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Gelenkrheumatismus.

Eines der einfachsten Konstruktionselemente des menschlichen Körpers ist das Gelenk.

Während es von außen durch Bänder, Sehnen und Muskeln bestens geschützt ist, so daß man es nur durch schwere Gewalteinwirkung beschädigen kann, ist es leider von innen her großen Gefahren ausgesetzt durch eine eigentümliche Anziehungskraft, welche es auf alle möglichen Gifte hat, die im Blutstrom zirkulieren.

Damit mein Leser sich einigermaßen ein solches Gelenk vorstellen kann, will ich es hier kurz beschreiben.

In dem Mechanismus des Körpers herrscht das einarmige Hebelsystem vor. Die Hebel werden durch Knochen gebildet. Wo zwei Knochenenden zusammenstoßen, entsteht als bewegliche Verbindung ein Gelenk.

An ihren Berührungsflächen sind die Knochen so geformt, daß in die Vertiefung des einen, die Gelenkpfanne, eine entsprechende Erhöhung des anderen, der Gelenkkopf, hineinpaßt. Ebenso wie man die Lager einer Maschine aus einem weicheren Material macht als die Achsen und Pleuelstangen, so hat auch die Natur die Pfanne und den Kopf des Gelenkes mit einer äußerst glatten, weicheren Maste überzogen, dem bläulich-weißen Knorpel.

Gelenkzotten, fransenartige Anhänge der Gelenkhaut, welche eine fadenziehende, wasserklare Flüssigkeit absondern, die zur Schmierung des Gelenks dient.

Die zwei Gelenkenden werden durch eine Kapsel, die sogenannte Gelenkkapsel, eingeschlossen. Diese besteht aus einem System von sehnigen Bändern, welche nicht weit vom Drehpunkt des Gelenkes an die Knochen angeheftet sind und im Innern einen luftleeren Raum bilden. Auf diese Weise wird das Gelenk nicht nur durch den sehnigen Zug der Kapsel zusammengepreßt, sondern auch durch den Luftdruck.

Schematische Darstellung eines Gelenks. Der mit einer glatten Knorpelschicht überzogene Gelenkkopf bewegt sich in der ebenfalls mit Knorpel ausgekleideten Gelenkpfanne. Umschlossen wird das Gelenk von der Gelenkkapsel GK, welche im Innern mit der Gelenkhaut bekleidet ist, die die Gelenkschmiere liefert. Die Gelenkkapsel ist durch die Gelenkbänder GB mit dem Knochen verbunden.

Die Natur muß auch dafür sorgen, daß das Gelenk stets hinreichend geschmiert wird. Diesem Zwecke dient die Synovialhaut, eine glänzende, schlüpfrige Haut, an welcher sich zottenartige Auswüchse und fransige Gebilde befinden. Sie sondert eine wasserklare, schlüpfrige, fadenziehende Flüssigkeit ab, die Gelenkschmiere, so daß die Gelenkenden wie geölte Maschinenteile fast ohne Reibung aneinandergleiten.

Diese Synovialmembran ist den Schleimhäuten ähnlich, welche die Natur zur Auskleidung der Atmungsorgane, des Magens und Darmes und der verschiedenen Körperhöhlen verwendet. Und zwar beruht diese Ähnlichkeit nicht nur darauf, daß sie ebenfalls eine schleimige Flüssigkeit absondert, sondern insbesondere auch, daß sie ebenso wie die Schleimhäute durch die Wirkung des Erkältungsgiftes erkranken kann.

Schnitt durch die Gelenkhaut, die sog. Synovialhaut, unter dem Mikroskop. Die Synovialhaut ist der Sitz des Gelenkrheumatismus.

