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Die umgefallene Bark. – Wie der Ingenieur Eisenlohr ein braves Stück vollführt. – Obersteuermann Rupp als Kommandant der »Viktoria«. – Ein trauriges Ereignis. – Heinrich im Pahlstek.
Alle Mann an Bord und auch die Passagiere waren froh, das Gebiet der Mallungen so glücklich hinter sich gebracht zu haben. Am aufgeräumtesten von allen aber war Kapitän Lüdemann; er hielt es für ganz unmöglich, daß der »Albatroß« in weniger als drei Tagen, von jetzt an gerechnet, den Äquator erreichen könnte, und dabei lief der »Paladin«, dicht an den Wind gepreßt und trotz einer starken Gegensee seine acht, neun und nicht selten auch zehn Knoten.
Es war etwa zehn Uhr morgens.
Ein Mann saß auf der Luvnock der Vormarsraa, verrichtete dort ein Stück Arbeit und spähte dabei, nach Art der Seeleute, ab und zu nach allen Richtungen über die See, neugierig, ob in der unermeßlichen Runde sich vielleicht etwas zeigen würde.
Plötzlich gröhlte er: »Vor is ein Wrack oder so wat ähnliches in Sicht! Dwars ab to Luwart, etwa negen Mill (Meilen) Unter Meilen sind in dieser Erzählung stets Seemeilen (1852 Meter) zu verstehen. entfernt!«
Kapitän Lüdemann befand sich an Deck, ebenso Heinrich Rohrpenn, der dritte Steuermann. Auf Befehl des Schiffers holte der junge Mann das Teleskop aus der Kampanjeluk und sprang damit zum Bramsaling des Großtopps hinauf. Von diesem erhabenen Standpunkt suchte er mit dem Glase die See ab und hatte auch bald den gemeldeten Gegenstand gefunden.
»Nun, Heinrich, was ist's?« rief der Schiffer ihm zu.
»Das ist schwer zu erkennen,« antwortete unser Freund; »das Ding treibt gerade an einer Stelle, wo das Wasser am meisten blendet, so daß ich nur einen dunklen Fleck sehe. Ich möchte es aber für ein Wrack halten, das so auf der Seite liegt, daß seine Segel unter Wasser sind.«
»Oha!« sagte der Schiffer. »Wir müssen darauf abhalten; wir dürfen an einem Fahrzeug, das sich in solcher Not befindet, nicht vorbeisegeln, ohne es näher anzusehen. Siehst du Leute an Bord?«
»Nein,« antwortete Heinrich. »Aber sollten auch welche an Bord sein, von hier aus wären sie nicht zu erkennen.«
»Das ist richtig,« murmelte der Schiffer, und dann rief er wieder: »Du, Heinz, höre – bleib da wo du bist und melde mir, wenn wir das Wrack zwei oder drei Strich achterlich von dwars haben, und ob inzwischen irgendwo ein Boot in Sicht kommt.«
»Jawoll, Kaptein!« rief Heinz zurück und setzte sich bequem – die Seeleute sagen »macklig« – zurecht, zum geheimen Entsetzen von Fräulein Valeska Merk, die seine Bewegungen aufmerksam beobachtete und jeden Augenblick fürchtete, den jungen Mann herabstürzen zu sehen, denn das Schiff stampfte ziemlich heftig und Heinz gebärdete sich so sorglos und ungezwungen, als säße er auf einer grünen Wiese und nicht auf zwei längeren und drei kürzeren einander kreuzenden Latten. Nach einer Weile rief er wieder:
»Ich denke, wenn wir jetzt über Stog gehen, dann kriegen wir das Wrack mit dem ersten Schlage. Es ist ein platt auf der Seite liegendes Schiff. Boote sind nicht in Sicht.«
»Schön, mein Junge,« erwiderte der Kapitän. »Bleib noch eine Weile da oben sitzen. Stüermann Rupp, wir wollen über Stag gehen!«
»Jawoll, Kaptein!« war die Antwort.
Innerhalb einer Minute stand jeder Mann der Wache an dem ihm für das Manöver des »Wendens« angewiesenen Posten.
»Klar zum Wenden!« erscholl des Schiffers Kommando. »Ruder in Lee!«
»Ruder in Lee!« wiederholte der steuernde Matrose und drehte das Rad nieder, so schnell es ihm möglich war.
