Johannes Richard zur Megede
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Johannes Richard zur Megede

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Zwölftes Kapitel.

Die Gesellschaft war aufgebrochen, hastig, mißgestimmt. Den Aelteren und Verständigeren behagte es durchaus nicht, daß die Sache eine ernste Wendung nahm. Aber Vorstellungen halfen nichts. Doerstedt war animiert und darum sehr selbständig. Loja stumm, achselzuckend und mit gekniffener Lippe; Natzfeld pfiff durch die Zähne, seines schlechten Streiches froh. Ueber dem verlassenen Tanzsaale lag die häßliche, graue Stimmung der weit vorgeschrittenen Nachtstunde. Aus den klebrigen Bowlegläsern stieg der fade Geruch abgestandenen Weines, eine Messinglampe knisterte, qualmte. In einer Ecke saßen die drei Herren mit matt glimmenden Zigarren in halblautem Gespräche. Hasso fixierte die Bedingungen: Ziel, wo die Senkenhagener Chaussee einbiegt – Weg dahin nach Belieben des Fahrers – Gangart nur Trab – der Preis für die Herren ein Souper, für die Damen Bouquets in den Wappenfarben des Siegers.

Unten in der Hausthür standen indes die beiden Damen in Bulgarenkappe und Radmantel, die schöne Anna kerzengerade mit einem kalten Siegeslächeln auf ihren roten Lippen; die Comtesse lehnte am Pfosten, fröstelnd, übernächtig, das Auge matt. Es wehte eisig. Ein verschleierter Mond hing über dem 256 stummen Marktplatze, um die grauen, häßlichen Häuser kroch feiner Nebel, flatterte über die schwarzen Schornsteine und scharfen Dachfirste wie ein zerrissenes Nachtgewand und ballte sich über dem treppenartigen Giebel des alten Thores zu dicker, unbeweglicher Dunstkappe. Ganz ferne klang das Rollen des letzten Wagens, wie das gleichmäßige Aufschlagen der Flutwelle auf weitem Strande. Jetzt ward es in der Seitengasse lebendig. Aufschnaubende Pferde, harter, zögernder Rossehuf – tapp – tapp auf holperigem Pflaster, kreischende Räder, knirschende Eisenreifen: die Viererzüge fuhren vor. Voran der Doerstedter: gelber Jagdwagen, helles Geschirr, schimmernde Beschläge; die Rappen schlank gebaut, rassige Tiere mit kleinem, trockenem Kopf, funkelndem Hals und vom Training scharf geschnürter Taille; der geschlossene Huf hob sich leicht, graziös, mit federnder Kraft. Der junge Kutscher stand steif, wohlgeschult hinten im Wagen. Bedächtig folgte der Sandschneider der Comtesse auf hohen, dunkeln Rädern. Lederzeug und Beschläge glänzten in schwarzem Lack, und nicht wie bei den Rappen kündete die silberne Krone an der Scheuklappe den adligen Rang des Besitzers. Etwas steif, würdig, standen die Orloffs, massige, sehr hohe Karossiers, etwas bejahrt schon, mit muskelbepackter Schulter und starkem Halsaufsatze, behäbige Herren, scheinbar ohne die Nervosität des edeln Blutes, aber vielleicht in der Entscheidung von gediegener Kraft.

Die Comtesse hatte sich aufgerichtet und ärgerte sich über den alten Kutscher, der auf seinem Bocke schlaftrunken nickte und die Laternen nicht angezündet hatte. Jetzt kamen auch die Herren heraus. Natzfeld sah mit scharfem Blick auf die Viererzüge: »Was 257 hat euer alter Kutscher wieder, Mieze? – Wechseln Sie doch die Gesäße, Mensch, Herr Baron kutschiert! Und die Lichter? Natürlich verbummelt! Verzeihung, Cousinchen, wenn ich mich hereinmische; den alten bezechten Dojan würde ich noch heute wegjagen. Wird's bald? Runter vom Bock! Die Herrschaften warten.«

Während der alte Mann schwerfällig herabstieg und den Wagen in Ordnung brachte, saßen die Doerstedts bereits im Gefährt. »Also deswegen keine Feindschaft nicht!« rief der Dandy von seinem Sitze und griff nach der Peitsche. »Ich fürchte allerdings daß die Orloffs uns nicht an die Eisen, geschweige denn an die Gurten kommen werden. Unterthänigster Diener.«

»Machen Sie die Sektlampe aus und denken Sie ans Reugeld!« höhnte Prinz Lack. »Wir thun's billig. weil Sie's sind, und weil die Stunde etwas vorgeschritten ist.« Darauf lachte der Dandy laut, die Peitsche pfiff, und in gestrecktem Trabe fuhr der Viererzug ab. Als Antwort drückte Natzfeld die Jockeymütze bis in den Nacken, zog die Lackstiefeln mit nachlässiger Bewegung höher und rief nach dem Hausknechte, der in der Seitengasse das Pferd hielt. »Er macht, weiß Gott, Ernst, der Esel!« murmelte er ingrimmig, und lauter fügte er hinzu: »Also, Loja, was auch kommen möge, lassen Sie dem Burschen den Triumph, uns geschlagen zu haben, nicht! Ich weiß ganz gut, daß die Trakehner brillante Gänger sind, ich weiß aber auch, daß, wenn die Orloffs ein warmes Haar bekommen, die Sache Pferdefleisch kostet, und zwar Doerstedtsches Pferdefleisch.«

Mit halbem Ohre hatte der Freiherr zugehört. 258 Er schritt langsam den Viererzug an beiden Seiten entlang, zog mit dem geübten Auge des Kenners hier eine Schnalle fester, rückte dort dem linken Vorderpferde das Kopfstück zurecht und klopfte dem unruhig gewordenen Tiere, das wiehernd zur Seite drängte, besänftigend den Hals. »Ein Blender,« erklärte er ruhig.

»Selbst einer,« murmelte die Comtesse, »wir werden's ja früh genug erleben, daß du nicht fahren kannst.« Jetzt winkte Natzfeld dem Knechte; die Vollblutstute kam heran, krumm, schläfrig. Der Reiter schwang sich mit gewohnter Nachlässigkeit in den Sattel. »Auf Wiedersehen am Ziele!« Dann ritt er nach dem Brauche der Rennbahn vornübergebeugt, blasiert, mit loser Schenkelfühlung ab; träge klapperte der Huf des Rosses im Schritt auf dem Pflaster.

