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4. Marcus Phillips' Debüt in der Gesellschaft.

Newton Marrix und sein Freund benützten die unterirdische Eisenbahn, um rasch nach Kensington zu gelangen, wo Mrs. Stonex wohnte.

Mrs. Stonex hatte sich durch ihre Vielseitigkeit einen gewissen Ruf erworben und sich mit Erfolg in allen Gebieten der schönen Künste versucht. Ein von ihr komponiertes Lied, ›Der Grashalm‹, wurde in der vergangenen Saison in allen fashionablen Gesellschaften und in verschiedenen Konzerten gesungen; ein Bändchen ihrer Gedichte erregte in der literarischen Welt nicht geringes Aufsehen wegen der beinahe klassischen Reinheit der Verse; selbst das »Athenaeum« widmete ihr zwei Spalten. Auch mit einem modernen dreibändigen Romane hatte sie sich versucht, der solchen Erfolg erzielte, daß er in neun Monaten zwei Auflagen erlebte, in allen Leihbibliotheken stark verlangt und von der »Contemporary Review« höchst günstig besprochen wurde. In der Grosvenor-Galerie hing eine Skizze von ihr neben dem bekannten Bilde von Burne Jones: »Die goldene Stiege«.

Sie gab Mademoiselle Sarah Bernhardt nichts an Talenten nach, man konnte sie beinahe ein Genie nennen, aber sie blieb, vielleicht zu ihrem Glücke, an der Schwelle jener mystischen Halle stehen, die entweder zum Ruhme oder zum Elende führt. Ihr Name war mit allen Gebieten der Kunst verknüpft und ihr Heim der Sammelplatz aller jungen Schauspieler, Maler, Musiker und Schriftsteller. Als junge, reiche Witwe konnte sie ganz ihren Neigungen leben und jene Freiheit genießen, die nur einer unabhängigen Witwe vergönnt ist. Überdies erfreute sie sich auch einer eigenartigen Schönheit. Ihr Antlitz war der treue Spiegel ihrer Seele und ihres Geistes. Jeder Gedanke, der ihr Hirn kreuzte, jede Stimmung, die sie beseelte, drückte sich auf demselben aus. Dabei war ihr Teint von tadelloser Feinheit und Zartheit; ihre sanften, großen, grauen Augen hatten einen sehnsuchtsvollen, beinahe überirdischen Ausdruck, der Mund war edelgeformt, das Kinn ein wenig vorstehend, das schöne Haupt krönte langes volles Haar in der Farbe der Herbstblätter. Sie sah trotz ihrer siebenundzwanzig Jahre kaum wie zwanzig aus.

Die »Gesellschaft« beschäftigte sich viel mit ihr und zerbrach sich den Kopf, wen sie endlich mit Herz und Hand beschenken würde, viele der Bohémiens spähten ängstlich in ihren schönen Augen nach einem aufmunternden Blicke, nach dem ersten Strahle aufkeimender Liebe, aber vergebens, – sie schien ein Herz von Marmor zu besitzen.

Mrs. Stonex kümmerte sich um das Geschwätz der Welt nicht im mindesten. Bislang war ihr noch kein Mann begegnet, mit dem sie Hand in Hand durchs Leben hätte gehen mögen. Ihr Heim in Kensington war ein ungemein elegantes und angenehmes, und zu ihren wöchentlichen Nachmittagstees fand sich die auserlesenste Geistes- und Geburts-Aristokratie ein. Aus einem der großen Erkerfenster ihres langen, aber schmalen Salons konnte man den schönen Garten übersehen mit seinen künstlerisch angelegten farbenprächtigen Blumenbeeten, seinen herrlichen üppiggrünen Rasenplätzen und exotischen Bäumen. Im Salon selbst wußte man nicht, auf welchen Kunstgegenstand das Auge zuerst zu richten. In der Mitte desselben stand ein kostbarer Flügel, dessen aufgeschlagener Deckel ein von Meisterhand gemaltes Bild aufwies. Stühle aus allen Perioden und in allen Formen luden zum Sitzen ein. Die Wände waren mit Bildern bedeckt, die weder in der Größe noch in der Ausführung zueinander paßten. Eine Aquarellskizze hing neben einer Kreidezeichnung von Landseer, ein alter florentinischer Kupferstich neben einer modernen Lithographie, eine Radierung neben einem Ölgemälde von Ettge, eine Hogarthsche Bleistiftskizze neben einem altenglischen Öldruck.