Die Matrosen nahmen die aufgeschossenen Brassen und andere Leinen von den Koffeenägeln und warfen sie an Deck, fertig zum holen.
Das Schiff luvte prompt in den Wind auf.
»Halsen und Schoten!« rief der Kapitän; schnell folgten die übrigen Kommandos und schon nach zwei Minuten lag der »»Paladin« über dem andern Bug und steuerte auf das Wrack zu, während die Matrosen die Halsen der Fock und des Großsegels mit Hilfe der kleinen »Vör-de-Hand« genannten Talje so straff als möglich niederholten.
Jetzt dachte Kapitän Lüdemann nicht an sein Wettsegeln und den »Albatroß«; ihm lag vor allem die Rettung der etwa noch an Bord des Wrack befindlichen Schiffbrüchigen am Herzen.
Nach Verlauf einer Stunde lag der »Paladin« beigedreht in Lee des verunglückten Fahrzeugs, das sich als eine schöne hölzerne Bark erwies, die gänzlich umgefallen war, so daß ihre Masten der ganzen Länge nach flach auf dem Wasser lagen.
Obgleich sich keine lebende Seele an Bord der Bark blicken ließ, so befahl der Schiffer dennoch, eins der Boote zu Wasser zu bringen und sandte den Obersteuermann ab, mit der Weisung, das Wrack zu untersuchen. Herr Eisenlohr bat, den Steuermann begleiten zu dürfen was ihm auch gern gestattet wurde.
Obgleich die See nicht sehr hoch ging, so wurde es den Abgesandten doch nicht leicht, das Schiff zu erklettern, dessen Deck senkrecht wie eine Mauer aus dem Wasser ragte. Es gelang ihnen aber schließlich dennoch, Herr Eisenlohr und der Steuermann faßten Fuß in den flach liegenden Wanten, und das Boot erhielt Befehl, sich wieder eine Strecke zurückzuziehen, um in dem Gewirr der Takelung nicht in Gefahr zu geraten.
Schwieriger noch, als an Bord zu gelangen, war die Untersuchung der Kajüte und des Mannschaftsraumes, die beide in Deckhäusern befindlich waren. Aber auch das wurde bewerkstelligt, und zwar mit Hilfe von Leinen von der nach oben gekehrten Schiffsseite aus.
Man fand jedoch nichts, als leere Kisten und Kasten und umherliegende Kleidungsstücke, und aus allem war zu ersehen, daß die Bark in größter Hast verlassen worden war, und zwar erst innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden.
Das Boot wurde zurückgerufen, und wenige Minuten später befanden sich seine Insassen wieder an Bord des »Paladin«, wo Steuermann Rupp dem Kapitän Bericht erstattete.
»Hm,« sagte dieser zögernd, »ich meine, dann bleibt uns weiter nichts übrig, als das Boot binnenbords zu nehmen und wieder vollzubrassen.«
»Ja,« erwiderte der Steuermann gleichgültig, »wat anners is dorbi woll nich to maken.«
»Na, dann lassen Sie das Boot –«
»Verzeihung, Kapitän Lüdemann,« unterbrach Herr Eisenlohr, »darf ich mir eine Bemerkung gestatten?«
»Lasten Sie hören,« nickte der Schiffer.
»Meiner Ansicht nach wäre es schade, das Schiff im Stich zu lassen,« fuhr Eisenlohr fort. »Es scheint nicht viel Schaden gelitten zu haben und auch nur wenig Wasser ist im Raum zu sehen, warum wollen Sie nicht versuchen, es wieder aufzurichten? Es fehlen ihm, soviel ich wahrnehmen konnte, nur die Vor- und Großbramstenge; dieser Schaden ist bald ausgebessert. Leck ist die Bark sicher nicht, sonst läge sie nicht so elastisch auf dem Wasser. Wenn Sie sie wieder segelfähig machen und in den nächsten Hafen bringen lassen, dann gewinnen Sie dabei ein hübsches Stück Bergegeld, besonders wenn die Ladung einigermaßen wertvoll ist.«
Der Schiffer sann eine Weile nach.