Loja zögerte noch. Die Comtesse sah ihn an: »Wollen wir?«

»Ungern. Es ist eine große Kinderei. Warum provoziert man mich eigentlich hier immer?« Ein mitleidiges Achselzucken war die Antwort. Sie stiegen auf. Der Kutscher reichte die Zügel. Als Loja die Leinen durch die Finger gleiten ließ, merkte die Comtesse, daß er von der Sache doch mehr verstand. Es freute sie nicht. Die Tiere fühlten die fremde Hand und versuchten schnaubend zu steigen – ein leiser Pfiff des Freiherrn – im Galoppsprung zogen sie an, das Pflaster dröhnte. Funken stoben unter den Eisen, besorgt sah der alte Kutscher auf das Experiment. Aber noch vor dem Thore waren die Unmutigen zu kurzem Trabe gebändigt. ›Seine berühmte leichte Hand!‹ dachte die Comtesse. Daß sie schon jetzt seiner Kunst zögernd vertraute, ärgerte sie. Die Fahrt war ihr fast leid. Mit festem Zügel ging's durch die engen Straßen der Vorstadt. Der Karussellplatz lag öde, die Leinwand des Cirkus flatterte im Abendwinde. Hinter dem Windschirm tönte das schwere Schnaufen eines schlafenden Pferdes. Der Wagen hatte das dröhnende Pflaster passiert und fuhr dumpf rollend auf harter, weißer Chaussee zwischen kahlen Ulmen. Kaum hatten die Orloffs den scharfen Hauch der weiten freien Ebene verspürt, als sie mit hellem Gewieher vorwärts drängten. Lojas Faust schloß sich eisern um die Zügel. Tief bis auf die Brust senkten die Füchse den Kopf, zum Durchgehen bereit. Es war der neue Herr, und sie wollten ihn versuchen. Doch er zwang sie wieder mit seiner zähen, verbissenen Kraft. Die Comtesse schloß die Augen. Sie wollte nicht Zeuge sein, wie er das stolze Gespann meisterte; und immer wieder hoffte sie, ihn zu hören, den wilden Hufschlag der führerlos dahinjagenden Rosse. Als sie die Augen aufschlug, blinkten hart neben ihr die Laternen des Doerstedtschen Jagdwagens. Die Viererzüge hielten. Den Orloffs rieselten weiße Schaumflocken von den Ganaschen, sie standen mit geblähter Nüster kampfesmutig, die Witterung der Entscheidung in den feurigen Augen. Ihnen zur Seite die Rappen, kleiner, feiner, wie Schemen, trotzdem für den Kenner rassiger und von edlerem Bau. – Vorn im Nebel ein verschwindender Reiter und der verhallende Trab eines flüchtigen Pferdes auf weichem Sommerwege. Es war Hasso, der zum Ziele ritt. Doerstedt richtete die Gespanne.

»Alles fertig?«

»Alles fertig!«

»Eins – zwei – drei – los!« kommandierte kurz und schneidig der Dandy.

260 Was das Zeug hielt, jagten die Trakehner vom Start. Loja verhielt. Es ging die weiße Chaussee entlang. Hell dröhnender, flüchtiger Hufschlag; einen Augenblick überlief die Comtesse der leichte Schauer vor der Entscheidung, den nur die mutigen Herzen kennen; sie fühlte es wie wollüstige Unkraft. Da bogen die Rappen, die in glänzender Pace führten, links ab. Es war weicher Boden, der das donnernde Geräusch zu dumpfem Tone dämpfte. Die Comtesse fröstelte es. War es dieser unbestimmte, wie aus weiter Ferne klingende Ton, war es das geheimnisvoll Gespenstische, das in dem monddurchleuchteten Silbernebel zitterte, das namenlos, lautlos in diesem Augenblick über das braune Wiesengras kroch? Ihr ward's unheimlich. Dabei waren ihre Sinne so klar. Sie kannte beinahe jeden Fußbreit des Bodens hier. Sie wußte, daß jener weiße, schmale Streifen zur Rechten Chaussee war, und links drüben, über das kleine Rinnsal hinweg, das gestrüppumsäumt spärlich fließend sie begleitete, ganz weit in der Ferne die gelben Lichter des Eisenbahndamms wie Leuchtkäfer im Dunstmeer schwammen. Schier endlos zog sich der braune Wiesenstreifen, auf dessen moorigem Grunde die Pferde nicht durchtraten, weil der Frost die tieferen Schichten noch gebannt hielt. Doerstedt trabte so flüchtig voran, daß sie den Wagen kaum noch hörte. Nur als unklare Masse schwebte das Gefährt zwischen den schmalen Lichtstreifen, die seine Laternen nach vorn warfen.

Noch immer zügelte Loja das wachsende Ungestüm seines Gespannes. Die Lippe der Comtesse verzog sich zu kaltem Spotte. War er feige? Fürchtete er als Mann die Entscheidung, auf die sie als Weib brannte?

261 »Sie fahren vorsichtig, Herr Doktor!«

Er antwortete nicht. Sie schaute auf seine Hand, diese schmale, vornehme Damenhand. Der Knopf des gelben Wildlederhandschuhs an der Rechten war aufgesprungen, und die gespannten Sehnen des Unterarms traten hervor. Etwas wie unfreiwillige Bewunderung für diese brutale Kraft stieg in ihr auf. Wenn die Orloffs so in den Leinen lagen, hielt sie der alte Kutscher nicht mehr, und bei ihm hier erschien es nur Spiel. Was wollte er überhaupt? War's wieder die Finte, der der unerbittliche Temporalishieb folgte? Er mochte ein Teufel, ein Schurke sein, der brutal oder heimtückisch den Feind zusammenhieb, aber feige war er nicht! Sie wunderte sich, daß sie ihm das gerade jetzt zugab. Und als sie wieder auf seine Hand sah, wußte sie, was er wollte. Wunderbar ruhig, ganz gleichmäßig, Linie für Linie gab er den Orloffs die Zügel. Sie merkte es kaum. Nur war es ihr jetzt, als wenn der schwarze Schatten vorn sich nicht mehr verkleinerte, als wenn die Luft ihr schärfer in die Bulgarenkappe pfiffe. Sie lächelte nicht mehr. Er kannte die Orloffs, als wenn er sie selbst gezogen, und die Spannkraft des Materials, als wohne sie in seinem eignen energischen Kopfe.

»Finish! Herr Doktor!« sagte sie triumphierend.