Die Erkrankung der Schleimhäute durch Erkältung nennt man Katarrhe. Ich nenne nur die Katarrhe der Nasenschleimhaut, des Rachens, der Lunge, des Magens, des Darmes, der Blase und so weiter. Den Gelenkrheumatismus könnte man aber geradezu einen Katarrh der Gelenke oder vielmehr der Synovialhaut nennen. Dazu berechtigt uns eine bis ins einzelne gehende Ähnlichkeit. Ebenso wie die erkrankte Schleimhaut, so sondert auch die kranke Gelenkhaut unter der Einwirkung der Entzündung viel mehr Flüssigkeit ab als im normalen Zustand. Gleichzeitig tritt eine Schwellung auf, welche bei langer Dauer zu Wucherungen der zottigen Gebilde führen kann, ähnlich wie die Wucherungen, welche man bei den Katarrhen »Polypen« nennt. Derartig gewucherte Zotten können sich durch Druck und Bewegung sogar von der Gelenkhaut ablösen und als »Gelenkmäuse« frei beweglich im Gelenk herumtreiben. Bei lang dauernden, chronischen Katarrhen kommt die anfangs überreichliche Absonderung allmählich zum Versiegen, die kranke Schleimhaut schrumpft ein und verwandelt sich, während die Drüsen veröden, in ein narbiges Gewebe (Bindegewebe). Findet dieser Prozeß in engen Gängen, zum Beispiel in der Harnröhre statt, so macht sich diese Schrumpfung als Verengerung, Striktur bemerkbar. Auch die Synovialhaut verwandelt sich im Laufe des chronischen Krankheitsprozesses ebenso wie die Schleimhaut allmählich in Bindegewebe.

Die Gelenkkapsel füllt sich also in dem akuten Stadium der Krankheit prall mit der im Übermaß produzierten fadenziehenden Gelenkflüssigkeit an. Sie wird von der Flüssigkeit immer mehr angespannt und ausgedehnt, was von außen als Schwellung des Gelenkes sichtbar ist. Dieser Prozeß ist äußerst schmerzhaft, wahrscheinlich rührt dies von der kranken Synovialhaut her, die sehr nervenreich und deshalb empfindlich ist. Vielleicht ist auch der Zug, der durch die Spannung der Gelenkbänder auf ihren Ansatz an den Knochen ausgeübt wird, schmerzhaft; jedenfalls sind diese Stellen gegen Berührung sehr empfindlich.

Das Leiden ist im akuten Zustand mit erheblichem Fieber verbunden, zum Zeichen dafür, daß der Körper sich in einer heftigen Gegenwehr befindet. Sobald die Heilung einsetzt, wird der Erguß, der übrigens, im Gegensatz zu anderen Gelenkentzündungen, stets nur schleimig und niemals eitrig ist, wieder aufgesogen, und das Gelenk ist intakt wie vorher. Allerdings findet der akute Gelenkrheumatismus, der immer eine bedeutende Erkrankung des ganzen Körpers ist, mit der Wiederherstellung eines Gelenkes gewöhnlich noch nicht seine Heilung. Der Krankheitsprozeß endet erst dann, wenn sich der beschriebene Vorgang an einer ganzen Anzahl von Gelenken wiederholt hat.

Ebenso wie eine allgemeine Erkältung des Körpers, wie wir sie zum Beispiel als Grippe kennen, alle möglichen Schleimhäute gleichzeitig oder hintereinander befallen kann, so kann der Gelenkrheumatismus die Synovialhaut aller möglichen Gelenke ergreifen. Ja, nicht genug damit, er kann auch alle jene häutigen Gebilde im Organismus befallen, welche der Synovialhaut ähnlich sind. Es sind dies die sogenannten serösen (Flüssigkeit absondernden) Häute, wie das Bauchfell, Brustfell, der Herzbeutel, bestimmte Häute des Gehirns und Rückenmarks, die Innenauskleidung des Herzens und auch die der Venen (Blutadern, welche das Blut zum Herzen zurückleiten). Diese Häute verhalten sich gegenüber der Krankheit wie ein Gelenk, deshalb ist jede derselben gefährdet. Allgemein bekannt ist die Erkrankung des Herzbeutels und insbesondere der Herzklappen, gefürchtet sind Entzündungen der Häute des Hirns und Rückenmarks, weniger bekannt, aber ebenfalls nicht selten, sind rheumatische Entzündungen des Bauch- und Brustfells und insbesondere auch der Venen. Der Kreis der rheumatischen Krankheiten wäre, wie man sieht, eigentlich viel weiter zu ziehen als üblich. In diesem für die Allgemeinheit bestimmten Büchlein wollen wir uns aber nur an die bekannten Formen halten.