Viele dieser Bilder waren Geschenke der Künstler an die Hausfrau, und an sämtliche knüpfte sich irgendeine Erinnerung. Trotz dieser scheinbaren Disharmonie machte der Salon einen höchst künstlerischen Eindruck, die Gesamtwirkung war geradezu entzückend.

Als Marcus Phillips mit seinem Freunde eintrat, waren im Salon viele Gäste versammelt, von denen der Künstler nicht einen einzigen kannte, während Newton Marrix mit jedermann bekannt zu sein schien, diesem die Hand schüttelte, jenem freundlich zunickte oder mit leichter Vertraulichkeit zulächelte, während er sich einen Weg durch die Menge bahnte.

»Nur mir nach, Marc,« flüsterte er diesem zu, »dort steht im blaßgelben Kleide die Frau des Hauses; sie spricht gerade mit einem bedeutenden Manne, sein Name ist Freake.«

Der ›bedeutende‹ Mann hatte stechende Augen, flachsgelbes, wallendes Haar und einen runden Rücken. Er war ein guter Freund John Ruskins, und als solcher eine Autorität in Kunstsachen. Die jungen Dilettantinnen lauschten andächtig seinen Vorträgen über Kunst und trugen die Überzeugung mit nach Hause, nun ebenfalls Autoritäten auf diesem Gebiete zu sein.

So oft er seine Idee entwickelte, runzelte er fürchterlich die Stirne und sprach in so entschiedenen Ausdrücken, daß niemand es wagte, ihm zu widersprechen. Er hatte im allgemeinen sehr ernste Lebensanschauungen und ein ausgeprägtes Pflichtgefühl, so daß es nicht wundernehmen durfte, wenn er in seinem Wesen etwas schwerfällig wurde.

Als sich Newton Marrix der Hausfrau näherte, streckte sie ihm herzlich die Hand entgegen.

»Erlauben Sie,« begann er, »daß ich Ihnen meinen Freund, den Maler Marcus Phillips, vorstelle?«

Frau Stonex verbeugte sich und lächelte verbindlich.

»Haben Sie schon eines Ihrer Bilder ausgestellt?« fragte sie und spielte dabei mit ihrem kostbaren Fächer.

»Meine Bilder waren noch nicht so glücklich, Gnade vor dem Aufnahmeausschusse zu finden.«

»Was heutzutage beinahe ein Vorzug ist,« mischte sich Mr. Freake ins Gespräch, der, wenn er mit jemand bekannt werden wollte, nicht wartete, bis man ihn vorstellte. Er war ein Feind jeder Etikette. »Malen Sie nur um dessentwillen, was göttlich und groß in Ihrem Berufe ist, und nicht, um Ihren Namen auf aller Leute Lippen zu wissen.« Während der Kunstkenner sprach, blickte er ernst in Marcus Phillips Augen.

»Vorläufig bin ich darauf angewiesen, für Kunsthändler zu arbeiten,« entgegnete dieser bescheiden. »Mit dem Verkaufe meiner Bilder beschaffe ich mein tägliches Brot.«

Mrs. Stonex sah ihn einen Augenblick durchdringend an. Sie verstand es, im Menschenantlitz zu lesen.

»Die Arbeiten, die mein Freund dem Kunsthändler liefert, sind wahre Perlen,« warf Newton Marrix ein.

»Oder scheinen es einem enthusiastisch urteilenden Freunde zu sein,« entgegnete Marc.

»Sein letztes Bild, ein kleines Seestück, ist geradezu entzückend,« fuhr der Schriftsteller unbeirrt fort.

