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17. Mrs. Stonex' Empfangsabend.

Um zehn Uhr begannen die Gäste sich zu versammeln. Die Haustüre stand weit geöffnet, ein türkischer Teppich erstreckte sich bis über den Bürgersteig; große Wachskerzen in hohen Kandelabern beleuchteten die Vorhalle und die breite, mit kostbaren Läufern belegte Treppe, deren beide Seiten von Palmen, Myrtenbäumen und anderen tropischen Pflanzen umsäumt waren.

Der von rosafarbenen Kerzen erleuchtete Salon rief eine geradezu feenhafte Wirkung hervor, die matten Lichtstrahlen fielen auf die unzähligen Bilder an den Wänden und die weichen, wolligen orientalischen Teppiche und Vorhänge. In den Ecken standen große koreanische Vasen mit dem geheiligten Tonghoang, blühenden Pfirsich- und Orangenbäumchen dekoriert. Vor dem prachtvollen Marmorkamine standen hohe gelbe Rosenstöcke, deren Duft das ganze Zimmer erfüllte. Wer dieses mit all seinen Kunstwerken und Dekorationen, den niedlichen Stühlchen, den blühenden Blumen einmal gesehen, konnte es so bald nicht wieder vergessen.

Alle Londoner Dichter und Musiker von Rang und Namen, und auch viele minder bekannte, erhielten zu dem großen Gesellschaftsabende Einladungen, denen sie freudig nachkamen, denn sie wußten, daß sie in dem Salon der Kunstliebhaberin nicht nur Kollegen, sondern auch andere Leute treffen würden, die ihnen von Nutzen sein konnten. Mrs. Stonex stand in der Nähe der Tür, um sofort ihre eintretenden Freunde empfangen zu können. Sie sah in dem eleganten, blaßbernsteinfarbigen Faillekleid überaus vorteilhaft aus; weite griechische, mit weißem Atlas gefütterte Ärmel ließen ihren vollen, runden Arm zur Geltung kommen, eine gelbe Rose lag zwischen Spitzen halbversteckt an ihrem Busen, eine andere in ihrem reichen braunen Haare. Freundliches Lächeln umspielte ihre Lippen, ruhiges Licht glänzte in ihren Augen, und ein rosiger Hauch lag auf ihren Wangen.

»Wie gut Mrs. Stonex heute wieder aussieht!« bemerkte Lady Everfair ohne jeden Neid zu ihrer Nachbarin, der Baronin Frumage. Sie wußte, daß auch sie ihren beau jour habe, hatte doch ihre Kammerzofe über zwei Stunden damit verbracht, der Natur zu Hilfe zu kommen.

»Außerordentlich gut!« bestätigte die Baronin, und setzte boshaft hinzu: »Es ist erstaunlich, wie gut manche Frauen ihr jugendliches Aussehen zu erhalten verstehen. Ich vermochte es nie und sah stets älter aus als ich war, selbst in meinen besten Jahren.«

»Sie haben sich eben einer schlechten Angewohnheit hingegeben, meine Liebe.«

»Deren Resultat ich noch verspüre; nun ich wirklich alt bin, sehe ich doch nicht jung aus. Da ist zum Beispiel Lady Gabriel Folks –«

»Die jugendlich aussieht, trotzdem sie in Wirklichkeit alt ist, was nach all dem, was sie mitgemacht hat, zu bewundern ist …Ich hätte die Qualen eines Ehescheidungsprozesses nicht überlebt!«

»Sie ist jetzt eine vortreffliche Gattin.«

»Weil sie alt und häßlich und eine alte Betschwester geworden ist. Sie müßten sie nur über den armen Lord Rockstrand sprechen hören, der nahe daran war, eine Bigamie einzugehen,« flüsterte Lady Everfair, deren größtes Vergnügen darin bestand, ihre Freunde anzuschwärzen. Was wäre die Freundschaft, wenn man sich nicht bei jeder Gelegenheit diese kleine Freiheit herausnehmen dürfte!