Der akute Gelenkrheumatismus.

Die Symptome des akuten Gelenkrheumatismus zeige ich am besten durch einen aus der Praxis entnommenen Fall.

Nach einer meiner Reisen im Süden, wo ich wenig mit Rheumatikern in Berührung kam, gelangte ich in den Norden. Daher kommt es auch, daß mir ein besonders markanter Fall in Erinnerung blieb, den ich in Dänemark erlebte.

Es war an einem der ödesten und rauhesten Fjorde, wo mich gelegentlich eines kurzen Aufenthaltes ein Fischer, der erfahren hatte, daß ich Arzt bin, zu seiner Frau rief.

Nach einem weiten Marsch kam ich in die armselige Hütte. Die Frau, eine blonde, kräftige Person von etwa 30 Jahren, lag unbeweglich, nur mit einer Decke zugedeckt, im Bett. Das Gesicht war blaß; sie wandte mit einem hilflosen Blick kaum den Kopf zur Seite, als ich eintrat. Dann brach sie sogleich in Weinen aus und bat mich flehentlich, ich möchte ihr helfen, sie könne es vor Schmerzen nicht mehr aushalten.

Obwohl ich so behutsam bei meiner Untersuchung vorging, wie nur möglich, schrie sie schon auf, als ich nur kurz mit dem Knie das Bettgestell erschütterte und, um die kranke Stelle zu inspizieren, die Decke wegnahm. Bei diesem Leiden sind die Patienten so außerordentlich empfindlich, daß sie schon die geringste Erschütterung als äußerst schmerzvoll verspüren. Ich sah es ihren angstvollen Augen an, daß der stumme Spaziergang ihres Mannes auf den knarrenden Dielen ihres Zimmers, ebenso wie das Zuschlagen einer Tür irgendwo im Hause ihr Leiden vergrößerte.

Sie klagte über unerträgliche Schmerzen in den beiden Fußgelenken, den Knien und Hüften. Besonders die Schmerzen im Hüftgelenk bereiteten ihr große Beschwerden, da sie sich im Bett nicht mehr aufrichten konnte. Sie lag auf dem Rücken, die Knie und Ellbogen gebeugt, links und rechts auseinander gehalten, die Arme mit gelöster Muskulatur auf dem Bett aufliegend. Solche Kranke nehmen instinktiv eine Stellung ein, welche die Muskeln vollständig entspannt.

Dabei ist aber nicht die Bewegung des Gelenks an sich schmerzhaft. Denn wenn man das kranke Gelenk vorsichtig, ohne daß der Patient die Muskeln anspannt, bewegt, so werden kaum Schmerzen verspürt. Hauptsächlich ist es die Muskelspannung, welche die Schmerzen hervorruft. Am meisten werden diese an den Ansatzstellen der Gelenkkapsel an den Knochen gefühlt.

Man konnte es ihr nachfühlen, mit welcher Angst sie das Auswechseln des vom Schweiß völlig durchnäßten Bettzeugs erwartete. Die starke Schweißabsonderung ist ein wichtiges und auffallendes Symptom des akuten Gelenkrheumatismus. Der Schweiß ebenso wie die Ausatmungsluft riechen stark säuerlich. Dies ist so charakteristisch für den Gelenkrheumatismus, daß man die Krankheit schon nach dem Geruch diagnostizieren kann. Wie man es sehr oft bei dieser Krankheit findet, hatte der reichliche Schweiß bei meiner Patientin einen ausgedehnten Bläschenausschlag auf der Brust und den Oberarmen verursacht.