Dann reute sie der Beifall. Und jetzt kamen sie näher, immer näher. Der schwarze Schatten wurde größer, deutlicher. Dabei gingen die Rappen ihr schärfstes Tempo, das sich nicht beschleunigte, so oft auch der Dandy wieder durch die Zähne pfiff. Aber die Orloffs waren noch nicht auf der Höhe ihres Trabes. Die Comtesse wußte es nicht, sie fühlte es nur in der Bewegung dieser schmalen Hände, die immer wieder Linie für Linie nachgaben. 262 In ein . . . zwei Minuten mußten die Füchse die Front haben, und dann erst begann der eigentliche Kampf. Ihre ganze Energie war erwacht, ihr Auge blitzte im heißen Siegergefühl. Da streifte ihr Blick das gehaßte Gesicht, und sie wünschte den Sieg nicht mehr. War's nur Haß und Abneigung? oder war's der heiße, verbissene Kampf ihrer Frauennatur gegen einen Manneswillen, der weit stärker war als sie? Und immer wieder glitten diese schmalen Hände zurück, Linie für Linie, gleichmäßig, ruhig – und immer wieder setzten die Orloffs schärfer ein. Es war der Comtesse eine Qual, und es überkam sie wie Wut, Empörung. Warum stürzte keins von den jungen Vorderpferden, warum versagten die alten Veteranen nicht den Sklavendienst? – Und jetzt waren die Füchse auf ihrer Höhe. So hatte sie die Orloffs noch nie gesehen! Mit langem, wundervoll ausgreifendem Trabe jagten sie dahin, die Luft sauste, der Nebel zerstob, das schwarze Etwas vor ihnen war nahe. Sie konnte das gelbe Holz des Wagens, den Kutscher erblicken, sie hörte deutlich, wie er stehend nach vorn rapportierte. Aber die Rappen schnaubten nur unmutig, unfähig zu schärferem Trab.

Er hat gesiegt!

Da kam ein leises Pfeifen herüber, es kam von Doerstedts geschwungener Peitsche.

»Pfui, er galoppiert!« rief die Comtesse; sie hatte den wechselnden Hufschlag sofort erkannt und sah fragend auf Loja. In seinem Gesichte zuckte keine Muskel. Und als wenn die Orloffs gewußt hätten, was man jetzt von ihrer Traberehre verlangte, legten sich die Tiere noch schärfer in die Sielen, die Muskeln zitterten vor unerhörter 263 Kraftanstrengung, aber der Galoppsprung der Rappen tönte jetzt ferner, flüchtiger, und die Vorderpferde des Wilneinschen Gespannes versuchten bereits im Halbgalopp zu gehen. Loja wandte seinen Kopf ein wenig zur Comtesse, der alte Kutscher aber, den die Wettfahrt gänzlich ernüchtert hatte, sagte gekränkt: »Unsre galoppieren besser!« Und da trieb's die Comtesse, Loja zu reizen, zu höhnen.

»Gewiß galoppieren die Orloffs besser! Freilich, wenn Sie den Mumm nicht haben, Herr Doktor . . .«

Er wandte ihr langsam ganz das Gesicht zu und sah ihr voll ins Auge. Das war nicht das graublasse, kühle Gesicht mit dem undurchdringlichen Blicke, das war das wilde, leidenschaftliche, zur Häßlichkeit verzerrte, das waren die bösen, grünlich schillernden Augen, aus denen die Funken sprangen, und deren versengendem Blitz auch ihr heißes, mutiges nicht gewachsen war. Ganz leise, gepreßt klang es durch seine weißen Zähne: »Man hat mir an allem 'rumdisputieren wollen, an meiner Geburt, meiner Ehre, – an meinem Mute nie! Wissen Sie, Comtesse, es ging mir im Leben stets wie auf der Mensur, und wenn ich einen vor die Klinge bekam, so mußte er noch immer bluten!« Seine Hand glitt tastend nach der Stelle hinüber, wo die Peitsche stak. Der Kutscher wollte etwas sagen, ein befehlender Blick der Comtesse schloß ihm den Mund.

Was sie herausgefordert, wußte sie selbst. Wenn die Orloffs den ersten Peitschenschmiß fühlten, gingen sie durch! Wahrscheinlich ahnte er das nicht, oder wenn auch, er war sicher nicht der Mann, davor zu zittern. Und sollte sie weniger mutig sein als er? Er hatte die Peitsche gefaßt, ein leiser, singender Schwung über die Köpfe der Vorderpferde hinweg 264 – sie spitzten das Ohr – ein scharfer, pfeifender Hieb, der die Rücken aller vier deckte. Der Comtesse schlug das Herz bis zum Halse. Darauf ein Ruck, ein jähes Stutzen, und mit Gedankenschnelle lag der Viererzug in Carriere. Dem Kutscher sträubten sich die grauen Haare, Lojas Faust hatte sich um die Leinen zusammengekrampft, bereit, mit ihrer Riesenkraft auch jetzt noch das durchgehende Gespann zu parieren.

Und nun kamen sie auf, rasch, rasend. Noch vor Sekunden war der Doerstedtsche Wagen im Nebel verschwunden gewesen – und jetzt sahen sie ihn – jetzt galoppierten die Vorderpferde bereits in der Höhe des Wagens – jetzt hätte die Comtesse fast zur schönen Anna hinüberlangen können, die, in hilfloser Angst zusammengesunken, den Sealskinmuff vor die Augen hielt. ›Ich hätte dir mehr Mut zugetraut, schöne Anna,‹ dachte sie spöttisch, und dann wollte sie dem Dandy zurufen: »An den Gurten wären wir, einen Galoppsprung noch, und wir haben die Tete.«

Aber Doerstedt, nicht mehr ganz nüchtern und kein Feigling, gab im selben Moment den Rappen mit einem Ruck den ganzen Kopf frei, und die vor Lärm und Aufregung halb wahnsinnigen Tiere setzten in einem so tollen Durchgängertempo ein, daß sie die Höhe gerade noch halten konnten. Da verschlang die nervöse Ruhe der Comtesse die aufflammende Passion. Einen Augenblick fürchtete sie für die Orloffs und Loja. Doch Pferd und Fahrer ersetzten hier durch Temperament und Energie reichlich, was ihnen an Jugend und Kunst abging. Der Ehrgeiz der Veteranen, einmal gestachelt, kannte kein Maß mehr. Es war, als wenn dieser 265 schwere, mächtige Galopp den Sieg mit sich fortreiße, mit sich fortreißen müßte. So sehr sich auch die rassigen Trakehner streckten, der Moment war nahe, wo sie geschlagen zurückfallen mußten. Loja rührte die Peitsche nicht. Aber Doerstedt, der die Niederlage kommen sah, hieb halb toll auf die Rappen ein: »Vorwärts, ihr Canaillen, vorwärts!«