»Es ist nicht leicht, das Meer zu malen,« meinte Mr. Freake und richtete dabei seine Augen abermals auf das Antlitz des Malers, als ob er das Innerste seines Wesens ergründen wollte. »Das Meer erfordert ein ganz spezielles Studium und ist nicht bloß eine unermeßliche blaue oder grüne Fläche, auf welcher sich ein weißbeseegeltes Boot schaukelt. Das Meer ist ein beseeltes Element und muß den wahren Künstler begeistern.«

»Das sollte die Natur immer tun,« warf jetzt Mrs. Stonex ein.

»Ja; aber ganz besonders das allgewaltige Meer,« entgegnete Mr. Freake. »selbst auf der Leinwand empfinde ich, falls es gut gemalt ist, beim Anblicke desselben ein Gefühl der Freiheit und Frische, aber ich habe schon Seebilder gesehen, die sich wie steifer, blauglänzender Kaliko ausnahmen und sich zu dem wirklichen Meere verhielten, wie eine vergoldete Pappkrone zu einer königlichen Adelskrone. Claude Lorrain verstand es, ein Meer zu malen!« rief Freake begeistert aus, fuhr sich mit seinen schlanken Fingern durch das gelbe Haar und starrte vor sich hin, als ob er mit einem unsichtbaren Geschöpfe spräche.

»Canalettos Meere sind auch wundervoll,« bemerkte Mrs. Stonex, sich an den Kunstkritiker wendend.

»Aber er wurde der Natur untreu,« entgegnete dieser traurig.

»Und die Natur ist doch so herrlich, daß es eine Sünde scheint, sie ihres Rechtes zu berauben,« meinte Marc. »Ich finde, daß ich ihr trotz meines eifrigen Bestrebens niemals gerecht werden kann.«

»Wer kann es?« sagte Mrs. Stonex und blickte gedankenvoll auf die graziös gemalten Gestalten ihres Fächers. Nach einer Weile fuhr sie fort: »Gibt es etwas Lieblicheres, als einen leuchtenden Sonnenstrahl auf einem Lilienblatte, und welchem Künstler wäre es gelungen, diesen täuschend wiederzugeben?«

»Keinem!« rief der Kunstkritiker aus. »Er müßte erst mit der Natur eins werden. Warum sind unsere modernen Städte nicht gebaut wie die der alten Florentiner, mit baumbepflanzten, großen Gärten zwischen den Häusern, damit die Menschen stets den blauen Himmel sehen und frische Luft atmen können?«

»Aber bedenken Sie doch,« meinte Newton, »wie weit sich London dann erstrecken müßte. Man würde Stunden brauchen, um die Straßen zu erreichen, die man jetzt in Minuten erreicht.«

»Ist denn die Zeit gar so kostbar?«

»Zeit ist Geld, und Geld ein wichtiger Faktor in unserem materialistischen Jahrhundert.«

»Wir stürmen rastlos von Woche zu Woche, von Monat zu Monat, bis der Lebensfaden reißt,« warf die Hausfrau ein.

»Und ist das klug oder gut?« fragte Freake pathetisch.

»Vielleicht nicht; aber es liegt in unserem Jahrhundert.«

»Ach ja, der Mensch wird leider immer mehr zur seelenlosen Maschine.«

»Nicht, solange ihm die Kunst bleibt,« bemerkte Mrs. Stonex, worauf Mr. Freake sich zustimmend verneigte und die kleine Gruppe verließ, um sich einer anderen anzuschließen.

»Herr Philipps malt jetzt eine Studie, welche er ›Die Bettelmaid‹ nennt,« lenkte Newton Marrix das Gespräch wieder auf seinen Freund. »Wenn es Sie interessiert, können Sie das Bild sehen.«

»O, sehr gerne, wenn Herr Phillips es gestattet.«

»Ich würde mich freuen, Sie in meinem bescheidenen Atelier begrüßen zu dürfen,« stammelte Marc verlegen, denn er dachte daran, ob für die verwöhnte Dame die vier schlechten Treppen kein Hindernis sein würden.