Die Knie- und Fußgelenke waren erheblich geschwollen und gerötet, weniger die Hüftgelenke. Die Haut an den kranken Stellen war gespannt und glänzend und fühlte sich heiß an. Die Berührung der entzündeten, fleckig geröteten Stellen erzeugte heftigen Schmerz. Sehr schmerzhaft werden nicht nur die Ansätze der Gelenkkapsel an den beiderseitigen Knochen verspürt, sondern auch die Sehnen der benachbarten Muskeln und sogar diese selbst tun weh. Die Muskeln können sogar sehr heftig schmerzen, und es gibt, abgesehen davon, daß Muskel- und Gelenkrheumatismus oft zusammen gleichzeitig vorkommen, viele, besonders chronische Fälle, wo die Unterscheidung der beiden Krankheiten, auch bei genauer Untersuchung, schwer ist.

Typischer Fieberverlauf bei dem ersten schweren Anfall von akutem Gelenkrheumatismus (nach Friedländer).

Das Fieber betrug 40,5 Grad. Diese Temperatur übersteigt es selten, doch hat man immerhin auch schon Kranke mit höheren Fiebergraden beobachtet. Unverricht registriert sogar einen Fall mit 43,9 Grad. Die beigegebene Figur zeigt, in einer Kurve dargestellt, den typischen Fieberverlauf.

Auf Befragen gab ihr Mann an, daß sie einen Tag mit bloßen Füßen, nur mit den dort üblichen Holzschuhen bekleidet, in dem zugigen Waschhaus verbracht hatte. Schon am nächsten Tag hatte sich eine unbehagliche Stimmung eingestellt, Frösteln, Appetitlosigkeit und unruhiger Schlaf. Sie vermutete, daß ein Katarrh daraus werden würde. Und richtig, drei Tage hernach stellte sich ein Katarrh ein; Schmerzen im Halse mit Schluckweh und Drüsenschwellung schlossen sich an. Am nächsten Morgen schon konnte sie das Bett wegen der heftigen Schmerzen in den Fußgelenken nicht mehr verlassen.

Drüsenschwellungen treten als Vorboten des Gelenkrheumatismus ebenso wie bei allen Erkältungskrankheiten auf.

Meistens habe ich beim Gelenkrheumatismus neben der Schwellung der Halsdrüsen eine Schwellung der Leistendrüsen konstatiert.

Es liegt also kein Grund vor, gerade die Schwellung der Halsdrüsen, welche durch die Schluckbeschwerden besonders auffällt, für ein besonderes Merkmal des beginnenden Gelenkrheumatismus zu halten. Viele Autoren glauben, das Anschwellen dieser Drüsen sei dahin zu deuten, daß ein noch unbekannter Bazillus als Erreger des Gelenkrheumatismus durch die Rachenschleimhäute in den Körper eintritt. Dieser Beweis ist bis jetzt nicht geliefert worden, und die Schwellung kommt, wie gesagt, auch bei den gewöhnlichen Erkältungskrankheiten zustande, bei denen von einer Bakterieninvasion keine Rede ist.

Der typische Verlauf des ersten schweren Anfalls von akutem Gelenkrheumatismus. Die Reihenfolge der Gelenke, wie sie von der Krankheit ergriffen werden, ebenso wie die Dauer der Erkrankung des betr. Gelenks, sind aus der Abbildung ersichtlich.

Sie gab an, den Schmerz zuerst in den Fußgelenken verspürt zu haben; schon am Nachmittag sei das Leiden unerwartet in die Knie und heute früh in die Hüften übergesprungen. Es hat übrigens etwas Verblüffendes, wenn man beobachtet, wie ein eben noch gesundes Gelenk unter Umständen im Laufe einer Stunde gerötet, geschwollen und ganz unbeweglich werden kann, während es vielleicht einen halben Tag später schon wieder vollständig schmerzlos ist. Auffallend ist auch die Symmetrie der beiden Körperhälften. Gewöhnlich werden die Gelenke paarweise zugleich ergriffen, und zwar meist in der Reihenfolge von unten nach oben. Dies hat schon zu der Deutung geführt, daß der Gelenkrheumatismus vielleicht eine Erkrankung des Rückenmarks sei, welche aufsteigend von unten nach oben fortschreitet und so eine Erkrankung der die Gelenke versorgenden Nerven hervorbringe.

