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Am nächsten Morgen erwartete Marcus Phillips Frau Stonex in demselben Boudoir, in welchem sie ihn vor kurzer Zeit empfangen, um ihm mitzuteilen, daß Lord Harrick sein Bild gekauft.
Während er mit zu Boden gesenktem Haupte sinnend vor sich hinstarrte, öffnete sich wie damals leise eine kleine Tapetentür, und Mrs. Stonex trat ein. Diesmal trug sie einen dunkelroten Plüschmorgenrock. Sie reichte dem Künstler freundlich die Hand und eröffnete die Konversation über das Herbstwetter. Marcus fand, daß sie heute weit blühender aussah als sonst, und daß ihre grauen Augen ihn ängstlich fragend anblickten.
Ein unbehagliches Gefühl beschlich ihn, denn er sagte sich, daß der Zweck seines heutigen Besuches eigentlich sehr peinlicher Natur sei. Unter welchem Vorwande sollte er das Bild zurückverlangen? Die Wahrheit wollte und konnte er nicht gestehen, ebensowenig Capris Namen nennen. Mrs. Stonex mußte ja früher oder später von der Verlobung Lord Harricks mit dem Originale der Bettelmaid hören, – mochte sie dann selbst ihre Schlüsse ziehen aus der Tatsache, daß er um jeden Preis das Bild wieder sein eigen nennen wollte.
Er hörte nur mit halbem Ohre zu, was die Hausfrau ihm von dem Atelier Rossettis und dessen neuem Kunstwerke erzählte. Sie hinwiederum fragte sich, während sie plauderte, was Marc veranlaßt haben mochte, zu so ungewohnter Stunde bei ihr vorzusprechen.
»Sie waren so liebenswürdig, sich für mein Bild zu verwenden,« begann er stotternd, nachdem sie ihre Schilderung beendet, »und Sie werden es vielleicht sehr anmaßend finden, daß ich Ihre Güte noch einmal in Anspruch nehmen muß, Lord Harrick den Scheck wieder einzuhändigen.«
Mrs. Stonex blickte erstaunt zu ihm auf und konnte gar nicht begreifen, weshalb er das Geld zurückgeben wolle. Da sie jedoch seine wachsende Verlegenheit bemerkte, entgegnete sie:
»Es war mir eine große Freude, zwischen Ihnen und dem Lord die Vermittlerin zu spielen.«
»Sie werden es vielleicht als eine Laune und Undankbarkeit auffassen, wenn ich Ihnen versichere, daß ich das Bild um jeden Preis zurückhaben möchte.«
Nun war's heraus und eine Zentnerlast von ihm gewichen.
»Habe ich recht verstanden? Sie wünschen ›Die Bettelmaid‹ von Lord Harrick zurückzuhaben?
»Ja, denn ich möchte es lieber in jeder anderen Hand als in der seinigen wissen,« entgegnete er erregt.
Mrs. Stonex ließ ihren Blick forschend auf seinem Gesichte ruhen, was ihm das Blut heiß in die Wangen trieb. In seiner Verwirrung wünschte er sich weit weg von ihr. Eine peinliche Pause entstand; wie ein Blitz durchzuckte sie plötzlich ein Gedanke.
Gestern abend war ein dunkles Gerücht von Lord Harricks Verlobung mit einem Mädchen aus dem Volke zu ihr gedrungen; das konnte nur Capri sein, und was sie bis jetzt nur vermutet, ward ihr zur Gewißheit – der junge Maler liebte das Original der Bettelmaid! Wie grausam war doch das Schicksal! Sie brachte ihm den reichen Schatz ihrer Liebe entgegen, und er ging achtlos daran vorüber, ohne ihn zu heben, während das Mädchen seiner Wahl einem anderen die Hand zum ewigen Bunde reichte. Sie seufzte tief auf und sagte sanft und weich:
»Ich glaube nicht, daß der Lord unter den jetzigen Umständen das Bild zurückgeben wird.«
Er fühlte aus ihren Worten, daß sie seine Lage erkannt hatte, und erwiderte mit zu Boden gesenktem Haupte:
»Es tut mir leid, Sie belästigt zu haben; wenn Sie gestatten, will ich selbst dem Lord schreiben.«
Sie überlegte einen Augenblick. Er blickte verstohlen zu ihr auf und mußte sich gestehen, daß sie in diesem Augenblicke schön und anmutig war, wie die Göttin der Barmherzigkeit.
»Wenn Sie es für weise halten, das Bild zu besitzen, wird es schon am besten sein, Sie schreiben selbst an den Lord.«
»Weise mag es vielleicht nicht sein, aber es ist mir Bedürfnis, dasselbe wieder zu besitzen …«
»Glauben Sie ja nicht, daß ich die Mühe scheue …Ihnen einen Dienst zu erweisen, wäre mir kein Opfer zu groß,« entschlüpfte es ihren Lippen, ohne daß sie es wollte.
