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Neuralgien, zu deutsch Nervenschmerzen, nennt die Medizin die Schmerzhaftigkeit bestimmter Nerven und Nervengebiete, wobei sich die Schmerzempfindungen genau entlang dem anatomischen Verlauf der Nerven ausbreiten. Damit soll nicht gesagt sein, daß sich der Schmerz gerade auf den Verlauf eines Nerven zu beschränken braucht, sondern er kann auch auf benachbarte Gebiete hinüberstrahlen. Dieser Begleitschmerz ist wie die Obertöne eines Grundtons. Wenn ich auf dem Klavier einen Ton anschlage und ausklingen lasse, so hört man beim aufmerksamen Hinhorchen eine ganze Anzahl von Saiten mitklingen, welche nicht angeschlagen wurden. Ganz ähnlich verhält es sich mit den in der Nachbarschaft des kranken Nerven wahrnehmbaren Schmerzgefühlen.
Ebensowenig wie beim Muskelrheumatismus findet man an den schmerzhaften Nerven irgendeine anatomische Veränderung im Gegensatz zur sogenannten Neuritis, der Nervenentzündung, bei welcher der Nerv selbst erkrankt ist. Wenn der Schmerz »ein Signal der Gefahr«, »ein Schrei der Nerven« ist, wie Goldscheider ihn nennt, so ist sein Sinn bei der Neuralgie wohl der, daß er uns anzeigt, daß irgend etwas Giftiges sich in den Säften des kranken Körperteils herumtreibt. Bei der Erkältung ist es das Erkältungsgift, über welches ich Ausführlicheres schon im zweiten Kapitel dieses Buches geschrieben habe. In Analogie mit dem Rheumatismus werden Neuralgien nicht nur durch das Erkältungsgift, sondern auch bei Gichtkranken durch Harnsäure, wie auch durch chemische und Bakteriengifte erzeugt – bei Alkoholikern, Syphilitikern, Influenzakranken, Blei- Quecksilber-, Arsenikarbeitern usw.
Die nahe Verwandtschaft der Neuralgie mit dem Muskelrheumatismus, nicht nur der Entstehung nach, sondern auch nach dem ganzen Krankenbilde, ist ohne weiteres klar. Wir sahen schon beim Hexenschuß die Ähnlichkeit mit der Ischias (Hüftnervneuralgie). Ist doch nach Schmidt in 46 %, also fast der Hälfte aller Ischiasfälle, ein Hexenschuß vorhanden oder vorausgegangen. Ein Teil der modernen Rheumatismusspezialisten geht so weit, den Muskelrheumatismus als eine Neuralgie der Nervenwurzeln anzusprechen. Das hieße, daß es sich bei beiden Krankheiten nur um den Unterschied im Verlauf, nicht im Wesen der gleichen Erkältungskrankheit handle. Der Laie, der zum Arzt kommt und über Rheumatismus klagt, wird oft belehrt, er habe Neuralgie, während ein anderer, der mit wütendem »Nervenreißen« vorspricht, als Rheumatiker eingetragen wird. Die ganze Unterscheidung, welche sich nur daran klammert, ob der ganze Verlauf des Nerven schmerzhaft ist oder einzelne Stellen auf Muskeldruck, hat etwas Künstliches. Nachdem aber nun einmal der Name Neuralgie für verschiedene Krankheitsbilder festliegt, wollen wir hier nicht Reformen einführen, sondern die übliche Einteilung beibehalten. Für die Heilung ist jedenfalls die Ähnlichkeit und das oftmalige Zusammenfließen der beiden Krankheiten gleichgültig.
Vielleicht könnte man mit Recht sagen, als Neuralgie wäre jene schärfere Form des Muskelrheumatismus zu bezeichnen, welche nicht nur einzelne Teile des Nerven, sondern diesen im ganzen Verlauf ergriffen hat, weshalb die Neuralgie noch viel schmerzlicher sein kann als das Muskelrheuma. Es gibt Fälle, wo Menschen auf der Straße zusammenbrechen gelegentlich eines derartigen Anfalles. Übrigens ist der heftigste Schmerz, mit welchem jedenfalls ein Verbrauch von Nervenspannkräften verbunden ist, niemals ein andauernder, sondern er kehrt periodenweise wieder, ebenso wie der Leuchtturm nur sekundenweise aufblitzt, um den Schiffer zu warnen.