»Der Gedanke ist mir auch schon gekommen,« sagte er dann, »da aber Steuermann Rupp nichts davon sagte, so dachte ich, daß das Ding nicht ausführbar wäre.«
»Es ist sehr wohl ausführbar,« entgegnete Eisenlohr. »wir Ingenieure bringen oft genug Dinge zustande, die andere Leute für unmöglich halten, und ich gestehe, daß ich in dieser Aufgabe keine Schwierigkeit zu sehen vermag. Ich glaube, daß die Bark gegenwärtig nur durch das Gewicht des Wassers in ihren Segeln niedergehalten wird.«
Und in kurzen Worten legte er dem Schiffer seinen Plan dar, der diesem so überzeugend erschien, daß er sich sogleich entschloß, die Aufrichtung des Wracks zu unternehmen.
Zum zweiten Mal fuhr das Boot zu der umgefallenen Bark hinüber, bemannt von vier Matrosen und dem energischen Ingenieur der eine dünne Leine und eine Axt mitgenommen hatte. Sie »landeten« wie beim erstenmal in der Großwant, und während sie hier warteten, rojte das Boot zurück und holte vom »Paladin« eine lange aber leichte Stahltrosse. Mit dieser begab es sich nach der Kielseite der Bark; die Leute auf der andern Seite warfen ihm ein Ende der mitgebrachten Leine zu; hieran wurde die Stahltrosse befestigt und dann nicht ohne Mühe über das Schiff hinweg nach der Deckseite geholt und am Großmast, zwischen Großraa und Mars, sorgfältig festgemacht.
Jetzt gab der Ingenieur dem inzwischen eine Strecke weggetriebenen »Paladin« ein Signal, woraus dieser sein Großmarssegel wieder füllte und herankam, während die Mannschaft die Untersegel, Bram- und Oberbramsegel aufgeite, so daß nichts als die drei Marssegel, Klüver und Besan stehen blieben.
Kapitän Lüdemann brachte nun sein Schiff so dicht an die Bark heran, daß zwischen der Kielseite derselben und dem »Paladin« kaum noch Platz für das dort liegende Boot übrig blieb; im rechten Moment ließ er das Großmarssegel wieder backbrassen, wodurch das Schiff zum Stillstand kam – ein feines Manöver, das nicht viel Schiffer ihm nachgemacht hätten.
An einer Leine, die aus dem Boot an Bord des »Paladin« geworfen wurde, war das andere Ende der Trosse festgesteckt, das der Schiffer mit mehreren Törns Törn, eine einmalige Umwicklung eines Gegenstandes mit einem Tau oder einer Kette, auch Rundtörn genannt. Törn bedeutet auch die Reihenfolge in einer Dienstleistung, z. B. im Steuern (Rudertörn), Postenstehen, Ausguckhalten u. dgl. Eintörnen = zur Koje gehen, austörnen = wieder aufstehen. um die Betings des Ankerspills nehmen ließ.
Die Kielseite der umgefallenen Bark war zugleich deren Leeseite. Durch geschicktes Manövrieren mit den Segeln wurde der »Paladin« mit dem Buge gegen den Wind gelegt und auf diese Weise gezwungen, »über Steuer zu gehen«, oder achteraus zu sacken.
Die Trosse wurde straffer und straffer und endlich so steif wie eine Eisenstange.
Die Marsraaen wurden Vierkant gebraßt und der Wind begann nun kraftvoll und stetig auf die Segel zu drücken.
Man erwartete die Wirkung mit atemloser Spannung.
Das Boot blieb bei der Bark, um den Ingenieur und die Matrosen aufzunehmen, wenn sich etwas ereignen sollte, was dies nötig machen würde.
Minuten vergingen, die Trosse stand wie eine Klaviersaite, aber eine Wirkung ihres gewaltigen Zuges war nicht zu bemerken.
Plötzlich stieß der Ingenieur einen triumphierenden Ruf aus.
»Hurra, sie hebt sich!« scholl es zum »Paladin« herüber, »Klar bei der Trosse dort drüben! Schmeißt los, wenn ich's sage!«
Ja, die Bark hob sich, langsam, erst kaum merklich, dann schneller, bis die Masten mit dem Horizont einen Winkel von etwa fünfundvierzig Grad bildeten; dann aber schnellte das Fahrzeug plötzlich mit solchem Ruck empor, daß die auf ihm befindliche kleine Schar sich mit aller Macht festklammern mußte, um nicht über Bord geschleudert zu werden.
