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In dieser Zeit kam auch die Tante wieder, um den üblichen Sommeraufenthalt in Lorschen zu nehmen. Sie war dicker geworden, schleppte einen großen Vorrat von Parfümflaschen und zerlesenen Romanbänden mit sich herum.
»Gott, wie habt ihr's gut, Kinder!« Dabei hatte sie kaum ein Gefühl für diesen köstlichen Sommer, der in strahlender Helle über den gelben Roggenfeldern, den süßduftenden Kleeschlägen lag. Für sie zirpten die Grillen nicht, für sie erhoben die Grasmücken nicht ihr feines Stimmchen.
Sie wandelte, seit ihre schlaff gewordenen Züge etwas Kupfer bekamen, immer mit einer heimlichen Puderquaste umher, ärgerte die Comtesse mit langatmigen Erzählungen von einem asthmatischen Generalleutnant außer Dienst, der ihr täglich in Kaiserberg Fensterpromenaden mache.
»Er ist thatsächlich in mich verliebt! Aber in meinen Jahren – noch zu heiraten, wäre etwas gewagt!«
Dann glitten ihre grüngrauen Augen mit heuchlerischer Bescheidenheit über ihre rundliche Gestalt. Sie verlangte das ermutigende: »Nein, Tantchen, du siehst ja noch so fabelhaft gut aus!« Doch die Comtesse hatte das liebenswürdige Schmeicheln ganz 93 verlernt. »Nimm ihn, nimm ihn!« antwortete sie gleichgültig und empfand gar keine boshafte Freude, als der Vater ironisch meinte: »Ich kenne den alten Sünder noch vom Regiment her. Er hat jetzt einen sehr schönen Schnurrbart, nur schade, daß er gefärbt ist.«
Die Tante schmollte über diese Sachen wie ein Backfisch, bis der Graf wieder in die Wirtschaft ging. Dann überschüttete sie die Nichte mit einer Flut banaler Neuigkeiten. »Denke dir, Mieze, der junge Gorah, der bei den Kürassieren in Berlin steht, wird sich mit einer fabelhaft reichen Bürgerlichen verloben: skandalös! Die gemeine Ader haben die Gorah alle von der Mutter, die wie ein Marktweib aussieht und spricht. Mit ihrem Adel war's nie weit her. Gute Partien habt ihr jetzt nur noch zwei in der Gegend: die Lange und die Lahme. Hast du den Standartengaul, die Miehler, man tanzen sehen? – Wie eine aufgezogene Holzpuppe! . . . Und Doerstedt macht keine Anstalten mit der Gorah? Verbeugt sich die lahme Krähe immer noch so merkwürdig? . . . Er soll eine Liaison oder so etwas haben – der arme Junge langweilt sich ja hier auch zu Tode . . . Uebrigens, ihr habt da einen sehr hübschen zweiten Kutscher . . . Sag mal, ist deine neue Jungfer auch ehrlich? Wie sie vorhin 'runterkam, roch sie ganz so, als wenn sie von meinem Parfüm genommen hätte. Die Mädchen stehlen selbstverständlich alle! . . . Diener sind das einzig Wahre! Warum hat eigentlich dein Vater den alten Friedrich beibehalten, der gar kein Tablett mehr halten kann? Wenn ich zu befehlen hätte: so 'n hübsches junges Männergesicht beim Servieren sieht man doch noch mal so gern an . . . Aber du sagst ja gar kein Wort, Mieze!?«
94 Was sie über diesen öden Klatsch dachte, konnte doch die Comtesse nicht sagen. Sie erkannte eben die absolute Wertlosigkeit der alten Dame, deren Geist nie ernstlich gearbeitet, deren Herz nie heiß geschlagen hatte; sie war typisch für eine ganze Menschenkategorie, weder gut noch schlecht, nur oberflächlich. Ein kritischer Blick aus den dunkeln Augen, ein höfliches Lächeln . . . das war alles; der Gegensatz der beiden Naturen sprang nie mehr in einer schroffen Aeußerung hervor. Dazu hatte die Comtesse ein bängliches Gefühl, eine geheime Angst vor dem Späherblick der Frau, die vielleicht doch in ihrer Seele lesen konnte. Vorläufig gab's die Gefahr freilich noch nicht; die begann erst, wenn die Neuigkeiten erzählt worden, die Gegend wieder vollzählig Revue passiert hatte. Doch die Comtesse wurde schon unruhig, als die Rede auf Natzfeld kam.