Sehen wir an einem besonders interessanten Fall, wie weit dieses Leiden den Menschen bringen kann. Es handelt sich dabei um eine Neuralgie des dreigeteilten Gesichtsnerven (Trigeminusneuralgie), nächst der Ischias die meistverbreitete Art dieser Erkältungskrankheit.
Ein Kronzeuge dafür, wie derartige Neuralgien unmittelbar auf Kälteeinwirkungen entstehen können, ist der berühmte Mediziner Wilhelm von Leube(1901). Auf einer Reise, die er vollkommen gesund antrat, hatte er eine Stunde lang im offenen Wagen gegen einen ganz ungewöhnlich starken, eisigen Nordwind zu fahren. Er verwahrte sich dagegen so, daß er eine Kapuze vollständig über das Gesicht zog und dabei nur einen kleinsten Teil der Stirn über dem linken Auge und dieses selbst freiließ. Während der Fahrt empfand er den scharfen, kalten Wind an der bloßliegenden Hautstelle äußerst unangenehm. Als er nach einer Stunde aus dem Wagen stieg, fühlte er heftige Schmerzen über dem linken Auge und war von da ab mit einer regelrechten Neuralgie des oberen Trigeminusastes behaftet, die sich erst nach mehreren Monaten allmählich verlor. Diese ganze Beobachtung ist deswegen so interessant, als sie von einer ersten medizinischen Autorität am eigenen Körper gemacht wurde und den offenkundigen Beweis liefert, daß der Abkühlung einer Körperstelle die Neuralgie auf dem Fuße folgen kann, was auch der Erfahrung entspricht, daß durch langes Liegen von Eisbeuteln oft Neuralgien entstehen.
Die starke Abhängigkeit der Neuralgien von der Erkältung wird auch dadurch bewiesen, daß nach Valleix (1841) und Bernhardt (1895) vier Fünftel aller schweren Gesichtsneuralgien in den Monaten der kalten Jahreszeit zum Ausbruch kommen.
Ein Drittel aller Neuralgien fällt auf das Gesichtsnervengebiet, ein Drittel etwa verteilt sich auf die Nerven des Rumpfes und der oberen Extremitäten, während ein weiteres Drittel auf die Ischias entfällt.
»Ischion« ist das griechische Wort für Hüfte, so daß man also Ischias mit Hüftweh übersetzen muß.
Der Ischiasnerv zieht von seinem Austritt aus dem Becken, in der untersten Gesäßgegend, nach abwärts, auf der Hinterseite des Oberschenkels zum Knie, teilt sich hier in zwei Äste, die noch den Unterschenkel und Fuß mit Gefühlsnerven versorgen.
Entsprechend diesem Verlauf können die Schmerzen auftreten. Einige Ischiatiker klagen nur über Schmerzen im Gesäß, andere haben eine Neuralgie des ganzen Nerven, dann bleibt an der befallenen unteren Extremität nur Vorder- und Innenseite des Oberschenkels, Innenseite des Unterschenkels und innerer Fußrand (das Gebiet anderer Nerven) frei von Schmerzen. Bei anderen wieder schmerzt nur der Oberschenkel. Besonders Unglückliche leiden an Ischias beider Beine.
Seeleute, Offiziere, Soldaten, Wasserarbeiter, Wäscherinnen stellen einen großen Teil der Ischiatiker. Welcher Militärarzt hatte nicht seinen »Ischiasmajor« in Behandlung!