Häufigkeit der Erkrankung der einzelnen Gelenke beim Gelenkrheumatismus (nach Stoll)

In den nächsten Tagen wurden alle möglichen Gelenke befallen, so daß allmählich der ganze Körper in Mitleidenschaft gezogen war. Während die übrigen Gelenke bei meiner Patientin nur flüchtig erkrankten, blieb das Leiden in den Fuß- und Kniegelenken hartnäckiger bestehen. Damit wurde wieder aufs neue die alte Erfahrung bestätigt, daß Gelenke, welche am meisten beansprucht werden, die geringste Widerstandsfähigkeit haben. Sie war in gesunden Tagen nämlich viel unterwegs, um die Fangerträge ihres Mannes in die landeinwärts gelegene Stadt zu bringen. Leute, welche viel gehen und stehen müssen, wie Soldaten, Jäger, Kellner, erkranken ja gewöhnlich zuerst an den Fuß- und Kniegelenken, während bei Taglöhnern, Knechten, Maurern das Leiden oft an den Handgelenken beginnt. Weintraud (1913) erzählt den Fall eines jungen Mannes, der in seinem Beruf täglich viele tausend importierte Eier vor ein Licht zu halten hatte, um zu sehen, ob sie nicht verdorben seien. Der Gelenkrheumatismus befiel ihn zuerst, und am stärksten an den unteren Gelenken des Daumens und Zeigefingers.

Ich habe schon mehrfach in diesem Buche angedeutet, daß ich ein Gegner der üblichen medikamentösen Beruhigungsmittel bin, weil ich sie für schädlich und auch entbehrlich halte. Es gelingt nämlich durch Wärmeanwendung gleichfalls, die Schmerzen zu lindern, ohne dem Körper zu schaden. Da in dieser weltentlegenen Gegend keine besonderen Hilfsmittel zur Hand waren, so verfiel ich darauf, die heißen Sommertage auszunützen und legte die Patientin einfach in den heißen Sand an einem sonnigen Platz in der Nähe des Hauses. Dieses ist das Heilmittel der Ägypter bei rheumatischen Erkrankungen, und es bewährte sich, da die strahlenden Tage andauerten, zu meiner Freude auch hier. Die übrige Zeit sorgte ich für Warmhaltung der Gelenke durch improvisierte Wärmeflaschen.

Nach einer Statistik von Church, welche mit einem Krankenmaterial von etwa 1000 Personen aufgestellt wurde, zeigte sich der erste Anfall von akutem Gelenkrheumatismus in den verschiedenen Lebensaltern mit den angegebenen Prozentzahlen. Aus diesen geht hervor, daß der akute Gelenkrheumatismus eine Krankheit des jugendlichen Alters ist.

Die Behandlung mit Salizylpräparaten ist leider zu einem wahren Evangelium der Medizin geworden, weshalb die meisten Ärzte niemals in ihrem Leben Kranke beobachten können, bei denen dieses Leiden seinen naturgemäßen Verlauf nimmt. Das ist sehr zu bedauern; denn ich habe mich davon überzeugt, daß radikale Heilungen selten mit diesen Hilfsmitteln zustande kommen. In acht Tagen war sie fieberfrei, und bei meiner Abreise, welche etwa 14 Tage später erfolgte, waren alle Schmerzen geschwunden. Insbesondere hat sich die gefürchtete Komplikation seitens des Herzens nicht eingestellt. Auf eine briefliche Anfrage erhielt ich später die Auskunft, daß sich die Frau der besten Gesundheit erfreue.

Der chronische Gelenkrheumatismus.

Der akute Gelenkrheumatismus ist geradezu das Schulbeispiel einer akuten Krankheit mit heftiger Gegenwehr, unter Fieber, Stillegung aller anderen Körperfunktionen zugunsten der Heilfunktion, alles eingestellt auf einen wilden, aber normalerweise kurz dauernden Kampf zwischen Körper und Krankheitsstoff. Der chronische Gelenkrheumatismus dagegen ist der Typ der chronischen Erkrankung mit schleichendem Verlauf, ohne Fieber, mit geringeren und hauptsächlich durch die Erschwerung der Gelenkbewegung hervorgerufenen Schmerzen, das Beispiel eines besiegten Körpers, welcher sich widerstandslos in die Macht des Feindes gegeben hat und aus sich selbst nicht mehr gesunden kann.