»Ich weiß, sie erteilt gerne Ratschläge.«

»Die so langweilig sind, wie eine Sonntagspredigt.«

»Pst! Da kommt sie.«

»Ah, liebe Lady Gabriel, wir haben eben von Ihnen gesprochen …Ich freue mich herzlich, Sie hier zu treffen. Wie gut Sie heute wieder aussehen! Hat Sie all die Plage, die Sie mit dem Zustandebringen des Konzertes für die chinesische Mission hatten, nicht zu sehr angestrengt?«

»Nicht im geringsten. Der große Erfolg hat mich reichlich für meine Mühe belohnt. Denken Sie, wir erzielten einen Reingewinn von zweihundert Pfund, die wir dem Missionsfonds zuschickten. Laut den letzten Nachrichten haben sechzehn Kinder des Reiches der Mitte dem Spiele für immer entsagt.«

»Wie tröstlich!«

»Ja, diese Erfolge ermutigen uns, für eine so würdige Sache zu arbeiten.«

»Wie edel von Ihnen!«

»Finden Sie nicht auch, meine Damen, daß die Gesellschaft heute sehr gemischt ist? – Ich habe gehört, daß sogar Sarah Bernhardt erwartet wird.«

»Das haben wir ebenfalls vernommen. Mrs. Stonex ist die Schutzpatronin aller Künste und ihrer Jünger.«

»Es fällt mir schwer, diesen Leuten freundlich zu begegnen,« seufzte Lady Gabriel, »aber man ist es der Hausfrau schuldig. – Vorstellen lasse ich mich natürlich nicht. Übrigens will ich heute einen oder den anderen dieser Künstler auffordern, bei meinem Konzert, das ich zum Besten der Veredelung der Droschkenkutscher in meinem Hause demnächst veranstalte, mitzuwirken.«

»Ihre philanthropischen Bemühungen sind wirklich bewundernswert,« rief Baronin Frumage.

»Bewundernswert!« wiederholte Lady Everfair.

Lady Gabriel lächelte und schritt erhobenen Hauptes weiter, um nach einem Künstler für ihr Konzert zu fahnden.

»Ein merkwürdiges Weib!« fuhr Lady Everfair fort, nachdem ihre Freundin außer Hörweite war. »Wie sie es angestellt hat, nach jener Skandalgeschichte wieder in die gute Gesellschaft aufgenommen zu werden, ist mir rätselhaft.«

»Es ist besser, solche Rätsel nicht zu enthüllen. Ach, da kommt Lady Ariadne und Mr. Mesmer. Haben Sie im vergangenen Jahre ihr reizendes Porträt in der Grosvenor gesehen?«

»Ja, aber ich fand es zu geschmeichelt. Wie aufmerksam Mr. Mesmer ist!«

»Als Dichter darf er sich schon etwas erlauben.«

»Ja, ja, wir leben in einem Zeitalter der Unsittlichkeit und der Freiheit.«

Plötzlich entstand ein allgemeines Geflüster in dem Salon; aller Blicke richteten sich auf die Tür, man erwartete augenscheinlich irgendeine hervorragende Persönlichkeit.

»Wer kann es sein?« fragte Lady Everfair und setzte ihr goldgefaßtes Glas auf die Nase.

»Vielleicht Sarah Bernhardt!«

»Unmöglich, denn um diese Zeit spielt sie noch!«

Es war aber nicht die berühmte Schauspielerin, sondern nur Mrs. W. Achilles Lordson in einem weißen Samtkleide, reich mit Rubinen besetzt. Ihr auf dem Fuße folgte Capri in einem cremefarbigen griechischen Kostüm, und zuletzt Newton Marrix.

»Himmel, wer mag das sein?« rief Baronin Frumage.

»Wie entsetzlich plump ihre Schultern sind!«

»Und wie kostbar die Rubinen!«

Beide starrten der Amerikanerin nach, während diese gravitätisch das Zimmer durchschritt, um zu Mrs. Stonex zu gelangen.