In meiner Eigenschaft als Schiffsarzt hatte ich oft Gelegenheit, Ischias zu studieren. Ein sonnverbrannter Matrose des früheren österreichischen Lloyd ist mir besonders im Gedächtnis geblieben. Sein Leiden hat damit begonnen, daß er eines Tages an einer Stelle in der Kreuzgegend dumpfe Schmerzen verspürte. Er achtete das wenig und meldete sich nicht zum Arzt. Wie er mir später erzählte, hatte er das Gefühl, daß er sich Tags vorher irgendwo angestoßen habe. Als der Schmerz nicht vorüberging und der erwartete »blaue Fleck« nicht kam, als noch dazu die hintere Fläche des Oberschenkels schmerzhaft wurde, wurde er ängstlich und kam zu mir. Ich vermutete Ischias. Schon am anderen Tage bestätigte sich meine Diagnose.
Der Mann hatte einen »Blitz« durch das ganze Bein gespürt, der in kurzen Pausen immer wieder kam. Er lag in der kleinen Krankenkabine unseres Dampfers, die dumpf und voll Teergeruch war, steif und starr, wie an einen Marterpfahl gebunden. Denn er behauptete, jede Bewegung und jedes Berühren löse den »Nervenblitz« wieder aus. Er hatte gleichzeitig einen leichten Bronchialkatarrh und empfand das Husten und Niesen infolge der damit verbundenen Muskelspannung im kranken Bein als sehr schmerzhaft.
Der Kranke konnte genau mit dem Finger die Bahn angeben, welche der Schmerz verfolgte, nämlich durch die Hinterbacke auf die hintere Fläche des Oberschenkels, zur Kniekehle hinab, an der Außenseite des Unterschenkels bis zum Fußrücken.
Die große Anhänglichkeit der Ischias, die unter allen Neuralgien am häufigsten immer wiederkehrt, hat sich hier nicht eingestellt. Die kräftige Natur des Patienten und insbesondere das mit dem Leiden verbundene Fieber, welches ich für die beste Garantie dafür halte, daß der Körper in lebhafter Abwehr gegen die Erkältungs- oder sonstigen Gifte begriffen ist, gaben mir die Hoffnung, daß es hier beim erstmaligen Anfall bleiben würde. Nach 14 Tagen war der Matrose infolge der eingeleiteten Wärmebehandlung schmerzfrei, was ich ihm als großes Glück vorstellte, als ich ihn nach Jahren gesund und munter wieder traf. Denn wenn es Krankheiten gibt, welche geeignet sind, dem Menschen das Leben zur verbittern, indem sie ihn »schmerzinvalid« machen, so gebührt unter diesen der Ischias eine hervorragende Stelle.
Markante Fälle von Ischias habe ich auch während meiner Gefangenschaft beobachtet.
Wir waren meistens in sehr luftigen Baracken untergebracht, und der Kohlenmangel der Welt machte sich damals auch schon in England, zum mindesten an uns Kriegsgefangenen, bemerkbar.
Ein Kapitän zur See war einer meiner eindringlichsten Patienten. Obwohl ihn der englische Lagerarzt mit Aspirin gewissermaßen fütterte, zeigte das Leiden des Ischiatikers keine Besserung. Der englische Arzt hatte in jenem Lager übrigens den Spitznamen »Number 9«, weil er meistens dem Sanitäter, der ihn auf seinen Gängen begleitete, » Number nine« zurief, das hieß »Aspirinbehandlung«.
Der Seeoffizier behauptete, niemals früher an Ischias gelitten zu haben. Er führte sein Martyrium auf das lange, kalte Bad zurück, das er vor seiner Gefangenschaft genommen hatte; er war nämlich bei der Versenkung seines U-Bootes durch den Feind ins Wasser gesprungen und erst nach einer Stunde aufgefischt worden. Der erste Anfall zeigte sich jedoch erst ein halbes Jahr später, und es ist fraglich, ob das Bad oder die Barackenzugluft daran schuld war. Dazu kam, daß der Offizier früher starker Alkoholiker gewesen war, und Alkoholiker sind besonders widerstandslos gegen die Ischias. Zudem förderte die Unterernährung, an der wir damals alle litten, die Disposition zu besonderer Empfindlichkeit des Patienten, eine Erfahrung, die man bei allen Kriegsrheumatikern und -neuralgikern machen konnte.
