Johannes Richard zur Megede
Quitt!
Johannes Richard zur Megede

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Siebenundzwanzigstes Kapitel.

Marie hatte gehofft, ungesehen davonzukommen. Aber die Pfarrfrau empfing sie sogleich an der Veranda mit Hut und Mantille, ganz bereit zu einem kleinen vertraulichen Waldspaziergange. »Ich habe Sie erwartet, Comtesse . . . der Herr Rittmeister grüßte vorhin so sonderbar . . . und wenn ich Sie ansehe . . . Ihr Herz ist schwer, Sie wollen etwas von der Seele haben. Eine alte einfache Pfarrfrau weiß manchmal darin besser Rat.« Dabei knickste und lächelte sie, und die Brillengläser funkelten neugierig.

Marie sah ihr kalt ins Gesicht. »Ich habe Ihnen nichts zu sagen.«

Darauf gluckste die bewegliche Frau verlegen: »Ich dachte . . . ich dachte . . . Ein Stück darf ich Sie doch begleiten, Gräfin? Sie sind wohl gar zu Fuß herübergekommen und ganz allein?«

»Und werde ebenso wieder zurückkommen. Ich danke wirklich.« Und sie reichte der eifrigen Frau die Hand, wie man sie einem Dienstboten zum Kusse reicht. Die kleine Feudale war sie doch geblieben.

Als sie an der Kirche vorbeikam, waren die gotischen Thürflügel weit geöffnet. Der alte Glöckner sprengte mit der Gießkanne die staubigen Fliesen. Auf den Gräbern blühten die weißen Astern, es 216 roch nach Epheu und feuchtem Gras. Die Comtesse empfand einen Augenblick das brennende Verlangen, hineinzugehen, dem alten Mann zu sagen: »Lassen Sie mich eine Stunde hier allein!« Das wundersame Halbdunkel des alten Raumes zog sie an. Da erhob sich der Herbstwind und trug moderigen Kirchengeruch herüber. Ihr verging das Verlangen. In der Kirchenthür stand jetzt der alte Glöckner mit abgezogener Mütze und sagte zu jemand, den man nicht sah: »Es ist von wegen den Aufgeboten Michaelis, Herr Rittmeister.« – »Das hat noch gute Wege. Lassen Sie die Sprengerei heute, Kusinn!« Marie ging weiter, langsam, gleichgültig. Sie hatte alles gehört, aber ihr Herz schlug nicht schneller. Erst als sie weit weg war am Ende des Dorfes, drehte sie sich um und blieb mitten auf der Landstraße stehen. Um den grauen Turm flatterten schreiend die Dohlen, die alte Uhr hob rasselnd zum Schlage an. Das Geräusch that der Comtesse weh. Sie wußte nicht warum. Etwas wie träumendes Erinnern wollte sie überkommen. Die Schläge waren verhallt, sie fuhr auf. »Häßlicher Klang,« sagte sie halblaut. Dann ging sie weiter, die Landstraße entlang. Bauernfuhrwerke klapperten vorüber, barfüßige Jungen trabten vom Felde heim . . . Dann ein stöhnender, schwer beladener Frachtwagen mit großen, ausgemergelten Pferden. Der Kutscher lag in der Schoßkelle und pfiff. Sie sah alles stumpfsinnig an sich vorübergleiten und grüßte mechanisch. Erst als sie den Trab von Herrschaftspferden vom Walde her vernahm, wurde sie aufmerksam. Ein eleganter Jagdwagen tauchte hinter einer Chausseewindung auf. Es waren Doerstedts. Vorn die schöne Anna – sie kutschierte selbst – neben ihr 217 der Bruder von Frau Domat in Uniform, die beiden unterhielten sich sehr lustig; hinten Mutter und Sohn, sie sahen finster vor sich hin und sprachen kein Wort. ›Wahrscheinlich kamen sie gratulieren und suchen mich jetzt in Gampeschkeim,‹ dachte Marie. Es war gut, daß der Wald so nahe und sie noch gerade auf den Dennhöfer Kirchenweg entschlüpfen konnte – eine Begegnung mit der schönen Anna wünschte sie heute nicht.

Das Rollen des Wagens verklang, die Comtesse trat aus dem Unterholz auf den Weg. Erst jetzt fiel ihr wieder der Geburtstag ein und daß man sie zu Hause erwartete. Aber heute lächeln, lügen, die Glückliche spielen – unmöglich! Sie sah sich um. ›Wohin?‹ An die heilige Frau dachte sie nicht. Da fiel ihr Blick auf den Wegweiser, dessen verwitterter Arm schief hing, solange sie denken konnte. Ein Eichenzweig reckte sich darüber, der Wind raschelte im dürren Laube. Das Rascheln . . . der Hauch – die Erinnerung ward ihr wach. Den Weg war sie ja mit ihm gefahren! Freilich, damals war's Frühling. Sie schloß die Augen wie ein Schulkind, das, Heimweh im Herzen, aus den Ferien kommt und immer hofft, wenn es die Augen wieder öffnet, werde der Zug nach der andern Seite rollen – der Heimat zu. Und ihr war's, als schaukelten unter ihr die Federn des Wagens, sein Arm berührte leise ihren Arm, die Orloffs schnaubten, der Morgenwind ging kühl. Zögernd öffnete sie die Augen wieder – der Traum war so schön! Da sah sie ein tiefes, altes Geleise – die Sasser Gespanne mochten's gefahren haben, als sie den Dennhöfer Kirchenweg entlang galoppierten – sie aber hatte das Gefühl, es sei das alte Geleise, ihr 218 Geleise, das kein Regen verwaschen, kein Wind austrocknen könnte. Ein eckiger Kiesel war von dem Radreifen in das zähe Erdreich gepreßt. Sie grub ihn mit der Hand aus und küßte ihn. Es war so kindisch, so sentimental – sie wußte es. Aber die Erinnerung bannte. Noch einmal den alten Weg, noch einmal den thörichten Traum!

Es war ganz einsam, die bleiche Herbstsonne lächelte. Marie aber folgte dem Geleise, wie man dem Faden folgt aus einem Labyrinth. Sie konnte nicht anders. Der wollüstige Schmerz der Erinnerung that ihr weh und wohl. Zuweilen blieb sie stehen und sah umher. Da war die Brücke. Sie hörte den dumpfen Hufschlag auf dem Holz; die Orloffs schnaubten. Er faßte die Zügel kurz. Auch die Hand sah sie ganz deutlich, die schmale Hand mit der stählernen Kraft. ›Ich möchte sie jetzt küssen. Warum habe ich sie damals nicht geküßt?‹ dachte sie. Sie stieg den Knüppeldamm hinauf, der zur Uferhöhe geleitete. Das Waldgestrüpp hatte sein welkes Laub dick in den Hohlweg gestreut, das Geleise war verschwunden. Und da krampfte sich ihr das Herz in thörichtem Heimweh zusammen. ›Das Geleis – das Geleis!‹

