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Siebentes Kapitel.

»He is nich dor!« – Die Malayen! – Luciens Traum. – Gefangen. – »Sie kommen!« – Ein seltsames Dokument. – »Was soll ich tun?« – Vater und Sohn in der Gewalt der Seeräuber. – Der Doktor als Retter. – Sechzehn gegen zwei. – Was donnert da in der Ferne? – Flucht. – Der »Paladin«.

 

Die Bewohner des Forts begaben sich an jenem Abend zur gewohnten Stunde, um zehn Uhr, zur Ruhe und lagen, von des Tages Arbeit ermüdet, bald in tiefem, gesundem Schlaf. Niemand war in Sorge über den Verbleib des Schiffers. Eisenlohr und Cellarius hatten, ehe sie eintörnten, noch einmal ins Wetter geschaut; sie zweifelten nicht daran, daß es Sturm geben würde, aber sie waren überzeugt, daß Keppen Lüdemann nicht der Mann sei, der sich davon überraschen ließe; auch war er bereits so lange fort, daß er jede Minute wieder zurück sein mußte. Und so suchten sie ihre Kojen auf, ohne etwas Schlimmes zu ahnen.

Niklas und Gehrke waren die ersten, die aus dem Schlafe fuhren, als der Orkan über das Eiland herbrach, da ihr Schlafraum auf der Wetterseite des Forts lag.

»Oha!« sagte der letztere, »dat weiht jo, dat söben ohle Wiwer keen Bessensteel fasthollen künnen! Junge, Junge, wo bün ick froh, dat ick jetzt keen Wacht an Deck to gahn bruk!«

»Dat mögen Se woll seggen, Stüermann,« erwiderte Niklas, sich aufrichtend. »Mi wunnert man, dat Keppen Lüdemann so ruhig slapen doon deit. Hewwen Se em torügg kamen hören?«

Als Gehrke dies verneinte, verließ Niklas sein Lager und trat an des Schiffers Koje heran.

»Schlafen Sie, Kaptein?« fragte er.

Keine Antwort. Draußen kreischte und schmetterte der Sturm um die Ecken des Gebäudes. Niklas streckte die Hand aus – die Koje war leer.

»He is nich dor!« rief er tief erschrocken.

»Allmächtiger! Wenn er vor dem Sturm nicht mehr binnen gekommen ist, dann ist er verloren!« sagte Gehrke, aus seiner Koje springend.

Sie schlüpften hastig in die Kleider, eilten in den Hof hinaus und zur Tür des Zimmers, in welchem der Ingenieur mit Frau und Kind wohnte. Sie pochten ihn heraus und meldeten ihm, daß der Schiffer nicht im Fort sei. Eisenlohr stand wie erstarrt.

»Sind Sie schon zum Wasser gewesen?« fragte er, als der Schreck ihn Worte finden ließ.

»Nein,« erwiderte Gehrke, »wir hielten es für besser, zuerst mit Ihnen zu reden.«

»Gut; ich gehe mit Ihnen.«

Sie stiegen die Treppe zum Dach hinauf, wo sie auf allen Vieren kriechend in der Finsternis nach der Bambusleiter tasten mußten. Die aber fanden sie nicht – der Sturm hatte sie längst fortgewirbelt. Sie mußten sich daher an einer von Niklas herbeigeholten Leine hinablassen.

Darauf begannen sie die Suche nach dem Pontonfloß – wir brauchen nicht erst zu sagen, daß sie vergeblich war.

Das Licht des anbrechenden Morgens zeigte überall eine schreckliche Verwüstung. Die Feeninsel war noch ziemlich gut davongekommen, aber auf dem Festlande lagen Tausende von Bäumen in wirrem Durcheinander am Boden, viele mit der Wurzel ausgerissen, die meisten dicht oberhalb der Erde abgebrochen.

Das Verschwinden des Kapitäns – das Wort »Tod« wollte niemand aussprechen, obgleich keiner der vier Männer daran zweifelte, daß der brave, alte Seemann mit seinem Fahrzeug zugrunde gegangen sei – lastete auf den Gemütern der Insassen des Forts, und oft genug noch suchte einer oder der andre draußen den Meeresstrand ab, um zu sehen, ob der Ozean dort vielleicht den Leichnam des Vermißten angespült habe. –

Die Arbeit auf der Schiffswerft wurde mit aller Energie fortgesetzt, und in unglaublich kurzer Zeit waren die Spanten aufgerichtet und befestigt, die Planken bis zur Schanzkleidung geführt, das Deck gelegt und kalfatert und die Masten in ihren Spuren aufgestellt. Das kleine Schiffchen versprach ein Muster von Schönheit und Seetüchtigkeit zu werden, und mit Freude sahen alle dem Tage entgegen, wo es von Stapel gelassen werden würde.

Schon hatte man begonnen, die Wanten, Pardunen und Stagen anzubringen, und man rechnete damit, daß der Kutter, der den Namen »Hammonia« erhalten sollte, nur noch etwa acht Tage auf der Helling zu bleiben hätte, als an einem schönen Sonntag Eisenlohr sich mit den beiden Kindern nach dem Festland aufmachte, um mit ihnen einige von den seltsam gestalteten und prächtig gefärbten Muscheln zu sammeln, die am Meeresstrande zu finden waren. Sie sollten als Andenken an die Zeit der Verbannung mitgenommen werden, wenn man an Bord des Kutters wieder in die Zivilisation zurücksegelte.

Es war gegen Abend; die Sonne war bereits hinter den westlichen Bergzügen verschwunden. Der Doktor saß mit den beiden Damen auf dem Dach des Forts, um die frische Brise zu genießen und die Muschelsucher zu erwarten, da wurde die friedliche Stille plötzlich durch einen Schuß unterbrochen, dem sogleich noch ein halbes Dutzend weitere Schüsse folgten, und zugleich erschien hinter dem hohen Buschwerk die Spitze eines großen dreieckigen Segels.