Unser U-Bootskapitän führte die ersten Beschwerden auf Turnschmerz zurück. Er hatte wenige Tage vor dem erstmaligen Auftreten der Krankheit einen Dauerlauf im Lagerhof gemacht und wunderte sich sehr über seinen Mangel an Training, als ihn plötzlich Becken und Beine schmerzten. Als nach einigen Tagen der vermeintliche Turnschmerz nicht verging, glaubte er, eine Verzerrung zu haben. Der englische Arzt gab ihm »Number 9«. Der Schmerz verschwand, wie oftmals bei dem trügerischen Mittel, während das Leiden im Untergrunde fortbestand. Aber eine Woche darauf brach die Ischias mit voller Deutlichkeit aus. Und nun folgten trotz »Number 9« die Anfälle mit einer gewissen Regelmäßigkeit. Gegen Kälte war er sehr empfindlich. Schon die Entblößung des kranken Beins bewirkte ein Vertaubungsgefühl in demselben. Überhaupt klagte er über eine häufig auftretende Gefühllosigkeit in der Fußsohle, ein Gefühl des Pelzigseins, weshalb er Angst hatte, sein Leiden rühre von einer Erkrankung des Rückenmarks her.
Fast jeden Monat lag der Offizier eine Woche lang im Revier, und auch zu anderen Zeiten, in den Intervallen der chronischen Ischias, hatte er ein dumpfes Gefühl im Gesäß und Oberschenkel. Dieses wunde Gefühl ist schwer zu beschreiben. Ich habe schon viele meiner Patienten näher darüber gefragt. Es scheint am besten mit dem dumpfen Gefühl vergleichbar in einem kranken Zahn, bevor dieser lebhaft zu schmerzen beginnt.
Interessant ist übrigens die Beobachtung, welche der Kapitän an sich selbst machte, daß nämlich das Eintreten eines gewöhnlichen Schnupfens, Nasenkatarrhs, ihm große Erleichterung in seinen Schmerzen, ja das Aufhören derselben während der Dauer des Schnupfens brachte. Diese Entdeckung hatte zur Folge, daß er, um seinen Schmerzen zu entgehen, alle möglichen Versuche machte, sich künstlich zu erkälten, indem er sich nasse Tücher um die Stirn wand und sich dem Luftzug aussetzte. Ein Verfahren, welches ihm, wenn der Schnupfen tatsächlich erschien, einige schmerzfreie Tage einbrachte. Man kann daraus entnehmen, wie lästig die dauernden Schmerzen der Ischias sind, daß der Kapitän die Beschwerden eines kräftigen Nasenkatarrhs mit Kopfweh, Benommenheit und Fieber als nichts erachtete gegenüber den Schmerzen im Bein.
Die Furcht vor neuen Anfällen machte ihn ängstlich und bewegungsscheu. In diesem Umstand liegt nicht nur bei der Ischias, sondern auch bei allen anderen Rheumatismen und Neuralgien eine ernstliche Gefahr für den Gesundheitszustand der davon Ergriffenen, denn der andauernde Mangel an Bewegung schädigt den ganzen Körperbetrieb.
Ich konnte, selbst gefangen, nichts für ihn tun, als für Warmhaltung sorgen und eine Bewegungs-, Übungs- und Schonungstherapie einleiten. Ein heikles Kapitel bei allen Rheumatismen und Neuralgien schwererer Art! Ich konnte bei ihm bereits eine merkliche Abmagerung des rechten Beines konstatieren, denn allzu große Stillegung des erkrankten Gliedes führt leicht zur Schwächung, Lähmung, ja vollständigen Invalidisierung; daher muß für Bewegung gesorgt werden. Die Bewegung wiederum schmerzt oder ängstigt, weil die Auslösung einer Attacke befürchtet wird. Gehen doch solche Patienten auch in gesunden Tagen wie auf Glatteis. Es besteht deshalb die Notwendigkeit, weder die Schonung noch die Bewegung zu übertreiben.