»Daran zweifle ich nicht, haben Sie mir ja schon so viel Güte entgegengebracht,« stammelte er, sich erhebend.
»Müssen Sie schon gehen?« fragte sie leise.
»Ich bin zu einer ungewöhnlichen Stunde gekommen und fürchte, Sie zu stören.«
»Ich hatte und habe nichts vor,« entgegnete sie rasch. Er glaubte darin eine Einladung zum Bleiben zu hören und nahm wieder Platz. Und das wollte sie auch, denn sie konnte es nicht übers Herz bringen, ihn ohne Trostworte gehen zu lassen, und doch vermochte sie in ihrer weiblichen Schüchternheit nicht gleich zu sprechen. Sie bedauerte ihn von ganzem Herzen, denn ihre Liebe zu ihm war so rein, so selbstlos und wahr, daß sie gerne ihre eigenen Hoffnungen und Wünsche ertötet hätte, um ihn glücklich zu sehen. Sein bloßer Anblick gewährte ihr ja schon Seligkeit und Freude. Die Sonne schien hell und freundlich ins Gemach, der Blumenduft aus dem anstoßenden Wintergarten erfüllte die Luft.
»Gedenken Sie London zu verlassen?« fragte sie leise, nachdem sie sich ein wenig gefaßt.
»Ja, ich habe mich entschlossen, aufs Land zu gehen und dort fleißig zu arbeiten.«
»Das wollte ich Ihnen eben raten,« sagte sie, »eine vollständige Veränderung wird Ihnen sehr wohl tun.«
»Ich selbst fühle, daß ich meinen Geist beschäftigen muß. – Die Stadtluft ist so heiß und drückend, daß sie mich zu ersticken droht.«
»Kennen Sie die Bretagne? Im Herbst ist sie wunderbar, und es gibt entlegene Teile, die von Touristen nicht heimgesucht werden.«
»Nein, ich habe sie noch nie besucht!«
»Dann sollten Sie dahin gehen; die friedliche Ruhe wird Ihre Nerven stärken.«
Ihre grauen Augen ruhten voll Mitgefühl auf seinem betrübten Antlitze. Sie hätte, ohne sich eine Minute zu bedenken, ihr ganzes Vermögen geopfert, wenn sie damit wieder Sonnenschein auf dasselbe hätte zaubern können. Der schmerzliche Ausdruck in seinen sonst so freundlichen, munteren Augen tat ihr unendlich weh; sie hatte das Bedürfnis, ihm auf irgendeine Weise zu zeigen, wie tief sie mit ihm fühlte. Aber wie es so oft der Fall, daß uns, wenn wir es am meisten wünschen, die richtigen Worte fehlen, um die Gedanken, die unser Hirn kreuzen, und die Gefühle, die unser Herz beseelen, auszudrücken, so erging es auch Mrs. Stonex; ihre Zunge versagte ihr den Dienst, und sie blickte verwirrt und hilflos zu Boden.
Marcus Phillips saß da, als ob auch ihn ein Zauber gebannt hielt. Nur um die peinliche Pause zu brechen, bemerkte die Hausfrau:
»Die Landschaft in der Bretagne ist wundervoll. Sie werden der allgewaltigen Mutter Natur manches ablauschen. – Sie lehrt uns in ihrer Güte so viel nützliche Dinge; wenn wir nur die Geduld hätten, uns ihre Lehren zunutze zu machen. In ihrem Schoße ruht sich's sanft und weich.«
Auf den jungen Künstler wirkte ihre vor Verlegenheit und Erregung zitternde Stimme wie lindernder Balsam. Er wunderte sich selbst über die Ruhe, die ihn plötzlich überkam, denn noch vor einer Stunde hatte er geglaubt, daß es Monate, nein, Jahre dauern werde, ehe der Sturm sich in seinem Innern legen würde.
»Mr. Phillips, ich will und kann nicht leugnen, daß ich von dem tiefen Schmerze, der Sie betroffen, Kenntnis habe,« kam es plötzlich von ihren Lippen.
Marcus rührte und bewegte sich nicht.
»Ich weiß, daß Sie vom Schicksale einen Schlag empfangen haben, der Ihnen vielleicht jeden Glauben an das weibliche Geschlecht raubt – –«
Er sprach noch immer nicht, aber heiße Blutwellen stiegen ihm ins Gesicht.