Mehrmals noch rollte die Bark schwer nach Backbord und Steuerbord, dann aber blieb sie in bestem Gleichgewicht und auf ebenem Kiel liegen. Aus ihren Segeln ergossen sich ganze Wasserfluten hernieder an Deck und durchnäßten Herrn Eisenlohr und die Matrosen bis auf die Haut.
Kapitän Lüdemann ließ die Trosse loswerfen, ohne den Ruf des Ingenieurs abzuwarten; sie wurde später von der Mannschaft des Bootes wieder an Bord gebracht.
Der Ingenieur ließ nun zunächst die nassen Segel der Bark backbrassen, dann peilte er den Pumpensod und stellte fest, daß sich fünf Fuß Wasser im Raum befanden. Das wollte bedenklich erscheinen allein es war nicht so schlimm, wie man bald erkannte. Der Raum war dicht mit Ladung vollgestaut, das Wasser konnte nur in die Zwischenräume der Stücke gelangen, und so mußte eine verhältnismäßig geringe Menge davon im Pumpensod schon einen hohen Wasserstand bewirken.
Steuermann Rupp wurde mit einer starken Abteilung Matrosen an Bord geschickt, um die Bark auszupumpen und eine viertelstündige Arbeit reichte hin, ihm zu zeigen, daß das Fahrzeug vollkommen dicht war; das Wasser konnte nur in den Raum gelangt sein, als es auf der Seite gelegen hatte; gegen vier Uhr nachmittags schlugen die Pumpen lens.
Aus den Schiffspapieren ging hervor, daß die Bark, an deren Galion und Heck der Name »Viktoria« zu lesen stand, in Aberdeen zu Hause war, und daß ihr Kapitän Andersen hieß. Sie hatte sich auf der Fahrt von Port Natal nach London befunden und war dreiunddreißig Tage in See, als der »Paladin« sie entdeckte. Ihre Ladung bestand aus Häuten, Elfenbein, Indigo, Kaffee, Zucker und Wolle. Sie war daher ein schätzenswerter Fund und wohl wert der Mühe und Zeit, die man auf sie verwendete.
Die letzte Notiz im Logbuch war um die Mittagszeit des vorigen Tages eingetragen worden, woraus Kapitän Lüdemann mit Recht folgern konnte, daß die »Viktoria« in einer ebensolchen Bö gekentert war, wie den »Paladin« getroffen, und auch wohl um dieselbe Zeit.
Eine weitere Untersuchung ergab, daß der Proviant der »Viktoria« vom Wasser unversehrt geblieben und auch noch in großen Mengen vorhanden war, ebenso die Wasservorräte. Kapitän Lüdemanns Entschluß war nun bald gefaßt. Er versammelte die Zwischendeckspassagiere, die in Hamburg an Bord gekommen, zwölf Eisenarbeiter, um sich und fragte, wer von ihnen willens sei, an Bord der geretteten Bark zu gehen, dort Schiffsdienste zu nehmen und das Fahrzeug nach Aberdeen in Schottland bringen zu helfen. Sie sollten nicht nur volle Matrosenheuer, sondern auch einen Anteil vom Bergegeld dafür erhalten. Nach Australien könnten sie dann immer noch kommen.
Die Männer hielten einen kurzen Rat unter sich und dann erklärten sich die meisten von ihnen bereit, das Anerbieten anzunehmen.
Nun rief der Schiffer die »Viktoria« an und eröffnete dem Steuermann Rupp, daß er beschlossen habe, ihn mit der Bark nach Aberdeen zu senden. Rupp war einverstanden, von den Matrosen meldete auch Tim Thode sich freiwillig zu der Fahrt.
Als der Abend herniedersank, trennten sich die Fahrzeuge voneinander, nachdem Heinrich Rohrpenn und die Kajütspassagiere dem Obersteuermann Rupp, jetzt Kommandant der »Viktoria«, noch Briefe für ihre Angehörigen und Freunde daheim mitgegeben hatten.
Es mag an dieser Stelle noch mitgeteilt werden, daß die »Viktoria« glücklich in England anlangte, zwanzig Tage nach dem Eintreffen der Besatzung und der Passagiere, die die Bark nach deren Kentern verlassen hatten, und daß die Briefe ihre Bestimmungsorte richtig erreichten.