Die schöne Anna hatte sich in Todesangst an des Bruders Arm geklammert: »Hab Mitleid, hör auf!« Er schüttelte sie mit einer einzigen Bewegung ab: »Los, ihr Biester, los!«

Die Comtesse sah, wie die Füchse ihre letzte Kraft einsetzten. Wenn sie doch siegten, wenn der Training doch über das Blut triumphierte? Denn unentwegt hielten noch immer die edeln Stuten die Höhe. Die weiße Chaussee schimmerte herüber. Da war der Einlauf. Der Freiherr hob die Peitsche – und jetzt that der Dandy etwas scheinbar ganz Unsinniges: er drängte mit Gewalt nach rechts. Die Orloffs gaben nach. Wenn Bracken und Stränge jetzt nur hielten! – »O! wir haben ihn, Herr v. Loja!« Die Füchse streckten den Hals vor . . . eine Sekunde noch . . . noch eine, die dampfenden Köpfe der Hinterpferde tauchten hart neben der Comtesse auf. Sie hätten ihr leid thun sollen, diese ausgepumpten Tiere, die die Peitsche immer wieder an das siegende Orloffgespann heranzubringen wußte. Und noch immer drängte der Dandy nach rechts. Was wollte er nur eigentlich? Da schoß aus Nacht und Nebel plötzlich ein Reiter hart neben dem hohen Sandschneider auf, und Hassos geschmeidige Jockeygestalt beugte sich aus dem Sattel.

»Links, Loja, links, oder ihr fahrt zum Teufel!« und seiner Stute die Sporen schärfer einsetzend, 266 hing er noch einen Augenblick an den Köpfen der Vorderpferde, die, einen neuen Rivalen witternd, ihn nicht vorüberlassen wollten, aber diesem Galopp nicht einen Augenblick gewachsen waren – dann verschwand der Reiter im Dunst. Die Comtesse sah den Freiherrn an, der den Kurs nicht ändern wollte oder konnte. Begriff er denn nicht, daß sie dem Verderben entgegenfuhren? Kaum hundert Schritte weiter kamen jetzt ganz deutlich die weißen Chausseesteine hervor. Nur ein Viererzug konnte den Einlauf passieren. Denn in schmalem Damme hob sich der Wiesengrund hier zur Chaussee, zu beiden Seiten fiel er in steiler Böschung ab.

»Halt! halt!« schrie die schöne Anna mit scharfer, durchdringender Stimme. Doch die Gespanne rasten wie sinnlos weiter. Jetzt ein, zwei, drei Zuglängen noch – in schrecklich blendender Weiße blinkten die riesigen Einfassungssteine jetzt ganz dicht. Wer den Weg fassen konnte, war Sieger, war gerettet, – wer ihn verfehlte, stürzte die Böschung hinab.

Da überkam Marie ein schreckliches, rätselhaftes Gefühl – die Todesangst! Wie glühendes Eis rann es ihr den Rücken entlang, die linke Hand krampfte sich um die Seitenlehne, die Augen schlossen sich halb. Nein, dem Tode konnte sie doch nicht ins Angesicht sehen! Daß der Dandy noch einmal die Rappen in Front bekam, daß Loja noch einmal den matter werdenden Vorderpferden die Peitsche schwer überzog, erblickte sie noch. Dann lähmte ihr halbe Ohnmacht die Sinne. Ein wahnsinniger, schriller Schrei aus Frauenmund, den sie bis in die Fußspitzen fühlte – ein sausender Peitschenhieb . . . die Blechkapsel der Nabe schrammte sprühend an einen Stein, der Wagen senkte sich auf die Seite. 267 Sie versuchte mit irren Sinnen zu stammeln: »Lieber Gott, lieber Gott, sei mir gnädig!« Die Rechte griff in ohnmächtiger Angst nach Loja hinüber. Sie wollte sich dem Manne an den Hals werfen, sich an ihn klammern: »Rette uns, rette uns! denn nur du kannst es!« – Grelle Lichter blitzten vor den geschlossenen Augen . . . dann Nacht, gliederlösende, tödliche Nacht.

Als sie erwachte, rasten die Orloffs noch immer im Galopp auf der Senkenhagener Chaussee dahin, aber wo früher der Rappenviererzug und der gelbe Wagen gewesen waren, galoppierte eine braune Vollblutstute, und Vetter Hassos Stimme, deren spöttischen Ton doch noch eine gewisse Erregung durchzitterte, rapportierte in Absätzen: »Uebrigens brillant gemacht, Loja! Aber wenn ihr so mit Tod und Teufel zu spielen gewohnt seid, allerhand Hochachtung! In acht Tagen kommen die Orschauer Nachtmützen nicht aus dem Wackeln! Uebrigens lassen Sie die Gäule nur ruhig ausgaloppieren, sonst brechen sie beim Parieren noch die Deichsel aus diesen Schlangenwindungen . . . Dem Mikrocephalen ist nichts passiert . . . Die Vorderpferde haben 's Genick gebrochen, der Wagen ist umgestürzt, und der Dandy schleppt die halbe Wiese an seinen Kleidern herum . . . Fräulein Anna sind ohnmächtig. Wenn sie mein liebliches Organ hört, wird sie sich aber zu einem kleinen Weinkrampf entschließen. Zu nahe komme ich ihr nicht! Sonst fällt sie mir schnell gefaßt um den Hals, und die brave Gesellschaft schlägt an einer Verlobung mit mir die niedergebrochenen Trakehner hundertfach heraus. Addio, Comtesse! . . . Aber kommt nicht etwa zurück, schon wegen der gekränkten Eitelkeit . . .«

Marie vermochte noch kein Wort über die Lippen 268 zu bringen. Ein ganz neues Gefühl durchrann sie. Auf einmal verstand sie die Tante, verstand, warum Loja immer der Gefährliche sei. Seine Liebe war Tod oder Seligkeit! Sie rang gegen das Gefühl, das sie mit niederzwingender Gewalt überkam und doch nicht ihr Gefühl sein konnte. Sie haßte ihn ja! Narrten sie die gereizten Nerven? Denn jetzt war's ihr wieder, als empfände sie den alten Haß, nur stärker wie je.

Allmählich begann unter Lojas zügelnder Hand der Galopp schwächer zu werden; die Vorderpferde gingen im Dreischlag, die Deichselpferde bequemten sich zu ihrem alten stolzen Trabe. Die Comtesse fühlte sich wie in einer Erstarrung, sie fröstelte. Von der Ebene pfiff ein eisiger Wind und trieb die Nebelschwaden zu Paaren. Des Mondes Scheibe hing müde, schläfrig über dem Ermland.