In diesem Augenblicke trat der ›schöne‹ Dichter Lucius Martyn ein, den Mutter Natur sehr reich bedacht hatte; viel reicher als die Musen, behaupteten seine Freunde. Er trug stets einen braunen Samtrock und gefaltete Hemdkrausen. Sein letztes Buch – einen Band Gedichte – hatte er Mrs. Stonex gewidmet. Er war ein an den Sandbänken der modernen Krankheit gestrandetes Genie, das um ein Jahrhundert zu früh das Licht der Welt erblickt hatte.

»Sieh da, Mr. Martyn!« rief ihm Mrs. Stonex freundlich entgegen, als er sich ihr langsamen Schrittes näherte. Der schlanke, blasierte Poet bewegte sich niemals rasch oder ungraziös.

»Wir haben eben über Bilder geplaudert. Mr. Phillips hier malt eine Studie, die ich demnächst ansehen darf.«

Der Dichter verneigte sich mit leichtem Lächeln vor Marc und wandte sich dann an die junge Witwe: »Ich wüßte mir kein größeres Vergnügen, als Sie, verehrte Frau, begleiten zu dürfen – vorausgesetzt, daß Herr Phillips mir erlaubt, in seinem Atelier zu erscheinen!«

»Bitte, bitte.«

»Dichter sind aber selten gute Kunstkritiker,« mischte sich Mr. Freake ins Gespräch, der im Vorbeigehen die letzten Worte gehört. »Ihr Urteil geht fast immer mit ihrer Phantasie durch. Eine Kleinigkeit, ein Blatt auf dem Wege, ein im Grase verstecktes Blümchen vermag sie in solche Begeisterung zu versetzen, daß sie darob grobe Fehler übersehen.«

»Ja, wir sind Kinder des Impulses,« entgegnete der Dichter mit schwärmerischem Augenaufschlag.

»Und wir Maler haben selten das Glück, Dichter zu Kritikern zu haben,« meinte Marc.

»Unsere Kritiker sind auch zumeist trockene Menschen, die es als ihre heiligste Pflicht betrachten, junge Autoren auf dem Altare ihrer Rache zu opfern.«

»Ich lese niemals Kritiken,« bemerkte Martyn in dem ihm eigenen Flüstertone. »Was liegt daran, wie die Außenwelt über unsere Werke denkt? Sie kann sie doch nicht verstehen, wenn mir meine Freunde, ihre Pflicht erfüllend, die unangenehmen Dinge, welche die Presse über mich schreibt, mitteilen, muß ich immer der Worte Walter Savage Landors gedenken: Die Würmer müssen uns zernagen, ehe uns die Welt Anerkennung zollt. Erst wenn wir Skelette geworden, werden wir gewürdigt, numeriert und ausgestellt.«

»Wie richtig und wahr!« bestätigte Mrs. Stonex. »Kommt da nicht die hübsche Miß Raven?«

»Wie sie leibt und lebt!« rief das goldhaarige junge Mädchen, deren blaue Augen vor Lebenslust sprühten. »Ich komme direkt von der Musikstunde, um ein Täßchen Tee bei Ihnen zu trinken. Darf ich?«

»Selbstverständlich! Ich freue mich, Sie zu sehen. Was für Fortschritte machen Sie in der Musik?«

»Ich habe heute den Trauermarsch von Chopin durchgenommen zur Zufriedenheit meines Lehrers. – Sie auch da, Mr. Marrix? Man findet Sie überall und nirgends!«

»Wo haben Sie Ihre Violine gelassen?« fragte dieser. »Ihre Seele, wie Sie dieselbe zu nennen pflegen.«

»Im Vorzimmer.«

»Darf ich sie später hereinbringen lassen? Wenn Sie nicht zu müde sind, spielen Sie uns vielleicht etwas vor.« Mrs. Stonex nickte aufmunternd.

»Sehr gerne, habe ich Ihnen schon erzählt, daß ich demnächst in einem Dilettanten-Konzerte mitwirken werde? Sie alle werden doch kommen, um mich zu hören?«

»Natürlich,« erklang es im Chor.