An Bord des »Paladin« waren jetzt einige Veränderungen nötig geworden. Der freigewordene Posten des Obersteuermanns wurde dem bisherigen zweiten Steuermann Klaus übertragen, und in dessen Stelle rückte unser Freund Heinrich Rohrpenn ein. Markus Wenzel wurde zum Bootsmann befördert. –
In dem stetigen Südostpassat verfolgte der »Paladin« hart am Winde segelnd seinen Weg. Das weiter war fein, die See ruhig und so erachtete Fräulein Valeska Merk die Gelegenheit für günstig sich in der Kunst des Steuerns weiter zu vervollkommnen.
Als zweiter Steuermann war Heinrich Rohrpenn der Verpflichtung einen Rudertörn wahrzunehmen, enthoben – er hatte jetzt das Kommando der Steuerbordwache –, aber das Fräulein ließ sich dadurch nicht beirren, im Gegenteil, sie verstand noch Vorteil daraus zu ziehen.
Hatte sie vorher mit ihren Übungen warten müssen, bis die Reihe an Heinz gekommen war, so paßte sie jetzt einfach den Moment ab, wo er nichts besonderes zu tun hatte; dann trat sie an ihn heran und sagte: »würden Sie wohl so gütig sein, mir eine Steuerlektion zu erteilen Herr Rohrpenn?« und sie konnte sicher sein, daß der junge Mann ihren Wunsch mit Freuden erfüllte. »Peter oder Hans oder Krischan,« oder wie der steuernde Matrose gerade heißen mochte sagte er zu diesem, »Fräulein Merk will dich ablösen; lauf nach vorn und tu dies oder das.« Worauf dann der brave Janmaat stets innerlich kichernd nach vorn trabte.
Es lag in der Natur der Sache, daß dieser Steuerunterricht die beiden jungen Menschenkinder einander immer näher brachte und eine Art von Kameradschaft zwischen ihnen entstehen ließ. Dem Schiffer entging dies nicht, ebensowenig den Matrosen, die alle den jungen »Zweiten« sehr gern hatten, weil er mit ihnen stets auf freundschaftlichem Fuße gestanden hatte. Sie sahen in der »Eroberung«, die er ihrer Meinung nach, gemacht hatte, fast ein Kompliment für sich selber, einen Triumph, zu dem auch sie beigetragen, indem sie der jungen Dame so oft den Platz am Ruder geräumt.
Kurze Zeit darauf wurden alle Gemüter an Bord von einem traurigen Ereignis tief bewegt. Der »Paladin« hatte die östliche Seite des Kaps erreicht. Eine frische Prise wehte aus nördlicher Richtung, die Kapdünung rollte hoch und schwer und das Schiff rauschte mit einer Fahrt von neun Knoten durch die schäumende Flut.
Kapitän Lüdemann, Obersteuermann Klaus und Heinrich standen aus dem Kampanjedeck, jeder angelegentlich mit seinem Sextanten beschäftigt, denn die Mittagstunde kam heran und es galt, die Sonne zu nehmen.
Auf einmal holte das Schiff stark nach Lee über, Klaus verlor das Gleichgewicht, konnte sich nicht halten und kam ins Rennen. Ob er nun so unbehilflich war, weil er seinen Sextanten nicht in Gefahr bringen wollte, oder ob etwas andres ihn hinderte, sich festzuklammern, genug, er stürzte über das niedrige eiserne Geländer, das an Stelle einer Reling rings um das Kampanjedeck herlief, und fiel kopfüber in die See.
»Mann über Bord!« brüllte der am Ruder stehende Matrose, und zu gleicher Seit stießen die Damen, die den Unfall bemerkt hatten laute Angstrufe aus.
Der Schiffer und Heinrich legten ihre Sextanten eiligst nieder an Deck und sprangen dann zur Heckreling, von hier aus sahen sie den Hut des verunglückten ein paar Bootslängen entfernt aus dem Kamme einer hohen See.
»Er kann nicht schwimmen!« rief Heinrich dem Kapitän zu, und noch ehe der letztere ihn daran hindern konnte, nahm er einen kurzen Anlauf und sprang über das Geländer hinunter in das wildschäumende Kielwasser des Schiffes.