»Es war ein Wahnsinn,« sagte Loja in finsterem Selbstgespräch, dann wandte er sich zur Comtesse. Sie wunderte sich, daß auch sein Gesicht leichenblaß war. »War dieses Sandorstückchen unbedingt vonnöten? Wer gab Ihnen, Gräfin, das Rezept, mich toll zu machen? Sie appellierten an meinen Mut! . . . Wissen Sie, daß er lange Jahre das einzige war, was ich besaß? . . . Morgen werden die Leute sagen: Alt und verbraucht genug ist er ja, um zum Teufel zu gehen. Er ist's auch ganz gewiß, und ihm liegt nicht übermäßig viel am Leben! Aber es hätte anders kommen können. Wenn wir nun das stürzende Gespann waren: Sie starben, ich kam durch, was hätte ich Ihrem alten Vater sagen sollen? – ›Ihre Tochter, die Frau Reichsgräfin Wilnein, haben's so gewollt?‹ . . . Meinen Sie, es war meine Fahrkunst, die uns rettete . . .«

269 »Es war Gott,« antwortete sie gläubig.

»Es war der Teufel,« sagte er finster. Die Comtesse machte eine Gebärde des Abscheus. Er lächelte trübe. »Sie denken, ich glaube an den alten Herrn da oben nicht, weil ich Arzt bin, weil ich nach Ihrer Meinung weder Glauben noch Heimat haben kann? Bin ich klüger darum, wenn ich an das Urprotoplasma glaube, besser, wenn ich ein Moralphantom als Götzen anbete? Sehen Sie, Comtesse, wir kommen nie über uns selbst hinaus. Das Persönliche in uns drängt zum Persönlichen, und wir einigen uns immer wieder in einem ganz einfachen Glauben.«

Seltsam berührt schaute sie zu ihm herüber. »Und was trennt uns dann?« fragte sie träumerisch. »Wir denken und fühlen gleich – und haben's nie geahnt.«

Er sah sie an mit seinen undurchdringlichen Augen und sagte finster: »Sagen Sie das nie mehr, Comtesse! Ahnen Sie, was ich in dem Augenblicke denke? Etwas Gutes sicher nicht! . . . Wir haben heute die Vorsehung versucht; sie hat uns geschont. Wozu? Zu unserm Glück? Glaub's, wer kann! Es konnte ebensogut der Teufel sein, der seine Hand im Spiele hatte!« Er atmete tief. »Wissen Sie, daß ich das Herzblut eines Menschen will? Nicht wie ein Bravo mit einem Dolchstoß, nein, ich bin grausamer, ich will's ihm abzapfen, Tropfen für Tropfen, Stunde für Stunde. Und er soll fürchten, bangen, wenn ich komme, und sich doch nicht wehren können.«

Ihr graute. Noch vor einer Stunde hätte sie's ihm zornsprühend ins Gesicht geschleudert, das empörte: »Schon so denken ist Sünde.« Und jetzt, jetzt? Sie 270 schwieg, kraftlos, würdelos. War er ein andrer geworden oder sie? Sie hatten zusammen dem Tode ins Auge geschaut. Furchtlos, kalt, ein Mann – er; ein Weib, leidenschaftlich und doch mutlos – sie. Das war das Band, das finstere, geheimnisvolle, das sie umschlang! Er war der Mann, der das Weib gebändigt, die eiserne, brutale Reiterfaust, die mitleidlos alles niederzwang, was sich gegen sie aufhob – auch sie. Fortan konnte sie ihn wohl noch hassen, aber ihn doch nicht mehr verachten. Sie verdammte ihn vielleicht, aber sie verstand ihn. Wie er war, mußte er sein.

Schwächlinge können verzeihen, er nicht. Das Vollblut galoppiert, bis es zusammenbricht . . . Von heute an wußte sie, daß er Vollblut war, als Freund wie als Feind. Es war der gemeinsame Zug ihres Wesens, der hier hervorsprang, aber schärfer, dämonischer. Daß er viel stärker war als sie, gab sie in seine Hand. Ihr Stolz, ihr Haß, ihr Rassegefühl wehrten sich mit der Kraft des Instinkts gegen eine Empfindung, die sie schwächer machen wollte, als sie in Wirklichkeit war.

An Arthur v. Gampesch dachte sie nicht.

Hatte Loja ihr Schweigen verstanden, oder fürchtete er, zu viel gezeigt zu haben? Denn höhnisch fuhr er fort: »Es war ein Scherz, selbstverständlich. Wessen Herzblut sollte ich gerade hier wollen und warum? Ich bin ganz glücklich. Und daß ich für mich lebe, höchstens mit Natzfeld verkehre oder mit einem paar Verfemter? Ich gehöre zu euch allen nicht, wie ihr nicht zu mir. Weil ich mit Gellmann verkehre, gelte ich als gesellschaftlich tot, weil ich Naturwissenschaften studiert habe, Arzt bin, als ein meineidiger Edelmann. Die guten Leute haben ganz 271 recht. Revolutionär bin ich, – ich habe nichts. Warum sollte ich es nicht sein?«

»Und was hat Sie denn mit meinem Vetter Hasso zusammengebracht?«

»Wahrscheinlich etwas, was weder mit dem Glauben, noch mit der konservativen Partei, noch mit meinem Uradel etwas zu thun hat. Vielleicht weil wir beide lange im Auslande waren, vielleicht weil . . . doch kann Sie das ja gar nicht interessieren, Comtesse! Sie verstehen meinen guten Freund Gampesch, folglich verstehen Sie weder mich noch Natzfeld. Und wenn ich Ihnen raten darf, bleiben Sie mit Ihren Gedanken und Gefühlen in jener ewig goldenen Mitte. Sie werden dann zwanzig Jahre später als sonst graue Haare bekommen und an einer höchst anständigen Alterskrankheit sterben. Das höchste Glück ist das freilich nicht! Es giebt eben von Olims Zeiten her Leute, die gern in ihrem Bett, und andre, die lieber in ihren Schuhen sterben möchten. Angenommen, Sie hätten die Wahl zwischen einem langen, langweiligen und anständigen Glück und einem ganz kurzen, ganz großen, ganz sündigen: – würden Sie Bett oder Schuh vorziehen?«

»Ich weiß nicht, was Sie da meinen,« antwortete sie trotzig; »soll das irgend eine Beziehung haben?«