Auf der Höhe, wo der Boden weicher, fand sie's wieder. Der Alp wich. Sie nickte dankbar dem dürftigen Sonnenstrahle zu, der den Weg durch die hohen Fichtenwipfel gefunden. Aus der Tiefe blitzte der Fluß, feuchter Dunst stieg erfrischend empor. Lange stand sie an der Stelle. Sie mochte nicht begreifen, daß es nicht die ersten Lichter des Frühlingsmorgens waren, sondern die alternde Herbstsonne; auch daß sie allein war, begriff sie nicht. Der Weg ward sandiger, Heidekraut blühte am Rande, 219 die dürftigen Fichtenstämmchen der Schonungen klomm dickes graues Moos empor und schwächte ihnen die Lebenskraft. Einige alte Baumriesen dahinter waren kahl, die Rinde abgeblättert – der Borkenkäfer tötete sie langsam. Auf dem gelben Grunde kroch das Geleise nur undeutlich dahin. Die Comtesse sah nicht mehr auf, sie hatte eine kindische Angst, es zu verlieren. Aber als der Wind die Baumkronen entlang fuhr, dachte sie an den Kauz; als ein dürrer Zweig unter ihren Füßen knickte, an den Rehsprung, der über die Lichtung zog. Sie empfand alles noch einmal, doch mit jener Wehmut, wie man eine Jugenderinnerung im Alter ansieht und weiß, daß sie köstlich gewesen – aber viel köstlicher in der Erinnerung jetzt als damals. Das Gefühl wollte sie übermannen und vermochte es doch nicht. Sie war ja noch jung! Und mitten in der schmerzlichen Wehmut des Gedenkens empfand sie stärker als je, daß der alte Pfarrer wahr gesprochen. Sie mußte sündigen! Das alte, gute Gefühl hat kein Recht, wo's ein junges, besseres giebt. Sie würde wieder sündigen, heute . . . morgen, übers Jahr . . . immer, weil sie nicht anders konnte. »Ihn hier haben – und ich bin glücklich! Die Muttergottes vermag mir nicht zu helfen – nur er.« Es war ein gottloser Gedanke, aber sie konnte nicht über ihn wegkommen.

Der Wald lichtete sich. Krüpplige Kiefern, wucherndes Heidekraut – ein uralter Markstein. Vor ihr lag die Ebene. Das Geleise war verschwunden, verloren in einem Gewirr undeutlicher Wagenspuren, denn rechts und links bogen Wege ab. Die Comtesse gab sich auch nicht mehr Mühe, es zu suchen. Wozu die sentimentale Narrheit 220 fortsetzen? Es war ja alles längst vorbei. Sie fühlte sich nicht einmal unglücklich; nur eine ungeheure Leere empfand sie.

Ihr dunkles Auge schweifte müde über das wellige Land. Gelbe Stoppeln, welkendes Kartoffelkraut – gelbe Stoppeln, welkendes Kartoffelkraut immer wieder . . . Und die paar Ordenskirchen darin, kahl, häßlich – graue Punkte in der grauen Ebene. Ein eintöniges Bild, aber phantastisch gerahmt von den fernen, scharfen Waldlinien des Horizontes. War das die Heimat, die sie so leidenschaftlich liebte? Und bitter lächelnd schüttelte sie den Kopf. Sie wußte genau, daß sie von dieser Heimat heute hätte scheiden können ohne letzten Blick, ohne Seufzer – von den Menschen auch. Oede drinnen, Oede draußen! Und diese Oede begann auf ihr zu lasten, schwer, immer schwerer. Nichts hob sich dagegen. Kein leidenschaftliches Schuldgefühl, das die Nerven spannt, kein quälendes Sündenbewußtsein, das Vergebung heischt – nur Leere . . . Leere . . . Sie hätte in den Wald zurückfliehen mögen, in die Einsamkeit, wie ein Tier, das sich in der Dickung zum Sterben niederthut. Dennoch ging sie weiter, denselben Weg, den sie mit Loja einst gefahren. Sie wußte es kaum, sie führte kein Instinkt. Nur die Last, die Leere weiterschleppen, bis die Glieder versagen, bis zum Niedersinken, bis zur Ohnmacht – bis zum Tode!

Aber die Glieder versagten nicht. Sie leisteten ihre Dienste, unverdrossen, mechanisch. Die Comtesse sah, erkannte auch alles wieder – das ermländische Bauernhaus mit dem rostigen Eisenkreuz über dem Stalle, den steifnackigen Bauer, der jetzt mit seinen Ochsen pflügte. Auch eine graue Katze sprang übers Feld. War's dieselbe Katze?

221 Sie war bis zur Landstraße gekommen. Das Heiligenbild tauchte auf: »Maria Gute, behalte uns in Deiner Huthe.« Und dann brach sie stöhnend zusammen. Die Last war unerträglich geworden.

»Muttergottes, erbarme dich meiner! Laß mich sterben. Sieh, ich liege vor dir im Staube der Straße, aber ich kann dir nicht beichten wie eine bußfertige Sünderin, damit du meine Seele von der Verdammnis losbittest da oben. Ich bin sündig und fühle keine Reue. Ich will kein Vergessen, kein Vergeben – ich will nur ihn! Kannst du ihn mir geben, heilige Frau?«

Der Wind fuhr durch die dürren Gräser der Landstraße, und Staub wirbelte gegen das Heiligenbild, das fromme Einfalt hier errichtet. Marie blickte auf. Das Gold über dem heiligen Haupte gleißte, das Jesuskind lächelte verklärt. Aber auf dem Muttergottesantlitz lag ein Zug, der ihr wie Kälte erschien. Die Heilige tröstete nicht.

Die Comtesse senkte wieder ihr Haupt, bis das schwarze Haar den zerbröckelnden Kalk des Postamentes berührte. Sie betete weiter. »Du willst meine Bitte nicht hören, Maria, weil sie sündig ist. Vielleicht ist's auch besser so . . . Ich aber bin zu dir gekommen, weil ein alter Pfarrer mich zu dir wies, und weil ich nicht mehr weiter konnte. Maria, ich will sterben! . . . Und wenn du ein Weib wie ich, wenn du gelitten wie ich, so wirst du verstehen, daß ich nicht leben kann ohne ihn. Verdamme mich – was ist eine Seligkeit ohne ihn? – doch laß mich sterben!«

Es war ein hoffärtig Gebet und dem Geiste strengen Glaubens vielleicht lästerlich. Die Comtesse 222 fühlte es wohl. Für die Leere ihres Herzens gab es eben nur den Tod. Und wie heiß sie auch nach demütiger Zerknirschung vor dem Göttlichen rang, sie konnte nur immer wieder stammeln: »Ich habe gesündigt . . . weil ich ihn liebe . . . und ich würde weiter sündigen . . . ich kann nicht anders. Laß mich sterben, Maria!«

Sie vermeinte, das alte Postament sollte über ihr zusammenstürzen, sie zu strafen für den sündigen Wunsch. Es stürzte nicht. Doch ein warmer Sonnenstrahl küßte tröstend ihr schmerzzerrissenes Gesicht, auch über das Antlitz der heiligen Frau glitt er. Auf der Landstraße klang ferne das Rattern von Leiterwagen, lustige Stimmen, Lachen. Die Comtesse erhob sich. Hier im Staube liegen zu bleiben, erschien ihr wie eine Komödie der Reue, die sie ja doch nicht empfand. Wie zum Abschied blickte sie zum Marienbild empor. War's die liebe Sonne, die auf Mutter und Kind in flimmernden Lichtern spielte, war's die Einbildung einer überreizten Phantasie – das Muttergottesbild war nicht mehr starr. Der Ausdruck der Kälte war gewichen; eine göttliche Güte strahlte aus den Madonnenaugen. ›Du bist jung, du liebst, warum sollst du sterben?‹ Die Heilige zürnte nicht. Der Hauch wunderbarer Menschlichkeit mischte sich mit dem hehren Zauber des Göttlichen. Auch das Jesuskind lächelte hold das wonnige Jugendlächeln, das der sonnigen Zukunft entgegenlächelt.