»Und was sagst du zu Hasso, Mieze? Die Natzfelds waren immer extravagant . . . ich brauche nur an deine verstorbene Mutter zu denken, der du aus den Augen geschnitten bist, und an den verschollenen Dennhöfer. Im Lachen hast du eine merkwürdige Aehnlichkeit mit ihm! . . . Seltsam, ihr seid doch eigentlich gar nicht verwandt! . . . Was bezweckt denn eigentlich Hasso mit seiner Politik, was kümmern ihn diese Leute? Ob der kleine Besitzer Soundso auf seine Kosten kommt, das kann ihm doch ganz gleichgültig sein. Hasso ist positiv reich, war immer ein ausgezeichneter Finanzmann . . . aber ein witziges Kerlchen! Neulich besuchte er mich in Kaiserberg. Wir sprachen von seinen Pferdegeschichten. Er fährt doch so wundervoll scharf und hat die Kutschpferde höchstens zwei Jahre. Ich erwähne das wirklich zu weit getriebene Leute- und 95 Pferdeschonen deines Vaters, und da entwirft er mir mit drei Worten eine Karikatur, wie mein guter Bruder sich mit jedem Ackergaul, den er gekauft, in den Stall einschlösse und ganz feierlich paktiere: ›Ich behandle dich ausgezeichnet bis ins hohe Alter, dafür verlange ich aber auch ehrliche Arbeit! Wirst du Invalide, geb' ich dir das Gnadenbrot in meinen Roßgärten bis ans selige Ende!‹ Die Idee ist doch kostbar? . . . Dies Sprechen mit einem unvernünftigen Tiere? . . . Dabei fällt mir ein: Ist dieser interessante Doktor Loja hier noch in Schwolmen?«
Die Comtesse antwortete ihr kühles: »Möglich.«
»Also noch immer geschworene Feinde . . . Merkwürdiges Mädchen! Und doch sage ich dir, ein für Frauen gefährlicher Mensch – der hat das Rezept, wie er uns unterbekommt. Kühl, schweigsam, sogar verächtlich – das verträgt kein Frauenzimmer. Mit dem Haß, der Feindschaft fängt's an. ›Ich will Ihnen doch zeigen, mein Herr, daß ich anders bin als die andern!‹ . . . Ja, weiter will er ja nichts! Wir zeigen ihm dabei unser Temperament und auch unsre Fehler. Wenn er genügend gestraft ist, dann merkt man, daß die Sache umgekehrt war, daß man festsitzt wie eine Drossel im Dohnenstieg . . . und nun flattert man – flattert man!«
Marie ward bei der Unterhaltung schwül. Erst die dumme Geschichte von dem Vater, darauf Loja – nein, die Tante war wirklich gefährlich! Und doch mußte das Gespräch eine wehe Stelle des jungen Herzens berührt haben. Denn sie schrieb noch nach Mitternacht einen langen Brief an den Bräutigam, in dem sie ihm alle ihre kindischen Launen abbat und mit einer Leidenschaft, die vielleicht zu stark 96 war, um ernst zu sein, ihn versicherte, daß sie ihn liebe und immer lieben werde. Als sie den Brief gesiegelt hatte, holte sie aus einer Fülle von verwelkten Cotillonbouquets seine Photographie hervor, die in den letzten Monaten nicht recht zu Ehren gekommen war, und küßte sie. Ein Amulett sollte es sein, die häßlichen Regungen zu bannen. Es war ein wohlgelungenes Bild – dennoch hatte es einen großen Fehler, es war dem Original zu ähnlich.
Unbefriedigt ging sie zu Bett. Doch schon nach wenigen Minuten stand sie auf, machte ganz leise, wie ein Dieb, Licht und trat lautlos mit der brennenden Kerze vor den hohen Stehspiegel: »Hans Freiherr v. Loja aus dem Hause Dessenheim, ich hasse dich!« Die Hand mit dem Leuchter bebte leicht, und glühende Röte floß wie ein Glutstrom über ihr Mädchengesicht. – Darauf zerriß sie den Liebesbrief.
Am andern Morgen bat sie die Tante, als Garde d'honneur mit nach Kaiserberg zu kommen; sie habe solche Sehnsucht nach Arthur.
*
Es war ein reizender Tag, schrieb sie darauf in ihr Tagebuch. Er war wieder so gut und liebenswürdig, daß ich mich ordentlich schämte. Die Uebung scheint ihm vortrefflich zu bekommen . . . Dem Doktor begegnete ich unerwünschterweise auf der Straße; wir sprachen uns nicht. Seit der schrecklichen Geschichte habe ich ihn noch gar nicht wiedergesehen. Papa nennt das unhöflich. Ich soll ihm eine Kleinigkeit als Dank sticken – doch ich will nicht! Warum betet mir eigentlich immer die Tante vor, daß er bei aller seiner Häßlichkeit fabelhaft vornehm aussehe? Häßlich ist er jedenfalls! Wenn er nur 97 erst weg wäre aus der Gegend! . . . Merkwürdig, daß ich die Uniform der dritten Leibhusaren gar nicht mehr so hübsch finden kann wie früher.