»Nicht, daß ich wüßte! Nur daß Sie vor einer halben Stunde noch eine starke Neigung verspürten, in Ihren Schuhen zu sterben, Comtesse. Das ist eigentlich seltsam . . . da Sie doch einem so langen und gerechten Glück entgegensehen.«

Die Orloffs gingen jetzt im müden Trabe . . . Der Wind pfiff schärfer. Es war der Morgenwind, der die letzten flüchtigen Nebel über die Hügel des 272 Ermlandes hinüberscheuchte. Die Comtesse schaute ins Weite. Es war dasselbe Ermland, dessen tief einschneidende Landzunge sie so gern auf dem flüchtigen Fuchse durchritt. War es wirklich dasselbe? Hinter den Bodenwellen lugte aus verschwimmendem Grau die Ordenskirche, hie und da stieg schon der Rauch aus einem gelben Insthause. Und die Fenster blinkten matt. An den Wegen standen dieselben Heiligenbilder, der vermorschte Holzheiland auf verwitterter Stange, die Jungfrau mit dem Jesuskind in ihrem Glasgehäuse, mit alten Ziegeln gedeckt. Marie las die verwaschene, tiefgläubige Inschrift: ›Maria, Gute, erhalte uns in deiner Huthe.

Wie oft hatte sie das nicht gelesen mit dem köstlichen jugendlichen Grauen vor dem Jenseits? Jetzt war's ein andres Grauen.

Sie fuhren an einem Bauernhofe vorüber; der alte vierschrötige Bauer war schon auf, er stand an der Hofthür und rauchte seine Pfeife. Als er das vornehme Gespann erblickte, spuckte er breitspurig aus und sah grußlos an ihnen vorbei auf die blaugrüne, tauige Saat. In dem Stalle blökte ein Kalb, der zögernde Huf eines herausgezogenen Pferdes klang auf dem Pflaster . . . sie sah das rostige Eisenkreuz über dem Stalleingang und wie eine Katze vorsichtig von Stein zu Stein sprang. Es war der alte, erdrückende Hauch, der sie anwehte. Sie verspürte ihn und verspürte ihn auch nicht. War es diese eisige, scharfe Luft, war's das erdrückende Grau des heraufdämmernden Morgens – sie fühlte überall nur das Fremde, Feindliche, Kalte. Dann drehte sie sich um. In weiter Ferne hob sich der verräucherte Ringofen der Senkenhagener Ziegelei im seltsamen Kontraste zu den uralten Bäumen des 273 Parkes und den vornehmen Schloßzinnen daneben. Der Turm war ein Werk des Berliner Kommissionsrats, der hierher gekommen, um Geld zu verdienen, wie überall. Früher hätte sie sich über diesen Parvenu geärgert, jetzt dachte sie nur: ›Was habe ich mit ihnen allen zu thun?‹ Aber ganz, ganz weit, nur ihrem Falkenauge sichtbar, stieg der spitze Turm von St. Johann in den Aprilhimmel. Dort war Orschau, die Stadt, um die sich alle ihre Jugenderinnerungen gruppierten. Und doch! jetzt schien sie ihr so kalt.

Der Wagen bog in einen Seitenweg ein. In dem lehmigen Geleise sanken die schmalen Räder tief ein, die Orloffs setzten den edeln Huf zögernd in die zähe Masse, und bei den Wasserpfützen spritzte es bis zur Comtesse hinauf. Loja pfiff leise, die Füchse bequemten sich zum Schritt. Und jetzt tauchte alter Fichtenwald vor ihnen auf. Eine Ecke schob sich links im Bogen vor und fing den Wind. Hier war's dämmerig, kühl, feucht, die graue Nacht lag noch unter den hohen Stämmen. Braunes Gras glitzerte im Tau am Wegrand, und die dunkeln Nadeln trugen krystallene Tropfen. Durch die Stämme pfiff schwermütig der Morgenwind. Die schüttelten sich und flüsterten dann. Ueber eine junge Schonung zog langsam ein Sprung Rehe; in den Bäumchen hing noch der Nebel, dahinter aber im Hochwald spielten bereits violette Lichter durch die Baumkronen. Und die Stämme entlang strich lautlos, langsam ein alter, verspäteter Kauz. Marie hörte den säuselnden Morgengruß durch die Nadeln ziehen, sie atmete die kühle, schwere Luft. Es war ihr Wald, ihr alter, lieber Nadelwald. Kindheitserinnerungen wurden wach: der erste einsame Ritt in sinkender Walddämmerung, das erste Träumen auf moosiger, 274 sonnenbeschienener Halde mit dem schwermütigen Rauschen in den Fichten; der leicht moderige Geruch an feuchten Herbsttagen, der köstliche Fichtenduft in lichtdurchwogtem Sonnenmittag. Das Säuseln und der Hauch . . . nie hatte sie es stärker empfunden als in dieser Stunde, daß hier die Heimat, die alte, unvergeßliche Heimat. Es drängte sie, das auch ihm zu sagen . . . Warum? Sie wollte es eigentlich gar nicht, und sie that es doch.

»Wissen Sie, daß ich sterben würde, wenn ich denken sollte, ich hätte diesen Windhauch zum letztenmal gehört, diesen Nadelgeruch zum letztenmal eingeatmet? Sehen Sie, ich könnte ja gar nicht weg aus der Heimat, wenn ich auch wollte. Ich würde am Heimweh sterben . . . Sie waren wohl glücklicher dran, hatten keine so kindischen Phantasien, sonst hätten Sie's doch draußen nicht so lange ausgehalten?«