Das akute Gelenkrheuma ist geradezu eine Krankheit des jugendlichen Menschen, weil der Organismus nur in seiner vollen Kraft die gleichwertige Reaktion gegenüber der Schädlichkeit aufbringt. Daraus erklärt es sich, daß nach Lebert 92% der ersten Anfälle in einem Alter unter 30 Jahren eintreten, während eine andere Statistik von Church (auf vorhergehender Seite graphisch dargestellt) 83 % für dieselben Altersstufen ergibt.

Der chronische Gelenkrheumatismus dagegen ist im Gegensatz zum akuten mehr eine Krankheit des vorgerückten Alters, in welchem der Körper die jugendliche Gegenwirkung nicht mehr aufbringt. Aber auch in dem kräftigsten Alter kann er durch die unnatürliche Dämpfung des akuten Leidens mit Medikamenten und kaltem Wasser entstehen. In diesem Falle wiederholtes Aufflackern des hochschmerzlichen akuten Prozesses und schließlich allmählicher Übergang in den schleichenden Verlauf.

Fuß mit infolge von chronischem Gelenkrheumatismus verkrümmten Zehen.

Noch häufiger aber beginnt diese Krankheit jenseits der Jugendjahre als Folge von weniger starken, aber lange dauernden und häufig wiederholten Erkältungen. Weil hauptsächlich die ärmere Bevölkerung diesen wiederholten Erkältungen, Durchnässungen, Wohnen und Arbeiten in feuchten Lokalitäten (Neubauten und Kellerwohnungen) ausgesetzt ist, so stellt diese die Hauptmasse der chronischen Rheumatiker.

Wie schon erwähnt, zeigen Schleimhäute und seröse Häute, wie die Gelenkhaut, die Eigentümlichkeit, daß sie sich bei langdauernder Erkrankung allmählich in Bindegewebe verwandeln und ihre Funktion, welche in der Absonderung von schleimigen Flüssigkeiten besteht, einstellen. Der Erfolg ist, daß das Gelenk, ebenso wie ein Maschinenlager, welches man nicht mehr schmiert, rauh wird. Der glatte Gelenkknorpel wird dann im Laufe der Zeit faserig und rissig. Die Bewegungen erzeugen dann, je nach der Beschädigung des Knorpels, ein Geräusch, wie wenn man Samt oder knisternde Seide oder trockenes Leder gegeneinanderreibt, oder bei gröberen Defekten ein vernehmliches Knarren oder Knirschen.

An der Klinik in Kiel verteilten sich nach einer Statistik von Edlessen die Gelenkrheumatiker auf die verschiedenen Altersstufen, wie auf der Abbildung angegeben.

Wenn die Gelenkkapsel durch einen anfänglichen Flüssigkeitserguß ausgeweitet wurde, so ist schließlich der exakte Sitz von Gelenkkopf und Gelenkpfanne, welche ganz genau zusammenpassen und durch die straffe Gelenkkapsel zusammengehalten werden, nicht mehr vorhanden. Die Gelenkverbindung wird lose, weshalb Verzerrungen und Verrenkungen an der Tagesordnung sind.

Die Zotten der Synovialhaut wuchern, solange sie sich in einem Entzündungszustand befinden, in das Gelenk hinein und überziehen seine Fläche oftmals vollständig, so daß es zu Verwachsungen mit den umliegenden Weichteilen kommt, während durch Verklebung der Gelenkhaut allmählich die ganze Gelenkhöhle verschwinden kann. In einem weiteren Stadium kommt es dann zur Schrumpfung und Verdickung der Gelenkkapsel, welche die Gelenkenden stark zusammenpreßt. Hochgradige Steifigkeit und schließlich Unbeweglichkeit ist die unvermeidliche Folge.