Der Wagen, die Stimmen kamen näher. Die Comtesse schlug das Kreuz und beugte das Knie – dann ging sie.

Es war nicht der ganze Trost, den kleine Herzen so schnell finden. Aber ein wehmütiger 223 Hoffnungsschimmer zog durch ihre verdüsterte Seele. Die Heilige würde sie nicht dahinsiechen lassen. Glück oder Tod! Und Marie wanderte über die gelbe Stoppel zurück nach dem Walde. An das Glück dachte sie nicht . . . aber der Tod . . . der ewige Schlaf . . . kein Erwachen, kein Himmel . . . »Warum kann ich nicht in seinen Armen sterben? Aber das wäre ja noch viel schwerer!« So irrten ihre Gedanken.

Sie war wieder im Walde. Es dämmerte leicht. Die Natur schwieg – das rätselvolle Abendschweigen, wo der leise Schritt gespenstisch wiederhallt und der einsame Wanderer zuweilen stehen bleibt und lauscht – und lauscht und nichts vernimmt als den eignen Atem. Als wenn der Wald ein düsteres Geheimnis berge, das ein Windhauch, ein Nadelflüstern verraten konnte! Aus dem Boden steigt die feuchte Kühle, Harzduft entströmt den Stämmen. Und dann ist's wieder, als ginge ein Säuseln hoch in den Lüften, die uralten Fichtenwipfel nicken stumm, und der Wald beginnt zu schlummern.

Auch Marie empfand diese schwermütige Stille. Sie that ihr wohl. Darum wählte sie nicht den »Franzosenweg«, der in breiter, gelber Linie hier durch den Forst zog und sie bald nach Schwolmen und nach Hause geführt hätte. Sie hatte ein andres Ziel. Wie's die Menschen immer wieder nach den Orten zieht, wo sie sehr glücklich oder sehr unglücklich gewesen, sehnte sie sich nach der überspringenden Stelle am Fluß, wo der Fuchs den Todessprung geweigert. Es war kein ganz klares Gefühl, das sie trieb: der Wunsch nach Ruhe, eine Art Heimweh und die vage Hoffnung auf Erhörung ihres Gebetes. Wenn sie in den Abgrund hinabstürzte – vielleicht war ihr der Zufall günstig, der plötzliche Entschluß.

224 Und sie eilte schneller durch das Holz. Der letzten Entscheidung entgegen? Fast wollte es ihr scheinen . . . Sie merkte es gar nicht, wie das tauige Waldgras den Kleidersaum näßte und widerhaariges Buschwerk sie zurückhalten wollte. Noch sah sie den Fluß nicht, aber sie hörte das leise Murmeln. Magnetisch zog sie's. Jetzt war sie an der Stelle. Die einsame Riesenfichte reckte sich finster in die Höhe. Noch blühte das Heidekraut und duftete. Ein verspäteter Käfer summte vorüber. Aus der Tiefe gleißte der Fluß; die Wasser lockten. Marie beugte sich weit vor. Der trügerische Boden zitterte . . . Sie schloß die Augen – es war nicht Furcht. Da . . . stieg es aus der Tiefe, das Marienbild. War's Vision der Gläubigen? – In wunderbarer Klarheit stand die Heilige vor ihr. Nicht das Madonnenbild von der ermländischen Landstraße – eine Lichtgestalt, jung, schön, ein warmes Leuchten in den tiefen Augen; um die göttlichen Lippen schwebte das göttliche Lächeln sündenlosen Mutterglücks. »Du bist jung, du liebst, warum willst du sterben?« Aus dem Murmeln des Flusses klang es ihr, aus dem leisen Hauche des Abendwindes, der über das Wasser glitt. Die Comtesse öffnete die Augen, trat taumelnd einen Schritt zurück . . . noch einen . . . weiter, bis sie den Fluß nicht mehr sah. An der Fichte brach sie zusammen. Da lag sie, den Kopf ins feuchte Heidekraut vergraben, der schlanke Frauenkörper zuckend im heißen Schluchzen des tiefsten Wehs. Sie sah nichts, hörte nichts . . . Da fühlte sie eine Hand auf ihrer Hand . . . sie kannte die Hand . . . fuhr auf mit noch geschlossenen Augen, als fürchte sie das Erwachen aus einem schönen Traum . . .

225 »Comtesse . . . Marie!«

Da schlug sie die Augen auf . . . »Hans . . . Hans!«

Und sie sank ihm wortlos in die Arme, wie man dem Schicksal in die Arme sinkt.

Die Vergangenheit ist versunken . . . Ueber den dunkeln Tannen leuchtet Abendrot. Ein Stern flimmert. Auf den strudelnden Wassern der Tiefe zittern verglimmende Lichter. Dann flattern Nebelschleier um die Erlenbüsche unten am Ufer. Milchweißer Dunst zieht über den Fluß. Noch blitzen gespenstisch die Wasser durch . . . die Nebel recken sich höher . . . Baum und Busch verschwimmt. Noch ein schwarzer Ast, der in den Dunst ragt, ein Tannenwipfel, der in die Luft gepflanzt scheint . . . Zuletzt brodelndes Nebelmeer, feuchte Kühle. Nur die Wasser murmeln. Die Feen ziehen den Reigen. Comtesse Marie weiß es. Wann sollen die guten Nixen sonst tanzen, als am Geburtstage des glücklichsten Weibes?

Sie will das auch dem Manne an ihrer Seite sagen. Sie vermag's nicht.

Sie fühlt ihn neben sich und sieht doch mit leuchtenden Augen ins Leere. Wenn das Glück nur ein Traum wäre – ein zum Sterben schöner Traum? Seltsame Thörin! Sie fühlt seine Hand in der ihrigen, sie fühlt den Atem seines Mundes, sie fühlt die furchtbare Nähe, die sie jetzt so unbeschreiblich glücklich macht. Aber das Wort fehlt ihr, das Lächeln des Glücks . . .