»Ist das nicht Newton Marrix?« fragte Lady Everfair.

»Ja, wir wollen ihn herwinken; er soll uns sagen, wer die große Dame ist,« meinte Baronin Frumage.

»Mr. Marrix, bitte, auf ein Wort. – Nicht wahr, es wird hier heiß? – Eine vornehme Gesellschaft heute – aber sagen Sie uns auch gefälligst, wer die große, plumpe Dame ist, mit der Sie kamen?«

»Die große, plumpe Dame?« wiederholte dieser erstaunt und sah absichtlich auf die entgegengesetzte Seite. Es machte ihm Spaß, die schlimmste aller Klatschbasen auf die Folter zu spannen.

»Nicht auf dieser Seite,« rief die Baronin. »Blicken Sie gerade vor sich hin, die mit den blitzenden Rubinen.«

»Ach so! Sie meinen meine Freundin, Mrs. Lordson.«

»Ihre Freundin?«

»Ja, eine steinreiche Amerikanerin.«

»Wie geschmackvoll sie sich zu kleiden versteht. – Das Mädchen in dem griechischen Gewande ist wohl ihre Tochter? – Ein entzückendes Geschöpfchen!«

»Nein, das ist Miß Dankers.«

»Miß Dankers? Das Original der ›Bettelmaid‹?«

»Ja.«

»Mein Gott, wie interessant! Ich war schon so lange begierig, sie von Angesicht zu Angesicht zu sehen, denn man erzählt sich Wunder von ihrer Schönheit!«

»Und das mit Recht,« entgegnete er trocken.

»Wie viele Menschen Sie doch kennen!« rief Lady Everfair. »Unsereinem wird es so schwer, die Berühmtheiten in Mrs. Stonex' Salon herauszufinden. Sie sollte ihnen Karten mit Rang und Namen an den Frackschoß heften oder sie numerieren oder Kataloge drucken lassen, damit man weiß, mit wem man es eigentlich zu tun hat.«

»Das wäre wohl sehr bequem, aber unnötig, da man die Künstler, die hier verkehren, in ganz Europa kennt,« entgegnete der Schriftsteller boshaft.

»Wer ist der schlanke Mann dort, der die koreanische Vase bewundert?« fragte Lady Everfair, die Anzüglichkeit überhörend.

»Crange, der Musikkritiker des ›Neuen Journals‹; der Ärmste ist stocktaub.«

»Wirklich? Und die kleine Dame mit den Adleraugen?«

»Miß Rampage, eine geistvolle Schriftstellerin, die Verlobte eines gutmütigen, aber einfältigen Jünglings. Sein Jahreseinkommen von zweihundert Pfund wiegt reichlich das bißchen Verstand auf, welches er haben könnte.«

»Ein amüsanter junger Mensch!« meinte Baronin Frumage, nachdem Newton sich entfernt, um sich seiner Gesellschaft wieder anzuschließen.

Guy Rutherford bemühte sich, die Amerikanerin zu unterhalten, während Lord Harrick mit Capri plauderte.

»Mr. Newton!« rief die erstere, als er sich ihnen genähert. »Gestatten Sie, daß ich Ihnen Mr. Guy Rutherford vorstelle. Der Herr hat jahrelang im Auslande gelebt und wir tauschen gerade unsere Ansichten aus.« Dabei fächelte sie sich selbstbewußt mit ihrem rubinenbesetzten Fächer.

Guy Rutherford blickte Newton scharf ins Gesicht, lächelte und verbeugte sich.

»Mr. Marrix ist ein Schriftsteller, dessen Name Ihnen wohl bekannt sein dürfte,« fuhr Mrs. Lordson fort.

»Da ich so lange im Ausland gelebt, werden Sie mir verzeihen, wenn ich gestehe, daß er mir vollständig fremd ist,« sagte Guy entschuldigend.

