie eine Ewigkeit, jede Stunde wie ein Jahr! O, wenn er nur schon zur Neige ginge und die Nacht mit ihren Schatten einbräche, damit dieses entsetzliche Bangen, dieses schleichende Fieber, das sie verzehrte, ein Ende nähme! – –

Capri war zum letztenmal mit ihrem Gatten allein. Lord Harrick befand sich in einer ungewöhnlichen Aufregung.

Sie hörte ihm geduldig zu, ohne eine andere Antwort zu geben, als ›Ja‹ oder ›Nein‹. Er bemerkte gar nicht, daß ihr Gesicht farblos wie das einer Marmorstatue war, daß sie von all den Speisen kaum etwas berührte und jedesmal, wenn er sie ansprach, erschrak. Nachträglich fiel ihm all dies wohl ein und auch, daß ihn, als er sie zufällig ansah, ein Blick traf, den er lange, lange nicht vergessen konnte.

Noch ehe sie die Tafel aufgehoben hatten, erschien Guy Rutherford; er sprach lebhafter und mehr als sonst, im übrigen deutete nichts auf seine Erregung.

»Bin ich zu früh gekommen?« wandte er sich an Harrick. »Und doch fürchtete ich, mich verspätet zu haben.«

»Du kommst eben recht, es ist bald neun,« erwiderte dieser, auf die Uhr blickend. »Der Wagen wird gleich vorfahren …Ich begleite euch bis Charing Croß und werde von dort zu Fuß nach Westminster Hall gehen. Da ich versprochen habe, um neun im Parlamente zu sein, habe ich noch Zeit.«

»Sind Sie also bereit, Lady Harrick?« wandte sich Guy mit besonderer Betonung des letzten Wortes an sie.

»Ich bin es,« entgegnete sie, nur mühsam ihre Fassung bewahrend. – –

In Charing Croß stieg der Lord aus, nachdem er Capri leicht auf die Stirne geküßt. Als die Pferde wieder anzogen, schlang Guy den Arm um sie und flüsterte:

»Endlich mein!«

»Für alle Ewigkeit!«

Der erste Akt der ›Kameliendame‹ war zu Ende, als Lady Harrick in ihre Loge trat. Der Vorhang zum zweiten Akte ging eben auf, aller Augen waren auf die Bühne gerichtet, wo Armand Duval Marguerite Gauthier seine Liebe gesteht und diese ihm ewige Treue verspricht. Sarah Bernhardt hielt das dichtgefüllte Theater in atemloser Spannung; sie verstand es, mit ihrer Leidenschaft die Herzen der Zuhörer zu rühren. Unter nicht endenwollendem Beifalle fällt sie Armand in die Arme.

Im Zwischenakte richtete Guy seinen Blick auf Capri, aus deren Gesicht jede Farbe gewichen war; sie hatten, seit sie das Haus betreten, kein Wort miteinander gewechselt, jetzt zog er den Vorhang ein wenig vor, ergriff ihre Hand und fragte leise:

»Ich meine, wir gehen, mein Liebling?«

Sie lächelte, nickte mit dem Kopfe und erhob sich sofort. Er legte ihr besorgt den Mantel um die Schultern, seine Hand zitterte dabei ein wenig. Eine halbe Stunde später saßen die beiden im Eisenbahnwagen des Schnellzuges, der sie nach Cornwall entführte.


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