War der Weg kurz, war er lang? Das Glück ist nie lang! Der Mann hatte sie um die Hüfte gefaßt, er preßte sie an sich – der gierige Druck der Leidenschaft, wo die Finger zittern. So 226 sterben! . . . Die beiden wandern aufs Geratewohl durch Tann und Busch. Das Dickicht knackt. Ein steiler Abhang. Sie strauchelt, weil sie nicht sieht. Und dann fühlt sie sich emporgehoben wie ein Kind. Gleitend, strauchelnd geht's abwärts. Der Fluß plätschert. Er trägt sie hindurch. Und sie fröstelt dabei, daß ihr die Zähne klappern, die Fingerspitzen brennen, daß sie mit geschlossenen Augen ihr Gesicht an seine Schultern pressen muß, und daß er ihren glühenden Atem fühlt. Dann gleitet sie wieder zu Boden, er umschlingt sie – ein glühender Männerkuß auf eiskalten, bebenden Frauenlippen. Sie möchte ihn wiederküssen, wiederumarmen. Und die Hände hängen schlaff, der Mund versagt – aber jede Fiber bebt in einem köstlichen, nie geahnten Gefühl.

Sie sind aus dem Waldesschatten heraus. Dunstüberwogte Stoppel, schläfrige Sterne, in der Mitte eine weiße Linie: der Weg nach Lorschen; von der Chaussee her der holperige Trab eines Einspänners. Ein loses Hufeisen klappt auf den Steinen im Takte nach, und ganz fern das monotone Rauschen des Schwolmer Wehrs. Die beiden gehen schneller. Aus den Parkbäumen schimmert das erleuchtete Herrenhaus. Hunde schlagen an. Marie fühlt, wie eine feuchte Schnauze sich in ihre herabhängende Hand wühlt und Tyras bald freudig winselt, bald feindlich knurrt, je nachdem es der geliebten Herrin gilt oder dem fremden Manne.

Jetzt stockt der Schritt des Mannes etwas. Er überlegt. Sie aber führt ihn auf Schleichwegen durch den Garten bis zu der weißen Bank am Ende des Lindenganges.

Da sah sie ihm zum erstenmal voll ins Gesicht 227 und umschlang ihn: »Ich bin zum Sterben glücklich . . .«

Sie saßen auf der weißen Bank. Tyras strich durch das Gebüsch. Ein Vogel flatterte auf. Im Lindengange malte die Nacht ihre Schatten, und die ehrwürdigen Stämme sahen im unsicheren Lichte drohend aus wie Vermummte. Doch im Westen, wo die Allee aufs Feld hinausging, zog sich hoher Mais wie eine grüne Mauer. Die breiten Blätter raschelten, und die zierlichen Blütenrispen nickten. Darüber hob sich die dunstige Mondsichel und warf silbergrauen Schimmer auf Schaft und Blatt.

Marie hatte sich an ihn geschmiegt. Das Auge glänzte. Zuweilen schauerte sie leicht.

»Dich friert! Es ist kalt,« sagte er besorgt.

»Nein, nein, Hans, ich bin ganz warm . . . aber gieb nur deine Hand noch mehr . . . so . . . ich liebe deine Hand so!«

»Mehr wie den glücklichen Besitzer?«

Da lächelte sie träumerisch: »Mehr? Lieber Gott! . . . Ich liebe ja außer dir nichts mehr. Sieh mal, das hast du aus mir gemacht: ich könnte die Heimat verlassen . . . den Vater . . . alles . . . Ich habe ja für nichts mehr Gefühl als für dich!« Sie schauderte wieder zusammen.

»Du erkältest dich, Marie . . . du fieberst ja leicht . . .«

»Ach wo!« wehrte sie. »Meine Nerven ertragen nur nicht so viel Glück! . . . Und wenn ich wirklich fieberte – morgen sterben müßte? Was schadete das denn? . . . Weißt du: ein Augenblick, gelebt im Paradiese . . . nein, nur die köstliche Stunde mir nicht verkürzen! . . . Ich habe so schon meine dummen Gedanken. Vielleicht habe ich dich gar nicht lange . . . 228 vielleicht ist es das erste und letzte Mal . . . Vielleicht ist's ein Traum – ja ein Traum! . . . Sag mir mal irgend was Liebes, oder sieh mich nur an! Es ist doch kein Traum . . . Hans . . . Hans . . . du . . . hast du jemals eine andre Frau geliebt? Ich bin nicht eifersüchtig . . . ich möchte nur wissen, ob's einem andern auch so gehen kann, daß einem die ganze Vergangenheit erscheint wie ein Schatten, der weiter keinen vernünftigen Sinn hat als diesen, einen Augenblick nur um so heller zu machen . . .«

Er beugte sich auf ihr Haar und küßte es. »Marie . . . wenn du mir genommen würdest – ich müßte sterben! . . . Ich habe viel gesündigt – aber geliebt, geliebt habe ich nur dich.« Er sprach mit der leisen, leidenschaftdurchbebten Stimme, die bei verschlossenen Menschen so seltsam klingt.

»Sag's noch einmal,« bat sie. »Nicht das erste! . . . Sterben – du? Dazu bin ich gut . . . Ganz langsam . . . ›aber‹ . . .«

»Geliebt habe ich nur dich,« wiederholte er.

Da schlang sie ihren Arm um seinen Hals. »Küsse mich . . . küsse mich . . . nein, hör auf – hör auf . . . ich verbrenne.« Dann saß sie einen Augenblick regungslos und starrte mit toten Augen in den Mond.

Er sah sie mit zärtlicher Sorge an: »Du siehst angegriffen aus, Marie.«

Sie nickte lächelnd: »Da hast du mich auf dem Gewissen! Meine Schneiderin behauptet, ich würde von Tag zu Tag magerer. Meine Taille ist wie bei einem Mädchen von sieben Jahren – und ich schnüre mich gar nicht. Konnte ich der guten Frau denn sagen: daß mich ein fränkischer Freiherr seit Jahr 229 und Tag so quält, daß ich nicht mehr schlafe und nicht mehr esse?«

»Und warum ist dieser fränkische Freiherr fast ein Jahr hier geblieben? Auf eine schlaflose Nacht bei dir kamen zwei schlaflose Nächte bei ihm. Das ist auch gerade kein Nervenfutter,« spöttelte er. Dann legte er seinen Arm um ihren Kopf. »Marie, ich will dein geliebtes, schwarzes Köpfchen ganz nahe bei mir haben, daß es mir niemand nehmen kann – auch das Schicksal nicht. Weißt du, Geliebte, daß es die erste Stunde meines Lebens ist, wo ich glücklich bin? – Da fehlen einem die Worte, da soll der einzige, leidenschaftliche Druck mehr erzählen als ein ganzes Kapitel Gefühlsduselei. Erzählt er's dir, dieser Druck, Geliebte? Fühlst du's?«

Sie schloß die Augen und atmete schwer.

»Ja, du fühlst es! Und doch müßte es dir wie Hohn erscheinen. Einer, der alles gelebt, alles durchgekostet hat . . . Ich weiß selbst nicht, wo ich noch diese Jugend her habe – du giebst sie mir wohl, Marie, und ich habe Angst, du giebst mir zu viel; ich bin nur der Parasit, der dich aussaugt, an dem du stirbst.«

»Hans!« Sie richtete sich auf.