Die Tante wird mir täglich unangenehmer. Jetzt will sie herausbekommen haben, daß ich mich stark verändert habe. Sie wittert etwas, das gar nicht da ist. Neulich habe ich eine kleine Scene zwischen ihr und dem Vater belauscht. »Angeborener Hang zur Intrigue . . . frivoles Spiel mit ganz häßlichen Möglichkeiten«, ich glaube, daß es meinetwegen war. Jedenfalls kam sie sehr schlecht bei der Aussprache weg. Gestern hat sie sich dafür gerächt: heimtückisch in einem angefangenen Brief an Arthur gelesen. Dazu bemerkte sie weise: »Heiratet euch nur bald, Kinder! Der Stoff beginnt euch schon bedenklich auszugehen.« Und wenn's zehnmal so wäre, es ist doch nicht wahr!
Wir sind sie wieder los. Ich fühle es wie Befreiung von einem Alp – nur ist es mir wieder so schrecklich öde! Für meinen Gemütszustand beginne ich ernstlich zu fürchten. Ich gehe nur noch mit Schauder in die Kirche. Dies nervenzerrüttende Glockenläuten! Als wenn mir Eis in die Adern gegossen würde, so erstarre ich bei dem Tone, seit sie den unglücklichen Knaben zu Grabe geläutet haben . . . Ich bin schlecht, so schlecht! Und dabei werde ich von der ganzen Gegend wie eine Heilige angestaunt, weil ich bei dem Begräbnis gewesen bin, weil ich den armen Leuten die paar Groschen Schulden, die an ihnen wie eine schwere Sorge nagten, bezahlt habe. Ist denn die Menschheit wirklich so heuchlerisch oder so oberflächlich, daß sie das eine Wohlthat nennt? Ich möchte gern wieder hochmütig, kalt sein. Was hat diese Todesnacht aus mir 98 gemacht! Ja, man muß mit diesen Leuten gelebt, gesündigt, genossen haben, um sie zu verstehen – es ist so wahr! . . . Weshalb muß ich alle neuen Ideen und Gefühle gerade von . . .? Aber ich habe mir geschworen, seinen Namen nicht mehr zu nennen! Sein häßliches Gesicht ist ja schon so lange vergessen, das undurchdringliche graue Auge, das so seltsam grün aufflackern kann, die weiße, fein geaderte Hand, die wie ein aristokratischer Hohn auf seine plebejische Gesinnung aussieht, auch die Stimme, die ein gutes Herz so meisterhaft heuchelt. O Arthur, ich denke jetzt nur an dich, morgens, den ganzen Tag, nachts. Ich schlafe jetzt so unruhig . . . Nein, ich lüge! Ich will immer an ihn denken, den Guten, den Einzigen, ich kniee vor seinem Bilde, ich flehe es an, doch je näher ich das Bild vor die Augen halte, je weiter scheint sich's zu entfernen, weiter . . . immer weiter! Ich kann den Loja nicht vergessen, den ich hasse, o, so hasse – aber ich will ihn vergessen, ich muß! . . . o, mein Gott . . .
Wenn jemand mein Tagebuch nach meinem Tode lesen würde, er müßte sich grauen vor diesem schlechten Weibe. Und wer zwischen den Zeilen zu lesen versteht – ich bin ja so unglücklich, so haltlos! Nur einen Frauenschoß, in dem ich mein Gesicht vergraben könnte und weinen, weinen! Ich habe keine einzige Freundin . . . Der Domat oder der Tante zu beichten, welch entsetzlicher Gedanke! Und dem Vater kann ich es doch nicht sagen! Sobald ich sein gutes, altes Gesicht sehe, möchte ich vor ihn hinknieen, ihm die Hände und die Füße küssen und sagen: Verzeih mir, ich bin so schlecht! Vielleicht würde er mich auch verstehen. Er versteht ja mit seinem edeln Herzen alles Menschliche so 99 gut! . . . Und ich kann's ihm doch nicht sagen – das kann nur ein Weib dem andern!