Ein fremdes Fahrzeug im Seestrom – das war des erschrockenen Doktors erster Gedanke; der unbewaffnete Eisenlohr und die Kinder waren wahrscheinlich gerade auf der Überfahrt vom Festlande nach der Feeninsel und der Besatzung des fremden Fahrzeugs voll in Sicht – sein zweiter Gedanke, und daß das Schießen feindselig und gegen die Zurückkehrenden gerichtet gewesen – sein dritter; und alle folgten einander mit Blitzesschnelle. Und ein vierter gesellte sich sogleich dazu – die Malayen!

Es war eine lange Zeit vergangen, seit Kapitän Lüdemann vor den in diesen Gewässern herumstreifenden malayischen Seeräubern gewarnt hatte und die Furcht vor denselben war allmählich wieder eingeschlafen, ebenso die Wachsamkeit. Sollte das gefährliche Gesindel jetzt auf einmal da sein?

Cellarius sprang auf, ein kalter Schauer durchbebte ihn; er rief den Frauen hastig einige Worte zu, die beruhigend wirken sollten, aber das Gegenteil hervorbrachten, eilte die Treppe hinab in den Hof, holte sich Eisenlohrs geladenes Repetiergewehr, rief Niklas und Gehrke, die auf das Feuern aus ihrem Quartier gestürzt waren, zu, sich zu bewaffnen und ihm zu folgen, sprang wieder zum Dach hinauf, eilte die Bambusleiter hinunter und rannte in der Richtung des Wassers davon.

Er hatte auf dem durch das Buschwerk führenden Pfade kaum hundert Meter zurückgelegt, da drang das verzweifelte Angstgeschrei einer Kinderstimme – der Stimme seines Töchterchens – an sein Ohr, und gleich darauf stürzte ihm die kleine Lucie mit aufgelöstem Haar, wildstarrenden Augen und ausgestreckten Ärmchen entgegen; als sie ihn erkannte, stieß sie einen schwachen Freudenruf aus und sank dann erschöpft und fast leblos zu seinen Füßen nieder.

Kaum zehn Schritte hinter ihr kam ein Malaye in langen Sätzen daher, mit erhobenem Kris, triumphierend funkelnden Augen und gefletschten Zähnen.

Der Doktor warf sich zwischen sein Kind und dessen mordlustigen Verfolger, riß die Büchse an die Wange und drückte ab; der Malaye machte einen Luftsprung und stürzte mit durchschossenem Kopf tot zur Erde nieder.

Keuchend vor Erregung und kampfesmutig stand der Doktor schützend über seinem Kinde und wartete auf weitere Feinde; aber keiner ließ sich mehr sehen. Wohl aber erschienen Gehrke und Niklas mit schutzfertigen Gewehren auf dem Schauplatz. Sie erhielten die Weisung, vorsichtig soweit als möglich vorzudringen, zu erforschen, was aus Eisenlohr und seinem Söhnchen geworden, und dann schleunigst zum Fort zurückzukehren. Die beiden Seeleute trabten ab, Cellarius aber nahm sein besinnungslos gewordenes Kind auf und machte sich auf den Rückweg, um es seiner in tausend Ängsten harrenden Mutter zu bringen.

Die beiden Frauen schauten über die Brustwehr des Daches. Schon von weitem rief er, daß dem Kinde nichts fehle, daß es nur erschreckt worden sei und daß sein Bett bereitgehalten werden sollte.

Frau Eisenlohr glaubte daraus entnehmen zu können, daß ihr Gatte und Willy auch bald da sein würden; sie ging daher, Luciens Bettchen zu machen, und überließ es der Freundin, das Kind in Empfang zu nehmen.

»Ängstige dich nicht, liebe Marie,« sagte der Doktor leise und hastig zu seiner Frau, als er bei ihr angelangt war; »Lucie ist vor Furcht ohnmächtig geworden, aber sie wird bald wieder frisch und munter sein. Die Malayen sind da, und ich fürchte sehr, daß sie den armen Eisenlohr und seinen Sohn gefangen haben; Niklas und Gehrke werden uns Gewißheit darüber bringen. Frau Eisenlohr wird nach ihm und dem Knaben fragen; überlaß mir Lucie, geh zu ihr und bereite sie so schonend als möglich vor; ihr Frauen versteht das am besten. Sage ihr, daß wir noch nichts Gewisses erfahren hätten, daß alles aber vielleicht besser stünde, als wir fürchten. Da kommt sie schon; geh nun und sei recht liebevoll zu ihr.«

Frau Cellarius machte sich auf den schweren Gang und der Doktor verschwand mit der kleinen Lucie in seiner Wohnung.

Das Kind schlief ruhig, als seine Mutter an seinem Bettchen erschien.

»Es ist schrecklich!« sagte sie schluchzend zu ihrem Gatten. »Die arme, arme Dora! Sie versucht ja, fest zu sein, aber – o es ist unaussprechlich traurig! Mann und Kind auf einmal zu verlieren! Kann denn nichts geschehen, die beiden noch zu retten?«

»Vorläufig nichts,« antwortete der Doktor tief niedergeschlagen. »Wir sind jetzt nur drei Männer und wissen nicht, wie zahlreich der Feind sein mag. Ich muß warten, bis die beiden andern wieder hier sind, dann aber soll alles versucht werden, und es müßte sehr schlimm kommen, wenn es uns nicht gelänge, sie zu befreien.«

Die Kleine war inzwischen wieder erwacht. Sie richtete sich auf und blickte verwirrt um sich.

»Ist es schon Morgen, Mama?« fragte sie; »habe ich zu lange geschlafen? O Mama, ich habe etwas Böses geträumt! Soll ich es dir und Papa erzählen?«

»Ja, Liebchen, laß hören,« sagte der Doktor und streichelte ihr das blonde Köpfchen. »Vielleicht bekommen wir etwas zu hören, was von größter Wichtigkeit für uns sein kann,« fügte er zu seiner Frau gewendet hinzu.