»Bleiben Sie jetzt in England?« versuchte Newton das Gespräch in andere Bahnen zu lenken, denn er liebte es nicht, über seine Person zu sprechen.

»Nein, ich reise schon Sonnabend nach Belgien, und der Himmel mag wissen – wenn er sich überhaupt für so unbedeutende Dinge interessiert, – wo ich mich nachher herumtreiben werde. Ich hatte die Absicht, eine Zeitlang in der Heimat zu bleiben, aber ich finde, daß die konventionelle Atmosphäre für mich unerträglich ist; ich muß Freiheit atmen,« entgegnete er, freundlich lächelnd, was auch Mrs. Lordson tat, trotzdem sie ihn nicht ganz verstand.

»Ich beneide Sie um Ihre ungebundene Freiheit,« bemerkte Newton feurig.

»Warum?«

»Wenn man seiner jeweiligen Laune folgen kann, erwarten einen – – –«

»Enttäuschungen jeder Art,« vollendete Guy bitter.

»Doch nicht immer?«

»Fast immer. Ich habe mich daran gewöhnt, keine Vergnügungen und Genüsse zu erwarten, sondern meine Zukunft dem Zufalle oder Geschicke – nennen Sie es, wie Sie wollen – zu überlassen. Ich habe keine Hoffnungen für die Zukunft und keine Wünsche für die Gegenwart, mein Leben hat keinen Inhalt und Zweck, und ich wundere mich oft genug, wozu ich geboren worden bin,« schloß er mit lächelnden Lippen. Der ernste Ausdruck in seinen Augen verriet jedoch seinen wahren Seelenzustand.

Capri, die in der Nähe stand, hatte seine Worte gehört und blickte mit erwachendem Interesse zu ihm auf.

»Nicht wahr, mein Herr, jetzt beneiden Sie mich nicht mehr?« wandte er sich an Newton.

»Vielleicht doch; denn mein eigenes Los ist nicht so rosig, daß ich nicht jemand beneiden sollte, der tun und lassen kann, was er mag. – Ich muß, ob ich will oder nicht, ganze Ballen Papier vollschmieren.«

»Ein wunderbarer Beruf.«

»Und Hunderte von Marionetten schaffen, die ich zu kleiden und in die ihnen bestimmte Stellung zu bringen habe, damit sie, wenn ich den Faden ziehe, sich ineinander verlieben, oder sich ermorden, sich gegenseitig belügen und betrügen, wie es die Marionetten auf der Bühne des Lebens machen.«

»Wie wunderbar muß es sein, Marionetten zu schaffen, die man seinem Willen unterordnen kann!«

»Wunderbar!« rief auch Mrs. Lordson.

Ein berühmter Komponist setzte sich gerade ans Klavier. Sofort verstummte das Geplauder im Salon, alle Blicke richteten sich gespannt auf ihn, während er mit einer fabelhaften Fingerfertigkeit den Tasten Töne entlockte, denen die Versammlung mit angehaltenem Atem lauschte. Als er geendet, herrschte eine Stille, daß man eine Stecknadel hätte zu Boden fallen hören, doch schon der nächste Augenblick entfesselte einen Beifallssturm. Dann flüsterte man sich von Mund zu Mund zu: »Heute hat er sich selbst übertroffen!«

»Wie begeisternd!« flüsterte Capri, die den Komponisten zum erstenmal gehört. Ihre Gedanken schweiften zu Padre Pallamari, den sie herbeiwünschte.

Jetzt nahm Miß Raven ihre Violine auf und spielte eine Sonate, der Capri keine Aufmerksamkeit zu schenken vermochte, weil sie Marcus Phillips eintreten sah.

Sie fühlte die wilden Schläge ihres Herzens, während er sich Mrs. Stonex näherte. Mit der raschen Beobachtungsgabe des Weibes bemerkte sie ein freudiges Lächeln über deren Lippen huschen, als Marc sich vor ihr verbeugte. Er nahm auch an ihrer Seite Platz und sprach einige Worte, die der Dame großes Vergnügen zu bereiten schienen, die aber Capri wegen der großen Entfernung nicht verstehen konnte.