*
Vier Wochen bei Domats gewesen. Ich wollte nicht, Papa schickte mich einfach hin. Er sah, wie die Einsamkeit an mir frißt, und glaubte mich gerade bei dieser Gesellschaft am besten aufgehoben. Der Wechsel hat mich gesund gemacht. O, wie wohl es thut, sich an der Erbärmlichkeit andrer aufzurichten! Denn erbärmlich sind sie – und alles Schauspielerei, alles Kulisse! Die Frau behandelt nicht allein ihre Leute streng, sondern auch schlecht. Sie ist geizig, der Mann dumm. War ich denn vorher blind? Und diese lächerlichen Umstände mit mir! Ich habe sie im Verdacht, daß sie sonst saure Milch und grobes Brot zu Abend essen, jetzt gab's nur Lampreten. »Behagt's Ihnen auch in unsern bescheidenen Verhältnissen, Comtesse, Sie sind naturgemäß so verwöhnt?« Und das alles so sanft und glatt wie ein Lutschbonbon . . . Diese grünlich glänzenden sanften Augen, diese weiche Stimme! Darum habe ich auch das spitze, scharfe Organ in den ersten Tagen gar nicht erkannt, das in der Küche kommandierte. Ihr macht mir wirklich nichts mehr weis, Kinder! Ich bin das Wundertier, das dem ganzen Umgang respektvoll gezeigt wird. Denn die Besuche jagen sich. Heute erschien zum Kaffee sogar der Senkenhager Sohn . . . ein unglaubliches Subjekt: jüdischer Typus mit schwarzen, wimperlosen Pfefferkörnern von Augen, die mich frech anstarren, und eine ölige Stimme, die lispelt. Er hatte die Stirne, mir sofort zu erzählen, daß sein Vater am liebsten Lorschen gekauft hätte und den Gedanken auch jetzt noch nicht aufgebe. Darauf 100 antwortete ich kühl, daß ich den jetzt üblichen Schacher mit altadligem Besitz geradezu entwürdigend für den Landadel hielte. Darauf belohnte mich ein warmer Blick von Frau Domat, die sofort diese Bemerkung zu ihrer Glorifizierung benutzte. Die Miehlers, Gerguhns, diese Menschen, die à tout prix Aristokraten sein wollen! Am widerwärtigsten ist mir der Bruder der Domat – wie kann überhaupt so etwas Dummes und Fades existieren? . . . Ich bin die Königin dieser Gesellschaft, das weiß ich, und jetzt versteh' ich auch, daß Königinnen gar nicht beneidenswert sind.
Sonst passiert wenig. Doerstedt und die Gellmann sollen sich geradezu schamlos betragen. Gesehen hat sie natürlich niemand; ich glaube auch den Unsinn gar nicht . . . Und wenn's wirklich der Fall wäre . . . vielleicht lieben sie sich. Ich werfe keinen Stein mehr auf die Menschen, die aus einer Herzensleidenschaft sündigen! Interessanter als das ist vielen – mir nicht –, daß zwischen »ihm« und der Verfemten eine kurze Aussprache stattgefunden habe, die hart gewesen sein muß, weil »sie« ihm auf der Straße überhaupt nicht mehr dankt. Papa war auch mal wieder bei »ihm« in Schwolmen; es handelte sich um eine Prinzipienfrage. Da ist ein alter Zuchthäusler, der vor Zeiten St. Johann in Orschau beraubt hat, uns als ortsbehörig zugewiesen worden. Arthur stimmt für die strengste Behandlung, so eine Art fortgesetzte Polizeiaufsicht; »er« dagegen erklärt in seiner schroffen Art: »Wenn Sie einen Schurken anständig machen wollen, so behandeln sie ihn anständig!« Papa war selbstverständlich ganz seiner Ansicht und schüttelte ihm dankbar beide Hände, indem er sagte: »Ja, wie sich zwei Edelleute doch gleich verstehen!«
101 Aber Arthur hat doch recht, schon weil er mein Bräutigam ist. Auf Gefühlssachen lasse ich mich überhaupt nicht mehr ein! Hier ist ein Mann, den ich liebe und den ich heiraten werde – dort ein Feind, den ich hasse, der vielleicht morgen schon abreist . . . Ob er sich von mir verabschieden wird? Ich hoffe, nein . . . und doch! . . .
Du bist mir eine gute Freundin, mein Tagebuch, aber du könntest eines Tages doch indiskret sein, wenn ich plötzlich stürbe . . .
Ich sticke jetzt eifrig an meiner Ausstattung – krankhaft eifrig, wie Papa behauptet. Die Arbeit ist mir trotzdem kein Vergnügen, und ich komme auch gar nicht weiter. Daß ich dabei lächerlicherweise an das Tuch der Penelope denken muß, ich – Marie, Reichsgräfin Wilnein, die sehr glücklich ist und morgen ihren Arthur im Manöverquartier erwartet! Der Kommandierende kommt zu uns, Stabsoffiziere und ein ganzes Rudel Leutnants. 102