Durch Abschliff der Knochen, durch Reizung des Knorpels können alle möglichen Verunstaltungen entstehen, ja, es kann sich eine ganz fehlerhafte Stellung der Knochen zueinander herausbilden.

Man weiß schließlich nicht, soll man mehr diejenigen bedauern, welche noch gehen und mit den Händen arbeiten können, aber bei jedem Schritt vor Schmerz jammern, oder jene, bei denen die Schmerzen erloschen sind, die aber ihre Bewegungsfähigkeit eingebüßt haben und infolge der abnormen Stellung der Knie unfähig zum Gehen sind und wegen der Steifigkeit der Ellbogen und Schultern ihre Hände nicht einmal zum Munde führen können und gänzlich auf fremde Hilfe angewiesen sind.

Mit der Verschlechterung der Gelenkfunktion geht sehr bald die Atrophie, das Schwinden der dazu gehörigen Muskelgruppen, einher, welche der Schmerzen oder auch der Versteifung wegen nicht mehr gebraucht werden. Das aufgetriebene Gelenk sticht dann noch mehr ab von der armseligen Muskulatur, als dies normalerweise der Fall wäre.

Versteifung der Gelenke. In dem abgebildeten Fall (nach Weisz) sind beide Hüftgelenke versteift, was den aufrechten Gang unmöglich macht.

In bezug auf die Komplikationen ist das Bild allerdings günstiger als bei der akuten Krankheit, denn in dem gealterten Körper sind die serösen Häute nicht mehr so empfindlich wie im jugendlichen, weshalb die Folgeerscheinungen seitens des Herzens, der Gehirnhäute, des Bauch- und Rippenfells, falls nicht aus dem akuten Stadium herübergenommen, wenig zu fürchten sind.

Der chronische Gelenkrheumatismus ist nicht nur eine Krankheit der Armen, Erschöpften und im Keller Wohnenden; er kommt auch ebenso bei den wohlhabenden Leuten, die in lichten Wohnungen ihr Leben verbringen, vor, und zwar oftmals auf der Grundlage der erblichen Belastung.

Ich will einen derartigen Fall aus meiner Praxis erzählen.

Eine Schauspielerin, welche, obwohl erst 35 Jahre alt, die Rollen der komischen Alten spielte, kam eines Tages zu mir wegen eines Fingerleidens. Die Untersuchung der Finger, besonders der rechten Hand, ergab, daß die Gelenke geschwollen waren und ein spindelförmiges Aussehen angenommen hatten. Die Haut über den kranken Stellen war bläulich gefärbt. Bei dem Druck auf die geschwollenen Teile spürte man einen elastischen, prallen Widerstand, welcher augenscheinlich von einem Flüssigkeitserguß in die Gelenkhöhle wie auch von einer Schwellung der benachbarten Gewebe herrührte. Auch die Sehnenscheiden und Schleimbeutel waren erkrankt. Der Daumen war, wie gewöhnlich, frei. Bei der Bewegung der einzelnen Finger fühlte man einen Widerstand, wie wenn trockenes Leder aufeinander gerieben würde.

Durch chronischen Gelenkrheumatismus deformierte Hand.

Hauptsächlich aus kosmetischen und Eitelkeitsgründen zu mir gekommen, war sie wenig erfreut, als ich ihr schonend eröffnen mußte, daß sie in dem Zustand ihrer Hand die Vorboten einer recht lästigen Krankheit erblicken müsse. Bei einigem Nachdenken erinnerte sie sich an ein rheumatisches Reißen im Rücken, das sie vor mehreren Jahren gehabt hatte, und weshalb sie kurz in Behandlung gewesen war. Auch gab sie an, längere Zeit ein lästiges Prickeln und Taubheitsgefühl in den Fingern der rechten Hand verspürt zu haben, was sie aber gar nicht weiter beachtet hatte.