Bald jedoch irrten die Augen des Malers suchend im Saale umher, bis sie denjenigen Capris begegneten. Er nickte ihr lächelnd zu, doch wurde sein Gesicht sofort ernst, als er Lord Harrick erblickte, der sich mit der Vertraulichkeit eines bevorzugten Freundes zu ihr herabneigte, um ihr eine Bemerkung ins Ohr zu flüstern. Nachdem auch der Beifall, den man der Geigerin gezollt, verklungen, winkte Baronin Frumage Lord Harrick zu sich. Die Hausfrau begab sich in Marcus Phillips' Begleitung zu Capri, die gerade mit Rutherford einige Worte wechselte.

Das Mädchen streckte Marc unbefangen die Hand entgegen:

»Wie schade, daß Sie so spät gekommen sind!«

Der junge Mann fand es natürlich, daß sie in der großen Gesellschaft das traute »Du« fallen ließ.

»Ich wäre früher gekommen, wenn ich geahnt hätte, daß du schon hier bist,« entgegnete er ganz leise. Trotzdem hatte Mrs. Stonex seine Worte gehört; eine leichte Blässe bedeckte ihre Wangen, als sie sich an Guy Rutherford wandte und eifrig mit ihm plauderte.

Capri antwortete nicht sogleich, sondern trat in die nahe Fensternische, und dort fragte sie Marc, was er zu ihrem griechischen Kostüm sage.

»Du siehst aus, wie ein aus dem Rahmen gestiegenes Bild, das sich unter die Menschen verirrt hat.«

»Ich freue mich, daß ich dir in dem griechischen Anzuge gefalle,« sagte sie in ihrer alten, herzlichen Weise.

»Ich möchte dich gerne darin malen und das Bild Helene von Troja nennen.«

Sie sah lächelnd zu ihm auf. Seit sie Gesellschafterin bei Mrs. Lordson geworden, hatte sie ihm keinen so freundlichen Blick mehr gegönnt.

»Nur fürchte ich, daß das Publikum endlich müde würde, mich zu bewundern …Übrigens bin ich in diesem Kostüm bereits photographiert. Ist dir das Bild in den Schaufenstern nicht aufgefallen?«

»Nein!«

Newton Marrix gesellte sich zu ihnen, so daß Capri nichts mehr davon sprechen wollte.

»Siehst du dort den lächelnden Menschen, der mit Mrs. Stonex spricht? …Merke ihn dir wohl, mein Junge, das ist ein kleiner großer Mann, den alle Schriftsteller und Künstler fürchten müssen.«

»Er sieht ja ganz harmlos aus.«

»Jawohl; er ist ungebildeter als der Käsehändler an der Ecke, und doch – so seltsam sind die Widersprüche im literarischen Leben – gilt er in der Kunst- und Literaturwelt als Autorität, mit andern Worten: er ist Kritiker und hält sich für den feurigen Drachen, den alle Schriftsteller fürchten müssen, und glaubt, den literarischen Ruhm eines jeden mit wenigen Federstrichen untergraben zu können.«

»Den wirklichen Talenten vermag er ja doch nicht zu schaden.«

»Nein, das wohl nicht; aber es ist traurig, daß wir noch heutzutage von solchen Kreaturen zu leiden haben. Mückenstiche sind nicht gefährlich, aber unangenehm. Die Klasse von Menschen der Art Frérons, der Voltaire verfolgte, oder Dennis', welcher das Genie Popes unterdrücken wollte, lebt noch heute unter uns, ißt und trinkt mit uns; sie ist unsterblich, und keiner, der ihr angehört, würde sich ein Gewissen daraus machen, seinen besten Freund in einem halben Dutzend Zeitungen zu beschimpfen, wenn er dafür gut bezahlt bekäme. Lob und Tadel sind bei ihnen gleich käuflich.«