»Ein solcher Schmerz,« fuhr sie tapfer fort, »stählt das Herz. Dulden macht stark. – Vergessen Sie nicht, daß auch andere vor Ihnen solchen Kummer geduldig und ohne Klage, vor der Welt verborgen, tragen mußten.«
»Das mag sein,« entgegnete er endlich. »Aber ich glaube, jeder, den ein solcher Schmerz trifft, bildet sich ein, daß noch niemand vor ihm so schwer gelitten, wie er. Seelen- und Körperleiden lassen sich nicht messen und wiegen. Jeder glaubt, unter den seinigen zusammenbrechen zu müssen.«
»Ich weiß, was Seelenleid heißt,« flüsterte Mrs. Stonex, »und weiß auch, wie einsam und verlassen man sich in einem solchen Falle wie der Ihrige fühlt. – Es drängte mich, Ihnen mein Mitgefühl auszusprechen.«
»Ich danke Ihnen von ganzem Herzen! Sie ahnen gar nicht, welche Wohltat Sie mir erwiesen. – Ich werde Ihre Worte nie, nie vergessen!« rief er gerührt. Ein glückliches Lächeln stahl sich auf ihre Lippen und verklärte ihr liebliches Gesicht. Marcus bemerkte jetzt zum erstenmal voller Erstaunen, wie schön diese Frau war.
»Es gibt Naturen,« fuhr sie lebhaft fort, »die sich von herben Schicksalsschlägen niederdrücken lassen und dann zynisch und hartherzig werden, andere wieder, die das Leid besser und edler macht. – Lassen Sie sich durch Ihre Enttäuschungen nicht den Glauben an die Menschheit rauben und seien Sie versichert, daß es auf Erden auch treue Frauenherzen gibt!«
»Ich war nahe daran, meinen Glauben an dieselbe zu verlieren und in einen Skeptizismus zu verfallen, der mein ganzes Leben verbittert haben würde, aber Ihre freundlichen Mahnungen haben mich davor bewahrt. – Was auch kommen mag, diese Stunde wird mir unvergeßlich bleiben,« stieß er rasch hervor, wie jemand, dem die Worte aus warmem Herzen strömen. Etwas wie eine Träne schimmerte in seinen ehrlichen blauen Augen.
Wenn sie ihm nur hätte sagen können, wie innig und leidenschaftlich sie ihn liebte, wie sie sich darnach sehnte, ihm ihre Zärtlichkeit zu beweisen und ihm zu gestehen, daß er der einzige Mann sei, dem sie gerne ihr Herz und ihre Ehre anvertrauen würde, um den dornigen Pfad des Lebens mit ihm zusammen zu wandeln, bis der Tod sie trennen würde! – Ihre Lippen schlossen sich krampfhaft, aber ihre Augen verrieten ihm ihre Herzensgeschichte deutlicher, als Worte es vermocht hätten, denn diese sind zu schwach, um die Gefühle und Leidenschaften auszudrücken, die ein liebendes Wesen beseelen. Aber was vermochte er jetzt diesem treuen, hingebenden Wesen zu bieten, dessen Liebe ein heiliger Schatz war, der jeden Mann, dem sie ihn freiwillig entgegengebracht hätte, beglücken mußte? Sein Herz gehörte nicht mehr ihm; trotzdem es verschmäht worden, klammerte es sich noch mit jeder Faser an Capri. Er würde sie nie und nimmer vergessen können, die Erinnerung an sie würde stets zwischen ihn und jedes andere Weib treten. Weshalb mußte gerade er seine erste, reinste Liebe einem Wesen schenken, das sie nicht zu erwidern vermochte? Warum hatte ihm das Schicksal nicht Mrs. Stonex zuerst in den Weg geführt, die fast ebenso schön war wie Capri, und ihr Herzblut für ihn opfern würde?
Er seufzte tief auf. Noch vor ganz kurzer Zeit hatte er das Leben so schön und heiter gefunden und nicht geahnt, daß es solche Leiden und Schmerzen in sich birgt. Jetzt waren ihm die Augen geöffnet, und er erkannte, daß er nicht der einzige Leidende und Duldende in der Welt sei. Das Band des gemeinsamen Geschickes fesselte ihn, ohne daß er es selbst ahnte, an das schöne Weib, das gesenkten Hauptes vor ihm saß. Um der peinlichen Situation, in der sich beide befanden, ein Ende zu machen, erhob er sich und sagte ernst:
»Sie haben sich mir als wahre, aufrichtige Freundin bewährt. – Gestatten Sie, daß ich Ihnen, ehe ich scheide, noch einmal meinen tiefgefühlten Dank ausspreche.«
»Leben Sie recht, recht wohl,« flüsterte sie, sich ebenfalls erhebend und ihm ihre Hand reichend; dabei fiel ihr eine dunkelrote Rose, die ihr Kleid zierte, zur Erde. Er bückte sich rasch darnach, gab sie aber nicht zurück.
»Darf ich sie behalten?« fragte er bittend.
»Ja.«
Sie reichte ihm nochmals die Hand, diese zitterte leicht in der seinigen, während er sie herzlich drückte. Noch eine Verbeugung, und sie war allein.