»Mir träumte,« begann Lucie, »ich wäre mit Willy an das große Wasser gegangen, und wir suchten Muscheln, und Onkel Eisenlohr war auch dabei. Und dann wollten wir in dem Boot wieder nach Hause fahren. Aber da kam ein großes Schiff, da waren viele schreckliche schwarze Männer drauf, die schossen mit Gewehren, und ein Schuß traf Onkel Eisenlohr, und sein Gesicht wurde ganz blutig. Und die schwarzen Männer stiegen in ein Boot und fuhren hinter uns her, und dann stiegen wir schnell ans Land und Onkel Eisenlohr sagte zu Willy und mir, wir sollten nach Hause laufen, so geschwind wir nur könnten. Und Onkel Eisenlohr nahm ein Ruder und schlug damit die schrecklichen Männer, und ich wollte stehen bleiben, aber Willy zog mich fort und wir rannten ganz furchtbar schnell. Aber einer von den schwarzen Männern rannte uns nach, und er hatte ein langes Messer in der Hand. Und dann fiel der arme Willy hin und der häßliche Mann nahm ihn auf und – o Mama!«

Der Kleinen Augen füllten sich mit Tränen und ein Ausdruck großer Angst trat auf ihr Gesichtchen.

»War das ein Traum, Papa, oder ist das wirklich so gewesen?« fragte sie.

»Es ist wirklich so gewesen,« antwortete der Vater.

In diesem Augenblick erscholl von draußen der laute Ruf einer mächtigen Stimme. Der Doktor eilte zum Dach hinauf, lehnte sich über die Brustwehr und schaute hinab in das Abenddunkel.

»Sind Sie das, Steuermann Gehrke?« fragte er, als er direkt unter sich zwei Gestalten erblickte.

»Ja, wir sind's,« antwortete Gehrke für sich und seinen Gefährten.

Der Doktor ließ schnell die Leiter hinunter, die Männer kamen herauf und zogen die Leiter wieder auf das Dach.

»Nun?« fragte der Doktor in angstvoller Erwartung. »Was bringen Sie für Nachricht?«

»Schlimme, sehr schlimme Nachricht,« antwortete Gehrke. »Sie haben Herrn Eisenlohr und Willy gefangen, und nun quälen und mißhandeln sie den armen kleinen Bengel, anscheinend bloß um seinen Vater dadurch zu peinigen.«

Cellarius biß die Zähne zusammen und stöhnte in der Bitterkeit seines ohnmächtigen Grimmes.

»Ja, es war schauderhaft anzusehen,« nahm Niklas jetzt das Wort. »Dat arme Kind! Erst wollten wir auf die Hunde Füer gewen un denn in den Pulverdampf öwer ehr herfallen, de beiden afsniden un mit ehr weglopen. Zu gern harr ick de swarten Karnalljen die Köpp inslahn! Denken Se sich, Herr Doktor, da standen die beiden an zwei Bäum' festgezurrt, un wir mußten dat aus 'n Busch mit ansehn! Aber es waren zuviel für uns – siebenundzwanzig Mann!«

»Und außerdem hatten wir an Sie und die Damen zu denken,« setzte Gehrke hinzu. »Aber wir haben geschworen, Niklas und ich, die Sache noch heute nacht mit den Schuften auszufechten, und nun wollen wir mit Ihnen darüber Rat halten. Übrigens habe ich so viel aus den Gebärden und dem Geschnatter der Teufel entnommen, daß sie unser Fort erspäht haben und hierherkommen wollen!«

Der Doktor reichte beiden die Hand.

»Ich danke Ihnen, meine lieben treuen Freunde,« sagte er mit heiserer Stimme. »Ja, wir wollen's mit den Schurken ausfechten, aber ohne Übereilung; es steht zuviel auf dem Spiel. Niklas, besorgen Sie uns was zu essen und zu trinken, denn wir brauchen alle unsre Kräfte. Sie, Steuermann, bringen alle Gewehre und Munition herauf, damit wir die Seeräuber warm empfangen können, wenn sie sich zeigen.«

Die Befehle wurden ausgeführt. Während des Essens lugte Gehrke durch die Schießscharten. Der Mond war aufgegangen und warf seinen hellen Schein auf die ganze Gegend.

»Sie kommen!« flüsterte er plötzlich.

Die beiden andern sprangen auf, jeder sein Gewehr in der Hand. In dem Buschwerk bei dem zum Wasser führenden Pfade bemerkten sie drei schwarze Gestalten, zu denen sich schnell noch mehr gesellten, bis die Wächter auf dem Fort deren zwölf zählen konnten. Ab und zu kam einer der Malayen wie eine Schlange in dem hohen Grase und so weit die Schatten des Buschwerks und der Bäume reichten, an das schweigende Haus herangekrochen, um zu rekognoszieren, zog sich aber, als ob ihm das Ding doch zu gefährlich schiene, jedesmal eiligst wieder zurück.

Nach einer Weile setzte sich der ganze Haufe in Bewegung und zwar in einer Richtung, die zur Entdeckung der Schiffswerft führen mußte.

»Das geht nicht,« sagte der Doktor leise zu seinen Gefährten, »da müssen wir einen Riegel vorschieben, sonst stecken sie uns den Kutter in Brand. Sehen Sie den breiten Streifen Mondlicht dort auf dem Grase? Den ersten, der da hinüber will, nehme ich auf mich, den zweiten schießen Sie nieder, Steuermann, ich wieder den dritten und Sie den vierten und so fort. Niklas hält sein Feuer zurück für den Fall, daß sie auf uns losstürmen sollten; dann geben wir alle Schnellfeuer.«

Er legte an und brachte Korn und Visier in eine Linie mit dem Stamm eines jungen, im vollen Mondlicht stehenden Baumes, vor welchem die schleichenden Gestalten zu passieren hatten.