»Du bist aber heute ausnahmsweise streng.«

»Nicht strenger als sonst, wenn ich von den Schurken rede, deren kein Beruf so viele aufweist, wie gerade der unsrige. So oft ich einem solchen Hals- und Ehrabschneider begegne, zuckt es mir in allen Fingern.«

»Sieh nur, wie angelegentlich Mrs. Stonex sich mit ihm unterhält.«

»Er weiß sich überall einzuschmeicheln, denn er verfügt über eine glänzende Suada. Kraft seines guten Gedächtnisses stapelt sich in seinem Gehirn eine Portion gestohlenen Witzes auf, welche er aus den rezensierten Büchern entlehnt und bei guter Gelegenheit verwertet.«

Während Marc und Newton miteinander plauderten, hatte sich Guy Capri genähert, die gerade einen Stich bewunderte.

»Ist das der Maler der ›Bettelmaid‹?« fragte er.

»Ja, es ist Herr Phillips,« entgegnete sie gleichgültig und sah ihm ins Gesicht. Es lag etwas in demselben, das sie fesselte. War's die beinahe weibliche Weichheit oder der feste, Energie bekundende Ausdruck in den Augen? Sie, die so gerne Physiognomien studierte, wurde sich nicht klar über den Charakter dieses Mannes. Die guten und die bösen Geister schienen bei ihm um die Oberherrschaft zu ringen. Jedenfalls besaß er ein Gesicht, das man so bald nicht vergaß.

»Wissen Sie, daß auch ich Sie malen könnte?« fuhr er nachdenklich fort.

»Sind Sie Maler?«

»Nein, nur Dilettant. Wenn ich London nicht schon in den allernächsten Tagen verließe, würde ich Sie um die Gunst bitten, mir einmal zu sitzen.«

»Weshalb würden Sie mich malen wollen?« fragte sie, verschämt lächelnd.

»Soll ich's Ihnen gestehen?« Er stellte die Frage in so ernstem Tone, daß auch von ihren Lippen das Lächeln sofort verschwand und sie nur mit dem Kopfe nickte.

»Einst kannte ich ein Gesicht, dem das Ihrige gleicht, aber nicht, wenn Sie heiter sind. Vorhin, als Sie so ernst dreinblickten, lag ein Ausdruck in Ihren Augen, der mich erschreckte und bis ins Innerste meiner Seele erschütterte.«

Er sprach leise, mit bebender Stimme, und ein tiefer Schmerz prägte sich in seinem Gesichte aus.

»Ist sie tot?« fragte sie traurig, als ob sie von einem ihr teuern Wesen spräche.

»Ja, so sagte man mir.«

Capri senkte die Augen zu Boden und machte sich innerlich Vorwürfe darüber, auch nur einen Augenblick geglaubt zu haben, daß er sie malen wolle, weil sie ihm gefiele. Sie hatte ihm aus Eitelkeit im Geiste unrecht getan und ihn mißverstanden.

»Verzeihen Sie, daß ich, ohne zu wollen, eine Wunde berührt habe,« bat sie verlegen.

»Würde es uns wehe tun, wenn wir plötzlich einen Geist erblickten?« fragte er.

»Es kommt darauf an, ob der Geist angenehme oder unangenehme Erinnerungen in uns wachriefe. Ich hörte, wie Sie zu Mr. Marrix sagten, daß Sie von der Zukunft nichts zu erhoffen hätten. Werden Sie es mir übelnehmen, wenn ich Sie darauf aufmerksam mache, daß Sie zu viel an die Vergangenheit denken? Das mögen alte Leute tun, die ein Menschenalter hinter sich haben, der Jugend gehört die Zukunft.«

»Ich werde an Ihre Worte denken,« entgegnete er mit einem Aufleuchten in den Augen, das schon mancher Frau den Seelenfrieden geraubt hatte.