»Nein, bleib so!« bat er und drückte das schwarze Haar fester an sich. »Du bist die Jugend, das Glück . . . du bist, was ich früher sehr oft geträumt habe: Man sieht das Weib, man empfindet das wunderbare Gefühl . . . Und wenn man erwacht, da tickt die Weckuhr, durch den Vorhang fällt der fahle Frühlichtsschimmer . . . das Gefühl zittert noch nach; man will's halten und kann's nicht. Man schließt die Augen, sucht die Gestalt sich wieder vorzuzaubern – die Phantasie ist tot – bis zuletzt das 230 häßliche Ernüchterungsgefühl kommt. ›Blödsinnige Träumerei!‹ . . . Sieh mich an, Marie, bist du das Traumbild? Du bist's!«

Sie schwieg.

»Ich rede viel dummes Zeug? Giebt's eigentlich überhaupt Menschen, die sich lieben und die nicht Thörichtes sprechen? . . . Und doch hätte ich dir viel andres zu sagen . . . ich will's auch. Weißt du, warum ich hierher kam, Marie?«

»Um dich an Arthur v. Gampesch zu rächen.«

»Ja – nein . . . Denke dir einen Menschen, der jahrelang das Dasein stumpfsinnig vor sich hin gelebt hat . . . die Zigarre, der Rum . . . von allem freilich nur so viel, daß man über die Vergangenheit wegkommt. Ein Beruf? . . . Na ja . . . ein Gaul, der sich eingebildet hat, für die Rennbahn bestimmt zu sein, dort zu siegen, zu glänzen – um endlich vor der Logentribüne beim großen Armeejagdrennen zusammenzubrechen als Sieger direkt hinterm Ziel. Du glaubst gar nicht, wie wichtig 's ist, vor der Logentribüne zu enden! Und der bekommt als Dreijähriger einen Sehnenklapp, wird Droschkenpferd. Es ist auch ein Lebenszweck, vielleicht für ihn und die Menschheit ehrenwerter als der andre. Aber er hat nun einmal die Rennbahn im Kopf, und das ewige Trotten ohne Ziel straßauf straßab, alles bloß, um sich das bißchen Hafer und den kalten Stall zu verdienen – scheußlich! Allgemach aber hat er sich eingetrottet, vielleicht begriffen, daß das nun einmal sein Beruf ist, sein muß . . . Ein guter Droschkengaul wird er trotzdem nicht! – Das Pferd bin ich, und die Droschke, die ich ziehe, ist mein Beruf. An der Droschke habe ich so ziemlich zehn Jahre gezogen. Und eines Tages konnte ich nicht 231 mehr weiterziehen. Ich wurde auf die Weide geschickt. Es ist ein bißchen kostspielig für einen Droschkenbesitzer, seinen stumpfen Gaul nach Europa zum Auskurieren zu senden. Aber der Gaul war ja in diesem Falle ein Mensch . . . Sieh mal, wie stumpfsinnig ich geworden war! Ich hatte kein Heimweh nach Menschen – vielleicht nach der Gegend . . . Unsinnig nur bangte ich mich nach dem Schnee. Wahrscheinlich habe ich einen Fürsprecher da oben, der bescherte mir auf eurer Klingelbahn das Schneewehen, auf eurem Markte die Konditorei. An dem Novemberabend habe ich dich zuerst gesehen . . .«

»Weiter,« sagte sie.

»Es war nicht Liebe auf den ersten Blick. Du sahst chic aus in deinem Radmantel und hattest ein wunderschönes Organ . . . Dennoch hätte ich dich ganz sicher vergessen, ohne Bedauern – wenn mir das Schicksal nicht den Gampesch zur selben Stunde in die Hände gespielt hätte. Bei meinem Droschkentrott hatte ich ihn fast vergessen; aber es ist merkwürdig, wenn so eine Erinnerung plötzlich wieder hochkommt, packt sie einen viel schärfer. Man ist nicht mehr Herr seiner Gefühle. Es war sein Pech, daß er mich zuerst erkannte . . . daß er mir von dir erzählte. ›Jetzt kommst du, mein Junge!‹ – der Gedanke schoß mir ganz unvermittelt durch den Kopf. Die bösen Gedanken haben selten eine lange Entwicklung nötig. Es regte sich wohl auch etwas vom alten Rassepferd in mir. Ich hatte wieder einmal im Leben ein Ziel – und das Ziel warst du! – Ja, zucke nur zusammen, Marie! An deinem Glücke lag mir verwünscht wenig. Doch dem Hunde das Beste zu nehmen, das Weib, die Zukunft, in dem Augenblick, wo er alles sicher zu haben schien . . . 232 ah! Da fragt man nicht viel, wie weit der Sprung, wie groß die Kraft. Danach habe ich überhaupt selten gefragt. Und Mitleid mit ihm? Nee – ich wollte quitt mit ihm werden . . . Wenn ich mir's recht überlege, komme ich mir vor wie ein Narr, der barfuß ohne Führer auf den Montblanc klettern will . . . Mit eigner Kraft bin ich auch nicht weit gekommen . . . Denn das ist das Seltsame bei der Geschichte: Ich liebte dich! Ich liebe dich schon lange, Marie . . . auch seltsam! – seit dem Geburtstage deines Vaters, wo du mir das ›geborene Schultz‹ ins Gesicht hiebst. Es war empörend . . . es war vielleicht gemein . . . aber es war Rasse drin!

»Da hätte ich gehen sollen. Ich wollt's auch – und ich konnt's nicht. Erstens wegen der Gellmann. Das schöne Geschöpf hier zerfetzen zu lassen und feige wegzugehen? Das war ich der unglücklichen Schwester denn doch schuldig! Freilich . . . das Schicksal ist von einer grausigen Ironie – sie war eben nicht ihre Schwester . . . Aber das war auch nicht der schwerste Kampf – den kämpfte ich mit mir! Von dir weg in die Tundra? Ich, der ich die Luft beneidete, die du atmetest! Marie, ich habe dich seit jener Stunde geliebt – rasend, abgöttisch! Doch dich ihm hinterlistig abjagen wie dem Drosselstein die Unglückliche? Nein! Du liebtest mich auch nicht! Es war ja Thorheit! – Aber die Moral hielt mich nicht. Wenn du mir gleichgültig gewesen wärst, und es wäre möglich gewesen, dich ihm zu entreißen – ehrlich gesagt: ich hätte ihn und dich geopfert ohne Wimpernzucken. Dafür warst du das erste Weib, das, weiß Gott wodurch, den abgeblaßten Menschen wie ein Magnet zu sich zwang. Du liebtest mich nicht. Und dich meiner Rache zu 233 opfern? – das wäre der feige Diebstahl, den er selbst an mir geübt. Wenn ich ihn morden wollte – mußtest du mich lieben! . . . Doch gab's Augenblicke – damals auf der wahnsinnigen Fahrt, wo du mich bis aufs Blut reiztest, wo du mit deinem Hohne das letzte, die brutale Energie des Augenblicks aus mir herausholtest – da kamen wieder die wilden Gedanken. ›Mag sie mit ihm zum Teufel gehen!‹«