Der erste Malaye bleibt am Rande des Lichtstreifens einen Moment zögernd stehen, sieht zum Fort herüber und läuft dann so schnell er kann dem nächsten Schattenfleck zu. Ein Knall – er stürzt und liegt regungslos im Grase. Ein Zweiter befindet sich bereits im Mondschein – er will zurück, aber schon hat des Steuermanns Schuß ihn niedergestreckt. Ein Dritter springt aus dem Schatten, um den Gefallenen zu bergen – des Doktors tödliche Kugel vereitelt das.

Die übrigen Malayen drängen sich eng aneinander. Das ist verderblich für sie, denn jeder der drei Schützen feuert nun Schuß auf Schuß in den Haufen hinein und jede Kugel trifft. Das wird den Seeräubern zuviel – sie ergreifen eiligst die Flucht. Aber die Kugeln der drei Männer auf dem Dache des Forts sind schneller als die Fliehenden, und von den zwölf Halunken kommen nur vier zu ihren Raubgesellen zurück.

»In dieser Nacht werden wir nichts mehr von ihnen sehen,« bemerkte der Doktor, indem er sein Repetiergewehr aufs neue lud.

Allein er irrte sich. Denn zwei Stunden später, während sie noch immer die Frage berieten, die ihnen zumeist am Herzen lag, die Befreiung Eisenlohrs und seines Sohnes, wurde ein rötliches Licht von dem Buschpfade her sichtbar, und gleich darauf kamen zwei Malayen furchtlos auf den freien Platz vor dem Fort herausgeschritten. Der eine trug eine Fackel in der rechten und ein Palmblatt in der linken Hand, der andere schwenkte etwas Weißes, was anscheinend ein Stück Papier war.

»Die kommen als Parlamentäre,« sagte der Doktor, die beiden Kerle durch eine Schießscharte musternd. »Wir wollen hören, was sie zu sagen haben.«

Die Malayen kamen kühn bis dicht an die Mauer heran; sie setzten unbedingtes Vertrauen in ihr Friedenszeichen, das Palmblatt.

»Well, what do you want?« fragte der Doktor auf englisch; er sagte sich, daß diese Seeräuber wohl am ehesten etwas von der Sprache der Seefahrt verstehen würden.

Der Träger des Papiers schien den Sinn der Frage auch zu begreifen; er rief einige unverständliche Worte und hielt seinen Zettel dem Doktor entgegen.

Niklas hatte etwas Kabelgarn in der Tasche; das Ende davon wurde hinabgelassen; der Malaye befestigte mit großem Ernst sein Dokument daran, machte eine orientalische Verbeugung und entfernte sich, gefolgt von dem Fackelträger.

»Sie bleiben hier oben, Niklas, und halten scharfen Ausguck,« sagte der Doktor; »der Steuermann und ich gehen hinunter, um zu sehen was diese Botschaft besagt.«

Das Papier enthielt nichts als einige roh ausgeführte Zeichnungen. Die oberste davon war ein langer horizontaler Strich und darunter allerlei Zeichen, welche augenscheinlich Wellen darstellen sollten. Über der Mitte des Striches erhob sich ein Halbkreis, von dem rings Strahlen ausgingen, und an der Seite stand ein aufrechter Strich. Das sollte ohne Zweifel die auf- oder untergehende Sonne bedeuten, wahrscheinlich die erstere, und der Strich sollte vielleicht auf den nächst bevorstehenden Sonnenaufgang hinweisen.

Die zweite Skizze stellte das Fort dar, nur hatte der Künstler eine Tür in der Front angebracht. Aus dieser Tür kamen mehrere weiße Männer mit Gewehren heraus; die vordersten derselben hatten ihre Waffen bereits an eine Schar von Malayen abgeliefert. Rechts von dieser Skizze war eine Gruppe von Weißen und Malayen zu sehen; die letzteren übergaben den unbewaffneten Weißen zwei Gefangene, die Stricke um den Hals und die Hände auf dem Rücken gebunden hatten; einer derselben war ein Erwachsener, der andere ein Kind – Eisenlohr und Willy, wie der Doktor das erklärte.

Die dritte und letzte Skizze zeigte ebenfalls das Fort, diesmal aber ohne Tür. Oberhalb der Brustwehr waren einige weiße Männer sichtbar, die mit Gewehren auf eine untenstehende Abteilung Malayen zielten, die ihrerseits die Gewehre gegen die Weißen richteten; rechts davon sah man Eisenlohr und Willy an Bäume gefesselt und von Holzhaufen umgeben, die einige Malayen im Begriff waren, mit Fackeln in Brand zu setzen.

Das seltsame Dokument besagte also klar und deutlich: Wenn das Fort bis Sonnenaufgang kapituliert habe, dann sollten Eisenlohr und sein Sohn wieder in Freiheit gesetzt werden; andernfalls würden die Malayen zum Angriff schreiten und zugleich ihre beiden Gefangenen lebendig verbrennen.

»Entsetzlich!« rief der Doktor, »übergeben wir das Fort, dann liefern wir uns alle, Eisenlohr und seinen Sohn mit einbegriffen, in die Hände verräterischer, blutgieriger Schurken, die uns sehr wahrscheinlich kaltblütig abschlachten würden, sobald sie uns waffenlos in der Gewalt hätten; andrerseits aber dürfen wir die armen Gefangenen unter keinen Umständen im Stich lassen. Was ist da zu tun, Steuermann?«

»Lassen Sie uns das mit Niklas überlegen,« antwortete Gehrke. »Ich kann Ihnen nur sagen, die schwarzen Hunde sollen Herrn Eisenlohr und den kleinen Jungen nicht verbrennen, lebendig nicht und tot auch nicht, solange ich noch eine Büchse abschießen und eine Axt heben kann!«

Und Niklas wußte auch nichts andres, als einige gewaltige Flüche gegen die »Karnalljen« loszulassen und heilig zu versichern, daß sie ihn eher umbringen, als den Gefangenen ein Haar krümmen sollten.