Der Salon hatte sich jetzt gefüllt. Eine buntere Gesellschaft konnte man sich kaum vorstellen. Da war der griechische Verschwörer Eccinia, dessen lange blauschwarze Locken eine purpurrote Samtmütze bedeckte, die alte Lady Snarebrook, um die sich ein ganzer Legendenkreis gewoben, weil sie eine intime Freundin Louis Philipps gewesen. Sie erfreute sich trotz ihres Alters noch großer Anmut und Schönheit.

Mrs. Stonex liebte es, Ausländer zu empfangen, und so vergrößerte Graf Basano, ein alter römischer Edelmann, den Kreis der Gäste. Er war ein gutmütiger, lustiger Herr, dem der Schelm im Auge saß und der stets mit einer großen antiken Schnupftabaksdose, die ihm Papst Pius geschenkt, spielte.

Seinen fadenscheinigen Rock trug er mit derselben Würde, wie ein Senator seine Toga, in seinem ganzen Wesen schien er ein Überbleibsel des vorigen Jahrhunderts zu sein. Auch mehrere fashionable Schriftstellerinnen, einige Redaktricen, zwei Schauspieler der neuen Schule, eine Primadonna und zwei Parlamentsredner waren anwesend. Natürlich fehlte es auch nicht an Mitgliedern der oberen Zehntausend.

Marcus Phillips hatte noch niemals eine aus so verschiedenen Elementen bestehende Gesellschaft gesehen und freute sich, so viele bedeutende Menschen kennen zu lernen.

»Wie edel geformt ist doch der Kopf des Griechen!« flüsterte Marc dem Poeten Martyn zu. »Ich möchte ihn gerne malen. Wie schade, daß solche Schönheit vergänglich ist!«

»Das Alter ist eine natürliche Folge der Jugend,« erwiderte dieser, wie aus einem Traume erwachend.

»Aber bedauern Sie es nicht auch, daß die Frische der Jugend so rasch verblüht?« fragte Marcus.

»Durchaus nicht. Wenn man über das Leben tiefer nachdenkt, kommt man zu dem Schlusse, daß die Jugend nicht bestehen kann. – Jugend bedeutet Unwissenheit –.«

Der Poet seufzte schwer auf und lehnte sein Haupt in die weichen Kissen des Diwans zurück, um wieder in Träumereien zu versinken.

»Wer ist jener orientalisch aussehende Herr?« erkundigte sich Miss Raven bei der Frau des Hauses.

»Das ist mein lieber alter Freund Graf Basano.«

»Graf Basano? Höre ich recht? Ich dachte mir wohl, er müßte etwas ganz Besonderes sein, weil er so schlecht gekleidet ist! Wie laut er spricht und wie stark er mit den Händen gestikuliert! Es scheint, als ob er ganz Auge und Hand wäre!«

»Er ist der Letzte seines sehr alten Stammes. Kommen Sie, ich möchte Sie ihm gerne vorstellen, denn er ist ein bedeutender Musikkenner. Ich bin überzeugt, daß auch Sie von dem jovialen alten Herrn entzückt sein werden.«

Die beiden Damen gesellten sich zu Basano.

»Wollen wir nicht gehen, Marc?« fragte in diesem Augenblicke Newton Marrix.

»Warten wir, bis Miss Raven, die eben ihre Geige stimmt, gespielt hat; ich möchte das reizende Kind noch hören. Wer begleitet sie auf dem Klavier?«

»Das ist Hal Vektor, ein guter Kerl. Du solltest ihn kennen lernen, er ist auch ein Genie. Du mußt nämlich wissen, wir alle hier sind Genies, du atmest göttliche Luft!«

»Still, still!« unterbrach der Maler den Redefluß seines Freundes und richtete seine Blicke auf das entgegengesetzte Ende des Saales, wo die Geigerin stand.