Weicher fuhr er fort: »Und ich hatte nur eine Qual mehr dadurch . . . Mit der Rache war's also nichts. Oder? . . . Manchmal denke ich: Wenn ich ihn nicht so bitter gehaßt hätte, hätte ich dich nicht so leidenschaftlich lieben können. Es muß doch irgend ein Funken übergesprungen sein. Vielleicht gehört zu der ganzen Liebe der ganze Haß . . . Und sieh mal, so thöricht sind Männer wie ich: sie wissen, daß sie irgend etwas haben, was die Frauen anzieht – Frauen wie du. Und als junger Dachs und bei Frauen, die mich eiskalt ließen, da hatte ich doch den Schurkenblick: ›heut ist sie sentimental, morgen unausstehlich, übermorgen nennt sie mich zornsprühend ein Scheusal – und du hast sie.‹ Die Leiter der Gefühle hat sehr viele Sprossen, aber die einzige morsche, wo das Weib durchbricht, fällt – uns in die Arme, die hatte ich noch immer gefunden . . . Und bei dir, die ich liebte, Gott, wie man nur einmal lieben kann! – da verließ mich die Psychologie, da war ich bei aller Abgeblaßtheit doch der Tertianer, der von einer Märchenprinzeß träumt. Du haßtest mich, du mußtest mich ja hassen! Auch in Dennhöfen, wo dir und mir Verstand und Gefühl durchgingen wie ein Orkan – erriet ich nichts. Ich wollte weg, und ich ritt dir nach. Weiter 234 reichte es mit der Psychologie und dem Entschluß nicht. Erst im Gampeschkeimer Walde – wir ritten zum Brande – dämmerte mir etwas, und auch das nur schwach.

»Und dann der Brand . . . da ging mal wieder der Ekel, die Erregung mit mir durch. Es war ja auch egal, ob ich wieder herauskam oder nicht. Zu Ende war's ja doch! . . . Gedankt habe ich Hasso für seine Rettung nicht . . . Ich wollte fort, ich mußte fort . . . ich ging auch. Natzfeld brachte mich auf die Bahn. Kutscher und Diener Galalivree – alles knackte nur so. Ein paar von euern Leuten waren auf dem Perron, höflich, verwundert. Sie hätten sich doch allgemach an unsre Freundschaft gewöhnen können! Hasso, der sonst immer eine bissige Bemerkung bereit hat, sah sie kaum, war über die Maßen fidel. Etwas eigentümlich kam mir der lustige Abschied fürs Leben doch vor. Als der Zug langsam einlief, fuhr er sich mit dem Finger ganz unmotiviert in die rechte Augenecke: ›Der verwünschte Schnupfen!‹ Da verstand ich, was seine Fröhlichkeit wert war. ›Leben Sie wohl, Hasso, Sie vornehmer Kerl!‹ Ich wußte im Moment nichts Besseres. Und er schielte mich mit zusammengekniffenen Augen von der Seite an: ›Warum gehen Sie eigentlich? Die Hälfte meines Königreiches? . . . das ganze? . . . hm? Es ist 'n Geschäft!‹ Ich schüttelte den Kopf. Er drückte mir ganz flüchtig noch zwei Finger und ging rasch in den Wartesaal zurück. Der verwünschte Schnupfen! Ich verstand ihn. Als ich endlich im Coupé saß, Gott sei Dank allein, und euer Ostpreußen wieder an mir vorüberflog, da empfand ich so ein stumpfes Heimweh. Ich verließ den einzigen Freund, den ich vielleicht je besessen. 235 An dich wollte ich nicht denken! . . . Ich zählte die Knöpfe an den Coupépolstern, die Maschen im Koffernetz über mir. So blödsinnige Beschäftigungen sind wie der Beruf, sie helfen über alles weg. Eins, zwei, drei . . . über fünf kam ich nicht; ich mußte immer wieder von vorn anfangen. Dein Bild schwebte vor mir, du machtest gar keinen glücklichen Eindruck . . . Und doch hätten wir uns nie wieder gesehen! In drei Tagen ging mein Schiff. Ich folgte willenlos einer wertlosen Pflicht. Sie hätte mich auch weitergetragen bis Berlin, Amsterdam, übers Meer . . . Ich kenne mich. Ich war eben wieder der alte Droschkengaul, nur viel, viel stumpfer. Aber das Schicksal wollte das nicht. – In einer kleinen Station wurde plötzlich die Coupés entlang gefragt, ob ein Arzt im Zuge wäre. ›Jawohl.‹ – ›Dann kommen Sie schnell, Herr Doktor!‹ Ich sah am Güterschuppen einen Menschenauflauf; daneben Fohlen, die wahrscheinlich verladen werden sollten, und einen schönen, zweijährigen Hengst. ›Der Doktor! der Doktor! . . .‹ Die Leute wichen zur Seite. Da liegt ein junger Mensch mit einer Bahnmütze, das Kinn zerschmettert, die Uniform blutig. Ueber dem leblosen Körper ein Weib. ›Der da, der da . . . geschlagen.‹ Einige zeigen auf den Hengst. Das Weib liegt ganz still. Aber wie ich mich zu dem Verletzten herabbeuge und sie berühre, stößt sie einen Schrei aus – lang, hell. ›Den Schrei? Den muß ich schon mal gehört haben! . . . Aber wo? . . .‹ Es zuckte mir auch so ein Schatten von Erinnern durchs Gehirn . . . Dann habe ich den Menschen verbunden, so gut wie's eben ging – sterben wird er nicht dran . . . und die Frau getröstet. Natürlich ging mir der Zug dabei vor der 236 Nase weg. Bis zum nächsten dauerte es noch Stunden. Ich setze mich in die Wirtschaft . . . ›Der Schrei? – immer wieder der Schrei!‹ Ich konnte nur an den Schrei denken. ›Den hast du . . . den hast du . . .‹ Und auf einmal hörte ich ihn auch wieder ganz deutlich in meinem Ohr. ›Ah, in Gampeschkeim habe ich ihn gehört . . .‹ Ich bin kein Phantast, aber plötzlich sah ich ganz hell. Der Schrei lag mir noch in den Ohren, als ich aus meiner Ohnmacht damals erwachte. ›Der Schrei!‹ – ich wußte es, du hast ihn ausgestoßen, Marie – Kann's sein? Sag mir, Geliebte!«

Die Comtesse fühlte im Augenblick wieder die furchtbare Spannung jener Scene, so daß sie nur murmeln konnte: »Ja . . . ich schrie . . . ich liebte dich ja so sehr! . . .«