»Und ich an die Ihrigen.«

»Sehr wohl, sie sollen uns als eine Kette dienen.«

»Da kommt Lord Harrick,« unterbrach sie ihn verlegen.«

»Ich suche Sie, Miß Capri. Darf ich Sie zum Büfett begleiten? Mrs. Lordson hat soeben ihre Schritte dorthin gelenkt – die Hitze im Salon ist fast unerträglich, dort warten unser Erfrischungen.«

In der nervösen Hast, mit der Harrick sprach, lag etwas Ungewohntes, das sie stutzen machte.

»Wollen wir nicht warten, bis Hal Vector gesungen hat? Er nähert sich eben dem Klavier.«

»Das Gedränge wird nachher zu groß sein, es ist besser, wir gehen sogleich.«

Sie legte ihren Arm sogleich auf den seinigen, nickte Guy freundlich zu und ließ sich dann aus dem Saale durch eine lange Halle zum Wintergarten geleiten, der für den Abend in ein Büfett verwandelt worden war. Auf dem halben Wege dahin befand sich eine künstliche, von hohen Palmen versteckte Laube, in der eine rote Ottomane zum Plaudern einlud. Es war ein Plätzchen, wie für Liebesleute geschaffen.

»Sind Sie nicht müde?« fragte Lord Harrick, als sie es erreichten. »Lassen Sie uns hier einen Augenblick ausruhen,« und ohne abzuwarten, schob er die herabhängenden Blätter auseinander und trat ein. Capri fühlte, daß der Augenblick, den sie sich seit langer Zeit im Wachen und Träumen herbeigewünscht, endlich gekommen sei; sie war überzeugt, daß er ihr jetzt Herz und Hand anbieten werde, und doch vermochte sie nicht, sich ihres Triumphes zu erfreuen.

Ein glänzender Titel, die Vorstellung bei Hofe, ein Haus in der Stadt, an das sich historische Erinnerungen knüpften, ein Landsitz in Yorkshire, ein Schloß in Schottland, Familienjuwelen, die einst den Stuarts gehört hatten, – all das sollte ihr eigen sein!

»Capri,« begann der Lord, nachdem er an ihrer Seite Platz genommen, »erinnern Sie sich an den Tag, an dem mich Ihr Vater leicht verwundete?«

»Ja,« entgegnete sie leise, ohne ihn anzusehen. Er erfaßte ihre Hand und behielt sie in der seinigen.

»Es war nur ein Stückchen weißer Leinwand, mit der Sie meine Wunde verbanden, aber – aber – ich – es ruht an meinem Herzen – seit damals.«

»Weshalb bewahren Sie es so sorgfältig auf?« fragte sie naiv; dabei streifte ihr Auge seine Hand, und sie wunderte sich über deren Röte und Plumpheit.

»Weil es von Ihnen stammt!« flüsterte er, ihr die Hand drückend. Dann zögerte er einen Augenblick, ehe er seine Lippen daraufpreßte. Seine Küsse wurden immer glühender; sie ließ ihn ruhig gewähren, verhielt sich aber ganz passiv, denn sie wollte ihr Schicksal weder beschleunigen noch beeinflussen.

»Capri,« fuhr er leidenschaftlich fort, »wissen Sie, daß ich Sie seit jenem Tage wahnsinnig liebe?«

»Nein, das wußte ich nicht.«

»Nun, so sage ich es Ihnen noch einmal. – Ich hatte die Absicht, es Ihnen schon damals, als wir aus Richmond heimfuhren, zu gestehen, aber die verf…Pferde!«

Sie blickte zu ihm auf; das Blut schoß ihm ins Gesicht, seine sonst ausdruckslosen Augen sprühten beinahe vor verhaltener Leidenschaft; sie fühlte, wie sein heißer Atem ihren Nacken streifte.

»Haben Sie mir nichts darauf zu entgegnen? Können Sie mir nicht ein wenig gut sein? Darf ich diese süße, kleine Hand für immer behalten?«

»Sie überraschen mich, Mylord! Ich weiß nicht –.« Sie stockte, denn ihre Stimme versagte ihr plötzlich.