Der Doktor griff sich verzweiflungsvoll an den Kopf.

»Lassen Sie mich allein!« rief er. »Ich will die Sache überdenken. Gehen Sie zur Koje und ruhen Sie ein paar Stunden, Sie werden bald alle Kraft nötig haben. Ich wecke Sie zur rechten Zeit.«

Die beiden Seeleute zogen sich zurück. Cellarius aber lief rastlos auf dem Dache hin und her und zermarterte sich das Gehirn darüber, was seine Pflicht jetzt von ihm verlange.

Befänden die beiden Frauen und seine Tochter sich an einem sichern Ort, dann hätte er sich unverzüglich mit seinen beiden braven Genossen aufgemacht, um die Gefangenen zu befreien oder mit ihnen zu sterben. Aber die Übermacht war zu groß, noch immer sieben gegen einen. Unterlagen sie, was sollte dann aus den Frauen und seinem Kinde werden?

»O Gott, stehe mir bei!« rief er. »Was soll ich tun?«

Er sah auf seine Uhr; es war Zwei vorüber. Noch vier Stunden bis Sonnenaufgang. Es blieb ihm nicht mehr viel Zeit, denn wenn die Sonne sich über dem Horizont zeigte, mußten Eisenlohr und sein Sohn sich wieder im Schutze des Forts befinden, oder – – daran durfte er nicht denken.

Er stieg in den Hof hinab und gab den Seeleuten die Ordre, ihn auf dem Dache zu erwarten. Dann ging er in seine Wohnung und nahm mit einem Kuß Abschied von seinem schlafenden Kinde. Seine Frau war nicht anwesend; er wußte, wo sie sich aufhielt. In Frau Eisenlohrs Gemach brannte Licht. Als er auf den Fußspitzen an der Tür vorüberging, vernahm er Frau Marias gedämpfte Stimme und ein unterdrücktes Schluchzen.

Er huschte die Treppe hinauf und machte Gehrke und Niklas mit seinem Plan bekannt. Er hatte sich beide Repetiergewehre Eisenlohrs übergehängt und zwei Revolver in den Gürtel gesteckt. Geräuschlos ließ er die Bambusleiter hinab, befahl den Gefährten, sie hinter ihm wieder emporzuziehen und schritt dann schnell durch das tauschwere Gras in der Richtung der Schiffswerft davon.

*

Auf welche Weise die Prahu der malayischen Seeräuber in den Seestrom gelangt war, muß immer ein Geheimnis bleiben; wahrscheinlich ist dabei nichts als ein Zufall im Spiel gewesen. War doch selbst Eisenlohr bei seinen Fahrten zwischen der Wrackbucht und der Feeninsel mehrfach an der Mündung vorbeigesegelt, ohne sie zu bemerken.

Kaum hatten die Räuber den Prahm wahrgenommen, in dem der Ingenieur mit den Kindern auf der Heimfahrt nach dem Eiland war, als sie auch schon Jagd darauf machten. Eisenlohr rojte aus Leibeskräften und hätte den Strand auch wohl noch zur rechten Zeit erreicht, wenn eine Kugel der Verfolger ihn nicht am Kopf gestreift und halb betäubt hätte. Es gelang ihm nur noch, die Kinder an Land zu bringen, ihnen zu befehlen, so schnell als möglich heimzulaufen und sich dann gegen die ihm in einem Boot nachgeeilten Malayen, neun an der Zahl, mit einem Remen zur Wehr zu setzen. Drei der Feinde schlug er nieder, dann aber wurde er überwältigt, an Händen und Füßen gefesselt und an einen Baum gebunden.

Zwei Malayen rannten den Kindern nach; einer von ihnen kam nach längerer Zeit wieder zurück, mit brutalem Griff den kleinen Willy am Arm gepackt haltend und mit sich ziehend; der Knabe weinte vor Angst und Schmerz und als er seinen Vater erblickte, riß er sich plötzlich los, lief auf ihn zu, schlang die Arme um ihn und rief flehend:

»O Vater, sage dem bösen Mann, daß er mir nicht mehr wehtun soll! Er hat mich geschlagen und schrecklich am Arm gerissen! O laß ihn mich nicht wieder anrühren!« bat er laut aufweinend, als der Malaye auf ihn zukam, ein boshaftes Grinsen auf dem abschreckend häßlichen Gesicht.

Der Ingenieur stöhnte verzweiflungsvoll.

»Mein lieber Sohn, ich Kann dir nicht helfen,« sagte er. »Siehst du nicht, daß die Malayen mich fest an den Baum gebunden haben? Wir können jetzt nicht andres tun, als uns ruhig verhalten und in unser Schicksal fügen, denn diese Menschen haben uns ganz in ihrer Gewalt. Geh also ganz still mit dem Mann, dann wird er dir vielleicht kein Leid mehr tun.«

»Muß ich, Vater?« fragte der arme Kleine tränenden Auges und verwundert über des Vaters anscheinend so herzlose Weisung.

»Ja, mein liebes gutes Kind,« erwiderte dieser mit gebrochener Stimme, »ich sage dir das zu deinem eigenen Besten.«

Er fühlte den unausgesprochenen Vorwurf in den Augen des Knaben wie einen stechenden Schmerz im Herzen, als er sehen mußte, wie Willy sich verloren abwandte und dem Unmenschen überlieferte, der sein wehrloses Opfer von neuem mit brutaler Grausamkeit an sich riß.