»Und da faßte mich ein so rasendes Heimweh nach dir, Marie. Dich noch einmal sehen, einmal nur noch! Ich habe nicht mal auf den Zug gewartet. Ich nahm mir ein Bauernfuhrwerk – dann bin ich den ganzen Nachmittag hier herumgestrolcht. Zuerst wollte ich nach Lorschen, dir im Parke auflauern, auf dich losspringen wie ein Panther, dich umarmen, drücken, pressen, bis wir beide tot waren. Aber dann kam mir's wieder so lächerlich vor: ich verbrauchter Mensch mit dieser wahnsinnigen Leidenschaft im Herzen . . . Dann habe ich mich in den Wald gelegt und gerungen . . . gerungen . . . und ein Gott gab mir's ein, daß ich mich doch ermannte, wieder weg wollte, ohne dich gesehen zu haben. Ich trete aus dem Walde. – Und auf der Stoppel seh' ich . . . seh' ich – anfangs glaubte ich, ich wäre verrückt geworden – dich! Du gehst so sonderbar, du siehst so sonderbar 237 aus. Ich bin dir gefolgt wie ein Mörder. ›Hier küsse ich sie – hier töte ich sie!‹ So weit war's mit mir. Wie ich näher und näher schleiche, höre ich dein verzweifeltes Weinen. Es mag wohl Sekunden geben, wo man vorschnell Ewigkeiten durchlebt, wo blitzartig die Wahrheit kommt, nach der man vielleicht ein ganzes Leben lang gesucht. Ich wußte es: du liebtest mich!«

Bei den letzten Worten war der Wolfshund knurrend aufgestanden und tappte mit funkelnden Lichtern näher. Er liebte den fremden Mann nicht, der seine zarte Herrin so leidenschaftlich umschlang.

Marie zog die Lippe: »Du traust ihm nicht, du dummer Kerl? Komm gleich und gieb ihm die Pfote!« Das Tier gehorchte unwillig. Sie aber belehrte: »Du sollst mich gegen alle Menschen schützen, nur gegen den da nicht!«

Loja lächelte: »Der zottige Bursch hat vielleicht recht. Nicht wahr, Tyras, ich bin viel, viel zu schlecht für sie? . . . Etwas Gewissensbisse fühle ich auch, Marie. Mit dem Gampesch bin ich doch quitt geworden auf eine Weise, die ich eigentlich bereuen sollte.«

Marie schüttelte den Kopf. »Du bereust? Lieber Hans! Seitdem ich dich habe, bin ich innerlich ganz frei geworden. Mein Vater hat mich vor dem heißen Natzfeldschen Blute meiner Mutter gewarnt – und ich habe gelächelt. Jetzt weiß ich, daß das Natzfeldsche Blut mich bis hierher gebracht hat – und ich segne es! Was hätte mir denn das Wilneinsche Pflichtgefühl hier genutzt! Ich bereue nichts! Pflicht . . . Sünde . . . sind ja alles hohle Phrasen, an der Liebe gemessen. Ich habe doch ehrlich gekämpft, so ehrlich, daß ich noch vor sechs Stunden glaubte, es 238 wäre die Sündenlast, die mich elend machte . . . Weißt du übrigens, daß heute mein Geburtstag ist? Und du bist mein Geschenk!« Ihre Augen leuchteten. »Lieber, lieber Hans! . . . Es ist unchristlich, was ich sage, und pietätlos, doch mir kommt's vor, als versänke langsam in meinem Leben alles – nur du bleibst! Ist's nicht wie in der Bibel: Du sollst Vater und Mutter verlassen und deinem Manne anhangen?«

Er küßte sie, und sie schloß die Augen. »Marie!«

»Marie,« wiederholte sie leise. »Das höre ich so gern von dir . . . ›Schatz‹, ›Liebling‹, ›Kleine‹ . . . ihm stand's ja. Aber daß ich das fast zwei Jahre ertragen habe – das Fade, Süßliche, auch die Stimme! Du hast mir nie geschmeichelt, mich immer hart, höhnisch, schlecht behandelt. Aber du bist ein Mann! Von dir kann ich alles ertragen. Schilt mich – ich lächle; schlage mich – und ich küsse dir die Hand. So sind wir Frauen, wenn wir lieben. Uns zu erniedrigen, selbst aufzugeben, alles zu sein nur in ihm – das ist unser Glück.« Sie lächelte selig. Dann huschten wehmütige Schatten über das süße Gesicht. »›Marie‹, . . . und doch klingt's wie Schwermut durch, Hans, als wenn du an das Glück nicht recht glauben könntest . . . Glaube doch, glaube doch! Ich glaube jetzt fest daran.«

»Wir lieben uns zu sehr, Marie.«

»Mit einemmal Pessimist? Und wenn's nicht lang dauert – na gut! Möchtest du die eine Stunde hier für eine mittelmäßige Ewigkeit hergeben? – Ich nicht!«

»Meinst du, ich, Marie?«

»Also warum Trübsal blasen? Uebrigens ein merkwürdiger Mensch bist du doch! . . . Interessiert 239 es dich denn gar nicht, seit wann ich dich liebe, wie es gekommen ist, wie ich mit allem andern gebrochen?« Sie sah ihn schelmisch an und verstand den gequälten Zug seines energischen Mundes nicht recht.

»Ich seh' in die Zukunft, Geliebte, und . . .«

Sie preßte die Hand fest auf seine Lippen: »Nein, nein! . . . Heute nichts mehr von der Zukunft! . . . Da siehst du, wie weit es mit meiner Unterthänigkeit her ist; der Pantoffel fängt schon an . . . Ach, Unsinn – Pantoffel! Heute ist unser Beichttag . . . Bilde dir nur nicht etwa ein, Hans, daß der Freiherr v. Loja nur hierher zu kommen brauchte, damit sich die Comtesse Wilnein in ihn stehenden Fußes verliebte. O nein! Sie hat ihn ganz rechtschaffen gehaßt, verachtet, abscheulich gefunden. Was ich dir heimlich und öffentlich nachgesagt habe . . . ›Teufel‹ – war noch das Mildeste! Denn du bist der leibhaftige Teufel! Du wirst wahrscheinlich selber gar nicht wissen, daß du mich Zoll für Zoll vergiftet hast. Dazu lächelst du auch noch! Daß ich einen solchen Teufel lieben muß, der mir den Glauben, den Lebensmut, die Freundin, den Bräutigam genommen hat, um sich's ganz allein in meinem verödeten Herzen bequem zu machen! Und wenn ich wenigstens die moralische Kraft hätte, dir und mir dafür die Leviten zu lesen . . . nein, ich bin dem schlechten Menschen so grenzenlos dankbar dafür, daß er mir nichts gelassen hat als sich selbst. Damals, wo Pflicht, Treue, Glaube, Selbstlosigkeit wie gute Engel für mich kämpften gegen die Sünde, da fühlte ich mich sterbensunglücklich. Jetzt bin ich nach der Ansicht aller guten Leute ein sündiges, verlorenes Schaf – und unbeschreiblich glücklich! . . . Dafür willst du mich wieder küssen? . . . Sieh mich 240 an mit deinen häßlichen Augen . . . ganz fest . . . noch fester . . . so – näher . . . näher . . . ah! . . . Du machst mich noch wahnsinnig mit deinen Küssen! . . . So möchte ich sterben . . .«

Die langgezogenen Töne des Tamtam hallten durch den Park. Die Comtesse richtete sich auf und sah mit verständnislosen Augen den Wolfshund an, der sich gähnend erhob und sie anwedelte. »Wie spät, Hans?« fragte sie endlich.