»Ruder nieder!« rief der Kapitän dem steuernden Matrosen zu, indem er zugleich zur Lee-Großbrasse sprang und dieselbe loswarf. Die Matrosen mittschiffs und vorn, die den Ruf »Mann über Bord!« gehört hatten, eilten ebenfalls an die Brassen, und so verging kaum eine Minute, bis das Schiff mit aufgegeitem Großsegel beigedreht lag.
Nachdem dies bewerkstelligt war, rannte Markus Wenzel, der Bootsmann, mit der Behendigkeit einer Katze die Kreuzwant hinan bis auf den Saling und lugte von hier über die See hinaus in der Richtung, wo die beiden über Bord Gegangenen zu vermuten waren.
»Sehen Sie was von ihnen, Bootsmann?« rief Kapitän Lüdemann.
»Einen sehe ich,« war die Antwort, »aber wer es ist, kann ich nicht erkennen. Es kann aber nur Heinrich sein, denn er schwimmt hin und her, als wenn er nach dem Steuermann suchte.«
»Behalten Sie ihn im Auge, verlieren Sie ihn nicht, Bootsmann!« rief der Kapitän; dann wendete er sich zu den Matrosen, die achteraus gekommen waren und den Schwimmer zu erspähen suchten.
»Was!« fuhr er auf sie ein. »Habt ihr noch keine Anstalt gemacht, ein Boot zu Wasser zu bringen? Schämt euch! vorwärts!«
Die Leute gingen zu den Davits und machten sich mit den Bootstaljen zu schaffen, wobei sie eifrig miteinander redeten, dann aber kam einer von ihnen auf den Schiffer zu und sagte:
»Wokein schall in dat Boot gohn, Kaptein? Ick heww keen Lust nich dorto, un de annern ok nich. In düsse See kemen wi jo gornich von dat Schipp aff.«
Der Schiffer stampfte wütend das Deck; aber der Mann hatte recht, das Boot mußte an der Schiffsseite zerschellen, sobald es das Wasser berührte, und dann gingen noch mehr Menschenleben verloren, was war da zu tun? Er konnte jene beiden doch nicht zugrunde gehen lassen, ohne alles zu ihrer Rettung zu versuchen.
»Sehen Sie den einen noch immer, Bootsmann?« rief er.
»Ja, Kaptein,« antwortete Wenzel; »aber von dem andern ist nichts zu sehen.«
»Wir müssen ihn um jeden Preis retten!« rief der Kapitän. »Backbord das Ruder! Hart Backbord! Braßt voll!«
In diesem Augenblick kam Valeska Merk herbei; sie hatte von des Schiffers Rede nur die letzten Befehle vernommen. Ihr Antlitz war bleich; sie trat dicht vor den Schiffer hin und sagte mit bebender Stimme:
»Wie, Kapitän Lüdemann, ist es möglich? können Sie so herzlos und grausam sein, den armen Heinrich Rohrpenn ertrinken zu lassen, ohne auch nur das geringste zu seiner Rettung zu wagen?«
»Nein, mein liebes Fräulein,« antwortete der alte Seemann, »er soll gerettet werden, wenn das in menschlicher Macht steht. Sie aber bitte ich, unter Deck zu gehen und auch die andern Damen dazu zu bereden.«
Diesem Wunsche Folge zu leisten, war dem jungen Mädchen jedoch unmöglich. Sie ging achteraus, stellte sich an die Heckreling und ließ ihre Blicke angstvoll suchend über die wilden Wasser schweifen; dabei bebte sie vor Ungeduld über die anscheinend so trägen und lässigen Bewegungen des Schiffes.
Und doch hatte dieses sich nie handiger und seines Führers Befehlen willfähriger gezeigt, als gerade jetzt. Es schien ein geradezu menschliches Verständnis für das zu haben, was notwendig war. Eine kurze Strecke lief es platt vor dem Winde, bis es genügende Geschwindigkeit erreicht hatte, dann drehte es, dem Ruder prompt gehorchend, schnell in den Wind auf und ging über Stag, leicht und graziös wie eine Jacht.
Wenzel hatte inzwischen die Oberbramraa erstiegen, um einen weiteren Gesichtskreis zu erlangen. Dabei verlor er jedoch den winzigen Punkt auf der Oberfläche der See aus den Augen.