»Haben Sie es denn nicht geahnt, daß ich Sie anbete?«

»Ja, aber wie konnte ich denken, daß – daß –«

»Capri, ich liebe Sie mehr als mein Leben, wollen Sie mein Weib werden?«

Sie antwortete nicht gleich, denn plötzlich stieg das Bild Marcs vor ihr auf, und sie mußte sich gestehen, daß sie sich in seiner Gegenwart frei und glücklich fühlte. Die Erinnerung an sein offenes, hübsches Gesicht stellte sich zwischen sie und Lord Harrick; sie sah seine treuen, blauen Augen, hörte seine klangvolle Stimme – und zögerte einen Augenblick. Dann aber dachte sie an das Lächeln, mit dem Mrs. Stonex vorhin den jungen Künstler empfangen, und ihr Entschluß stand fest. Wenn sie, ihrem besseren Gefühle Folge leistend, Marc heiraten wollte, würde sie ihn in seiner Karriere hindern. Ja, wenn er reich wäre, wie ihr aristokratischer Freier, dann würde sie sich keine Minute besinnen. Aber die Armut hatte sie satt, und dann, – war es nicht edel von ihr, dem Künstler zu entsagen? Er würde sie im Besitze einer Würdigeren und Reicheren vergessen lernen, und wenn sie sich dann nach Jahren begegnen sollten, würden sie sicher über ihre Jugendliebe lachen, die sie niemals zu überwinden können geglaubt. Statt einer Antwort reichte sie dem Lord, der sie voll Spannung beobachtete, beide Hände.

»Ich darf sie behalten?« fragte er zärtlich.

»Ja.«

Er schlang den Arm um sie und bedeckte ihren Mund und ihre Wangen mit leidenschaftlichen Küssen. In seiner Erregung merkte er gar nicht, daß sie sich kalt wie eine Statue verhielt und seinen Gefühlsausbruch nicht erwiderte. Eine halbe Stunde später stand sie wieder vor der koreanischen Vase und plauderte lächelnd mit Miß Raven. Guy Rutherford beobachtete sie vom entgegengesetzten Ende des Salons und sagte sich:

»Sie ist ein selten schönes Geschöpf. – Am Ende bleibe ich doch in England. – Sie hat recht, es ist nicht gut, in der Vergangenheit zu leben.«

Einzelne Gäste verabschiedeten sich, und auch Mrs. Lordson winkte Capri herbei, und beide bahnten sich wieder in Begleitung Newtons einen Weg zu Mrs. Stonex. Sie kamen an Marcus Phillips vorbei.

»Gute Nacht, Marc,« flüsterte das junge Mädchen. »Wenn ich mich freimachen kann, besuche ich dich morgen.«

Er nickte ihr dankbar zu und drückte ihr zärtlich die Hand. Ihr ward recht weinerlich zumute.

Lord Harrick und Guy Rutherford begleiteten die Damen zu ihrem Wagen.

»Darf ich morgen kommen, Fräulein Dankers?« fragte der Aristokrat.

»Ja,« lautete die von freundlichem Lächeln begleitete Antwort.

Im nächsten Augenblicke war der Wagen um die Ecke verschwunden.

»Rutherford,« begann Harrick, den Arm seines Freundes nehmend, »ich habe sie gefragt, ob sie mein Weib werden will.«

Guy blieb wie festgewurzelt stehen:

»Und sie?«

»Hat natürlich eingewilligt!«

Sie schritten schweigend durch die stille Nacht, Rutherford blickte gedankenvoll zum sternenbesäten Himmel hinauf.

»Weshalb gratulierst du mir gar nicht zu meinem Glücke?« fragte Harrick verletzt. Guy warf die soeben angezündete Zigarre fort und sagte dann leise, als ob er mit sich selbst spräche:

»Manche Männer haben Frauen, die nicht halb so schön waren wie diese, ihre Zukunft und ihr Seelenheil geopfert.«


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