Bei den ersten Bogenstrichen der süßen, weichen, pacinischen Musik verstummte das Stimmengewirr, aller Augen waren auf Miß Raven gerichtet, und man wagte kaum zu atmen. Als das Stück beendet war, ertönte ein allgemeiner Ausruf der Bewunderung. Graf Basano trat auf die Geigerin zu und lispelte ihr etwas ins Ohr. Sie lächelte, nickte zustimmend, nahm die Violine wieder auf und spielte Chopins ›Ave Maria‹.

Rein, voll und süß kamen die Töne aus den Saiten, um sich allmählich in schmerzlich klagende zu verwandeln, bis sie schließlich in einem herzzerreißenden Wehruf ausklangen, der aus einer gemarterten Seele zu kommen schien. Kein Laut, keine Bewegung war im Saale hörbar, und man lauschte gespannt dem wunderbaren Spiele, das alle bezauberte. Das Amen zitterte wie ein Abschiedsgebet von den Saiten, und die letzten Akkorde verklangen in dem atemlosen Schweigen.

» Brava, brava!« jubelte Graf Basano, » brava, bella Signorina mia!« Dann näherte er sich dem Fräulein und küßte ihr mit dem Anstande eines Höflings die Hand.

»O, das war göttlich!« murmelte Lucius Martyn in seiner Diwanecke. »Es ist wie das Atmen einer neugeborenen Seele!« Dabei schloß er die Augen und seufzte wieder schwer auf.

Marcus Phillips sah ihn verwundert an; es lag etwas in dem schmachtenden Poeten, das dem Künstler Interesse einflößte.

»Aber jetzt dürfen wir schon gehen, Marc,« mahnte Newton Marrix; »es wird entsetzlich heiß.«

Die beiden Freunde bahnten sich langsam einen Weg bis zur Hausfrau.

»Gestatten Sie, daß wir uns empfehlen?« fragte der Schriftsteller.

»Müssen Sie wirklich schon gehen?«

»Leider ja.«

»Ich empfange während der ganzen Saison jeden Donnerstag, Mr. Phillips, vergessen Sie das nicht.«

»Und an welchem Tage gedenken Sie mein Atelier mit Ihrem Besuche zu beehren?«

»Warten Sie einen Augenblick, – sagen wir Samstagnachmittag – das heißt, wenn es Ihnen paßt!«

»Mir paßt es immer.«

Mrs. Stonex reichte ihm die Hand, blickte ihm noch einmal tief in die Augen und machte eine graziöse Verbeugung, zum Zeichen, daß die Freunde entlassen seien. Kaum hatte sich die Haustür hinter ihnen geschlossen, als Newton den Arm Phillips' erfaßte und freudig ausrief:

»Ich gratuliere dir, mein Sohn, zu deinem Erfolge. Diesen Tag kannst du in deinem Kalender rot anstreichen!«

»Weshalb?«

»Weil Mrs. Stonex versprochen hat, dein Atelier zu besuchen.«

»Das war sehr liebenswürdig von ihr!«

»Es ist ein Glück, für das viele junge Künstler ein Jahr ihres Lebens opfern würden! Du kannst deinen sogenannten Klecksereien für immer Lebewohl sagen, wenn sich die Schutzpatronin aller Künstler für dich interessiert! Ihr Vater war ein Maler, der keine besonderen Erfolge zu erzielen vermochte, sie weiß daher, wie mühselig es ist, die erste Sprosse der Ruhmesleiter zu erklimmen.«

»Nicht wahr, New, du kommst Samstag und hilfst mir, meine Klause in Ordnung zu bringen? Mir graut, wenn ich an die vier steilen Treppen und die öde Dachkammer denke!«

»Selbstverständlich werde ich mich Samstag bei dir einfinden, um dir die Honneurs machen zu helfen. Ich preise den Samstag als einen bedeutungsvollen Tag in deiner Laufbahn. Doch laß uns jetzt den Göttern ein Brandopfer darbringen, damit sie uns hold bleiben. Hier, alter Knabe, stecke dir den Glimmstengel an!«