»Viertel neun.«

Sie war zur Wirklichkeit erwacht. »Sie wollen zu Abend essen. Gesellschaft wird auch genug da sein . . .«

»Dann geh, Marie.«

»Ich werde wohl müssen,« antwortete sie langsam. »Und wenn ich nicht ginge, bei dir bliebe die Nacht – für immer? Wir gehen durch, wie meine Gouvernante mit dem Inspektor. Und Geld haben wir beide nicht. Wir fahren vierter Klasse. Ich binde ein Kopftuch um wie eine Bauernfrau. Aber dann wirst du mich nicht mehr lieb haben, Hans?«

Er zuckte unwillig die Achseln. »Am Kostüm von Reusnitz hängt meine Liebe nicht!«

Darauf dachte sie einen Augenblick nach und lachte hell auf. »Ach wo! Das mach' ich ganz anders. Wir gehen in den Saal, wo natürlich die Creme der Gesellschaft hungrig und böse auf mich wartet – wir beide selbstverständlich Arm in Arm – und ich sage: ›Wenn Sie zwei glückliche Sünder sehen wollen, meine Herrschaften, bitte, hier!‹ Ich glaube, das kapiert die alte Walen, ohne daß man's ihr ins Hörrohr schreien muß. Und Doerstedt – das dumme Gesicht! Und die Mutter – das Lächeln! 241 Und Anna, der Hasso durch die Lappen gegangen! Ach, das wäre zum Totlachen! Vielleicht ist auch der dicke Domat da, wo möglich wegen des hohen Geburtstages in der Landwehruniform ohne Taille, – und die Frau, meine Freundin! Umarmen würde sie mich nicht. Seitdem er den Piepvogel beinahe am Ring durch die Nase hat, da ist die Nobilitierung zu nah, um gesellschaftliche Ungeheuerlichkeiten zu sanktionieren. Aber die öden Gesichter, die verlegenen Gratulationen! Nein, Hans, wenn ihnen dann die Schauspielerei nicht in die Brüche geht, dann sind sie vom Fach . . .«

»Und dein Vater?« warf er ein.

Das übermächtige Leuchten in den schönen Augen wurde matter, und ein trotziger Zug flog um die Mundwinkel. »Allerdings – erbaut wird er nicht sein! . . . Meinetwegen . . . Dennhöfen gehört mir allein, ganz allein . . . Dann richten wir uns das alte Schloß ein – das heißt,« verbesserte sie sich rasch, »so unkindlich bin ich nicht. Er ist mein guter, guter Vater, der vieles auf sich nehmen würde, um mich glücklich zu sehen.«

»Wer weiß,« zweifelte er. »Im übrigen geht die Phantasie mit dir durch, Marie. Die Sache liegt viel ernster. Wenn's morgen Gampesch erfährt?«

»Warum nicht!« Mit hochmütiger Kühle sah sie nieder auf den Hund.

Loja aber antwortete langsam, jedes Wort betonend: »Er müßte mich fordern! Ich könnte ihm in diesem Falle die Satisfaktion nicht verweigern . . . Er hat den ersten Schuß« – Maries Gesicht wurde grau –, »entweder thut er mich beim ersten ab« – Maries Arm sank schlaff herab –, »beim zweiten erschieß' ich ihn! . . .«

242 Da warf sie sich mit dem ganzen Körper auf den Mann, als wollte sie ihn schützen. »Ja, du ihn . . . Ja, du ihn!« hauchte sie. Und mit der Todesangst des Weibes, die im grausigen Egoismus nur für den einen bebt, sprach sie weiter: »Du darfst dich nicht mit ihm schießen! Er ist doch ehrlos – er hat dir sein Wort gebrochen! Und wenn du's nicht sagst, ich stelle ihn auf der Landstraße, in seinem Hause, bei uns, wo ich ihn finde – und ich werde ihn finden! – und spring' ihm ins Gesicht und sage ihm: ›Du meineidiger Schuft!‹ . . . Oder wenn's sein muß – Hasso wird's machen, daß du den ersten Schuß hast, daß du ihn erschießen kannst . . . Und wenn du ihn doch nicht träfst – und er dich! . . . Nein, das ist unmöglich! Nein, nein!« Die Worte jagten sich, während ihr alle Glieder zitterten. »Ich werde ihn vergiften, werde einem Knecht Geld geben, daß er ihn heimtückisch erschlägt . . . Reizt uns nicht zum Aeußersten – in jedem Weibe steckt ein Raubtier . . .«

Dann wich die unheimliche Nervenspannung, und Marie brach in ein verzweifeltes Schluchzen aus, als wenn sie ihn schon vor sich sähe, den toten Mann – »o Gott, o Gott! – Und wenn sie dich heimbringen, kalt, tot . . . mein Gott, das kannst du mir nicht anthun!« Sie fuhr ihm liebkosend über das Gesicht. Aus thränenverdunkelten Augen schaute sie zu ihm auf. »Sieh mich an, geliebter Mann! Nicht wahr, das wirst du nicht thun?« flehte sie. »Was ist denn die ganze Ehre wert, wenn sie solches Unheil schaffen kann? Versprich mir's, sei gut! Sieh mal, als ich noch mit ihm verlobt war, da dachte ich immer: Wenn er doch mal so was ganz Verwegenes thäte – das wäre schön! Und 243 bei dir bin ich gar nicht auf den Gedanken gekommen, ich habe nur Angst für dich! Das ist ja die andre, die große Liebe . . .«

Nur langsam legte sich die Aufregung . . . »Gieb mir dein Taschentuch, Hans, daß ich nicht so verweint aussehe; ich habe meines im Walde vergessen.« Sie erhob sich. »Ich aber will lächeln und lügen. Niemand soll mir's anmerken, verlaß dich darauf! Und du, versteck dich in deiner Wohnung, denk nach, was wir thun können! Zu niemand ein Wort! Wir sind wieder Feinde. Morgen um zehn treffen wir uns im Walde an der alten Stelle. Ich werde Tyras mitbringen wie heute, gegen etwaige Lauscher. Behüt dich Gott!«

»Behüt dich Gott!«

Sie küßten sich. Die Comtesse eilte leichtfüßig von dannen. Er wandelte nachdenklich durch die Allee. Nach seinem Bauernhause gelüstete es ihn nicht. Als er endlich auf einem Seitenwege, der zwischen dunkeln Tannenbosketts sich bis zu einer Feldwiese fortschlängelte, vorsichtig dahinschlich, raschelte es im Buschwerk. Er fuhr zusammen – zwei Frauenarme umschlangen ihn. »Ich muß dich noch mal küssen . . . ich muß! Nicht wahr, du schießest dich nicht? . . . Ich müßte ja vor Angst sterben! Versprichst du's mir?«

Und er versprach. 244

 


 


 << zurück weiter >>