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Fünf Monate waren seit Marcus' Rückkehr aus der Bretagne verflossen. Die Natur war wieder einmal aus ihrem Todesschlafe erwacht, und dieses Erwachen füllte die ganze Erde mit einer wonnigen Lebensfreudigkeit. Die drei Probemonate hatte Marcus sehr gut überstanden und Mrs. Stonex den Hochzeitstag auf den 28. April festgesetzt.
Die Nachricht von dieser Verbindung rief einen großen Unwillen in der ›eleganten Welt‹ hervor, so daß diese sich eine ganze Woche lang davon nicht erholen konnte. Man sprach in allen Salons nur von diesem Ereignis. War es nicht unerhört, daß Mrs. Stonex, die man für kalt und leidenschaftslos hielt, sich dennoch herbeiließ, noch einmal zu heiraten, und zwar aus Liebe zu heiraten! Und wen? Allen Redereien und Voraussetzungen zum Trotze einen jungen Künstler, dessen Namen niemand gekannt, ehe er die ›Bettelmaid‹ ausgestellt! Man wußte ganz genau, daß er außer seinem Talent gar nichts besaß, während sie jährlich fünftausend Pfund zu verzehren hatte.
O, über die Unbegreiflichkeit einer Frauennatur! War es nicht seltsam, daß sie gerade an diesem blonden, blauäugigen Menschen Gefallen fand, während sie doch vor nicht langer Zeit an einen reichen Marquis und an einen berühmten Maler Körbe ausgeteilt? Was tat es, daß der Marquis ein gichtkranker Greis war, der bereits zwei Frauen zu Grabe getragen hatte, eine Perücke trug und schnupfte? Das sind ja unbedeutende Nebensächlichkeiten, wenn ein hoher Titel und großer Reichtum in die Wagschale fällt. Mrs. Stonex hatte bei der Abweisung dieses Freiers entschieden wenig Takt und Geschmack an den Tag gelegt. Und erst bei dem zweiten! Dieser war ein Mann von großem Rufe und nicht unbedeutendem Vermögen, dabei jung, nicht häßlich und ein Roué. Konnte es einen vernünftigen Grund geben, weshalb sie nicht die Seinige werden wollte? Ihr Herz sprach nicht für ihn. – Mein Gott, wer wird sich denn von diesem kleinen menschlichen Organe leiten lassen, wenn Vernunftgründe für eine Sache sprechen? Was hat denn die Liebe überhaupt mit der Ehe zu schaffen? Wer sich von ihr leiten läßt, muß es früher oder später büßen, denn ›Liebe‹ ist nur ein sentimentaler Begriff, der bloß in der Einbildung exzentrischer Menschen lebt. Die Liebenden werden einander überdrüssig, wie man es so auf ›den Brettern, welche die Welt bedeuten‹, sieht. Wir leben eben in einem materialistischen Zeitalter, dessen Losungswort abwechslungsreicher Genuß ist! Wenn man nichts Besseres zu tun hat, und als gelegentliche Zerstreuung ist eine Liebelei durchaus nicht zu verachten.
Sie rettet einen vor tödlicher Langeweile; unter ihrem erwärmenden Einflusse läßt man sich hinreißen, Händedrücke und geflüsterte Liebesworte auszutauschen, Liebesworte, die sich wie Äther verflüchtigen, keine ernste Bedeutung haben, aber angenehm und anregend wirken. Am nächsten Tage hat man sie vergessen. Die Rose, die man verstohlen geküßt und mit verliebten Seufzern der Geliebten dargereicht hat, verwelkt und entblättert nicht rascher, als solche Tändeleien vergessen sind. – Aber eine Liebe, die Opfer verlangt, die gehegt und gepflegt sein will, – eine solche Liebe wird zum mindesten für töricht gehalten.
Trotz der Mißbilligung der sogenannten ›guten Gesellschaft‹ wurden Marcus Phillips und Mrs. Stonex an dem genannten Tage Mann und Weib. Die Trauung vollzog sich in aller Stille. Die Probemonate hatte der Künstler, der wohl die Tage zählte, gleichsam in einem seligen Traume verlebt. Er durfte die Geliebte täglich sehen, durfte sich bei ihr Anregung und Rat holen. Noch niemals hatte er mit solcher Lust gearbeitet, nicht einmal an der ›Bettelmaid‹. Er wollte berühmt werden, denn bald, bald würde sie ja seinen Namen tragen! Diese beiden Menschenkinder lebten nurmehr für einander, und als nun gar der Priester ihren Bund eingesegnet, war ihr Glück ein vollkommenes. Ende Mai kehrte das junge Paar von der Hochzeitsreise, die es nach der Bretagne unternommen, heim. Die Gesellschaft hatte Zeit gefunden, sich mit Mrs. Stonex' Wahl auszusöhnen.
Ihr Salon gehörte zu den vornehmsten der Stadt und bildete den Mittelpunkt des geselligen Lebens. Sie verstand es, zu repräsentieren und alle hervorragenden Geister heranzuziehen, sie durch ihre Anmut, ihr feines Benehmen und ihre seltene Bildung zu fesseln. Man konnte sicher sein, bei ihren Teeabenden eine auserwählte Gesellschaft zu treffen; politische Gegner, Mitglieder der Aristokratie, die Jünger sämtlicher schönen Künste versammelten sich in ihrem Hause. ›Man‹ würde sich also nur selbst bestrafen, wollte man die Enttäuschung, die sie durch ihre Verheiratung hervorgerufen, nicht vergessen.