Das Bestreben, die Muskulatur des kranken Beines möglichst zu entlasten, um die Schmerzen zu verringern, führt dahin, daß der Patient auf der kranken Seite nur mehr ganz vorsichtig auftritt, indem er das Knie beugt und auf den Zehen geht. Dadurch entsteht ein eigentümlicher, gezierter Gang, welcher dem Arzt schon von weitem die Art des Leidens verrät. Diese Änderung des Gleichgewichtes beim Gehen und Stehen führt in schweren Fällen allmählich zu einer Verkrümmung des Rückgrats, von welcher auch bei dem Kapitän schon Anzeichen zu sehen waren.
Von dem berühmten Ästhetiker Friedrich Vischer kursiert folgende Anekdote: Vischer, der viel von der Ischias geplagt war und sich auf der Straße von einem Freunde führen lassen mußte, sah gerade von der anderen Seite den Stuttgarter Prälaten Kapff daherkommen, der an demselben Übel litt, jedoch mit dem Unterschiede, daß er nach rechts gekrümmt ging, Vischer dagegen nach links. »Sieh,« sagte Vischer, »da kommt der Kapff her, führ' mich dicht an ihm vorüber, das gibt dann einen richtigen österreichischen Adler.«
Unser Kranker, der schließlich sich und den Mitbewohnern seiner Baracke zur Qual geworden war, wurde endlich von einer neutralen Ärztekommission in die Schweiz gesandt, so daß er mir eine Zeitlang aus den Augen kam. Später, als ich ihn zu meiner großen Freude gesund wiedertraf, erzählte er mir, daß er dort durch eine systematische Heißluftbehandlung baldigst geheilt worden war.
Das letzte Drittel der Neuralgien verteilt sich auf die übrigen Empfindungsnerven des Körpers.
Manche hängen wohl mit besonderer Beanspruchung der betreffenden Region zusammen. So scheint angestrengte Tätigkeit des Armes eine Neuralgie desselben zu begünstigen. Ich erinnere daran, daß wir schon beim Muskelrheumatismus einen derartigen Fall besprachen, welcher bei den Erdarbeitern am Nordostseekanal häufig auftrat.
Einen Fall von Armneuralgie sah ich bei einem bekannten Berliner Kunstmaler. Er trug den rechten Arm in einer Schlinge und behauptete, gelähmt zu sein. Das Leiden bestand schon längere Zeit. Der ganze Arm war abgemagert, und die Haut der Finger hatte einen eigentümlichen Glanz. Ich sah schnell, daß von einer Lähmung keine Rede war. Wohl aber bestand eine heftige Armneuralgie, so daß der Kranke sich überhaupt nicht mehr getraute, Bewegungen damit auszuführen.
Eine Nervosität schlimmster Art war die Folge seiner Erkrankung. Er behauptete, da der rechte Arm gelähmt sei, so sei er »ruiniert«, er müsse nun erst lernen, links zu malen.
Nach seiner Beschreibung begann die Krankheit nach einer Erkältung mit Kribbeln, Jucken und Zittern der rechten Hand. Sehr oft fangen Neuralgien so an, und das Jucken ist wohl das leiseste Anfangsstadium jenes Signals »Schmerz«. Natürlich wird dieser geflüsterte Warnungsruf der Natur selten beachtet. Schließlich wurden die Schmerzen so heftig, daß der Kranke den Arm überhaupt nicht mehr zu bewegen getraute. An eine Arbeit war gar nicht mehr zu denken, so daß die Hypochondrie des berühmten Mannes, der seine ganze Zukunft zusammenstürzen sieht, begreiflich erscheint.
Glücklicherweise reagierte sein Leiden prompt auf die Behandlung und heilte schnell. Auch dieser Fall zeigt, daß beruflich besonders beanspruchte Körperteile gegen das Erkältungsgift am wenigsten widerstandsfähig sind.