Er starrte vor sich hin, daß sie meinte, er habe ihre Worte gar nicht gehört. Doch auf einmal riß er mit nervöser Bewegung die Zügel zurück, die Orloffs stutzten und schnaubten unwillig. Seine Nasenflügel bebten, und er preßte die Zähne auf die Unterlippe. Was sie gesagt, war doch nichts Beleidigendes gewesen? Sein Gesicht war totenbleich geworden, und die Augen flackerten im grünlichen Lichte. Dann sagte er heiser, gezwungen – leise: »Manche mögen am Heimweh zu Grunde gehen, andre leben davon! . . . Auch ich höre den Wind da oben, auch ich rieche den moderigen Nadelgeruch, auch mir sind beides Kindheitserinnerungen! Und wenn ich da draußen auf der Station in meinem Bungalow saß, die geliebte Rumflasche vor mir, und die frisch gewickelte Zigarre – wenn der Wind anfing, erst so leise – wehmütig, wie im 275 deutschen Walde . . . da habe ich mir manchmal die Lippen blutig gebissen und gestöhnt, ohnmächtig, erbärmlich, wie ein Schuljunge, den zum erstenmal das Heimweh übermächtig packt. Meinen Sie, Comtesse, ich wäre niemals jung gewesen und hätte niemals eine Heimat gehabt? . . . Soll ich Ihnen vorlügen, daß ich weggegangen bin, kühl, cynisch wie ein Handlungsreisender, drapiert mit dem blassen Fetzen der Internationalität? Ich ging, weil ich gehen mußte! Das Warum ist gleichgültig. – Ich habe da drüben vieles erlebt, war lange auf See, kenne jeden kleinsten indischen Hafen und die ganze wunderbare Vegetationsverschwendung der Tropen. Jahrelang bin ich dort gewesen, und ich habe alles gesehen mit klarem Auge und hab's auch bewundert und mich gebeugt vor dieser königlichen Macht der Tropen. Aber es war doch die Fremde! Ich habe das Heimweh und das Vaterland nie überwunden! . . . Und wenn mir die Palmen rauschten, wenn die glühende Tropensonne über dem Urwald aufstieg, wenn alles glühte, duftete, fiebergeschwängert, verderbenbringend und doch so schön – da habe ich die Hände gefaltet wie ein Kind und gebetet, daß ich die deutsche Sonne noch einmal über dem deutschen Lande schauen dürfe. Ich habe von der Sehnsucht gelebt sechs Jahre – und das macht alt! . . . Wenn ich nun wirklich vorhin nicht gelogen hätte, wenn ich wirklich das Herzblut eines Mannes wollte, der das alles zuwege gebracht – würden Sie, Comtesse Wilnein, das mir verdenken?«

»Nein,« sagte sie finster.

Da lachte er kurz auf: »Hat die rote Rumflasche ein Recht auf mich? Sie war lange mein guter Freund, mein einziger, bester . . . Frau Domat 276 erklärt mich für einen Trunkenbold; so unrecht hat sie auch nicht! – Ich muß eben immer wieder vergessen.« Er schwieg erschöpft.

Indes fuhr der Wagen im Schritt den Dennhöfer Kirchenweg entlang. Die Orloffs dampften, der Kutscher schlief, nur die beiden auf dem Bock waren noch wach, unheimlich wach. Ihr graute vor ihm, und zugleich war's ihr, als müßte sie ihm etwas abbitten, auf ihren Knieen abbitten. Er aber sah wieder mit seinem undurchdringlichen Blick ins Weite und schalt sich einen Thoren, weil ein Windhauch, ein Atemzug Nadelduft mehr Macht hatten als die Selbstbeherrschung vieler Jahre.

Sie kamen an den Fluß, der zwischen hohen Kiesufern dahinrauschte; über der lehmigen Flut lag der Nebel, ein undurchdringliches Dunstmeer; um die ragenden Tannen auf der Höhe aber flatterte er als zerrissen Gewand, und durch den grauen Himmel zuckten die ersten Lichter des Tages. Der Wagen knirschte schläfrig weiter. Die Orloffs schnaubten und drängten zur Seite, als sie den Wasserdunst spürten, und dumpf klang ihr Huf auf der schwankenden Holzbrücke, unter der die Wasser in Wirbeln dahinschossen. Auf steinigem Hohlweg ging's hinaus, und bald schimmerte der Wald lichter; knorrige Eichen mischten sich in den uralten Nadelbestand, und der Morgenwind raschelte in dürrem, von dem Herbst vergessenen Laube. Schmale, wohlgepflegte Fußgänge schlängelten sich zur Linken, weiße Warnungstafeln bedrohten den Fremdling. Es waren die Ausläufer des Gampeschkeimer Parkes, der aus seinen zierlichen Bosketten und Rasenrabatten hier in eine köstliche Wald- und Buschwildnis überging.

Die Comtesse hob sich in der Taille und sah scharf 277 geradeaus. Umgestürztes Ackerland drang hier bis hart an das Holz, und dahinter stieg aus uralten Linden das rote Dach des Gampeschkeimer Schlosses hervor. Die weiße Chaussee blinkte rechts herüber; ein Bauernfuhrwerk ratterte in müdem Trabe dahin, Loja faßte die lässig gehaltenen Zügel fester, die Orloffs legten zu schärferer Gangart aus, während der verschlafene Kutscher sich hinten heimlich dehnte und streckte. Die Comtesse sah auf den Freiherrn. Es war wieder das kalte, verschlossene Gesicht mit dem feindlichen Zuge. Er blickte nicht nach rechts, nicht nach links, nur auf die in gleichmäßigem Tempo auf und nieder wogenden Rücken der Tiere. Sie bogen in die Chaussee ein, und wieder lag vor ihnen die freie, wellige Ebene. Der Mond war versunken. In kaltem, rotem Glanze stieg die Sonne über Lorschen auf, lange, fahle Schatten zuckten über das Feld; am Waldrand kroch der Nebel träge wie Qualm dahin. Es war kein lachender Frühlingsmorgen – langsam, mürrisch tauchte die Tageskönigin aus dem Walde auf. Ihr Anblick erwärmte heute nicht. Und doch faltete die Comtesse andächtig die Hände. Es war ja die Heimat! Sie grüßte hinüber mit feuchtem Auge zu den alten lieben Bekannten ihrer Jugend. Wehmut überkam sie wie vor einem langen, schmerzlichen Abschiede. Die Windmühle auf der Höhe drüben schwang ihre verwitterten Flügel bedächtig durch die Luft – die alte liebe Windmühle mit ihrem grauen Holzverschlage, mit dem hinkenden Müllergesellen, mit der ganzen schwermütigen Poesie einer ersten Erinnerung. In den Fenstern der Bauernhöfe von Gampeschkeim spielten matt die Sonnenlichter; die alte gichtische Wetterfahne auf der Postagentur knarrte 278 im umspringenden Winde. Von den Bäumen der Chaussee tropfte es, und die Saaten hoben sich saftig im Morgentau. Doch alles beherrschend reckte sich darüber düster das plumpe Massiv des Kirchturms aus der fliehenden Dämmerung. So hatte sie ihn wohl immer gekannt, als finsteren, feudalen Gesellen, der es allezeit lieber gesehen haben mochte, wenn sich Gewappnete zu trotziger Gewaltthat um ihn scharten, als wenn die geputzten Bauerndirnen zur Kirche gingen. Sie liebte ihn, und sie liebte ihn auch nicht. Es war immer das heimliche Grauen, das ihn umwitterte. Und jetzt empfand sie das stärker, unheimlicher, wie wenn sie niemals als Schloßherrin im Schutze des feudalen Ungetüms hausen könne. – Und Loja, der seltsame Mensch, der seine Heimat mit so herzbrechender Leidenschaft liebte, warum sah er gerade jetzt an dem jungen Morgen so müde, alt aus? Er senkte den Blick– und es war ja doch auch sein Deutschland, der Osten, seine große Heimat!