An Mrs. Phillips' erstem Empfangstage erschien dann wie auf eine Verabredung ganz London. Bohémia war bis auf den letzten Mann vertreten, ebenso Bohémias Frauen. Ihre Unterhaltung war so zwanglos heiter und geistvoll, daß Lady Everfair sich nicht enthalten konnte, ihrer Nachbarin zuzuflüstern:
»Diese Künstler sind doch ein beneidenswertes Völkchen! Selbst unsereinem geht das Herz in ihrer Gesellschaft auf. Wenn ich jung genug wäre, würde ich noch eine Tochter Bohémias werden.«
Newton Marrix, der dieses leise geführte Gespräch zufällig belauscht hatte, beteiligte sich an demselben, indem er Lady Everfair versicherte, daß sie noch jugendlich genug sei, um Bohémias Königin werden zu können, und daß deren Kinder ihr als treue Untertanen zeitlebens dienen würden, wenn sie sich entschließen könnte, das Herrscheramt zu übernehmen. Lady Everfair lächelte huldvoll. Dieses Kompliment schmeichelte ihr außerordentlich.
Auch Mrs. W. Achilles Lordson bemerkte man unter den Gästen, selbstverständlich in Newton Marrix' Begleitung. Der gefällige Junge war ihr nachgerade unentbehrlich geworden. Ein Schatten lag auf dem gutmütigen Gesichte der Amerikanerin, die seit Capris Verheiratung wieder bunte Farben und viel Schmuck trug. Auch heute war sie bunt wie ein Pfau herausgeputzt. Selbst in dem heiteren, gemütlichen Kreise konnte sie die Enttäuschung, die ihr am Morgen widerfahren, nicht vergessen. Die ›Morgenpost‹, ihre Lieblingszeitung, brachte eine Liste der Gäste, die mit einer Einladung zu Lady Harricks Empfangsabend beehrt worden waren: ein Herzog, drei Herzoginnen, eine Marquise, sieben Gräfinnen, sechs Pairs, eine Anzahl von Lords und Ladies und mehrere ausländische Prinzen; und sie, Mrs. W. Achilles Lordson, die ehemalige Gönnerin der Vicomtesse, hatte man vergessen!
Sie hatte es sich so schön ausgemalt, nach der Rückkehr Capris deren treueste Freundin zu sein! Wie oft schon hatte sie im Geiste all die hohen Besucher ihrer ehemaligen Gesellschafterin bei sich empfangen, und nun mußte sie eine solche Niederlage erleben! Ihre schönen Luftschlösser versanken, und jede Hoffnung auf den Wiederaufbau schwand.
Sie hatte Capri sofort nach deren Rückkehr einen Besuch abgestattet, war freundlich, aber kühl empfangen worden, und Lady Harrick hatte denselben bis zum heutigen Tage nicht erwidert. Mrs. Lordson begann einzusehen, daß sich eine Schranke zwischen ihnen erhob, die aus dem Wege zu räumen Lady Harrick nicht gewillt war; das bewies ihr dieser letzte Streich, der sie heute so empfindlich getroffen. Die junge Frau, gegen die sie sich so großmütig benommen, wollte eben ihre Freundschaft nicht – das tat weh!
Die Welt im allgemeinen und Capri im besonderen dünkte Mrs. Lordson undankbar, und sie äußerte sich darüber gegen Newton Marrix. Er nahm Capri in Schutz und tröstete die Amerikanerin, doch vermochte er nicht, ihre Mißstimmung gänzlich zu besiegen, so daß sie den herrlichen Abend in Mrs. Phillips' Salon nicht voll genießen konnte. Die heitere Stimmung ringsum teilte sich zwar nach und nach auch ihr mit, ihr Groll begann zu schwinden, und als sie sich dem jungen Paare näherte, das förmlich vor Glück strahlte und jedem, der mit ihm in Berührung kam, davon mitzuteilen schien, drängte sich ihr der Gedanke auf, daß es vielleicht auch für sie nicht zu spät wäre, einen Ehebund zu schließen. Dabei dachte sie an Newton Marrix.
Frau Phillips war von einer Seligkeit erfüllt, nach der sie sich bislang vergebens gesehnt. Sie hatte den Schlaf Dornröschens geschlafen, bis ihr der Prinz in Marcus' Gestalt erschien. Erst sein Kuß erweckte sie zu wahrem Leben, und die Liebe reifte sie zum Weibe. Wie viele ungehobene Schätze hatten in ihrem Inneren geschlummert, die Marcus jetzt zu heben berufen ward! Fast täglich entdeckte er an ihr neue Vorzüge und Tugenden, die ihm immer mehr die Bedeutung ihrer Liebe bewiesen. Er blickte freudig der Zukunft entgegen, sein Ehrgeiz erwachte, für Felice wollte er alle Ehren erringen und ihr solcherart einen kleinen Tribut zollen für die unendliche Zärtlichkeit, die sie ihm entgegenbrachte. Wie sollte er nicht glücklich sein: Die Gegenwart voll Frieden und Liebe, die Zukunft voll Hoffnungen!