Stillschweigend bliesen sie die Rauchwölkchen in die Luft, während sie die Kensington-Straße entlangschritten. Es war ein linder Aprilabend, und Marcus Phillips beobachtete mit Entzücken die rosenroten Wölkchen am Himmel, sowie die keimenden Knospen der Bäume, die den Frühling verkündeten. Newton hingegen dachte über die Handlung eines neuen Romanes nach. »Nun, Marc,« begann er plötzlich, »wie denkst du über den Empfangstag der Mrs. Stonex?«

»Er hat mir sehr gut gefallen, denn mehrere Gesichter erregten mein Interesse im höchsten Grade. Ich weiß nicht, ob du auch gerne Physiognomie studierst: ich kenne nichts Anregenderes. Worte können täuschen, Gesichter nur selten.«

»Ah, mein Junge, du irrst. Es gibt Leute, die all ihr Leben mit Masken umherlaufen, welche ebensowenig mit ihren wahren Gesichtern zu tun haben, wie der Himmel mit der Hölle.«

»Das mag sein, aber in einem unbewachten Augenblicke fällt die Maske, so daß wir das wahre Gesicht erschauen.«

»Aber es gibt Leute, deren Züge so unergründlich sind wie diejenigen der Sphinx, und so hart und kalt wie Marmor.«

»Auch sie drücken den Charakter aus. Nach meiner Erfahrung ist jedes Gesicht ein Buch, in dem man nur mit Verständnis zu lesen braucht. Das eine ist allerdings nicht des Lesens wert, das andere aber süß und anmutig, wie ein schönes Gedicht; dieses verrät tiefe Sehnsucht und Traurigkeit, jenes wilde Leidenschaften – oder es erzählt uns auch, deutlicher als Worte, eine entsetzliche Geschichte von unverschuldetem Unglücke. Ich als Maler verstehe mich sehr gut auf das Gesichterlesen; ein einziger Blick, ein Ausdruck, der ebenso schnell kommt, als er verschwindet, ein Zucken des Mundes gibt mir den Schlüssel zu einer ganzen Geschichte.«

»Hast du dich niemals getäuscht?«

»Bis jetzt noch nicht. Ich glaube, ich besitze die Gabe, Gesichtsausdrücke rasch zu erfassen.«

»Ich muß gestehen, daß ich mich niemals auf das Studium von Physiognomien verlegt habe, und finde, daß mir ein schönes Gesicht immer angenehm ist.«

»Ich kann deine Anschauung durchaus nicht teilen, ich kenne schöne Gesichter, die geradezu unangenehm wirken, und solche, die jeder Schönheit entbehren und doch, wenn von gewissen Gefühlen beeinflußt, geradezu vollendet schön aussehen. Hast du heute den Grafen Basano beobachtet, während er dem ›Ave Maria‹ lauschte? Jeder Bogenstrich verlieh seinem Gesichte einen anderen Ausdruck, jeder war schön, kindlich, einfach und rührend. Ganz besonders interessiert hat mich heute abend ein Gesicht.«

»Das der Mrs. Stonex?«

»Nein, das Lucius Martyns. Er gefällt mir, trotzdem ich ihn nicht verstehe.«

»Er ist nicht natürlich und spricht stets in wohlgesetzten Phrasen, die er vor seinem Spiegel einübt, um mit seinem Mienenspiele und seinen Posen seine Zuhörer zu verblüffen.«

»Sage das nicht, du raubst mir mit einem Schlage jede Illusion.«

»Die wird er dir bald genug selbst rauben, wenn du ihn dieselben Phrasen mit den theatralischen Bewegungen öfters aussprechen hörst. So wie seine Phrasen ist auch sein Buch – ein miserabler Schund, das den Kritikern Veranlassung gegeben hat, kein ganzes Haar an ihm zu lassen.« Newton rieb sich vergnügt die Hände. Der Mißerfolg des Poeten der ›ästhetischen‹ Schule schien ihm Freude zu bereiten. »Er ist ein sehr guter Kerl,« fügte er rasch hinzu, »ein sehr guter Kerl, aber – ein Idiot.«

Er reichte dem Freunde noch eine Zigarre und steckte sich selbst eine an; dann setzten sie ihren Weg in Gedanken versunken fort.


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