»O, tu mir nicht so weh, ich gehe ja mit dir!« schrie der arme Knabe, und Eisenlohrs Vaterherz zersprang fast vor Jammer und ohnmächtiger Wut beim Anblick des Kindes, das sich vor Schmerz krümmte, als ihm der Malaye die langen dürren Finger in die zarte Schulter schlug, ihn zu einem nahestehenden Baum schleppte und an den Stamm fesselte. Dabei umschnürte er die kleinen Handgelenke so gewaltsam und fest, daß der Knabe ein herzdurchbohrendes Gekreisch ausstieß.

Vergeblich versuchte Eisenlohr seine Bande zu sprengen, die Stricke waren zu stark und zähe; sie schnitten ihm ins Fleisch bis auf die Knochen, sie krachten und knarrten, aber sie rissen nicht. Zum äußersten erschöpft, gab er die nutzlosen Anstrengungen auf, zum höhnischen Vergnügen einer kleinen Schar von Malayen, die ihm grinsend zugeschaut hatten.

Inzwischen hatte Willys Peiniger einen langen Zweig abgeschnitten, um den Knaben damit zu peitschen, allein diese nichtswürdige Grausamkeit wurde durch einen andern Malayen vereitelt, der, anscheinend einer der Offiziere der Prahu, ihn mit einem barschen Befehl fortschickte.

Auf einen nicht minder barschen Anruf entfernten sich auch die Zuschauer, und nun trat der Erretter an den schluchzenden Knaben heran, murmelte einige Worte und lockerte dabei die Fesseln, bis sie dem kleinen Gefangenen keine Qualen mehr verursachen konnten. Eisenlohr warf ihm einen Blick unaussprechlicher Dankbarkeit zu, der auch nicht unverstanden zu bleiben schien.

Bald nach der Wohltat, die dieser Malaye ihm erwiesen hatte, versank der Knabe infolge der ausgestandenen Furcht und Angst in eine schlafähnliche Betäubung, die ihn allen Jammer vergessen ließ. Der Vater redete ihn ein paarmal leise an, erhielt aber zu seiner Genugtuung keine Antwort. Er befand sich in einem solchen Stadium der Verzweiflung, daß er es als ein Glück empfunden hätte, wenn ihm die Gewißheit geworden wäre, daß sein über alles geliebter Knabe gestorben und allen ferneren Leiden entrückt sei.

Denn die Zukunft zeigte ihm keinen Hoffnungsstrahl. Wohl wußte er, daß die braven und treuen Männer im Fort ihn und sein Kind nicht in der Gewalt der Malayen lassen würden, ohne das Äußerste zu ihrer Rettung zu unternehmen; aber was konnten drei Männer, und wären sie auch noch so tapfer, gegen eine solche Übermacht ausrichten, es sei denn in der Defensive und hinter steinernen Mauern? Er war überzeugt, daß das Fort demnächst angegriffen werden würde; wahrscheinlich schlugen dann die Verteidiger die Feinde mit schweren Verlusten zurück. Dann aber rächten sich die Malayen an ihm und seinem Sohne.

Während er noch hierüber grübelte, sah er, wie eine Abteilung von zwölf Mann sich in der Richtung nach dem Fort entfernte. Nach einer Weile hörte er ein starkes Schießen, und dann kamen von den Zwölfen nur vier wieder zurück; sie sahen aber nicht wie Sieger aus.

Es folgte eine heftige Debatte unter den Malayen, dann wurde das Dokument angefertigt und abgesandt. Die Parlamentäre erschienen bald wieder am Lagerfeuer: man postierte zwei Schildwachen an den Eingang des Buschpfades und einen Mann vor die beiden Gefangenen; man warf frisches Holz auf das Feuer, und dann wurde es nach und nach still im Lager.

Die lange schreckliche Nacht nahte sich ihrem Ende. Der Mond hing tief am westlichen Firmament: das Schwarzblau des östlichen Horizontes verwandelte sich in Perlgrau und die Sterne in jener Gegend verloren ihren Schein. Die Atmosphäre, die während der ersten Nachtstunden drückend schwül gewesen war, wurde Kühl und erfrischend; das Gesumm der Insekten war, wie immer gegen Morgen, verstummt; das Lagerfeuer war zu einem Haufen grauer, federiger, schwächlich glimmender Asche niedergebrannt; die beiden Schildwachen hatten ihr Hin- und Herschreiten längst aufgegeben und standen müde auf ihre Gewehre gestützt; der Mann, der die Gefangenen bewachen sollte, hatte anfänglich ab und zu die Fesseln derselben geprüft, um sich zu überzeugen, ob sich noch nichts daran gelockert habe, jetzt saß er vor den seiner Hut Befohlenen im Grase, die Arme um die Kniee geschlungen und den Kopf darauf geneigt, fest schlafend.

Der kleine Willy war noch immer nicht aus seiner Lethargie erwacht. Eisenlohrs Gedanken wogten wirr durcheinander; plötzlich aber wurde er aufmerksam – er spürte eine seltsame Bewegung an seinen Fesseln, als wenn jemand sich hinter dem Baum, an den er gebunden war, mit denselben zu schaffen machte. Er fragte sich noch, was das sein könnte, da vernahm er ein leises Wispern hinter sich.

»Still, ganz still – ich bin's, Cellarius!«

Im nächsten Moment lösten sich die Stricke, sackten hinab und wurden hinter den Baum gezogen. Dann erschien ein Arm seitwärts von dem Stamm, und Eisenlohr fühlte den kalten Lauf einer Büchse in seiner Hand.

Und wieder wisperte die Stimme:

»Ihr Repetiergewehr, voll geladen; jetzt mache ich Willy los.«

Eisenlohr wendete sich seinem Knaben zu – wie weiß und hager sah das kleine Gesichtchen in dem fahlen Morgenlicht aus! Er streichelte ihm die kalte Wange – der Knabe schlug die Augen groß zu ihm auf.