Als ich sie aufmunternd ersuchte, mir die kleinen Störungen ihrer Gesundheit, auch wenn sie anscheinend mit dem Leiden nicht in Verbindung stünden, näher zu schildern, erzählte sie mir, daß sie gegen Erkältung empfindlich sei und oft von Schluckweh, verbunden mit Ohrenstechen, geplagt werde. Früher habe sie an Migräneanfällen gelitten, welche jedoch seit einigen Jahren nicht mehr aufgetreten seien. Jetzt litte sie manchmal unter schwermütigen, weltschmerzlichen Stimmungen, für welche sie keinen Grund anzugeben wüßte, da sie in ihrem Beruf die besten Erfolge zu verzeichnen habe.

Solche Zustände sind sehr oft die Vorboten und Anzeichen des beginnenden Gelenkrheumatismus. Ist ja die gute Laune überhaupt der beste Barometer, welcher einen vollkräftigen Körper mit gesunden Funktionen ankündet, so zeigt umgekehrt eine trübe Gemütsstimmung an, wenn ein schleichendes Übel daran ist, die geregelte Ordnung des Körpers zu stören. Anderseits können Sorgen auch den Anlaß zu rheumatischen Nachschüben geben.

Einen Anfall von akutem Gelenkrheumatismus hatte sie nie gehabt; für Syphilis, Tripper oder Tuberkulose, die Ursachen der eitrigen Gelenkentzündungen, war kein Anhaltspunkt da. Wie es mir schien, müßte sie auch, so unkontrollierbar ihre Angaben waren, im Laufe der letzten Zeit einzelne leichte Fieberanfälle gehabt haben, was öfters von den Klinikern bei chronischem Gelenkrheumatismus beobachtet wird.

Die Dame kam in sofortige Heißluftbehandlung. Das rheumatische Leiden konnte durch ausdauernde Therapie zum Stillstand gebracht und das Schreckensgespenst jenes bekannten und berüchtigten chronischen Gelenkrheumatismus, soweit sich dies bis heute beurteilen läßt, rechtzeitig gebannt werden. Auch ich war, obwohl ich in der Heißluftbehandlung eine vielseitige Erfahrung besitze, ganz erstaunt, als ich sah, wie die lebensmüde Frau ihren allen Theaterbesuchern bekannten Humor wieder gewann und geradezu neu auflebte.

Röntgenbild einer Hand mit Verkrümmungen infolge von chronischem Gelenkrheumatismus.

Der Gelenkrheumatismus ist, wie wir gesehen haben, eine schwere Erkrankung. Zumal wenn er ins chronische Stadium übergegangen ist, in welchem die Natur dem weiteren Fortschreiten des Leidens nicht mehr den genügenden Widerstand entgegensetzt, müssen wir unsere bessere Erkenntnis ausnützen, um die Abwehr seitens des Körpers nach Möglichkeit aufzustacheln und zu unterstützen. Wenn es dann gelungen ist, der Krankheit Einhalt zu tun, wozu auch ein wenig Mut und der feste Wille gehört, lieber einmal Schmerzen zu ertragen, als auf Kosten der Zukunft diese mit Beruhigungsmitteln für den Augenblick zu vertreiben, so ist die Frage der Vorbeugung von großer Wichtigkeit.

Meiner Auffassung nach ist mit dem üblichen Rat der Ärzte in solchen Fällen, der Kranke möge unter günstige klimatische Verhältnisse gebracht werden, oder man soll jederzeit für eine den Witterungsänderungen angepaßte Bekleidung sorgen, nichts gedient. Mit solchen Ratschlägen wälzt der Arzt bloß die Verantwortung von seinen eigenen auf die ohnedies belasteten Schultern des Kranken. Daß diese Behauptung der objektiven Wahrheit entspricht, geht schon daraus hervor, daß es einerseits nur wenigen Menschen möglich ist, ihr Leben unter einem ihrer Gesundheit entsprechenden Klima zu verbringen, andererseits ist die »entsprechende Bekleidung« ein sehr weiter, dehnbarer Begriff. Ich pflege deshalb meinen Kranken keine allgemeinen Ratschläge zu erteilen, sondern empfehle ihnen stets eine ihrem jeweiligen Gesundheitszustand angemessene, praktisch durchgeführte Abhärtung des Körpers.


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