Zu einer weniger glücklichen Heilung kam es bei einem Fall von Zwischenrippenneuralgie (Interkostalneuralgie), den ich bei der Frau eines Schusters beobachtete. Zwischen allen Rippen verlaufen Nerven, die neuralgisch erkranken können. In unserem Fall handelte es sich um die Erkrankung jenes Nerven, der die Brustdrüse versorgt. Diese Neuralgie ist so häufig, daß die Medizin einen eigenen Namen für sie hat (Mastodynie oder Mammaneuralgie). Wie alle Neuralgien, kann sie leicht mit einem entsprechenden Rheumatismus, in diesem Fall mit einem Rheuma der Brustmuskulatur, verwechselt werden.
Nach längerer Kur gelang es mir, das hartnäckige Leiden bis auf geringe Spuren zu beseitigen, ohne das letzte und verzweifelte Mittel anzuwenden, das sie mehrmals erbeten hatte: die operative Abtragung der ganzen schmerzenden Brustdrüse.
Neuralgische drängen ja oft zur Operation. Sie wollen lieber »alles weggeschnitten haben«, als noch länger leiden. Dabei handelt es sich um Ausreißung, Dehnung, Abtragung von neuralgischen Nervenästchen, welche dem Chirurgen erreichbar sind. Hat man doch bei ganz verzweifelten Fällen von Gesichtsneuralgie sogar schon zur Schädelöffnung gegriffen, um den Nervenknoten (das Ganglion Gasseri), den Ursprungsort des Trigeminusnervs, herauszuschneiden und so eine weitere Schmerzmeldung an das Gehirn unmöglich zu machen. Ich glaube, daß eine derartige verzweifelte Operation nie nötig sein würde, wenn man die Krankheit sachgemäß behandelt und durch Abhärtung und Besserung der Konstitution neuerliche Schädigungen verhindert.
Eine Neuralgie, die man fast als »Büroneuralgie« ansprechen darf, ist die Hinterhauptsneuralgie. Man trifft sie sehr oft bei Schreibern und Büroarbeitern. Der dumpfe und ziemlich oberflächliche Druck, den so viele Büromenschen auf dem Nachhausewege am Abend im Hinterhaupt verspüren, mag in vielen Fällen schon eine Neuralgie des Hinterhaupts darstellen. Sie entsteht hauptsächlich als Folge von Erkältungen, aber auch andere Gifte außer dem Erkältungsgift können, wie bei allen Neuralgien, ähnliche Erscheinungen hervorbringen. Ich fand bei einer Massenuntersuchung von Ersatzreservisten, bei der ich zu persönlichem Zweck eine Neuralgienstatistik zusammenstellte, sieben Fälle von Hinterhauptsneuralgikern, von denen sechs Schreiber, Büroarbeiter oder Beamte waren. Wir haben es also auch hier mit einer Beschäftigungsneuralgie zu tun, bei welcher sich der Krankheitsstoff einen überarbeiteten Körperteil als Ort verminderter Widerstandskraft heraussucht.
Da die verschiedensten Nerven von der Neuralgie ergriffen werden können, so ist es unmöglich, auf dem beschränkten Raum alle Formen im einzelnen zu besprechen.
Kurz sei noch erwähnt die Lendenneuralgie, bei welcher der Schmerz im unteren Teil des Rückens, in der vorderen Bauchwand und den Geschlechtsteilen seinen Sitz hat. Wie bei allen Neuralgien können die Schmerzen konstant sein oder in Anfällen auftreten. Als Begleiterscheinung zeigt sich oft ein Bläschenausschlag (Herpes) auf den befallenen Gebieten. Außerdem gibt es noch Neuralgien des Samenstranges und der Hoden, der Eierstöcke, des Mastdarms, der Achillessehne (jener kräftigen Sehne hinten am unteren Teil des Beins, die sich an der Ferse anheftet) und weiter eine schier endlose Zahl von Neuralgien der verschiedensten Gefühlsnerven.