»Still, Willy, sei ganz still und bewege dich nicht, wenn dir die Fesseln gelöst werden; sprich kein Wort, bis ich dir sage, was du tun sollst.«

Der Doktor durchschnitt die Stricke; Willy erkannte ihn, schlang die Arme um seinen Hals und flüsterte:

»Lieber lieber Onkel, ich danke dir!«

Die Worte waren kaum hörbar gewesen, aber das Ohr des Wächters hatte sie doch vernommen. Er schaute auf, und da er bemerkte, daß da etwas nicht in Ordnung war, erhob er sich und ging auf Eisenlohr zu, der noch immer an seinem Baum stand, teils weil seine Glieder noch steif waren, teils weil er auf des Doktors weitere Weisungen wartete. Er rührte sich nicht, bis der Malaye ihm auf Armeslänge nahe war; dann aber erhob er blitzschnell die rechte Faust und versetzte dem Kerl einen regulären Boxerstoß zwischen die Augen, mit solcher Kraft, daß der Getroffene wie tot niederstürzte. Dann glitt er hinter den Baum, wo Willy noch immer in des Doktors Armen hing, faßte des letzteren Hand und murmelte:

»Dank, Freund, tausend Dank! Aber was nun?«

»Ich habe Gehrke und Niklas gesagt, uns auf dem Buschwege entgegenzukommen,« antwortete Cellarius; »ich konnte nicht wissen, daß da zwei Halunken Posten stehen.«

»Dann kommen Sie nur,« entgegnete der Ingenieur, »die Kerle sollen uns nicht kümmern; es ist ihr Pech, daß sie uns im Wege sind. Wollen sie uns nicht passieren lassen, schießen wir sie nieder. Da – sehen Sie – der Kerl, den ich niedergeschlagen habe, regt sich wieder – er wird Lärm schlagen, ehe wir zehn Schritte weit fort sind. Geben Sie mir das Kind; schießen kann ich mit meinen abgestorbenen Armen noch nicht, aber den Jungen schleppen kann ich.«

Die beiden Freunde liefen aus Leibeskräften dem Buschpfade zu, direkt auf die Schildwachen los. Hinter ihnen erschallte der Alarmruf; im Moment war das ganze Lager auf den Beinen, einige der Malayen stürzten herbei, den Flüchtlingen den Weg zu verrennen, andre haschten nach ihren Gewehren und eröffneten unter wildem Geschrei ein heftiges Feuer auf sie. Die Schildwachen rafften sich zusammen und erhoben ihre Flinten.

»Halt!« rief Eisenlohr, setzte den Knaben nieder und wendete sich gegen die Verfolger. »Nehmen Sie die beiden Kerle dort, Cellarius, ich nehme die andern!«

Der Doktor blieb stehen, zielte kaltblütig, und die Schildwachen fielen einer nach dem andern unter seinem Feuer, während ihre Kugeln vorbeipfiffen.

»Liegen sie?« fragte der Ingenieur, indem er den vordersten der Verfolger niederknallte.

»Beide,« sagte der Doktor.

»Gut; nun wieder vorwärts!« rief Eisenlohr, den Knaben aufnehmend. Während sie liefen, ließ der Doktor auf einer kleinen Pfeife einen schrillen Pfiff ertönen.

»Das bringt die andern herbei,« sagte er atemlos.

Sie waren noch fünfzig Schritt von dem Pfade entfernt; die leichtfüßigen Malayen kamen ihnen immer näher; bald mußten sie sie eingeholt haben.

Der entscheidende Augenblick war gekommen. Eisenlohr stellte den Knaben auf die Füße und sagte:

»Lauf nun nach Hause, Willy, so schnell du kannst, und sage der Mutter, der Onkel Doktor und dein Vater würden in einer Viertelstunde bei ihr sein.«

Der Kleine rannte davon; der Ingenieur blickte ihm einige Sekunden nach.

»Gott sei Dank!« sagte er dann, »das Kind ist in Sicherheit, vorausgesetzt, daß wir hier zehn Minuten standhalten können. Und standhalten wollen und müssen wir, nicht wahr Doktor? Kämpfen wir doch für unser Liebstes, für unsre Frauen und Kinder!«

Sie drückten sich stumm die Hände, und dann boten sie, wie zwei Löwen, den heranstürmenden Feinden trotzig und dräuend die Stirn. Noch fanden sie Zeit, mit hastigen Schüssen zwei weitere Malayen niederzustrecken, dann aber kamen sie mit der Bande ins Handgemenge.

Ein wilder grimmiger Kampf entspann sich – sechzehn Malayen gegen zwei deutsche Männer!

Zum Glück für die kleinere Partei hatten die Seeräuber bereits sämtlich ihre Flinten und Büchsen abgeschossen und keine Zeit mehr gehabt, sie aufs neue zu laden; Doktor Cellarius dagegen hatte, wie wir wissen, außer den beiden zehnschüssigen Repetiergewehren, auch zwei sechsschüssige Revolver aus dem Fort mitgebracht, und von diesen händigte er einen jetzt dem Freunde ein.

Mit Kolbenschlägen und Revolverschüssen erwehrten sie sich der Übermacht so wirksam, daß der Haufe sie weder erdrücken und niederreißen, noch umgehen und dann von allen Seiten angreifen konnte. Mit der Linken die Gewehre wie Keulen schwingend, mit der Rechten die Revolver abfeuernd, sobald sich in dem rasenden Durcheinander die Gelegenheit zu einem sichern Treffer bot, brachten sie den Seeräubern solche Verluste bei, daß diese endlich zurückwichen. Zugleich erscholl ganz in der Nähe ein so brüllendes Hurra, wie es nur aus Seemannskehlen kommen kann – es raschelte und knackte in den Büschen, eilige Schritte stampften heran – und Niklas und der Steuermann brachen aus dem Dickicht und stellten sich keuchend zu beiden Seiten der Kämpfer auf.