Er that ihr leid, und sie wollte ihm etwas Versöhnliches sagen: »Sie sind uns allen noch etwas böse, Herr v. Loja, wissen Sie, wegen der dummen, häßlichen Aeußerung damals. Ich habe Sie formell um Verzeihung gebeten, jetzt thu' ich's auch innerlich. Ich war ungezogen wie ein Kind! Und Papa hat mich furchtbar hart gestraft. Wir wollten im Frühjahre heiraten, Arthur und ich; noch an demselben Abend aber sagte mir der Vater sein ruhiges, unerbittliches: ›Du wartest mindestens noch ein Jahr; ich würde mich schämen, jetzt eine so schlecht erzogene Tochter einem Mann in die Ehe zu geben.‹ Ich habe geweint und gefleht – vergebens. Selbst die Tante hatte Mitleid mit mir, und sie hat doch, 279 ehrlich gesagt, nur ein Herz für ihr Tüllhäubchen und für ihre Gesundheit . . . Verzeihen Sie mir?«

Loja hob den Kopf und sah ihr fest ins Auge: »Sie waren ehrlich damals, Comtesse, und hatten Mut – die einzige aus der ganzen Sippschaft! . . . Im übrigen, wissen Sie, was ich für Sie bin und sein werde?«

Da erwachte der alte Trotz in ihr. »Unser Feind! Der Instinkt sagt's mir.«

Er lächelte wieder: »Sie sehen scharf, Comtesse, und ich will nicht lügen. Ich bin der Feind von Ihnen allen hier, und was auch kommen möge, vergessen Sie das nie!«

»Wir fahren doch den Waldweg?« fragte sie darauf gleichgültig, als wenn sie nichts gehört hätte.

»Um mich nach Hause zu bringen? Um Gottes willen, nein! Ich werde mit Ihrer Erlaubnis schon hier absteigen und die halbe Stunde zu Fuße gehen.«

»Wie Sie wollen,« antwortete sie kühl. Sie nahm aus seiner Hand die Zügel, die Füchse standen. »Adieu!« – »Adieu!« Dann bog sie auf einen Feldweg. Er grüßte noch einmal vornehm hinaus.

Als die Orloffs in mattem Trabe auf den Wirtschaftshof kamen, hielt sie vor dem Kutschstall. »Reiben Sie die Pferde mit Stroh ab und geben Sie ihnen kein Wasser. Guten Morgen!« Dann sprang sie leichtfüßig herunter und ging zum Herrenhause. Verschlafene Mädchen mit blechernen Milchkannen schlichen nach dem Kuhstall. Der flachsblonde Inspektor, der eben mit einem hübschen Scharwerksmädchen angelegentlich geplaudert hatte, sah die Comtesse kommen, schrie sofort einen Knecht an und grüßte dann sehr erstaunt und sehr tief. An seiner Kette riß laut winselnd der Wolfshund. 280 »Ruhig. ruhig, Tyras!« besänftigte die Comtesse und stand schon vor der Hausthür.

Plötzlich besann sie sich und ging in den Park. Es war Nervosität, Unruhe. Sie wußte, daß sie der Schlaf fliehen würde. Es geht jungen Mädchen nach durchtanzten Nächten oft so. Die Comtesse ging durch die Lindenhecken des Mittelgangs bis zu dem Rasenrundell, das rechts und links von Tannenrabatten eingehegt war. Da gab es eine versteckte braune Bank, auf der sie schon manche Träume geträumt hatte. Es war eisig kalt. Sie schauderte, zog den Radmantel fester zusammen und setzte sich. Auf dieser Seite der Ebene lag noch ein unruhiges Nebelmeer überall. Hier war die Sonne machtlos gewesen. Das Birkenwäldchen an der Torfgrube unten, der Fichtenhügel zur Rechten, die Wiesen, die Felder – alles war in rosigem Dunst versunken.

Der Comtesse war seltsam zu Mute. Sie dachte die tolle Nacht noch einmal durch – den Cirkus – den Tanz – die wilde Wettfahrt – den Wald im Morgengrauen. Es war dabei nichts, was ihre Sinne beunruhigen konnte. Und doch schien ihr eine Welt zwischen gestern und heut zu liegen. Es war etwas zerrissen in ihr, und sie wußte nicht was; es war etwas in ihr untergegangen, etwas Neues emporgestiegen; sie hatte nur das Gefühl, deuten konnte sie es nicht. Nun versuchte sie an Arthur zu denken, den liebenswürdigen, klugen, hübschen Arthur mit dem schicksten Husarenstiefel und dem schicksten Attila. Sie liebte ihn ja, sie liebte ihn ganz gewiß! Aber was wollte denn inmitten ihres Liebestraumes der andre, der Feind, der häßliche Kerl mit der brutalen Willenskraft und dem undurchdringlichen Auge? Er stand neben ihr, sie vernahm seine tiefe Stimme, vernahm 281 sie viel deutlicher als das klangvolle Organ ihres Bräutigams, sie hörte sein hartes, verächtliches Lachen, sah den gespannten Zug um den Mund; sie wußte, daß er morden könnte, morden wollte – sie haßte ihn, doch er wich nicht von ihr.

Und wieder tauchte ihr Blick in das wogende, brodelnde Dunstmeer der Ebene. War's vorüber mit dem glänzend glatten Schneefeld, das ihre Phantasie sich als Spiegelbild der Zukunft vorgeträumt? Oder lag die Zukunft jetzt verborgen, grau, etwas Gespenstisches, Feindliches, hinter diesen wallenden Nebelschleiern? Sie faltete die Hände, und der Gläubigen fiel es sehr schwer auf die Seele, daß sie kein Abendgebet gesprochen.

Lange betete sie mit gesenktem Haupte. Aber ihre Wünsche an die Vorsehung waren verwirrt, unklar; sie wußte nicht, was sie erflehen, und nicht, was sie abgewendet haben wollte. Dennoch ward's ihr leichter ums Herz. Sie hob den Kopf und meinte, die Sonne müsse jetzt durchgedrungen sein, indes der graue Nebel noch immer die Ebene deckte. 282

 


 


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