Alle Mann an Bord waren der Ansicht, daß keiner so weit und so scharf zu sehen vermöge, wie Markus Wenzel, aber so angestrengt dieser jetzt auch ausspähen mochte, den Kopf des Schwimmers fand er nicht wieder.
»Sehen Sie ihn noch immer, Bootsmann?« fragte der Schiffer von neuem.
»Nein!« antwortete Wenzel.
Zwei Minuten verstrichen, die der armen Valeska zu Ewigkeiten wurden, dann kam der Schwimmer dem Bootsmann wieder in Sicht.
»An Deck da!« gröhlte er freudig aus aller Lungenkraft.
»Hallo!« brüllte antwortend der Schiffer in froher Erwartung.
»Ich sehe ihn wieder!«
»Wo?«
»Gerade voraus in Lee!«
»Abhalten, zwei Strich!« befahl der Schiffer dem Rudersmann, und dann rief er, nach vorn gewendet, über das Deck:
»An die Leereling, alle Mann! Jeder nimmt eine Leine zum Hieven in die Hand, eine Leine mit einem Pahlstek! Pahlstek ist ein Stek (Knoten), der ein Auge in ein Tau so schlingt, daß es sich nicht zusammenzieht oder löst: es kann daher leicht über einen Pfahl (plattdeutsch Pahl) geworfen und wieder abgenommen werden: dient auch als Sicherung für außenbords arbeitende Leute, die sich hineinsetzen. wenn wir ihm nahe genug sind, dann hievt! wo sehen Sie ihn jetzt, Markus?«
»Gerade voraus!« war die Antwort. »Luv, oder wir übersegeln ihn! Es ist Heinrich!«
»Luv!« schrie Kapitän Lüdemann dem Rudersmann zu. »An die Grobbrassen ein paar Mann! klar zum Rundholen der Großraa!«
Dann sprang er auf ein Hühnerhock und schaute eifrig nach vorn.
»Ich sehe ihn!« rief er nach einigen Augenblicken. »Rund mit der Raa, back das Marssegel! klar mit euern Leinen, Jungens! Aufpassen da vorn – – vorbei geschmissen! Nun der nächste – auch nichts! Leine zu kurz! Der nächste – wieder nichts – verdammi, Mensch! ruhig, ruhig, sonst verlieren wir ihn doch noch!«
Während die Matrosen in ihrem Eifer nur Fehlwürfe taten und der Schiffer in seiner Verzweiflung mit heftigen Flüchen auf sie loszuwettern begann, war Markus Wenzel von der Kreuz-Oberbramraa blitzschnell wieder an Deck heruntergekommen und mit einer Leine an die Leereling geeilt.
»Recht so, Bootsmann!« rief der Schiffer. »Zeigen Sie den Leuten wie man hieven soll! – Ah, bravo! – Halt fest, Heinz! Streif dir den Pahlstek über die Schulter! So – so! Nun holt ein, Leute – sachte – sachte – so!«
Eine halbe Minute später saß Heinrich triefend, nach Atem ringend und unfähig, ein Wort von sich zu geben, an Deck, denn er war so erschöpft, daß er sich nicht auf den Beinen halten konnte. Alles drängte sich um ihn. Da aber erschien der Doktor Cellarius, nahm ihn in Beschlag und erklärte nach kurzer Untersuchung, daß der Patient zwar sehr erschöpft sei, sonst aber keinerlei Schaden davongetragen habe.
Als Valeska diese tröstliche Kunde vernommen, zog sie sich in ihre Kammer zurück, schloß die Tür zu und erleichterte ihr so schwer bedrückt gewesenes Herz durch einen Strom von Tränen.
Heinrich erholte sich bald und berichtete dann, daß er von seinem Emportauchen nach dem Sprunge bis zuletzt keine Spur von dem unglücklichen Steuermann habe entdecken können; er war der Meinung, daß derselbe sich bei seinem Sturz schwer verletzt haben und sogleich in die Tiefe gesunken sein müsse.
Trotzalledem kreuzte der »Paladin« noch eine Stunde in der Gegend umher, einen Ausguckmann aus jeder der drei Bramraaen; und als auch dies erfolglos blieb, da gab Kapitän Lüdemann endlich zögernd und mit widerstreben die Suche auf, und der »Paladin« setzte seine Reise fort.