»Willkommen!« rief Eisenlohr, der in der Erinnerung an das, was er in der Nacht erlebt, wie ein wütender Dämon gefochten hatte. »Hurra, jetzt wollen wir den Kerlen eine Salve geben!«

Im Nu lagen die vier Gewehre im Anschlag.

»Achtung! Jeder nimmt seinen Mann aufs Korn!« kommandierte der unverwüstliche Ingenieur.

Die Schüsse krachten, und unsre Kampfgenossen hatten drei Gegner weniger.

Horch! Was donnerte da in der Ferne? Das Echo der Salve Konnte das nicht sein – das war ein Kanonenschuß, oder die Ohren der vier Männer mußten sich seltsam getäuscht haben.

Was es aber auch gewesen sein mochte – die Malayen hatten es auch gehört. Sie sahen einander an, Bestürzung auf den häßlichen Gesichtern – sie schwankten, zögerten, zeigten den weißen Männern den Rücken und jagten in eiligster Flucht davon.

»Hurra!« schrie der Ingenieur, »wir kriegen Hilfe! Auf, hinterher! Laßt uns den Seeräubern noch eine Lektion geben, die sie nie vergessen sollen!«

Sie machten sich auf die Verfolgung und trafen auch noch einige der Malayen mit Revolverschüssen, brachten aber keinen mehr damit zu Fall. Einer stürzte zwar, aber nur, weil er in seiner angstvollen Hast über eine Wurzel gestolpert war. Eisenlohr erkannte ihn – es war der Schurke, der den kleinen Willy in der Nacht so grausam behandelt hatte.

In zwei Sätzen hatte der Ingenieur ihn erreicht und beim Halse. Er entriß ihm den Kris und schleifte ihn bis zu einer in der Nähe wachsenden Gruppe von jungem Bambus. Hier setzte er ihm den Fuß aufs Genick, ihn niederzuhalten, und schnitt mit dem Kris eins der zähen, biegsamen Rohre ab. Daraus riß er den Elenden am Kragen empor und versetzte ihm, nachdem er den Kris fallen gelassen, eine so furchtbare Tracht Prügel, daß der zähe Bambus in Streifen zerfaserte und die Kleidung des Gezüchtigten in Fetzen zerriß. Zuletzt versetzte er ihm noch einen Tritt, den der Malaye, abgesehen von den Prügeln, sicherlich zeitlebens nicht vergessen hat.

Hinkend versuchte er, seine Gefährten einzuholen, aber das gelang ihm nicht, denn deren Flucht wurde noch beschleunigt durch den Donner der Kanonenschüsse, die jetzt in kurzen Zwischenräumen von der See herüber dröhnten. Sie warfen sich in ihre Boote, stießen ab und überließen es ihm hinterher zu schwimmen, so gut er es vermochte.

Bald darauf trieb die Prahu den Seestrom hinab.

Die vier Kampfgenossen langten am Wasser an, gerade als das Seeräuberfahrzeug hinter einer Uferbiegung verschwand. Keiner war ohne Verletzungen davongekommen, die zwar zum Glück nicht gefährlich waren, aber doch hinreichten, ihre Beweglichkeit zu beeinträchtigen. Sie waren daher froh, die Feinde entweichen zu sehen.

Es war dies die erste Gelegenheit für Eisenlohr, den tapferen Waffengefährten für seine und seines Knaben Errettung zu danken; er tat dies aus gerührtem Herzen und fuhr dann fort:

»Ich habe mir über das Geschützfeuer draußen auf See allerlei Gedanken gemacht und meine, daß es ein Signal ist, das uns gelten soll. Irre ich darin nicht, dann möchte ich dasselbe so erklären: Keppen Lüdemann ist in jenem Orkan nicht umgekommen, sondern ist auf irgend eine wunderbare Art gerettet worden und liegt nun an Bord eines hilfsbereiten Schiffes da draußen, um uns aus unsrer Verbannung zu erlösen. Ich würde es daher für richtig halten, wenn Steuermann Gehrke und Freund Niklas im Prahm zur Mündung rojten und dort Umschau hielten.«

Die beiden Seeleute machten sich bereitwillig auf den Weg.

»Ich will inzwischen nach dem Fort gehen und den Frauen berichten, daß wir die Feinde geschlagen und in die Flucht gejagt haben. Dann komme ich wieder her, um die Nachrichten von draußen zu erwarten.«

Als Gehrke und Niklas in die Nähe der Mündung gekommen waren, zogen sie den Prahm aufs Land und gingen durch das Unterholz bis zu einer Stelle, von wo aus sie einen weiten Blick über die offene See hatten, ohne selber gesehen zu werden.

Welch ein Anblick bot sich hier ihren erstaunt und freudig aufleuchtenden Augen dar!

Etwa eine Meile vom Strande entfernt lag ein großes Vollschiff beigedreht unter Klüver, Marssegeln und Besan. Im ersten Moment hielten sie es für eine Korvette, wegen der beinahe kriegsschiffsmäßig aufgesetzten und getrimmten Takelung; sie erkannten ihren Irrtum jedoch sehr bald, denn an der Gaffel wehte die deutsche Handelsflagge.

Gehrke war im Besitz eines kleinen Taschenteleskops, das er stets mit sich herumzutragen pflegte; er zog es hervor und richtete es auf den Dreimaster.

Niklas beobachtete ihn dabei und gewahrte mit Verwunderung, wie er erst blaß und dann wieder rot wurde und auch sonst noch erkennen ließ, daß eine tiefe Erregung sich seiner bemächtigt hatte. Zwei lange Minuten stand der junge Steuermann wie aus Holz geschnitzt, dann stieß er plötzlich das Fernrohr zusammen und rief:

»Zum Prahm, Mensch! Komm, Niklas, wi möt nah See rut rojen! Dat is de »Paladin,« uns' »Paladin«! Un Fräulein Merk staht up dat Kampanjedeck un het den Kieker vor't Og! Süh, dor gaht wedder'n Schuß los!«


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